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© Ali Smith

DIE AUTORIN

Lauren DeStefano wurde in New Haven, Connecticut geboren und war ihr ganzes Leben lang an der Ostküste zuhause. Sie absolvierte ihren Bachelor-Abschluss am Albertus Magnus College im Fach Kreatives Schreiben. Ihre Chemical Garden-Trilogie wurde zum New York Times-Bestseller.

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Lauren DeStefano

Fallende Stadt

Aus dem Englischen
von Andreas Decker

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© 2013 by Lauren DeStefano

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013

unter dem Titel »Perfect Ruin« bei Simon & Schuster, New York.

© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Aus dem Englischen von Andreas Decker

Lektorat: Catherine Beck

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock (MrVander, travelview, Vandathai, yevtushenko serhii)

he ∙ Herstellung: ang

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-21883-6
V002

www.cbj-verlag.de

Für meine Familie, die weiß, wie wichtig es ist,
über die Grenzen unserer Welt hinaus zu träumen.

Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort.
Dort treffen wir uns.

Dschalāl ad-Dīn ar-Rūmī

Die ersten Menschen waren besonders undankbar. Nach der Geburt von Sonne und Mond baten sie um die Sterne. Nachdem die Feldfrüchte aus dem Boden sprossen, baten sie um Tiere, die die Felder bevölkern sollten. Nach einer Weile war der Gott der Erde ihrer Forderungen überdrüssig und hielt es für das Beste, sie zu vernichten und mit bescheideneren Wesen noch einmal von vorn anzufangen. Es heißt, dass der Gott des Himmels die ersten Menschen für zu schlau hielt, um sie so einfach zu verschwenden. Er willigte ein, sie im Himmel zu behalten, vorausgesetzt, dass sie sich nie wieder am Boden einmischten.

Die Geschichte von Internment

Kapitel 1

Ihr kennt alle die Warnungen vor dem Rand. Man hat uns gelehrt, dass seine Winde ein Lied sind, das uns hypnotisieren wird. Und wenn wir aus dieser Trance erwachen, wird es zu spät sein.

»Unfassbare Götter«, Daphne Leander, zehnter Jahrgang

Wir verbringen unser Leben eingerahmt von den Zügen. Sie fahren ununterbrochen in einem perfekten Oval und halten in jeder Sektion fünfunddreißig Sekunden lang an, damit die Passagiere ein- und aussteigen können. Jenseits der Schienen, hinter dem Zaun, ist der Himmel. Ingenieure erfanden das Fernrohr, damit wir den Erdboden unter uns sehen können. Wir können hohe Gebäude und andere Arten von Zügen ausmachen, von denen einige im Boden verschwinden oder auf Brücken fahren. Wir können Teile von Städten und Dörfern sehen; es erinnert an das Flickenmuster von Lex’ Decken.

Aber wir konnten kein Fernrohr konstruieren, das fortschrittlich genug ist, um die Menschen dort zu erkennen – das ist nicht erlaubt. Wir wurden in den Himmel verbannt. Man hat mir erzählt, dass die Menschen am Boden unsere Stadt Internment aber sehen können. Welchen Anblick wir ihnen wohl bieten? Vermutlich ein riesiges Oval, an deren Unterseite Felsen und Wurzeln kleben. Auf Zeichnungen ist dargestellt, wie die Stadt als Ganzes aussieht. Als hätte eine riesige Hand in die Tiefe gegriffen und ein Stück aus dem Boden gegraben. Und wir schweben jetzt hier am Himmel.

Als Kind habe ich oft über den Tag nachgedacht, an dem Internment aus dem Boden gerissen und am Himmel platziert wurde. Ich habe mich gefragt, ob die Menschen sich dabei gefürchtet haben oder froh waren über ihre Rettung. Ich stellte mir vor, zur ersten Generation der Stadt zu gehören. Ich hätte meine Augen geschlossen und gefühlt, wie sich der Boden unter meinen Füßen nach oben bewegte, immer weiter in die Höhe.

»Ms. Stockhour«, sagt Ausbilder Newlan, »Sie träumen mal wieder mit offen Augen vor sich hin. Seite sechsundvierzig.«

Ich blicke auf das aufgeschlagene Schulbuch vor mir und merke, dass ich dem Stoff seit Seite zweiunddreißig nicht mehr gefolgt bin.

»Ich nehme nicht an, dass Sie etwas zu unserer Diskussion beisteuern möchten.« Er marschiert immer zwischen den Tischreihen auf und ab, wenn er unterrichtet, und jetzt ist er vor mir stehen geblieben.

»Das Sternenfest?«, frage ich, aber es ist nur eine Vermutung. Meine Gedanken wandern ständig, was Ausbilder Newlan bereits oft vergnügt Anlass gab, mich zu quälen. Das Kichern meiner Klassenkameraden bestätigt, dass ich mich irre.

»Wir sind jetzt bei Geografie«, sagt Pen neben mir. Sie richtet den Blick auf den Ausbilder. Ihre Locken schwingen dabei um ihre Wangen und erschaffen die perfekte Bühne für ihre zerknirschte Miene. Sollte Ausbilder Newlan zu dem Schluss kommen, dass es ihr leidtut, ungefragt gesprochen zu haben, wird er ihr keinen Strafpunkt geben. Er mag sie; sie schläft als Einzige nicht in seinem Geografieunterricht ein. Wenn sie älter ist, möchte sie gern bei den Kartografen arbeiten. Er wirft ihr einen trockenen Blick über den Brillenrand hinweg zu, blättert mein Buch zur richtigen Seite vor und fährt fort.

»Ich weiß, wir haben den ersten Dezember«, sagt er. »Ich weiß, dass wir uns alle auf das Sternenfest freuen, aber wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass bis dahin noch viel Stoff vor uns liegt.«

Das Sternenfest dauert den ganzen Monat, und bei den Vorbereitungen und der ganzen Aufregung ist es durchaus üblich, dass sowohl die Schüler als auch die Erwachsenen zu träumen anfangen. Aber während der Rest von Internment von ganz normalen Dingen träumt – Geschenke und die Bitten an den Himmelsgott –, träume ich von gefährlichen Dingen, die zu meiner Festnahme führen oder mich das Leben kosten könnten. Ich starre auf den Rand meines Pults und stelle mir vor, er sei das Ende meiner kleinen Welt.

Als der Unterricht zu Ende ist, warte ich auf Basil, bevor ich zur Tür gehe. Er besteht immer darauf, denselben Bus zum Zug zu erwischen, damit er mich nach Hause begleiten kann. Er sorgt sich. »Wo bist du nur mit deinen Gedanken?«, fragt er mich.

