Als Ravensburger E-Book erschienen 2020
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2020 Ravensburger Verlag
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel „The Ship of Shadows“ bei Puffin Books/Penguin Random House UK, 80 Strand, London WC2R 0RL, England
© 2020 by Maria Kuzniar
Umschlaggestaltung: Mark van Leeuwen unter Verwendung einer Illustration von Max Meinzold
Vignetten im Innenteil: abdulsatarid/Adobe Stock
Übersetzung: Katharina Orgaß
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51081-8

www.ravensburger.de

Prolog

leja war ein abenteuerlustiges Mädchen. So abenteuerlustig, dass es sie manchmal an ungewöhnliche Orte zog. Heute Nacht zum Beispiel spazierte sie, statt zu schlafen, über die Dächer von Sevilla. Zu Hause hatte sie ein großes Kissen unter ihre Bettdecke gestopft.

Aleja kletterte von einem Dach zum anderen und wagte sich immer weiter in den ältesten Teil der Stadt vor. Viele der hohen, nur durch schmale Gassen getrennten Häuser waren baufällig, und Aleja musste aufpassen, dass sie nicht von den losen Ziegeln und schmalen Simsen abrutschte. Sie malte sich aus, dass die mächtigen Kuppeln und Türme zu Schlössern, Burgen und Kathedralen gehörten und dass ihre Mauern sagenhafte Geschichten von längst verstorbenen Königen, Königinnen, Entdeckern und Gelehrten erzählten. Nachts war die beste Zeit, um solche heimlichen Streifzüge zu unternehmen. Dann summte das Raunen der Stadt in ihren Adern.

Von hier oben konnte sie einen ganz neuen Blick auf ihre Heimatstadt werfen. Sevilla duftete nach Orangenblüten und war wie ein großes Schiff fest in der Vergangenheit vertäut.

Im Schutz der Dunkelheit sprang Aleja auf das nächste Haus und lief quer über das weiße Flachdach. Ihre kleine Schultertasche hüpfte auf ihrem Rücken. Aleja machte einen so weiten Satz, dass es sich einen Moment lang anfühlte, als würde sie fliegen. Dann prallte sie mit ausgestreckten Armen so unsanft auf die gegenüberliegende Mauer, dass ihr die Luft wegblieb. Doch sie erholte sich gleich wieder, machte es sich oben auf der Mauer bequem und lachte in sich hinein. Die Stadt gehörte ihr.

Sie zog die Beine unter sich, lehnte sich an ein gedrungenes Türmchen, holte ein dickes Buch aus der Tasche und schlug es so schwungvoll auf, dass der Buchrücken knackte. Die Lichter der Giralda – das war der hohe, schlanke, kunstvoll verzierte Turm, der einst als Minarett gedient hatte, inzwischen aber ein Glockenturm war – warfen ihren matten Schein auf die Seiten, und Aleja fing zu lesen an.

Das Buch war auf Englisch verfasst und hieß Legendäre Entdecker. Es erzählte unter anderem von den Reisen, die Christoph Kolumbus von Sevilla aus unternommen hatte, und obwohl Aleja begierig war, mehr über seine Expeditionen und Seefahrten zu erfahren, handelten ihre Lieblingskapitel von jemand anderem.

Thomas James war ein britischer Entdecker gewesen, der die Welt auf seinem eigenen Schiff bereist und Urwälder, Steppen und Wüsten durchquert hatte. Das Buch war zwar nicht in Alejas Muttersprache Spanisch, sondern auf Englisch verfasst, aber Aleja hatte sich diese Sprache in langen Schmökerstunden selbst beigebracht und sie hatte das Buch so oft gelesen, dass seine Sätze wie gute alte Freunde für sie waren, die man nicht mehr vergaß.

Als sie irgendwann merkte, dass es allmählich hell wurde, klappte sie Legendäre Entdecker zu und sagte halb laut auf Englisch vor sich hin:

Thomas James war der König der Entdecker. Er segelte unter falscher Handelsflagge, um sein wahres Ziel – nämlich die Geheimnisse der Welt zu enträtseln – nicht preiszugeben. Auf seinem Schiff prangte ein uraltes Symbol …

Das waren die Geschichten, um die sich Alejas Träume rankten.

Kapitel 1
Das Mädchen, das träumte

enn Aleja die Augen zusammenkniff, konnte sie sich einreden, dass die Staubflocken Wüstensand waren, der von einem Sturm aufgewirbelt wurde. Oder vielleicht auch von den Hufen eines vorbeiziehenden Kamels. Doch dann musste sie blinzeln, und die Sandkörner wurden wieder zu Staub. Er schwebte auf den Fußboden von El Puente nieder, der Schenke ihrer Familie.

„Fegen, nicht träumen, cariño!“, mahnte ihre abuela kopfschüttelnd, aber liebevoll. Sie wusch in einem Kübel das Geschirr ab, und Pablo beteiligte sich eifrig – indem er alles nassspritzte. Er war der jüngere von Alejas beiden älteren Brüdern und bis auf die Narbe am Ohr das kleinere Ebenbild ihres Vaters. Weil er sich so ungeschickt wie ein Kleinkind anstellte, schaffte er es immer wieder, dass ihre Großmutter die Geduld verlor und ihm seine Pflichten erließ.

Aleja fegte weiter. Um die Hitze abzuhalten, waren die Fensterläden geschlossen, und nur durch die offene Tür fiel Licht in den Gastraum. Draußen stellte Alejas Vater die Hocker um die alten Weinfässer auf, die als Tische dienten. Er drehte sich um und lächelte seiner Tochter zu. Der Ansatz seiner kurzen schwarzen Haare wich schon aus der sonnengebräunten Stirn zurück, und heute rötete Vorfreude seine Wangen.

Nachdem Alejas Mutter am Fieber gestorben war, hatte es eine Ewigkeit gedauert, bis ihr Vater wieder lächeln konnte, so war es Aleja zumindest vorgekommen. Sie selbst war damals erst sechs gewesen, darum hatte sie nur noch undeutliche Erinnerungen an ihre Mutter, so wie ein Kieselstein mit der Zeit vom Wasser abgeschliffen wurde. Manchmal bekam sie Angst, sie könnte ihr Gesicht vergessen, aber dann nahm ihre abuela sie ganz fest in den Arm und erzählte so lange von der Mutter, bis deren Gesicht wieder in Alejas Träumen auftauchte.

