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Eine Woche darauf waren Lane und Glady auf dem Merritt Parkway Richtung Norden unterwegs und steuerten über die Ausfahrt Round Hill Road den exklusivsten Abschnitt im exklusiven Greenwich, Connecticut, an. Auf der Route 95 wären sie schneller vorangekommen, aber Glady wollte unbedingt die idyllische Landschaft zu beiden Seiten der Straße genießen. Lane saß am Steuer von Gladys Mercedes. Ihre Chefin war der Meinung gewesen, dass Lanes Mini Cooper nicht unbedingt das angemessene Gefährt sei, um am Bennett-Anwesen vorzufahren.
Glady hatte fast während der gesamten Fahrt geschwiegen, was Lane zu schätzen wusste. Wenn ihre Chefin reden wollte, würde sie schon das Wort ergreifen. Lane musste dabei an Queen Elizabeth denken, von der sie gehört hatte, dass man sie keinesfalls ansprechen dürfe, solange sie nicht selbst das Gespräch begann.
An der Ausfahrt sagte Glady jetzt: »Ich weiß noch genau, wie ich zum ersten Mal hierherkam. Parker Bennett hatte das riesige Haus gekauft, weil der ursprüngliche Bauherr darüber pleitegegangen war, noch bevor er einziehen konnte. Das Gebäude war ein Ausbund an schlechtem Geschmack. Ich habe einen Architekten mit dazunehmen müssen, und zusammen haben wir sämtliche Innenräume neu gestaltet. Mein Gott, in der Küche gab es eine Arbeitstheke in Form eines Sarkophags. Und das Speisezimmer war wie die Sixtinische Kapelle gestaltet. Michelangelo hätte sich im Grab umgedreht.«
»Das muss ein Vermögen gekostet haben, wenn du nicht nur für die Inneneinrichtung zuständig gewesen bist, sondern auch noch architektonische Veränderungen vorgenommen hast«, sagte Lane.
»Ja, es hat eine Riesensumme gekostet, aber Parker Bennett war das alles egal. Warum sich auch Sorgen machen? Das ganze Geld war ja sowieso das von anderen.«
Das Bennett-Anwesen lag am Long Island Sound. Das große rote Backsteinhaus mit seinen weißen Fenstern und Fensterläden war schon von der Straße aus zu sehen. Als sie in die Anfahrt bogen, fiel Lane auf, dass die Sträucher schon lange nicht mehr gestutzt worden waren und Laub auf den Rasenflächen lag.
Glady bemerkte es ebenfalls. »Der Gärtner war wahrscheinlich einer der Ersten, der gehen musste«, sagte sie trocken.
Lane parkte in der geschwungenen Anfahrt. Zusammen stiegen sie die wenigen Stufen zur schweren Eichentür hinauf. Kaum hatte Lane den Klingelknopf berührt, als auch schon geöffnet wurde.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, begrüßte Eric Bennett sie.
Während Glady die Begrüßung erwiderte, musterte Lane ihr Gegenüber. Eric Bennett, dessen Stimme sie so beeindruckt hatte, war von mittlerer Größe. Mit ihren zehn Zentimeter hohen Absätzen war sie kaum kleiner als er. Er hatte volles blondes Haar, durch das sich allerdings schon einige graue Strähnen zogen, und haselnussbraune Augen. Sie hatte sich ausführlich über den Fall Bennett kundig gemacht und musste jetzt feststellen, dass Eric die jüngere Ausgabe seines Vaters war, eines vornehmen, attraktiven Mannes, der unzählige Menschen um ihre Ersparnisse gebracht hatte.
Glady stellte sie vor. »Meine Assistentin, Lane Harmon.«
»Eric Bennett, aber das wird Sie kaum überraschen.« Ein ironischer Unterton schwang in seiner Stimme mit, und er lächelte verhalten.
Wie immer kam Glady sofort auf den Punkt. »Ist Ihre Mutter da, Eric?«
»Ja. Sie wird gleich runterkommen. Ihre Friseurin ist noch bei ihr.«
Lane erinnerte sich, dass Anne Bennett in dem Friseursalon, in dem sie langjährige Kundin gewesen war, nicht mehr gern gesehen wurde. Zu viele der anderen Kunden wollten mit ihr nichts mehr zu tun haben, nachdem sie oder ihre Familien Parker Bennetts Betrug zum Opfer gefallen waren.
Das große Eingangsfoyer machte einen trostlosen Eindruck. Die beiden geschwungenen Treppen führten hinauf zu einer Galerie, auf der ein ganzes Orchester Platz gefunden hätte. In den Wänden klafften Löcher.