»Sie hat wieder über den Boden nachgedacht«, neckt mich Pen, hakt sich bei mir ein und drückt sich an mich. »Bei deinen ständigen Tagträumen über den Boden könntest du Schriftstellerin werden, davon bin ich fest überzeugt.«

Ich werde nie genug Disziplin haben, um einen Roman zu schreiben, nicht wie mein Bruder Lex, der die Meinung vertritt, dass ich viel zu optimistisch bin, um künstlerisches Talent zu haben.

Wir beeilen uns. Pen will ihrem Verlobten Thomas aus dem Weg gehen, und so, wie sie sich ständig umblickt, macht sie das nicht mal unauffällig.

Wir erreichen den Bus in der letzten Sekunde. Die Busse sind elektrische Fahrzeuge, viel kleiner als Zugwagen und darum für gewöhnlich sehr voll. Dicht zusammengedrängt stehen wir an der Tür. Mit einem leisen Seufzer der Erleichterung sinkt Pen in sich zusammen. Als wir losfahren, verlässt Thomas gerade erst die Akademie.

Basil greift nach der Halteschlaufe an der Decke, und ich nehme seinen Arm, als mich ein Ruck gegen ihn wirft. Die Gründe, aus denen man uns miteinander verlobt, erfahren wir nie, aber mir gefällt die Vorstellung, dass die Entscheidungsträger wussten, dass Basil mich eines Tages überragen würde. Wie mein Kopf in die Vertiefung zwischen seinem Hals und seiner Schulter passt, kann nur das Ergebnis guter Planung sein.

Ich halte Pens Handgelenk fest, damit sie nicht stolpert, aber sie hat nicht das geringste Problem, das Gleichgewicht zu halten. Sie blickt hinaus auf die Wolken, die jetzt vom abendlichen Sonnenlicht erfüllt sind. Sie schweben neben Internment, aber gerade, als ich glaube, dass sie uns treffen, schieben sie sich unter oder über unsere kleine Welt, als wären wir ein Stein in ihrem Wasser. Internment wird von einer Windsphäre eingehüllt, die Wolken daran hindert, in unsere Stadt einzudringen. Trotzdem scheinen sie nah genug zu sein, um sie berühren zu können.

Der Bus hält an und Fremde prallen gegen uns. Wir haben Glück, so nah an der Tür zu stehen, denn jeder will den Wagen schnell verlassen, um noch den Zug zu erwischen.

Der Zug ist nicht besonders voll. Nur die Plätze an der Vorderseite des Wagens sind besetzt. Dort sitzt eine Gruppe schwangerer Frauen, die sich über ihre Geburtsvorbereitungskurse unterhalten. Nach dem Umfang ihrer Bäuche zu urteilen, tragen sie eine Runde Januargeburten aus.

Der Unterricht der höheren Akademiejahrgänge endet eine Stunde nach den meisten Fabrikschichten und die jüngeren Kinder haben noch eine Stunde vor sich. Wir finden eine leere Sitzreihe, die breit genug ist, uns alle aufzunehmen. Ich schiebe Basil absichtlich zuerst hinein, damit Pen nicht am Fenster sitzen muss. Sie hat schon lange genug auf die Wolken gestarrt.

»Sie haben bereits mit den Festdekorationen angefangen.« Mit dem Kopf deute ich auf die silbernen Äste, die die Wagendecke schmücken. Da hängen kleine Metallgegenstände, die menschliche Wünsche symbolisieren sollen – Spielzeugbahnen, Bücher und winzige Pärchen, die Händchen halten. Messingsilhouetten wahrer Liebe.

Im Dezember übernimmt das Sternenfest die Stadt. Es ist eine Zeit für Geschenke an geliebte Menschen, um ihnen zu zeigen, wie dankbar wir dafür sind, sie zu haben. Und am letzten Tag dürfen wir eine große Bitte an den Himmelsgott richten. Jede Bitte wird auf ein ganz besonderes Stück Papier geschrieben, das wir mit niemand anderem teilen sollen. Die ganze Stadt kommt zusammen, dann zündet man unsere Papierstücke an und wirft sie in den Himmel wie Hunderte brennende Sterne. Wir umarmen einander und sehen zu, wie unsere größten Wünsche fortgetragen werden und schließlich erlöschen, um erfüllt zu werden. Oder auch nicht.

»Man hat mich gebeten, dieses Jahr bei dem Wandgemälde zu helfen«, sagt Pen und hebt mit bescheidenem Stolz das Kinn. »Anscheinend hat mich einer der Ausbilder dem Festkomitee empfohlen.«

»Das wird auch Zeit«, erwidere ich. »Du konntest dein Talent ja schließlich nicht für alle Ewigkeit geheim halten.«

Sie lächelt. »Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich etwas nervös. Diese vielen Leute, die mir sagen, was ich darzustellen habe. Ich war noch nie besonders gut darin, Befehle zu befolgen.«

Sie nimmt meine Schultern und dreht mich um, damit sie mein glattes dunkles Haar zu einem Zopf flechten kann. Ihrer Meinung nach verschwende ich meine Schönheit, indem ich mein Haar wie einen Mopp über die Schultern fallen lasse.

Basil kommentiert mein Erscheinungsbild nie, obwohl er manchmal von der Hoffnung spricht, dass unsere Kinder meine blauen Augen bekommen; das lässt ihn daran denken, wie das Wasser am Erdboden aussehen muss. Wir haben es noch nie aus der Nähe gesehen, aber wir haben ein paar Seen, die irgendwie grün sind.

»Berufe dich doch einfach auf die künstlerische Freiheit, sollte man dich herumschubsen«, sagt Basil. »Du kannst sie überzeugen, es auf deine Art zu sehen. Du kannst gut diskutieren.«

»Das ist wahr«, sagt Pen fröhlich. »Danke, Basil.«

Der Zug hält an, und jeder, der in der nächsten Sektion aussteigen will, steht auf, aber ihre Eile wird durch Verwirrung ersetzt. Das ist nicht der Bahnsteig. Basil reckt den Hals und versucht nach vorn zu sehen, aber Pen bemerkt die Lichter zuerst. Sie hört auf, mir einen Zopf zu flechten, und mein Haar fällt auseinander. Sie stößt mich in die Rippen. »Sieh doch.«

In der Ferne blitzt das Rotlicht eines Krankenwagens.

Um uns herum ertönt Gemurmel. Gelegentlich kommt es zu Notfällen, trotz der festgelegten Busspuren gibt es Unfälle, wenn Leute den Fahrzeugen zu nahekommen. Einmal gab es eine Verzögerung von über einer Stunde, weil ein Stück Vieh den Zaun durchbrochen hatte und von einem Zug getroffen worden war.