Alejas eigenes Gesicht war herzförmig, und dank ihrer hohen Wangenknochen und leuchtend grünen Augen bekam sie zu ihrem Ärger immer wieder zu hören, dass sie wie ein Porzellanpüppchen aussah. Bei ihrer Geburt war die abuela begeistert gewesen, weil sie bereits zwei Enkelsöhne hatte. Doch Alejas Haar schwang nicht seidig um ihr Gesicht, und sie erlaubte ihrer Großmutter auch nicht, dass sie es wie ihr eigenes Haar bürstete und flocht. Und weil Aleja immer in Tagträume versunken war, kamen auch ihre schönen Augen nicht richtig zur Geltung.

Als sie jetzt an der Tür stand und Staub und Schmutz nach draußen fegte, ließ sie den Blick über den großen Platz vor der Schenke wandern, und dann noch weiter bis zum breiten Guadalquivir-Fluss und zum Torre del Oro, die in der Sonne glitzerten.

„Verschwinde, du Nichtsnutz“, scheuchte die Großmutter Pablo hinaus. „Heute wird ein anstrengender Tag. Da kann ich es nicht gebrauchen, dass du mir zwischen den Füßen herumläufst.“

„Was ist denn heute? Warum wird der Tag anstrengend?“, fragte Aleja neugierig.

„Unten am Hafen herrscht Hochbetrieb“, sagte ihr Vater, trat in die Gaststube und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Die Flota de Indias soll heute eintreffen.“

Ein freudiger Schauer überlief Aleja. Die Flota de Indias, auch „Silberflotte“ genannt, war ein Konvoi aus Schiffen, die exotische Waren und Luxusgüter aus den spanischen Kolonien über den Atlantik zum Festland brachten. Gold und Zucker fand Aleja nicht besonders spannend – ihr Interesse galt den Entdeckern, die auf diesen Schiffen mitfuhren.

Ihrer Großmutter entging nicht, dass sie unruhig wurde. „Du bleibst hier. Ich brauche dich in der Küche.“

Aleja war schwer enttäuscht.

„Ich erzähl dir nachher alles!“, sagte Pablo schadenfroh und war hinausgerannt, ehe ihn Aleja böse anfunkeln konnte.

„Das ist ungerecht!“, beklagte sie sich und griff wieder zum Besen.

„So ist das Leben, cariño“, erwiderte die Großmutter seufzend. „Pablo ist der Ältere, und außerdem würde er in der Küche nur Unheil anrichten.“

Ihr Vater lachte. „Arme Aleja. Wenn man sie ließe, wäre sie im Nu mit einem Schiff auf und davon.“

Ihre Großmutter kniff die Lippen zusammen. „Anständige junge Mädchen sind nicht auf Abenteuer aus.“ Sie nahm Aleja den Besen weg und stieß die Küchentür so energisch auf, dass Alejas älterer Bruder Miguel (der zugleich ihr Lieblingsbruder war) zusammenfuhr.

Miguel war zwar schon fünfzehn, wirkte aber mit seinem sanften Blick und dem in die Stirn fallenden Haar deutlich jünger. Er hatte genauso grüne Augen wie seine Schwester, aber während die seinen verschleiert dreinblickten und von der Küche träumten, brannte in den ihren die Sehnsucht nach dem weiten Meer. Gerade hatte er Mehl im Gesicht und Butter im Haar.

„Du kannst deinem Bruder helfen, das Brot für la comida zu backen“, sagte die Großmutter, nahm einen feuchten Lappen und wischte Miguel mit missbilligendem „Ts, ts, ts!“ das Gesicht ab.

Aleja verabscheute Backen genauso sehr, wie Miguel es liebte.

„Wo ist denn Pablo?“, fragte Miguel, als die alte Frau in die Gaststube zurückgekehrt war, um dem Vater zur Hand zu gehen, denn die Schenke öffnete bald.

„Der ist am Hafen.“ Aleja klatschte den Teigklumpen wütend auf die Arbeitsfläche.

„Ach so.“ Miguel griff ein und rettete den Teig. „Du bist eben die Jüngste. Die abuela meint es nur gut. Sie will nicht, dass dir etwas zustößt.“

„Stimmt nicht“, widersprach Aleja und warf dem Teigklumpen einen missmutigen Blick zu. „Sie will mich zu der Enkelin zurechtkneten, die sie sich immer gewünscht hat.“

„Also für mich bist du die Schwester, die ich mir immer gewünscht habe“, gab Miguel zurück und verpasste ihr einen spielerischen Knuff.

Es wurde ein brütend heißer Tag. Am strahlend blauen Himmel war kein Wölkchen zu sehen, und sogar die Palmen machten den Eindruck, als ächzten sie unter der Hitze. Die Fenster der Schenke standen weit offen, aber kein Luftzug drang herein. Aleja lief mit Getränken und tapas zwischen den nach Schweiß riechenden Gästen hin und her und langweilte sich bald. Manchmal waren die Unterhaltungen, die sie aufschnappte, interessant – wenn es um Geschichten und Gerüchte ging, die von Geisterschiffen, Ungeheuern oder versunkenen Städten handelten. Von Dingen, die Alejas Vorstellungskraft schier überstiegen und nichts mit ihrem Alltag zu tun hatten, sie aber unwiderstehlich in ihren Bann schlugen.

Es waren die altgedienten Seeleute, die diese Geschichten erzählten, wenn sie zu viel gebechert hatten, und die meisten Leute glaubten ihnen kein Wort. Aleja schon. Sie war fest überzeugt, dass das alles auf Wahrheit beruhte.