»Die Tapisserien sind fort, wie ich sehe«, bemerkte Glady.
»Ah, ja. Seitdem wir sie hatten, ist ihr Wert um zwanzig Prozent gestiegen. Der Schätzer freute sich auch sehr über die Gemälde, die Sie für meinen Vater erworben haben. Sie haben ein gutes Auge, Glady.«
»Natürlich hab ich das. Ich habe mir den virtuellen Rundgang durch das Stadthaus in New Jersey angesehen, das Sie für Ihre Mutter erworben haben, Eric. Es ist gar nicht so schlecht. Wir können etwas sehr Reizendes daraus machen.«
Ganz offensichtlich hatte Glady in der Zeit, in der sie im Herrenhaus beschäftigt gewesen war, eine recht herzliche Beziehung zu Eric Bennett aufgebaut. Resolut wie immer streifte sie nun durch das Erdgeschoss.
Der hohe Raum links von ihnen war anscheinend das, was die meisten als Wohnzimmer bezeichnen würden, für Glady aber war es der »Salon«. Elegante Rundfenster gaben den Blick frei auf das weite Anwesen. In der Ferne war ein Poolhaus zu erkennen, eine Miniatur des Herrenhauses, dazu ein abgedeckter Swimmingpool. Das muss ja ein 50-Meter-Becken sein, dachte Lane. Und ich möchte darauf wetten, dass es ein Salzwasserpool ist.
»Ich sehe, sämtliche Antiquitäten und handgefertigten Möbelstücke sind mitgenommen worden«, kam es von ihrer Chefin.
»Auch etwas, was wir Ihrem guten Geschmack zu verdanken haben, Glady.« Diesmal glaubte Lane eine Spur von Verbitterung in Bennetts Ton herauszuhören.
Glady ging auf das indirekte Kompliment nicht ein. »Na ja, die Möbel im kleinen Aufenthaltszimmer sollten sich sowieso besser für das neue Stadthaus eignen. Sehen wir uns den Raum doch mal an.«
Sie kamen an einem Speisezimmer von herrschaftlichen Ausmaßen vorbei. Wie der Salon waren auch hier alle Möbel entfernt worden. Es folgte ein Raum, in dem offensichtlich die Bibliothek untergebracht gewesen war. Nun aber standen darin nur noch leere Mahagoni-Regale. »Ich erinnere mich noch an die kostbaren Raritäten Ihres Vaters.«
»Ja, er hat diese Bücher schon gesammelt, lange bevor er seinen eigenen Investmentfonds ins Leben gerufen hat«, kam es nun wieder ganz sachlich von Bennett. »Offen gesagt, wenn ich ein Buch lese, möchte ich es in den Händen halten und mir keinen Kopf darüber machen, ob ich das Papier oder die Illustrationen beschädigen könnte.« Er sah zu Lane. »Meinen Sie nicht auch?«
»Das sehe ich ganz genauso«, antwortete Lane mit Nachdruck.
Glady hatte ihr Fotos vom ursprünglichen Zustand der Räume gezeigt, die aufgenommen wurden, nachdem sie ihre Arbeit abgeschlossen hatte. Jeder Raum war in einem ganz eigenen Farbschema eingerichtet, was ihm Charme und Wärme verliehen hatte.
Jetzt war an dem Haus nichts mehr, was Charme und Wärme versprühen konnte. Alles fühlte sich heruntergekommen, fast trostlos an. Auf den Bücherregalen lag eine dünne Staubschicht.
Sie gingen weiter. Links folgte ein helles Zimmer, das noch mit einer bequemen Couch und ebensolchen Stühlen, einem runden Glastisch und dazu passenden Mahagoni-Beistelltischen mit herunterklappbaren Seitenteilen eingerichtet war. Geblümte Wandbehänge nahmen das Stoffmuster des Sofas wieder auf. Gerahmte Monet-Drucke an den Wänden und ein Teppich in einem weichen Grünton trugen zur einladenden Wirkung bei.