Pen und ich wollen aufstehen, um besser sehen zu können, aber ein Ruck wirft uns zurück in unsere Sitze. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Aber irgendwas stimmt nicht. Die Umgebung bewegt sich in die falsche Richtung.

Wir rollen zurück.

Pen ist ganz aufgeregt. »Ich wusste gar nicht, dass der Zug überhaupt rückwärtsfahren kann. Ob das wohl das Getriebe verkraftet?« Manchmal macht ihre Neugier sie mutig.

Ich beiße mir auf die Lippe und blicke aus dem Fenster, weil der Himmel immer gleich aussieht, ganz egal, in welche Richtung wir uns bewegen. Und der Himmel ist etwas Vertrautes. Der Himmel ist sicher.

Auf der anderen Seite des Zauns neben den Gleisen befindet sich eine halbe Meile Land. Ich habe noch nie einen Fuß auf die andere Seite der Bahngleise gesetzt – das ist uns verboten. Aber Lex hat es getan.

Auf Internment kann man sein, was man sich erträumt hat – Schriftsteller oder Sänger, Florist oder Fabrikarbeiter. Man kann den ganzen Nachmittag damit verbringen, die Wolken zu beobachten, denn sie sind so nah, als könnte man auf ihnen reiten. Es bleibt jedem selbst überlassen, ob er sein Leben in vollen Zügen lebt oder es verschwendet. Es gibt nur eine Regel: Du näherst dich nicht dem Rand. Tust du es dennoch, ist dein Leben vorbei. Mein Bruder ist der Beweis dafür. Er hat jeder meiner Spinnereien, den Boden einmal mit eigenen Augen zu sehen, einen erfolgreichen Dämpfer versetzt.

Mein Magen verkrampft sich, und ich vermag nicht zu sagen, ob es Aufregung oder Furcht ist.

Ich zwinge mich, den Blick vom Fenster zu lösen, und sehe Basil in die Augen.

Einige der anderen Passagiere scheinen aufgeregt zu sein, andere sind verwirrt.

Ein Mann in einem schwarzen Anzug, der ein paar Plätze weiter sitzt, erzählt gerade Pen, dass die Züge über Notfallsysteme verfügen, genau wie die Busse. Ihm zufolge ist der Zug schon einmal rückwärtsgefahren, mehrere Jahre vor ihrer Geburt, weil es Reparaturarbeiten an den Schienen gab.

»Vielleicht muss nur etwas gerichtet werden«, sagt er.

Eine der Schwangeren starrt an Basil und mir vorbei durch unser Fenster in den Himmel. Ihre Lippen bewegen sich. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich begreife, dass sie mit dem Gott des Himmels spricht. Das tun die Menschen von Internment nur, wenn sie verzweifelt sind.

»Dieses Rückwärtsfahren macht mich langsam schwindelig«, sage ich.

»Das liegt nur daran, dass du besorgt bist«, erwidert Basil. »Du hast einen großartigen Gleichgewichtssinn. Wie ging noch mal das Drehspiel, das du immer gespielt hast, als wir im ersten Jahrgang waren?«

Mir entfährt ein leises Lachen. »Eigentlich war das gar kein Spiel. Ich habe einfach nur gern gezählt, wie oft ich mich drehen kann, ohne zu fallen.«

»Ja, aber du hast es überall gemacht. Auf der Treppe und im Zug auf dem Mittelgang. Auf dem Straßenpflaster. Und dir scheint dabei nie schwindelig geworden zu sein.«

»Das ist aber eine seltsame Erinnerung«, sage ich, muss aber lächeln. Direkt nach dem Aufstehen war ich durch die Wohnung gewirbelt; ich war um meinen älteren Bruder herumgesprungen und hatte mich um die eigene Achse gedreht, wenn wir den Spiegel im engen Wasserraum teilten. Es trieb ihn in den Wahnsinn.

Eines Morgens richtete er gerade seine Krawatte und warnte mich, dass mich noch der Wind rauben und in den Himmel tragen würde, wenn ich nicht mit dem Drehen aufhörte. »Dann kriegen wir dich nie zurück«, versicherte er mir. Die Worte sollten mir Angst machen, füllten meinen Kopf aber nur mit romantischen Ideen, die dann Teil des Spiels wurden. Ich stellte mir vor, vom Wind getragen und am Boden abgesetzt zu werden, wo ich dann mit eigenen Augen sehen konnte, was unter unserer Stadt geschah. Ich konnte mir dort so großartige und unmögliche Dinge vorstellen. Dinge, die ich nicht einmal in Worte fassen konnte.

Die Verrücktheit der Jugend hatte mich furchtlos gemacht.

Unsere Geschlechter sind für uns beschlossen, bevor unsere Eltern ihren Platz in der Warteschlange eingenommen haben. Wie viel überlassen wir dem Gott des Himmels?

»Unfassbare Götter«, Daphne Leander, zehnter Jahrgang

»Du musst mich nicht bis zur Tür bringen.« Basil und ich bleiben vor meinem Apartment stehen. Sein Haus ist mühelos zu Fuß erreichbar, aber ich wäre nur ungern dafür verantwortlich, dass er nicht da ist, wenn sein kleiner Bruder aus der Schule kommt.

»Geht es dir besser?«, fragt er. »Deine Knie zittern nicht mehr.«

Ich nicke und blicke auf meine Hand. Er streicht mit den Fingerspitzen über meine Knöchel, unsere durchsichtigen Ringe fangen das Licht ein. Bis sie uns letztes Jahr endlich passten, mussten wir sie an Ketten um den Hals tragen. Wenn wir heiraten, wird sie der Juwelier öffnen und mit unserem Blut füllen – mein Blut in seinen Ring, sein Blut in meinen. Ich denke nicht darüber nach, wie es sein wird, ihn zu heiraten. Meine Mutter behauptet, dass ich nie über die Dinge nachdenke, über die ich nachdenken sollte, jetzt, da mein sechzehnter Geburtstag bereits zwei Monate hinter mir liegt. Aber ich betrachte meinen Ring und frage mich, ob die Blutabnahme schmerzen wird. Alice sagt, dass es nicht wehtut.