Als Aleja und Miguel die Schenke am Nachmittag verließen, um am Brunnen frisches Wasser zu holen, kamen sie an einer Gruppe Mädchen in Alejas Alter vorbei. Die Mädchen trugen hübsche Kleider und lachten fröhlich, und Aleja lächelte sie schüchtern an. Daraufhin flüsterte eine von ihnen einer anderen etwas zu, und beide brachen erneut in Gelächter aus.

Alejas Wangen brannten vor Scham.

„Beachte sie gar nicht“, sagte Miguel und zog sie weiter.

Aleja versuchte zu verdrängen, wie elend sie sich fühlte, doch mit einem Mal konnte sie den Gedanken nicht mehr ertragen, ins El Puente mit seinen öden Gästen, von denen niemand in ihrem Alter war, zurückkehren zu müssen. Weil sie selbst für ihr Alter ziemlich klein war, würde es nicht schwer sein, den Gastraum unbemerkt zu durchqueren und sich zu verdrücken.

Sie wartete ab, bis Miguel wieder in der Küche verschwunden war und die abuela und ihr Vater Getränke servierten, dann lief sie nach oben in ihr Zimmerchen.

Dort griff sie sich ihre Tasche, stopfte ein paar dicke Bücher hinein und lief die ausgetretene Stiege zur Dachterrasse hoch. Von dort aus sah man die großen Schiffe, die in den Hafen hinein- und wieder hinausfuhren. Mit ihren gewaltigen Rümpfen erinnerten sie an Riesenfische, die sich die Bäuche mit Reichtümern vollgeschlagen hatten. Manchmal fehlte auch ein Stück vom Rumpf, wenn so ein Schiff anlegte. Dann behauptete die Besatzung, dass es von Seeungeheuern angegriffen worden war, die in den Fluten lauerten, von Riesenkraken oder Sirenen mit betörenden Gesängen, die nur darauf warteten, einen Happen aus vorbeifahrenden Schiffen herauszubeißen. Und manchmal kehrten die Schiffe auch gar nicht mehr zurück.

Aleja kümmerte sich nicht darum, dass ihr Kleid schmutzig wurde, und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf das Dach. Sie erfreute sich am Anblick der Segel, die vom weiten Atlantik herkamen und den Fluss entlangglitten, dann schlug sie Legendäre Entdecker auf und las dort weiter, wo sie aufgehört hatte. Es ging um eins von Thomas James’ Abenteuern, das von einem seiner Begleiter, einem gewissen Samuel Worthers, getreulich aufgezeichnet worden war. Man konnte Thomas oft dabei beobachten, wie er Einträge in seine Tagebücher schrieb, hieß es dort. Aleja hätte diese Tagebücher zu gern gelesen, aber sie hatte ein bisschen nachgeforscht und herausgefunden, dass sie verschollen waren. Niemand hatte je einen Blick hineingeworfen, auch wenn in Werken wie diesem immer wieder darauf verwiesen wurde.

Doch Samuel Worthers war ein guter Erzähler. Er berichtete von einer Wanderung durch einen fernen Dschungel. Der Expeditionstrupp war von Berglöwen angefallen worden, und die Männer mussten ärgerlicherweise feststellen, dass das Pulver in ihren Steinschlosspistolen feucht und unbrauchbar geworden war. Aleja verschlang die Geschichte gierig und stürzte sich sofort auf die nächste, die von grimmigen Piratenjägern handelte.

Als sie später im Bett lag und die Nacht sich wie eine warme Decke über Sevilla legte, konnte sie nicht einschlafen. Das Gelesene zog in lebhaften Bildern an ihrem inneren Auge vorbei, bis sie schließlich aus dem Bett sprang und sich wieder anzog.

Sie wollte selbst ein Abenteuer erleben.

Kapitel 2
Mädchen werden keine Entdecker

iratenüberfälle im Mittelmeer.“

Aleja huschte durch die engen, gewundenen Gassen hinter zwei spanischen Seeleuten her, die in Richtung Hafen unterwegs waren und sich angeregt auf Spanisch unterhielten.

„Ihre Kanonen haben zwei Schiffe in Brand gesteckt.“

Aleja lauschte so gespannt, dass sie die Schritte hinter sich erst wahrnahm, als es schon zu spät war.

„Na, schnüffelst du wieder herum?“, sagte jemand spöttisch.

Sie fuhr herum. Hinter ihr stand Juan, Sohn eines wohlhabenden Gastwirts und in Miguels Alter. Er hatte ein ebenmäßiges Gesicht und tief liegende graue Augen, und seine Stimme troff vor Hohn.

Ihr Magen zog sich zusammen, und sie wich einen Schritt zurück. Juans bester Freund Carlos und dessen anhänglicher Zwillingsbruder Pedro schoben sich hinter sie. Beide grinsten boshaft. Aleja konnte alle drei Jungen nicht ausstehen. Sie waren wie Wölfe: immer im Rudel unterwegs und darauf lauernd, einen in Stücke zu reißen. Als sie sich zwischen Carlos und Pedro durchdrängen wollte, rückten die Zwillinge sofort enger zusammen, und Carlos versetzte Aleja einen unsanften Stoß, sodass sie wieder in der Mitte der Gruppe landete. Dann verschränkte er die Arme und grinste so breit, dass man seine gelben Zähne sah. Juan schnappte sich Alejas Tasche und zog die Bücher heraus. Sie musste zusehen, wie er sich vergeblich mühte, die englischen Titel zu entziffern, und sich schließlich damit begnügte, die Schiffe auf den Einbänden zu betrachten. Dann ließ er die Bücher eins nach dem anderen auf die Straße fallen, aber Aleja beherrschte sich und bückte sich nicht danach. Sie gönnte ihm die Genugtuung nicht.

„Wartest du etwa immer noch darauf, dass ein tolles Abenteuer des Weges kommt und dich von hier entführt?“, höhnte Juan, beugte sich vor und dämpfte die Stimme, als wollte er ihr etwas Geheimes anvertrauen. „Tut mir ja furchtbar leid, aber Mädchen können nicht Entdecker werden. Es gibt keine weiblichen Entdecker, und selbst wenn …“ Er machte eine Kunstpause, und Aleja ahnte, dass jetzt etwas richtig Gemeines kommen würde. „Selbst wenn, würden sie einen kümmerlichen Zwerg wie dich nicht mitnehmen!“ Er grinste triumphierend – und spuckte sie an.