»Das war das Aufenthaltszimmer der Bediensteten, Lane«, sagte Eric Bennett. »Es hat seinen eigenen Zugang zur Küche. Bis letztes Jahr hatten wir sechs Hausangestellte.«
»Diese Möbel werden wir mit ins neue Stadthaus nehmen«, sagte Glady. »Sie sind ja noch ansprechender, als ich sie in Erinnerung hatte, und sie werden wunderbar in das Erdgeschosszimmer passen. Außerdem dürften sich die Möbel im Zimmer Ihrer Mutter im ersten Stock hier perfekt für das neue Wohnzimmer eignen. Dazu nehmen wir ein Bett aus einem der Gästeschlafzimmer. Das Bett im Master-Schlafzimmer ist zu groß für das Stadthaus. Genauso verfahren wir mit den anderen beiden Schlafzimmern. Laut meinen Unterlagen können wir das neue Speisezimmer mit dem Tisch und den Stühlen und der Anrichte des Frühstückszimmers bestücken. Also, kommt Ihre Mutter nun herunter, oder können wir nach oben?«
Eins lässt sich über Glady mit Gewissheit sagen, dachte Lane, sie kann wirklich sehr bestimmend sein. Gut, dass sie noch nach oben will, ich habe schon befürchtet, sie würde ausschließlich nach ihren Fotos arbeiten. Außerdem würde ich doch allzu gern noch die übrigen Räume sehen.
»Ich glaube, ich höre meine Mutter bereits«, sagte Bennett und machte abrupt kehrt. Glady und Lane folgten ihm und gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Lane hatte Fotos von Anne Nelson Bennett im Internet gefunden. Aber die in früheren Jahren so bezaubernde blonde Dame, die den obersten Gesellschaftsschichten angehört hatte und deren Lieblingsdesigner kein Geringerer als Oscar de la Renta gewesen war, war kaum noch zu erkennen. Sie wirkte abgemagert, ihre Hände zitterten leicht, und sie geriet ins Stocken, als sie sich an Glady wandte: »Ms. Harper, wie schön, dass Sie gekommen sind. Leider unter etwas anderen Umständen als das letzte Mal.«
»Mrs. Bennett, ich weiß, wie schwierig das alles für Sie war.«
»Danke. Und wer ist diese liebenswürdige junge Frau?«
»Meine Assistentin, Lane Harmon.«
Lane ergriff die ausgestreckte Hand. Anne Bennetts Händedruck war so schwach, als hätte sie keinerlei Kraft mehr in den Fingern.
»Mrs. Bennett, ich werde mein Bestes tun, um Ihr neues Heim präsentabel und bequem zu machen. Sollen wir nach oben, damit ich Ihnen zeigen kann, welche Möbelstücke ich für Sie ausgewählt habe?«, fragte Glady.
»Ja, natürlich. Mir sind nur noch die Stücke geblieben, denen bloß ein geringer Wert zugeschrieben wird. Ist das nicht großzügig? Aber jemand anderes hat das Geld gestohlen. Ist es nicht so, Eric?«
»Wir werden seine Unschuld beweisen, Mutter«, sagte Eric Bennett entschieden. »Lassen Sie uns alle nach oben gehen.«
Vierzig Minuten später befanden sich Glady und Lane auf dem Rückweg nach Manhattan. »Es ist fast zwei Jahre her, dass der Skandal publik wurde«, sagte Glady. »Die arme Frau, sie sieht aus, als würde sie immer noch unter Schock stehen. Und, was hältst du von dem Porträt des großen Betrügers, auf dem er den Betrachter so mildtätig anlächelt? Die Farbe war damals noch nicht trocken gewesen, als er verschwunden ist.«
»Es ist ein sehr gutes Gemälde.«
»Das sollte es auch sein. Stuart Cannon war der Künstler, und der ist, glaub mir, nicht billig. Bei der Auktion wollte es aber niemand kaufen, also durfte sie es behalten.«
»Ist es nicht trotzdem denkbar, dass Parker Bennett selbst hintergangen wurde?«
»Unsinn.«
»Und über den Verbleib der fünf Milliarden Dollar ist nichts bekannt?«
»Nein. Weiß der Himmel, wo Bennett sie versteckt hat. Auch wenn es ihm nicht viel hilft. Zumindest nicht, wenn er tot ist.«
»Meinst du, seine Frau und sein Sohn wissen, wo er sich aufhält – falls er tatsächlich noch am Leben sein sollte?«
»Keine Ahnung. Aber von einem kannst du ausgehen: Falls sie wirklich Zugang zu dem Geld haben, werden sie es niemals ausgeben können. Die Behörden wachen mit Argusaugen über jeden Cent, den sie für den Rest ihres Lebens unters Volk bringen.«
Lane erwiderte nichts darauf. Der Verkehr auf dem Merritt Parkway nahm zu, und sie tat so, als müsste sie sich darauf konzentrieren.
Glady, die so sehr damit beschäftigt gewesen war, sich von Anne Bennett zu verabschieden, hatte gar nicht mehr mitbekommen, dass Eric Bennett Lane gefragt hatte, ob sie mit ihm zum Essen gehen wolle.