»Wenn du möchtest, hole ich dich morgen früh ab«, sagt er. »Um dich zum Bus zu bringen.«

Auf meinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus und ich kann seinen Blick nicht erwidern. »Nein. Das ist für dich doch nur ein Umweg, außerdem begleitet mich Pen. Ich sehe dich in der Akademie.«

Er berührt die scharfe Falte meines Uniformärmels und streicht meinen ganzen Arm entlang. In meinem Inneren erwacht etwas. »Also gut. Ich sehe dich morgen.«

»Ich dich auch.«

Er betritt das Treppenhaus, und ich blicke ihm hinterher und bemerke, wie gerötet die Haut in seinem Nacken ist.

Die Apartmenttür öffnet sich. Meine Mutter trägt eine mit Mehl bestäubte Schürze und drängt mich hinein. Sie hat an der Tür gelauscht.

»Du hättest ihn zum Abendessen einladen sollen. Es ist genug da«, sagt sie. »Du bist spät. Hast du den Zug verpasst?«

»Es gab ein Problem mit dem Zug«. Ich lasse meine Tasche vom Arm über die Lehne des Küchenstuhls rutschen.

»Ein Problem?« Sie klingt nicht besonders beunruhigt, während sie den Ofen öffnet und die Kasserolle überprüft.

»Er hielt an und dann musste er rückwärtsfahren.«

Sie klappt die Ofentür zu und wirft mir einen besorgten Blick zu.

»Dann ist er wieder in die richtige Richtung gefahren.« Ich knote meine rote Krawatte auf. Bei der ganzen Unruhe, die ich heute verspürt habe, hat die Krawatte allmählich die Wirkung eines Henkerknotens.

»Geht es dir gut? Niemand wurde verletzt?«

»Ein Stück voraus war das Blaulicht eines Krankenwagens zu sehen, aber ich habe nicht viel mitbekommen.« Ich will sie nicht beunruhigen; in letzter Zeit geht es ihr so gut. Es ist eine Weile her, dass sie ihr Rezept aufgebraucht hat. »Es ist bestimmt alles in Ordnung.«

Sie starrt mich noch einen Augenblick lang mit unleserlicher Miene an, dann blinzelt sie heftig, um sich von ihren Gedanken zu befreien. Wie auch immer sie aussahen. »Hier.« Sie stülpt mir Ofenhandschuhe über und drückt mir das mit einem Tuch bedeckte Gericht in die Hände. »Bring das nach oben zu deinem Bruder und Alice.«

»Mama, wenn du sie weiter fütterst, kommt Alice noch auf die Idee, dass du etwas gegen ihre Kochkünste einzuwenden hast.«

»Unsinn«, sagt sie. »Ich mache mir nur Sorgen. Das weiß sie.« Sie öffnet mir bereits die Tür, kann mich nicht schnell genug aus der Küche scheuchen. Für gewöhnlich mag sie meine Gesellschaft nach dem Unterricht. Sie lässt mich kleine Obstküchlein naschen und will wissen, was ich gelernt habe. Früher hat sie sich nach Basil erkundigt, aber seit er und ich unsere Ringe tragen, hat das nachgelassen. Sie sagt, es sei wichtig, dass Verlobte Geheimnisse teilen.

»Und sag deinem Bruder, ich erwarte, dass die Schüssel leer zurückkommt«, ruft sie mir hinterher, als ich das Treppenhaus betrete.

Ihre Erwartungen sind unrealistisch. Mein Bruder kann tagelang von Ideen und Wasser leben. Sein Apartment befindet sich direkt über unserem, sein Büro ist genau über meinem Schlafzimmer. Ich höre ihn ständig, aber vor allem spät in der Nacht. Wie er hin und her läuft. Dann flüstert er seine Romane in die Transkriptionsmaschine. Würde ich genau hinhören, könnte ich sein Gemurmel verstehen, und wie Alice ihn bittet, ins Bett zu kommen.

Meine Besuche nerven meinen Bruder oft, vor allem, wenn ich den Befehl unserer Mutter ausführe und ihm etwas zu essen bringe. Er sei zu alt, um wie ein Kind behandelt zu werden, sagt er. Aber als er und Alice heirateten, bewarben sie sich für eine Wohnung in diesem Gebäude, also kann ihn die ständige Nähe zu unseren Eltern nicht stören.

Ich klopfe an der Wohnungstür. Auf der anderen Seite höre ich Alice fluchen. Als sie öffnet, haben sich ein paar Haarsträhnen aus dem Band auf ihrem Kopf gelöst. Auf dem Küchenboden liegen ein paar verstreute Blütenblätter und Wasser. Auf der Kehrschaufel in ihrer Hand liegen die Splitter der unglücklichen Vase. In ihrer Wohnung gibt es immer Blumen und Lex stößt sie immer um.

Schüchtern halte ich das abgedeckte Essen hoch. »Von meiner Mutter.«

»Lex!«, ruft sie in Richtung der geschlossenen Tür am Ende des Korridors. Sie tritt zur Seite, um mich einzulassen. Es kommt keine Antwort, also geht sie los und klopft ärgerlich.

Der metallene Staubsaugerdiskus fährt wiederholt in die Ecke und versucht einen Ausweg zu finden. Die Kupferhülle ist voller Kratzer, das Getriebe jault angestrengt.

Alice kommt zurück, um Scherben aufzuheben. »Versuch du, ihn dort herauszubekommen«, sagt sie. »Vielleicht kommt er ja für dich raus. Ich weiß schon gar nicht mehr, dass ich verheiratet bin, so oft, wie er sich dort vergräbt.«

Während sie die Scherben aufsammelt, betrachte ich das rote Blut in ihrem Ring.

Ich stelle das Essen auf dem Herd ab, bevor ich den Korridor betrete – meine Mutter hatte die richtige Ahnung; der Herd ist kalt.

Vor der Bürotür meines Bruders bleibe ich stehen und drücke das Ohr gegen die Tür. Ich weiß nie, was er schreibt. Als ich noch ein Baby war, hat er mir aus seinen ersten Manuskripten vorgelesen. Zumindest hat er mir das erzählt – er flüsterte durch das Gitter meiner Wiege, die in dem Zimmer stand, das wir uns teilten, bis ich aufhörte zu schreien und er endlich schlafen konnte. Er will mir nicht verraten, worum es in den Geschichten ging. »Sie waren gruselig und brutal«, behauptet er. »Aber du hast kein Wort verstanden. Du hast nur gelächelt und bist eingeschlafen.«

Jetzt kann ich nicht hören, was er diktiert. Ich klopfe. »Lex?«

Das Murmeln verstummt. Seine Schritte sind deutlich zu hören, aber ich frage nicht, ob er Hilfe braucht. Wörter wie »Hilfe« sind aus seinem Apartment verbannt wie Internment vom Boden.