Aleja schloss die Augen und wünschte sich weit weg.

Juan und seine Freunde lachten schallend und schlenderten davon. Aleja wischte sich die Spucke von der Wange, die vor Zorn und Scham brannte, und klaubte ihre kostbaren Bücher aus dem Straßenschmutz auf.

Alle Welt kannte ihr Geheimnis und wusste, wonach sie sich sehnte. Anfangs hatte sie versucht, es für sich zu behalten, aber irgendwann war ihr Temperament mit ihr durchgegangen, und es war ihr bei einem Streit mit Pablo herausgerutscht.

„Du gehörst nicht an den Hafen! Das ist kein Ort für ein Mädchen!“, hatte er sie angefaucht.

„Irrtum!“, hatte sie gekontert. „Du wirst schon noch sehen! Eines Tages bin ich eine berühmte Entdeckerin und bereise mit meinem eigenen Schiff die größten Häfen der Welt.“

Stille. Dann hatte Pablo so gelacht, dass ihm die Tränen kamen.

Die tief gekränkte Aleja war auf ihn losgegangen, und sein Gelächter war in Schmerzensschreie umgeschlagen. Ihr Vater hatte die beiden trennen müssen.

Noch zwei Jahre danach war auf Pablos linkem Ohr der halbmondförmige Abdruck von Alejas Zähnen zu erkennen. Er pflegte zu behaupten, ein Wolf habe ihn dort gebissen, aber der Vorfall hatte ihn nicht davon abgehalten, der halben Stadt von Alejas Wunschträumen zu erzählen.

Am nächsten Morgen lief Aleja sofort zum Hafen hinunter. Sie wollte nach Schiffen Ausschau halten, denen man ansah, dass sie Opfer eines Piratenüberfalls geworden waren.

In ihrer Eile nahm sie Sevilla nur verschwommen wahr. Weiße Häuser mit geschlossenen Fensterläden, halb offene Türen, damit man mit den Nachbarn plaudern konnte, zwei Pfeife rauchende alte Männer auf wackligen Stühlen vor einer Schenke. Eine Kirchenglocke begann zu läuten, dann war Aleja am Ziel. Sie hockte sich am Kai auf ein altes Fass und spitzte die Ohren. Neben ihr waren zwei Seeleute dabei, einen Frachter zu entladen.

„… oft noch schlimmer als die Piraten selber“, sagte der eine Seemann.

Aleja rutschte auf ihrem Hochsitz weiter nach vorn.

„Also, wenn du mich fragst, mir gehen die Piratenjäger gründlich auf die Nerven. Sie mischen sich in alles ein und spielen sich auf, und der Rächer ist der Schlimmste von allen“, entgegnete der andere Mann. „Wenn er könnte, wie er wollte, würde er sämtlichen Piraten der Weltmeere den Garaus machen.“

„Hoffentlich kommt er nicht hierher“, stimmte ihm der erste Seemann zu und wischte sich die Hände an der Hose ab. Dann stapften beide davon.

Wenn Piratenjäger in der Nähe waren, kreuzten die Piraten womöglich schon vor Sevilla. Aleja fand das alles ungeheuer aufregend, und sie konnte nicht begreifen, dass es alle anderen offenbar kaltließ. Was hatte ihre abuela doch heute beim Frühstück gesagt? „Statt dich an diesem verflixten Hafen herumzutreiben, solltest du lieber deiner familia helfen wie jedes anständige Mädchen!“

„Ich bin ein anständiges Mädchen!“, hatte Aleja empört erwidert.

Pablo, der ihr gegenübersaß, hatte in seinen Suppennapf geprustet.

„Ich meine damit, dass du alt genug bist, um ein bisschen Verantwortung zu übernehmen“, hatte ihre Großmutter gekontert.

„Lass Aleja in Frieden. Sie ist noch ein Kind“, hatte sich der Vater eingemischt und Pablo einen Becher Wasser hingehalten, weil er sich an seiner Suppe verschluckt hatte.

Als ihr die Worte der Großmutter jetzt wieder einfielen, beschloss Aleja, nicht sofort ins El Puente zurückzukehren, auch wenn die Schatten schon länger wurden. Sie überlegte noch, was sie als Nächstes machen sollte, als von einem anderen Schiff zwei Männer heruntergetorkelt kamen. Einer schwenkte eine leere Flasche.

„Nein, die Besatzung soll nur aus Weibern bestehen“, sagte er, und der andere erwiderte lachend: „Verrückt!“

„Frauen an Bord bringen nur Unglück“, schob der Erste todernst nach.

Aleja verdrehte die Augen.

„Auf dem Schiff sollen alle Seeleute herumspuken, die sie schon umgebracht haben.“ Der erste Seemann flüsterte jetzt, und seine Worte wehten wie eine Rauchfahne zu Aleja herüber. „Darum nennt man das Schiff auch …“

Alejas Neugier war geweckt. Sie sprang von ihrem Fass und lief hinter den Männern her, doch als sie um die nächste Ecke bog, waren die beiden verschwunden.

„Miguel hat mir erzählt, was vorgefallen ist“, sagte Alejas Großmutter, als sie abends mit der Bürste das verfilzte Haar ihrer Enkelin entwirrte. „Fällt es dir immer noch so schwer, Freundinnen zu finden?“

Aleja nickte nur und schob unauffällig mit dem Fuß ein Buch unter ihr Bett. Sie war gerade an der Stelle gewesen, wo die Heldin des Romans mit einer unsichtbaren Geheimtinte aus Zitronensaft einen Brief schrieb. Dass man den Brief erhitzen musste, um ihn entziffern zu können, hatte Aleja so fasziniert, dass die abuela sie beinahe beim Lesen erwischt hätte, und dabei gehörte ihr das Buch nicht mal.

„Die anderen Mädchen mögen mich nicht, weil ich ganz anders bin als sie.“

Ihre Großmutter nahm sich die nächste Haarpartie vor. „Freunde sind wichtig, Aleja. Du kannst nicht dein Leben lang nur mit Miguel zusammen sein.“

„Ich hätte ja gern welche!“, entgegnete Aleja, aber dann konnte sie nicht weitersprechen, weil sie plötzlich einen dicken Kloß im Hals hatte.

„Das weiß ich doch, cariño. Vielleicht fragst du die anderen Mädchen einfach mal, wofür sie sich so interessieren?“ Ihre Großmutter sprach es nicht aus, aber Aleja ergänzte in Gedanken: „… statt immer nur über deine eigenen Interessen zu reden.“

Beide schwiegen eine Weile.

Dann legte die alte Frau die Bürste weg. „Da, nimm! Die hier habe ich für dich aufgehoben.“ Sie drückte Aleja eine kleine, blitzblank polierte Münze in die Hand. „Deine Mutter hat diese Münzen gesammelt“, setzte sie hinzu.

„Danke.“ Aleja betrachtete das Geldstück, das im Kerzenschein glänzte.

„Schlaf gut, cariño.“ Die abuela strich Aleja über die Wange, dann ging sie hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

Doch Aleja dachte gar nicht daran, jetzt zu schlafen.

Der weitläufige Hof der Universität war menschenleer. Das Kopfsteinpflaster glänzte im Mondlicht, und nur die Palmen und die Sterne waren Zeugen, wie Aleja von einem Baum zum nächsten flitzte, damit niemand sie entdeckte.

Sie schob vorsichtig eins der schweren Glasfenster hoch und kletterte hindurch. Die Bibliothek war in einem lang gestreckten Saal mit Marmorfußboden untergebracht. Die deckenhohen Bücherregale standen dicht an dicht und bildeten Gassen des Wissens. In Nischen standen Tischchen mit Sesseln oder Stühlen darum herum. Die Wandleuchten brannten für den Fall, dass die Studenten bis in die Nacht hinein lesen wollten, aber es waren nur ein paar anwesend, und die waren so in ihre Lektüre vertieft, dass sie das Mädchen, das sich an ihnen vorbeidrückte, gar nicht wahrnahmen.

Aleja spazierte von einem Regal zum nächsten und überflog die vielversprechenden Buchtitel, die auf die Wunder dieser Welt verwiesen: Die unerforschten Urwälder Amerikas; Flora und Fauna der Steppe; Die gefürchtetsten Piraten der Weltmeere.

Nachdem sie am Hafen die beiden Seeleute belauscht hatte, sprach der letzte Titel Aleja besonders an. Sie wuchtete den dicken Wälzer aus dem Regal und verzog sich damit in einen abgewetzten Sessel. Als sie sich setzte, klebten ihre Beine an dem rissigen braunen Leder fest. Sie blätterte das Inhaltsverzeichnis mit den wohlbekannten Namen durch: Der Lange Ben, auch unter dem Namen Henry Every bekannt und einer der reichsten und grausamsten Piraten aller Zeiten; das legendäre Schattenschiff, dessen mordlustige Besatzung Angst und Schrecken verbreitete, von dem aber nicht klar war, ob es sich nur um Seemannsgarn handelte; William Kidd, Kapitän der Adventure Galley, einst ein berüchtigter Piratenjäger, der aber zu den Piraten übergelaufen war; und der sogenannte Piratenfürst, ein überaus erfolgreicher Schatzjäger, der sich seinen Verfolgern immer wieder entzog. Aleja überflog die Berichte über Mord und Plünderung, von denen sie die meisten schon aus der Schenke kannte, dann klappte sie das Buch zu und betrachtete es finster. Mädchen können nicht Entdecker werden, hörte sie Juan wieder sagen.

Piratinnen konnten sie anscheinend auch nicht werden.

Die Enttäuschung brodelte in ihr und war kurz davor, wie ein Vulkan überzukochen. Seufzend stellte Aleja das Buch zurück, ergriff stattdessen ein Exemplar von Herodots Historien und ließ es in ihrer Tasche verschwinden. Dann wurde es Zeit, die Bibliothek mit ihrem anheimelnden Geruch nach Leder und Pfeifenrauch wieder zu verlassen.

Aleja ging aber nicht wieder ins Bett, sondern lief auf Zehenspitzen die Stiege zur Dachterrasse hoch. Hier, unter dem mit Sternen und einem Sichelmond geschmückten Himmelszelt, wo man nur den Fluss gegen die Schiffsrümpfe schwappen hörte, konnte sie freier atmen. Sie legte sich auf den Rücken und hielt nach den Sternbildern Ausschau. Sie entdeckte die Harfe der Lyra, die ausgebreiteten Flügel von Cygnus, dem Schwan, und die Schwingen von Aquila, dem Adler. Kurz bevor ihr die Augen zufielen, hätte sie schwören können, dass einer der beiden Vögel vom Himmel herabsegelte und mit seinen gewaltigen Schwingen den Mond verdeckte, aber im nächsten Augenblick träumte sie schon von behaglichen Bibliotheken, alten Büchern und legendären Schiffen.

Dann kitzelte sie der Geruch von Schießpulver in der Nase.

Kapitel 3
Das Symbol der Athene

leja setzte sich kerzengerade auf und spähte zum Hafen hinüber.

War es bloß Einbildung gewesen? Sie sog prüfend die Luft ein. Nein, der Wind trug unverkennbar einen beißenden Geruch heran. Doch die Schiffe lagen in tiefer Dunkelheit, nichts Verdächtiges war zu erkennen.

Wieder schien das Mondlicht zu flackern, und Aleja legte den Kopf in den Nacken. Ein riesiger Vogel schwebte mit ausgebreiteten Flügeln geräuschlos über dem Hafengelände, beschrieb zwei Kreise und landete dann auf dem Bug eines Schiffes, das Aleja unbekannt vorkam.

Da!

Das Schiff glitt langsam in den Hafen.