Die Tür öffnet sich und mir schlägt der Geruch von verbranntem Papier entgegen. In der Dunkelheit kann ich mühsam einen langen Papierstreifen ausmachen, der sich aus der Transkriptionsmaschine auf dem Tisch in der fernen Ecke des Zimmers zu Boden schlängelt und in Form von Tälern und Bergen aufschichtet. Aus dem geöffneten Getriebe steigen Rauchfähnchen.

»Man soll das Teil nur eine Stunde lang benutzen«, sage ich stirnrunzelnd. Unter seinen Augen zeichnen sich dunkle Ringe ab; er starrt durch mich hindurch. Einst waren sie so blau wie meine. Aber seit dem Vorfall sind sie erloschen. Sie sind grau, blutunterlaufen und erzählen eine ganz andere Geschichte als der Rest seines jugendlichen Gesichts. Mein Bruder könnte genauso gut vierundzwanzig wie hundert sein.

»Was ist passiert?«

»Mom hat mich mit dem Essen raufgeschickt. Wenn ich dich nicht überrede, ein paar Bissen zu nehmen, wird sie mich sofort wieder zurückschicken. Du musst nur eine Gabel voll essen; du weißt, dass sie mir jede Lüge sofort ansieht.«

»Was ist passiert?«, wiederholt er. Er weiß immer, wann es mir nicht gut geht.

»Nichts. Es gab ein Problem mit dem Zug. Komm raus und iss etwas.«

»Ich war mitten in einem Gedanken. Stell es einfach auf den Tisch.«

»Du wirst die Maschine noch kaputtmachen«, ruft Alice aus der Küche.

Ich werde nie begreifen, wie sich zwei Menschen, die sich so offensichtlich lieben, gleichzeitig so benehmen können, als würden sie sich hassen.

Lex gibt nach, schließt die Tür und ertastet sich an der Wand den Weg zur Küche. Alice hat das Wasser und die Blüten aufgewischt. Die Wohnung ist spärlich möbliert; dafür hat Alice gesorgt. So hilft sie Lex insgeheim. Sie ist ihm immer einen Schritt voraus und sorgt ohne Aufhebens dafür, dass er sicher ist.

Ich habe Lex überzeugt, etwas von der Kasserolle zu essen – eine seltene Leistung. Er hat gerade die erste Gabel in den Mund geschoben und will sich beschweren, als die Wohnungstür aufgestoßen wird.

Mein Vater steht mit rotem Gesicht und außer Atem auf der Schwelle. Der Kragen seiner blauen Wachmann-Uniform ist durchgeschwitzt.

»Dad?«, fragen Lex und ich gleichzeitig. Lex greift nach Alice’ Arm. Er macht sich immer Sorgen, sie könnte verschwinden.

Mein Vater braucht einen Moment, um Luft zu holen, aber dann wirkt er erleichtert. »Morgan …«, keucht er. »Deine Mutter hat mir gesagt, dass sie dich allein hier heraufgeschickt hat – sie hat nichts von dem königlichen Befehl gehört.«

»Welchem Befehl?«, will Alice wissen. Sie füllt ein Glas Wasser aus dem Hahn für ihn.

Er schüttelt den Kopf und nimmt es nicht an.

»Was ist denn, Dad?«, sagt Lex. »Du verbreitest Panik.«

»Morgan muss sofort nach unten kommen. Der König hat befohlen, dass sich heute Nacht jeder in seiner Wohnung aufzuhalten hat. Auf den Gleisen lag eine Leiche.«

Ein entrückter Teil von mir nimmt die Worte kaum wahr, aber ein anderer muss die Frage stellen. »Hat es also einen Unfall gegeben?«

»Nein, mein Herz«, sagt er. »Die anderen Wachmänner und ich untersuchen die Sache. Ein Mädchen wurde ermordet.«

Ich hatte keinen Grund, die Hand eines Gottes infrage zu stellen, erst recht nicht die Hand meines eigenen Gottes, bis jemand, den ich liebte, sich dem Rand näherte. Aber erleben zu müssen, dass weder meine Liebe noch meine Willenskraft ausreichten, um das kleine Mädchen, das bewusstlos in dem sterilen Raum lag, dazu zu bringen, die Augen wieder zu öffnen … Wie hätte ich diesen Gott, der über uns wacht, da nicht infrage stellen können? Vielleicht ist es nicht die Furcht vor unserer eigenen Sterblichkeit, die uns Angst vor dem Rand einflößt, sondern die Gedanken, auf die er uns bringt.

»Unfassbare Götter«, Daphne Leander, zehnter Jahrgang

Mutter und ich essen schweigend. Mein Vater ist gegangen, um den Vorfall zu untersuchen und von einer Tür zur anderen zu laufen, um sicherzugehen, dass auch jeder zu Hause und gesund ist.

Ununterbrochen denke ich an dieses Wort: »Mord«. Es ist ein staubiges, von Spinnweben eingehülltes Wort. Während meiner Lebenszeit gab es auf Internment keinen Anlass, es zu benutzen. Es ist mir nur in Büchern begegnet. So etwas geschieht nur auf dem Boden, wo es so viele Menschen gibt, die sich größtenteils fremd sind. Wo es so viele Orte gibt, an denen man Verschwörungen aushecken kann; wo Menschen so oft böse werden. Zumindest stelle ich es mir so vor. Niemand weiß genau, wie es am Boden zugeht. Nicht einmal König Furlow.

Wir haben Ingenieure, die den Boden aus der Ferne studieren und nach Möglichkeiten Ausschau halten, unsere Technologie zu verbessern. In den letzten paar Hundert Jahren hat sich Internment auf dramatische Weise entwickelt. Wir haben gelernt, Leitungen unter der Erde zu verlegen und Abflüsse für unsere Spülbecken und Wasserräume zu bauen. Der Strom der Stadt wird von den Glasländern erzeugt, einer Reihe von Paneelen und Kugeln, die Sonnenenergie sammeln und speichern, damit sie in Elektrizität verwandelt werden kann. Aber auf manche Bodentechnologien verzichten wir, weil sie unsere Welt nach Ansicht des Königs verkomplizieren und zu gefährlich machen würden. Der König sagt, dass der Boden seine Menschen gierig und verschwenderisch macht, während die Menschen von Internment einfallsreich und bescheiden sind.

Ich denke über das ermordete Mädchen nach. Über ihre letzten Augenblicke. Ich bin schrecklich und selbstsüchtig – das kann gar nicht anders sein –, denn sämtliche meiner Gedanken führen zu der Vorstellung, dass ich an ihrer Stelle hätte sein können.