Es war ein unscheinbares Segelschiff mit nur einem großen Mast in der Mitte, an dem sämtliche Segel befestigt waren. Die Segel selbst waren vom langen Gebrauch schon ein bisschen zerlumpt. Dass das Schiff so langsam fuhr, schien Absicht zu sein, denn eigentlich waren solche Fahrzeuge flink und wendig. Auf offener See überholten sie die schweren Frachtschiffe und benötigten nur eine kleine Besatzung. Was Aleja aber am meisten ins Auge stach, als sie sich an die bröckelige Brüstung der Dachterrasse drückte und die Einfahrt des fremden Schiffes verfolgte, war etwas anderes.

Von dem Schiff stieg Rauch auf.

Große Teile des Rumpfes waren rußgeschwärzt und verströmten offenbar den Schießpulvergestank. Wenn Aleja die Augen zusammenkniff, erkannte sie den Umriss eines großen Loches – das musste von einer Kanonenkugel stammen. Das Schiff kam geradewegs aus einer Schlacht!

Seltsamerweise besaß es selbst kein Kanonendeck.

Die Flagge am Mast war blau mit einem diagonalen weißen Kreuz – eine Handelsflagge. Warum beschoss jemand ein Handelsschiff, das keine eigenen Geschütze mitführte? Alejas Hände zitterten vor Aufregung. War das unbekannte Schiff etwa von Piraten überfallen worden?

Es warf auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens Anker, ein Stück abseits der größeren Schiffe. Die Dunkelheit verbarg seine lädierte Erscheinung. Anschließend blieb erst einmal alles ruhig, aber Aleja konnte sich trotzdem nicht von dem Anblick lösen.

Dann entdeckte sie etwas.

Etwas, das vorn am Bug im Schein der Schiffslaterne glitzerte. Aleja tastete nach dem geschliffenen Stück Glas, das sie auf dem Dach versteckte, und spähte hindurch. Dank der Vergrößerung erkannte sie, dass in den Bug eine Eule mit ausgebreiteten Flügeln geschnitzt war. Auf jedem Flügel prangte ein goldenes Auge. Aleja wunderte sich, trotzdem kamen ihr die sonderbaren Augen irgendwie bekannt vor. Doch bevor ihr einfiel, woher, wurde ein klappriger Laufsteg heruntergelassen, und zwei Gestalten gingen an Land. Sie hielten auf die Schenke zu. Sofort eilte Aleja die Stiege wieder herunter und auf die Straße.

Sie versteckte sich hinter der Hauswand und wartete. Eine Minute verstrich, dann eine zweite. Und gerade, als Aleja es nicht mehr aushielt, hörte sie etwas. Zwei Personen unterhielten sich gedämpft. Aleja drückte sich flach an die Mauer und spitzte die Ohren, dann fiel ihr etwas auf. Nicht, dass eine der Personen Englisch sprach – das war nichts Ungewöhnliches in Sevilla, wo Schiffe aus aller Welt ankamen –, sondern dass die Stimme unverkennbar einer Frau gehörte.

Sie lugte um die Hauswand herum.

Die beiden Gestalten trugen dunkle Kapuzen, aber Aleja erhaschte einen Blick auf ein paar lange blonde Haarsträhnen, dann antwortete die zweite Frau auf Englisch mit einem Akzent, den Aleja nicht einordnen konnte: „Keine Ahnung, wo wir um diese Zeit so viel Holz herbekommen sollen.“

„Wir können nicht warten, bis es hell wird. Wir brauchen die Bretter sofort.“

„Dann müssen wir sie von einem anderen Schiff stehlen.“

Damit waren die beiden außer Hörweite.

Aleja überquerte die Straße, lief aber nicht hinter den Frauen her zum Hafen, sondern in die entgegengesetzte Richtung.

Noch nie im Leben war sie so gerannt. Sie nahm denselben Weg wie schon vorher – gestern? –, den Weg zur Universität. Als sie über den Hof stürmte, färbte sich der Himmel bereits mattorange.

Aleja kletterte wieder durchs Fenster, lief zielstrebig zu einem Regal, zog Legendäre Entdecker heraus und setzte sich damit auf den Boden. Das Buch klappte von allein an der Stelle auf, die Aleja so unzählige Male gelesen hatte, dass sie die Sätze fast auswendig konnte: Thomas James war der König der Entdecker. Er segelte unter falscher Handelsflagge, um sein wahres Ziel – nämlich die Geheimnisse der Welt zu enträtseln – nicht preiszugeben. Auf seinem Schiff prangte ein uraltes Symbol, die Eule der Athene. Sie stand für all das Wissen, das er in seinem Schiff hütete. Es hieß, Zugang zu diesem Wissen könne man sich nur mit James’ goldenem Schlüssel verschaffen. Thomas James gilt als eine Art Schattengestalt der Weltmeere. Seine Zeitgenossen und die Geschichtsschreibung wissen nur wenig über ihn und seine Entdeckungsreisen zu berichten, und seine Tagebücher sind unwiederbringlich verschollen.

Und da war auch die Abbildung, ganz unten auf der Seite: eine kleine goldene Eule. Zwei Augen zierten ihre ausgebreiteten Flügel.

Rasch suchte Aleja in den Regalen nach einem Werk über die alten Griechen. Sie entdeckte einen stockfleckigen Band mit dem Titel Göttliche Symbole, blätterte bis zu der griechischen Göttin vor und las: Athene war die Göttin der Weisheit und der Kriegskunst. Ihr sind Kriegssymbole zugeordnet, des Weiteren der Olivenbaum und die scharfsichtige Eule.

Eine Verwechslung war ausgeschlossen – bei dem unbekannten Segelschiff musste es sich um das Schiff von Thomas James handeln. Aber der Entdecker war seit über achtzig Jahren verschollen! Wer waren dann diese Frauen, die mit seinem Schiff unterwegs waren?

Was hatten die beiden angetrunkenen Seeleute gesagt? „Die Besatzung soll nur aus Weibern bestehen.“ Und: „Auf dem Schiff sollen alle Seeleute herumspuken, die sie schon umgebracht haben, darum nennt man das Schiff auch …“

Aleja bekam Herzklopfen.

Sie griff zu Die gefürchtetsten Piraten der Weltmeere und hatte rasch gefunden, was sie suchte:

Schattenschiff, das

Sagenumwobenes Piratenschiff. In Hafenschenken kursieren blutrünstige Schauergeschichten über die mordlustige Besatzung. Keine Sichtungen bekannt.

Jetzt war Aleja endgültig überzeugt, dass das unbekannte Schiff mit der Handelsflagge, das Schiff von Thomas James sowie das Schattenschiff ein und dasselbe Fahrzeug waren. Sie drückte die Bücher an sich und dachte wieder an die beiden Frauen.

Ihr wurde auf einmal klar, dass es schon immer Mädchen gegeben hatte, die wie sie selbst waren – Mädchen, die sich insgeheim brennend nach Abenteuern sehnten. Und wenn diese Mädchen groß waren, wurden sie Piratinnen.

Aleja musste sich das rätselhafte Schiff unbedingt näher ansehen.

Kapitel 4
Der Anfang einer Geschichte

ls die ersten Strahlen der Morgensonne in die Bibliothek fielen, stellte Aleja die Bücher zurück, doch dann hielt sie inne, weil etwas Funkelndes ihren Blick anzog.

In den Sockel des Regals war eine vergoldete Eule geschnitzt, aber sie war schon so abgewetzt, dass sie kaum noch zu erkennen war. Die Schnitzerei musste schon sehr alt sein. Aleja kniete sich hin und beklopfte den Sockel prüfend. Poch-poch-poch … Wieder hielt sie inne. Das letzte Pochen hatte hohl geklungen! Aufgeregt beugte sie sich vor und entdeckte einen schmalen Spalt, in den sie gerade mal den Fingernagel zwängen konnte. Es knarrte leise, dann klappte der Regalsockel plötzlich auf, sodass Staub und tote Fliegen durch die Luft wirbelten.

In der Öffnung, die zum Vorschein kam, lag ein Buch.

Bronzefarbene Buchstaben waren in den Einband geprägt: Thomas James. Mit bebenden Fingern zog Aleja ihren Fund heraus. War das etwa eins der verschollenen Tagebücher? Doch nein – dafür war das Buch zu dünn. Es enthielt nur sechs Blätter aus dickem, gelblichem Papier, und die Seiten waren leer. Aleja war enttäuscht. Sicherheitshalber betrachtete sie jede Seite eingehend, aber sie hatte nichts übersehen.

Sie richtete sich wieder auf und ihre Gedanken überschlugen sich. Auf dem Buch stand Thomas James’ Name. Sie hatte es in einem Geheimfach entdeckt, das mit dem gleichen Symbol verziert war wie sein Schiff. Und jemand hatte sich viel Arbeit gemacht, um das Buch in der Bibliothek zu verstecken – aber warum, wenn es doch leer war? Das Buch musste etwas zu bedeuten haben, da war Aleja sicher. Aber was nur?

Sie klemmte ihren geheimnisvollen Fund unter den Arm, kletterte wieder durchs Fenster und kehrte zum Hafen zurück.

Um diese frühe Stunde erwachte der Hafen. Wo Aleja auch hinsah, überall wurden große Kisten an dicken Tauen hochgehievt oder herabgelassen und Schiffe be- oder entladen. Der Guadalquivir-Fluss schlug richtige Wellen, als große und kleine Fahrzeuge umeinander herummanövrierten. Der lang gestreckte, gewundene Hafen zog sich an der Altstadt entlang, und Alejas Ziel war der östliche Kai. Dort lag eins der größten Docks, und die Seeleute, die an Land gingen, landeten praktisch alle direkt im El Puente.

Hinter Aleja erstreckte sich ein dichtes Gewirr aus Gassen und Gebäuden. Möwen kreischten, Salzgeruch tränkte die Luft. Wieder ging ihr durch den Kopf, wie nah das Meer doch war. Trotzdem hatte sie es noch nie gesehen, obwohl es per Schiff nur einen halben Tag entfernt war. Das goldene Buch fest unter den Arm geklemmt, ließ sie den Blick über das Hafengelände wandern und überlegte, wie sie sich dem sonderbaren Segelschiff unauffällig nähern könnte. Sie musste herausfinden, was es mit dem Schiff von Thomas James und seiner weiblichen Besatzung auf sich hatte.

Als sie sich ihren Weg zwischen den Kistenstapeln hindurchbahnte, musterte sie jeden, der ihr entgegenkam, entdeckte aber keine Frauen, die nicht hierherzugehören schienen. Zwei Männer, die ein schweres Fass schleppten, fluchten derb, als Aleja ihnen vor die Füße lief, aber sie ließ sich davon nicht aufhalten.

Am Kai hatte sich eine Schar Händler eingefunden. Sie priesen den Ankömmlingen lautstark ihre Waren an und schwenkten lockend Orangen und Olivenölflaschen. Es war zwar noch früh am Tag, aber Aleja musste sich trotzdem beeilen. Wenn die abuela aufstand, würde sie merken, dass ihre Enkelin nicht da war. Als Aleja an den Verkaufsbuden vorbeilief, rannte sie wieder in zwei Männer mit einem Fass hinein. Abermals wurde sie mit Flüchen überschüttet, und die Männer bückten sich nach dem Kleingeld, das ihnen heruntergefallen war. Aleja machte, dass sie weiterkam, aber dann horchte sie auf und blieb stehen. An einem Obststand sprach jemand stockendes Spanisch mit englischem Akzent, und dieser Jemand war eine Frau.

Aleja schlich näher, ganz Augen und Ohren und Neugier. Die Frau feilschte mit einem Budenbesitzer um einen Korb Orangen.

Sie trug eine Pluderhose, weiche Lederstiefel und ein weißes Hemd unter einer geschnürten Weste. Ihre sommersprossigen Wangen waren gerötet, sonst war sie eher blass. Auch auf der Nase hatte sie Sommersprossen und Fältchen um die Augen. Das lange kastanienbraune Haar war mit einem Lederband zurückgebunden. Ihre Aufmachung war so ungewöhnlich – eine Frau in Hosen! –, dass Aleja sie unwillkürlich mit offenem Mund anstarrte. Gehörte die Frau etwa zur Besatzung des Schattenschiffes? War sie eine Piratin? Aleja spürte, dass sie einem Rätsel gegenüberstand, zu dessen Entschlüsselung ihr noch ein paar entscheidende Hinweise fehlten – aber sie wollte es unbedingt lösen!