Meine Mutter hat ihr Essen nicht angerührt. Sie spielt mit der Gabel und starrt aus dem Fenster auf der anderen Seite des Apartments. Die Sonne ist verschwunden, und der Zug eilt vorbei und lässt unsere Wände zum zweiten Mal erbeben, seit wir die Nachricht gehört haben. Die Leiche des Mädchens ist von den Gleisen entfernt worden, der Zug fährt wieder. Das Leben muss weitergehen. Falls nicht, gäbe es noch mehr Gründe zur Sorge.

»Es ist gut, dass Basil dich nach Hause begleitet hat«, sagt sie. »Vielleicht sollte er das von jetzt an immer tun.«

»Wird die Akademie morgen geöffnet sein?«

»Bestimmt«, sagt sie, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen. Die Aussicht ist genauso, wie sie es immer war – andere Apartments und hell erleuchtete Fenster. Aber etwas hat sich verändert; dort draußen befindet sich etwas Gefährliches, aber wir würden es nie finden, selbst wenn wir danach Ausschau hielten.

In der Jugend meiner Eltern gab es einen Mord. Zwei Männer hatten miteinander gekämpft, dabei hatten sie irgendwie das Treibsandland erreicht, und der eine hatte den anderen hineingestoßen. Danach wurde der Zaun um das Treibsandland neu gebaut, um dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder geschehen konnte.

Vor Hunderten von Jahren war das Treibsandland Ackerland, aber dann veränderte sich etwas. Es gibt Theorien über den atmosphärischen Druck oder dass der Gott des Himmels zornig wurde. Die Erde lockerte sich und geriet im Verlauf von Jahrzehnten in Bewegung, verschluckte Tiere, Nutzpflanzen und alles andere, was damit in Berührung kam. Ich habe Dias davon gesehen – eine wirbelnde Dunkelheit, die ständig in Bewegung ist.

Der Mörder war von einem verdorbenen Elixier, das von den Apothekern hätte vernichtet werden müssen, in den Wahnsinn getrieben worden. Als man ihn fand, war er fiebrig und völlig irrsinnig. Dem König blieb keine andere Wahl, als ihn endgültig entfernen zu lassen.

Ich räume die Teller weg, kratze die Essensreste in den Kompostschacht, von wo aus sie sofort in die Aufbereitungskammer im Keller gesaugt werden. Ich versuche mich mit Hausaufgaben zu beschäftigen, meine Mutter bietet sich nicht an, meine Arbeit zu überprüfen. Sie hat sich im Sessel zusammengerollt und berührt die Fransen von Lex’ Decke, die sie um die schmalen Schultern gewunden hat. Ich hasse es, wenn sie in diesen Zustand verfällt und so unsicher wird.

Ich gehe zwei Stunden zu früh ins Bett und höre zu, wie Lex über mir auf und ab geht. Als ich mich auf das Bett stelle und dreimal gegen die Decke klopfe, tritt kurz Stille ein, dann klopft er dreimal mit dem Fuß. Er sagt etwas mit gedämpfter Stimme, meiner Meinung nach »Schlaf endlich«.

Als Kinder teilten wir uns ein Etagenbett und er schlief oben. Sein Licht brannte bis spät in die Nacht, und manchmal lag ich wach da und sah seinem Schatten zu, der sich an der Decke bewegte, während er schrieb. Dann klopfte ich gegen die Unterseite des Betts und bekam nur »Schlaf endlich« zur Antwort.

Aber ich bin zu unruhig, also gehe ich zu meinem Schlafzimmerfenster und öffne es. Wenn ich den Kopf weit genug herausstrecke, kann ich links ein kleines Stück von den Glasländern sehen. Die sind eigentlich von überall aus zu sehen, da sie sich im Herzen der Stadt befinden. Nur die Sonneningenieure dürfen den summenden Zaun passieren, der sie umgibt. Aber aus der Ferne sieht es aus wie eine Miniaturstadt aus Glas. Als ich klein war, habe ich mir vorgestellt, dass dort Menschen leben. Manchmal tue ich das noch immer. Eine Stadt in einer Stadt. Was könnte sicherer sein?

Ich sage mir, dass ich sicher bin. Das ermordete Mädchen hatte keinen Verlobten, der es beschützte, so wie Basil mich beschützt. Sie hatte keinen Bruder eine Etage über ihr und keine Mutter im Nebenraum und einen Vater bei den Wachmännern. Sie hat sich nicht an ihre Routine gehalten. Sie war nicht wie ich. Das konnte sie gar nicht sein.

•••

Ich träume von einem wütenden Gott im Himmel, der die Atmosphäre mit Blitzen und dunklen Windböen erfüllt. Er ist aus meinem Schulbuch zum Leben erwacht und verbirgt sein Gesicht, aber er ist der Maestro eines Orchesters der Elemente. Seine Winde lassen die ganze Stadt erbeben, ihre Ränder zerbröckeln. Man hat uns bereits vom Boden verbannt, jetzt hat sich auch noch der Himmel gegen uns gewandt. Es bleibt kein Fluchtort mehr übrig.

Die Stimme meines Vaters weckt mich. Er hat meine Nachttischlampe eingeschaltet. Ihr Licht wirft harte Schatten auf sein Gesicht. »Morgan?«, flüstert er. Er ist noch immer in Uniform, er muss gerade erst zurückgekommen sein.

Ich richte mich auf. »Was ist los?«, frage ich und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Der Albtraum löst sich bereits auf, während ich mich an die finsteren Teile des Tages erinnere.

»Morgan.« Er setzt sich auf meine Bettkante. »Manchmal befürchte ich, dass du zu sehr behütet wirst.«

»Behütet? Wovor? Solche Dinge passieren doch normalerweise nicht.«

»Du bist mittlerweile alt genug, um das Leben so zu sehen, wie es wirklich ist.«

»Und wie ist es?«, frage ich.

»Unberechenbar. Meistens gut, aber manchmal auch schrecklich. In wenigen Minuten werden sich die Bildschirme einschalten und König Furlow wird über den Vorfall auf den Gleisen sprechen. Es wird ein ehrlicher Bericht werden. Ich weiß, du hast in deinen Schulbüchern von anderen Vorfällen gelesen, aber das wird beunruhigender sein. Ich finde, du solltest es sehen, aber ich überlasse dir die Entscheidung.«

Ich muss nicht mal darüber nachdenken. »Ich will es sehen.« Ich schlage die Decke zurück und greife nach meinem Morgenmantel, der über dem Bettpfosten hängt.