Sie überlegte noch, ob sie die Fremde ansprechen sollte, als die Frau sich umdrehte und Aleja so eindringlich musterte, als wollte sie ihr die Haut abschälen, um zu sehen, was sich darunter verbarg. Unwillkürlich überlegte Aleja, was die Fremde wohl vorfinden würde. Ein wogendes Muster aus Gedanken, Fantasiebildern und Träumen? Doch da hatte sich die Frau schon wieder abgewandt, die Orangen an sich genommen und reichte dem Händler nun das Geld. Aleja betrachtete sie noch einmal, und plötzlich schien sich die Zeit zu verlangsamen. Sonnenverbrannte Unterarme, schwielige Hände … und die Tätowierung, die unter dem hochgekrempelten Ärmel hervorlugte und eine Eule darstellte.

Die Frau nahm ihren Einkauf und ging davon. Aleja bekam einen Schreck. Jetzt oder nie!

„¡Espere! Wartet! Wait!“, stieß sie hervor, wusste aber nicht, ob sie es richtig aussprach, denn ihre Englischkenntnisse stammten ja nur aus Büchern. Bei ihren mitternächtlichen Besuchen in der Bibliothek hatte sie die fremden Vokabeln bei Kerzenschein vor sich hingeflüstert und sich vorgestellt, sie sei eine berühmte Entdeckerin auf einer Expedition zum Nordpol oder zum Nil, die fünfzehn Sprachen fließend beherrschte und sich auch sonst auf allen erdenklichen Gebieten auskannte. Aber noch nie hatte sie jemanden auf Englisch angesprochen, so wie jetzt in ihrer Angst, eine unwiederbringliche Gelegenheit zu verpassen.

Die Frau blieb stehen. „Du sprichst Englisch?“ Sie musterte Aleja stirnrunzelnd von oben bis unten. Aleja schämte sich, dass ihr Kleid schmutzig war. Nicht auszudenken, wie ihre Großmutter geschimpft hätte, wenn sie ihre Enkelin in dieser Verfassung ertappt hätte. Vor lauter Verlegenheit nickte sie nur stumm und hoffte, dass die Frau nicht auf den Zustand ihrer Kleidung achtete.

Tatsächlich schien sich die Fremde mehr für etwas anderes zu interessieren, denn ihr Blick blieb ganz kurz auf dem Buch in Alejas Hand hängen, um sogleich wieder zu ihrem Gesicht zurückkehren. Doch Aleja war nicht entgangen, dass die Frau geschluckt und ihre Miene sich verfinstert hatte, als sie den Titel auf dem Einband gelesen hatte. Sie hatte das Buch wiedererkannt. Mehr noch – Aleja spürte, dass die Fremde es in ihren Besitz bringen wollte. Sofort packte sie ihren Fund fester. Wusste die Fremde vielleicht, was das rätselhafte Buch für Geheimnisse barg?

Doch jetzt sagte die Frau: „Unsere Besatzung braucht jemanden, der sich mit Sprachen auskennt. Unsere vorige Sprachkundige ist …“, sie stockte kurz, „… nicht mehr da.“ Als sie Aleja strahlend anlächelte, verschwanden ihre Stirnfalten wie Mäuse, die davonhuschten. „Na, interessiert?“

Aleja, ein Mädchen, das Wörter so liebte – spanische, französische, englische Wörter, sogar ein paar arabische –, war auf einmal um Worte verlegen. Sie stand stumm da und drückte ihr Buch an sich, doch in ihrem Inneren herrschte wilder Aufruhr. Sollte sie mit der Fremden mitgehen? Die Versuchung war groß. Endlich ein echtes Abenteuer!

Aber etwas hielt sie zurück. Sie musste daran denken, wie Miguel zumute wäre, wenn sie so überraschend aus seinem Leben verschwand.

Der Mut verließ sie.

„Verstehe“, sagte die Frau, ließ Aleja aber immer noch nicht aus den Augen.

Aleja schaute zu Boden. Alles, was sie gern entgegnet hätte, schoss ihr durch den Kopf, doch als sie sich dazu durchgerungen hatte, es auszusprechen, war die Frau schon weg. Rasch drehte sich Aleja einmal um sich selbst, aber die Fremde war nirgends mehr zu sehen, war samt Pluderhose und Eulentätowierung von der Menge verschluckt. Aleja spürte, dass sie nicht zurückkommen würde.

Sie hatte sich immer ausgemalt, dass sie die erstbeste Gelegenheit zu einem Abenteuer bedenkenlos ergreifen würde, aber da hatte sie sich anscheinend überschätzt. Natürlich konnte sie immer noch versuchen, Thomas James’ Schiff auszuspionieren und herauszufinden, was die Besatzung vorhatte und wo das Schiff von Piraten überfallen worden war, und auch das Rätsel des Buches war noch ungeklärt, trotzdem war sie von sich selbst tief enttäuscht.

Wütend trat sie gegen das nächstbeste Fass. Es klirrte, und als Aleja durch ein Loch im Deckel spähte, sah sie es metallisch schimmern. Münzen! Das Fass enthielt Geld. Viel Geld. Ganz in der Nähe trugen Männer ähnliche Fässer auf ein Schiff. Aleja kannte etliche von ihnen, denn sie arbeiteten als Geldeintreiber für Juans Vater und waren oft gesehene Gäste im El Puente. Aber warum beluden sie das Schiff mit Fässern voller Geld? Aleja bückte sich nach ein paar heruntergefallenen Münzen und steckte sie ein. Die letzte behielt sie in der Hand und betrachtete sie von beiden Seiten. Dann ging ihr ein Licht auf. Das war Falschgeld!

Jemand packte sie grob am Kragen und zog sie von dem Fass weg. Aleja schnappte erschrocken nach Luft und trat um sich.