Mein Vater zerzaust mir das Haar, während er aufsteht. Ich sorge mich um ihn; er spricht nur selten über seine Arbeit als Wachmann, aber ich vermute, dass es sehr anstrengend ist, die Ordnung aufrechtzuerhalten und dafür zu sorgen, dass wir alle sicher sind. Und dabei die ganze Zeit zu wissen, dass es Dinge gibt, die man nicht kontrollieren kann. Für ihn muss das ermordete Mädchen wie eine persönliche Niederlage sein. Irgendwo auf Internment sind heute Nacht Eltern, die keine Tochter mehr haben. Wie lange haben die Eltern des ermordeten Mädchens in der Schlange warten müssen, um es zu bekommen? Da sie tot ist, wessen Geburt wird man jetzt erlauben? Stirbt jemand vor seinem Entfernungsdatum ohne den dazugehörigen Partner, gestatten die Entscheidungsträger für gewöhnlich die Geburt von zwei Kindern, damit sie verlobt werden können.

»Pass auf, dass du deine Mutter nicht weckst«, sagt Vater auf dem Weg durch Wohnzimmer und Küche.

»Wird sie es nicht sehen wollen?« Die Bildschirme werden so selten angestellt.

»Nein.« Er öffnet mir die Tür. »Wird sie nicht.«

•••

Unten füllt sich der Übertragungsraum mit verschlafenen Mietern. Viele tragen Pantoffel und Morgenmantel; es sind auch Uniformen von Wachmännern zu sehen. Abgesehen von einem schlummernden Säugling in den Armen einer Frau sind keine Kinder anwesend. Alle unterhalten sich in gedämpftem Ton, haben Freunde und Verwandte in der kleinen Menge gefunden. Es ist beinahe Mitternacht und der größte Teil der Stadt würde jetzt schlafen. Ausgenommen die Wachmänner und Leute wie mein Bruder, die das niemals tun.

Die Lobby ist bereits für den Beginn des Sternenfests geschmückt. Von der Decke hängen Papierlaternen, die von kleinen elektrischen Glühbirnen erhellt werden und mit Schrägschrift bedeckt sind. Sie sollen die Bitten symbolisieren, die wir an den Gott des Himmels richten werden.

Ich frage mich, worum das ermordete Mädchen wohl gebeten hätte.

Ich verdränge den Gedanken und halte nach Lex und Alice Ausschau, stattdessen finde ich Pen. Sie löst sich von ihren Eltern, läuft zu mir und nimmt meine Hände. »Ist das zu glauben?« Ihre grünen Augen sind groß vor Aufregung und Furcht. »Weiß dein Vater, wer es war?«

»Vermutlich weiß ich genauso viel darüber wie du.« Es tröstet mich, wie sie den Arm um mich legt. Mir kommt der schreckliche Gedanke, dass das ermordete Mädchen genauso gut sie hätte sein können, dass sie nächste Woche nicht mehr als eine Handvoll in den Wind geworfene Asche sein könnte. Und dann verspüre ich selbstsüchtige Erleichterung darüber, dass die Tote nicht aus meinem Umfeld kommt. Es war nicht Pen oder Alice oder meine Mutter.

Auf der anderen Seite des Zimmers hat sich mein Vater zu Alice gesellt. Lex ist nicht bei ihr. Ich verstehe; er hat so viele schreckliche Dinge erlebt, dass es für ein ganzes Leben reicht. Ständig muss ich daran denken, wie er früher war, mit diesem aufmerksamen und konzentrierten Ausdruck, das Gesicht vom Becherglas vergrößert, das er ins Licht hielt. Er war einer der besten Pharmaziestudenten und wurde mit Aufgaben geehrt, die die meisten anderen nicht vor ihrem Abschluss übernehmen durften. Aber nach dem Vorfall verbrannte er all seine Unterlagen und gab das Handwerk völlig auf. Jetzt verdient er Geld mit dem Nähen von Steppdecken – seine Arbeit ist sprunghaft, aber geschickt, und die Decken bringen immer die höchsten Preise ein. Sein Geschick und seine Präzision geben anderen Herstellern Anlass zum Neid.

Pen drückt sich eng an mich. »Sieh nur.«

Ein Wachmann bearbeitet den Bildschirm und schraubt an den Knöpfen herum, um das statische Rauschen zu beseitigen. Der Bildschirm ist mehr als hundert Jahre alt, die bronzene Verkleidung beinahe völlig abgeblättert. Die Drähte sind zerfranst, ein paar Funken lassen jemanden in der Menge ein Keuchen ausstoßen.

Aber das Bild wird übertragen. Zuerst ist es verzerrt, König Furlow bebt und ist grün, bevor der Wachmann gegen den Bildschirm schlägt und das Bild rechtzeitig zu annehmbarer Klarheit veranlasst, damit wir sehen können, wie der König seine rote Melone abnimmt und vor sein Bäuchlein hält.

König Furlow kann seine Herkunft bis zu den Anfängen von Internment zurückverfolgen. Sein ältester Vorfahr steht als der einzige Mann im Geschichtsbuch, der dazu auserwählt war, vom Gott des Himmels zu hören. Keiner weiß genau, wie der Himmelsgott mit dem König spricht, aber es ist Internments älteste Tradition, die von einer königlichen Generation zur nächsten weitergereicht wird. Ich habe ihn nie darum beneidet; die Stimme einer ganzen Stadt zu sein, muss eine schreckliche Last darstellen.

Der Rest von uns wendet sich an den Gott des Himmels, wenn wir Angst haben oder dankbar sind. Und wir erwarten auch keine Antwort.

Der König wird von seinen Kindern flankiert: Prinzessin Celeste und ihr älterer Bruder Prinz Azure. Beide versuchen eine ernste Miene zu machen, erscheinen aber nur gelangweilt. Obwohl das Bild schwarz-weiß und leicht unscharf ist, ähneln beide ihrer Mutter und der Mutter ihrer Mutter. Und so weiter, so weit die Aufzeichnungen reichen. Blonde Haare und klare funkelnde Augen, ein bisschen plump im Gesicht. Sie sind sechzehn und siebzehn, damit sind sie sich altersmäßig näher als alle anderen Geschwister von Internment. Die Kinder des Königs werden traditionell außerhalb der Schlange geboren. Wenn die Königin ihre Schwangerschaft verkündet, sehen sie und der König die Liste der hoffnungsfrohen Eltern in der Schlange durch und wählen persönlich die Bewerber aus, die ihrer Meinung nach geeignet sind, die Verlobten für ihre Kinder auszutragen. Natürlich können sich die hoffnungsfrohen Eltern weigern, aber in der Geschichte der Stadt hat sich niemand je die Chance entgehen lassen, ein Kind ohne lange Wartezeit zu bekommen.

»Um sechzehn Uhr fünf heute Abend hat der Leichenbeschauer offiziell festgestellt, dass der Tod einer sechzehnjährigen jungen Dame die Folge eines Mordes war«, fängt der König an. »Ich warne alle, die jetzt zu Hause zusehen, dass viele der nun folgenden Einzelheiten drastisch sind. Es sollten keine kleinen Kinder anwesend sein.«

Die anderen Mieter rücken näher zusammen. Pen und ich legen die Arme umeinander. Mein Blick auf den Bildschirm ist teilweise von den Leuten vor mir blockiert, aber ich verrenke mir nicht den Hals, um besser sehen zu können.

Auf der anderen Seite kaut Alice am Daumennagel und nickt, weil mein Vater ihr gerade etwas gesagt hat.

Als das Schulfoto der Ermordeten gezeigt wird, ertönen Gemurmel, Aufstöhnen und viele »O nein!«. Sie hat ein schüchternes Lächeln und ihre Lider sind mit Glitzer bestäubt. Ein strahlender Anblick, ist mein erster Gedanke. Trotz des Schwarz-Weiß-Bilds kann ich mir vorstellen, dass ihr Gesicht so richtig Farbe hat.

»Oh«, flüstert mir Pen ins Ohr. »Ich kenne sie. Wir waren zusammen in einem Kurs über romantische Literatur.«

»Daphne Leander, eine Schülerin des zehnten Jahrgangs und angehende Medizinstudentin, ist vermutlich heute Morgen gestorben«, fährt der König fort. »Wie ihre Eltern unseren Wachmännern berichtet haben, haben sie sie zuletzt gesehen, wie sie den Bus zur Akademie bestiegen hat.«

Danach gibt es keine Einzelheiten mehr. Sämtliche ihrer Ausbilder haben sie als nicht anwesend registriert. Keiner der befragten morgendlichen Passagiere hat bestätigt, dass sie überhaupt in den Zug gestiegen ist. Am frühen Abend wurde sie gefunden. Der Hals und die Handgelenke waren aufgeschlitzt. Alles deutet darauf hin, dass sie verblutet ist. Wie ihre Leiche am helllichten Tag auf die Bahngleise kam, wird noch untersucht.

»Bis der Kriminelle, der für diese grausame Tat verantwortlich ist, gefunden wurde, werden in jedem Zug, auf jedem Bahnsteig und vor den Türen eines jeden Gebäudes in Internment Wachmänner stationiert.«

Pens Mutter steht ein paar Schritte entfernt und winkt ihre Tochter zu sich, damit sie sie umarmen kann, aber meine Freundin rührt sich nicht.

»Es ist wichtig, dass ihr alle mit eurem normalen Tagesablauf weitermacht«, sagt der König. Daphnes Foto wird durch eine Karte von Internment ersetzt. »Das Theater und die Geschäfte in den Einkaufsvierteln werden ihre üblichen Öffnungszeiten beibehalten. Es werden ständig Wachmänner zu sehen sein – berichtet jede verdächtige Aktivität, ganz egal, wie unwichtig sie auch in diesem Augenblick erscheinen mag.«

Panik breitet sich in mir aus wie Schlingenpflanzen, die von meinen Zehen bis in meinen Magen reichen, sich um meine Eingeweide schlingen und verknoten. Internment sieht auf dem Bildschirm so klein aus. Ein Zug würde weniger als zwei Stunden brauchen, um es einmal zu umkreisen. Innerhalb dieses Kreises befinden sich alle, die ich je geliebt habe, und jeder Ort, an den ich jemals gehen werde. Aber die Stadt ist beschmutzt worden, Hässlichkeit breitet sich aus wie die Farbe eines in Wasser getauchten Teebeutels, bis alles von ihr bedeckt ist. Dort draußen ist jemand, der dazu fähig ist, die Haut eines jungen Mädchens aufzuschlitzen und es dann einfach irgendwo abzuladen.

»Mir ist übel«, sage ich.

»Mir auch«, flüstert Pen.

Als die Übertragung vorbei ist, füllt sich der Bildschirm mit Schnee.

»Margaret«, ruft Pens Vater ungeduldig. Sie stößt ein Grunzen aus. Er ist der Einzige, der ihren richtigen Namen benutzt. Selbst ihre Ausbilder rufen sie Pen, obwohl auf ihren Formularen und ihrer Schülerausweiskarte etwas anderes steht.

Wie betäubt sehe ich zu, wie sie zu ihren Eltern geht, aber vorher hat sie mir noch die Hand gedrückt. Die Versammlung löst sich auf, aber ich kann meinen Vater und Alice nirgendwo entdecken. Ich gehe zur Treppe, und sobald sich die Tür hinter mir schließt und ich allein bin, renne ich die vier Treppenabsätze zum Apartment meines Bruders hinauf. Die Tür ist verschlossen; dabei ist sie das niemals. Ich rüttle am Türknauf, dann hämmere ich wild gegen die Tür. Drinnen ertönen schlurfende Schritte, und ich weiß, dass er auf dem Weg ist, mich hereinzulassen, aber im Treppenhaus ertönen ebenfalls Schritte, und hinter der Ecke, wo eine Birne kaputtgegangen ist und Schatten das Licht verdrängen, könnte alles Mögliche lauern.

Die Tür öffnet sich und ich eile hinein und schlage sie hinter mir zu.

»Morgan?«, fragt er. Selbst ohne sein Augenlicht erkennt Lex meine Gegenwart sofort. Sein dunkles Haar ist an einer Seite zusammengeknüllt; wenn er schreibt, zieht er ständig daran.

Ich will etwas sagen, aber meine Lippen beben. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, durch den Aufstieg bin ich völlig atemlos.

»Du hast dir die Übertragung angesehen, richtig?«, fragt er. »Schon gut. Atme. Setz dich.« Er schiebt für jeden von uns einen Küchenstuhl zurecht.

»Pen kannte sie«, platze ich hervor. »Sie wollte Medizinerin werden. Sie war in meinem Alter. Und sie war hübsch.« Mir ist nicht mal bewusst, was ich da sage. Die Worte verschwimmen wie die Stadt durch ein Zugfenster. Meine Lunge schmerzt.

»Morgan.« Mein Bruder greift quer über den Tisch und nimmt meine Hände. »Jede Generation hat ihre Horrorgeschichten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis genau vor deinen Augen etwas Schreckliches passiert. Manchmal ist es eben schrecklich, am Leben zu sein.«

»Sag so was nicht. Das ist überhaupt nicht schrecklich.«

Dort draußen ist so viel Schönes, das Daphne Leander nie wieder sehen wird.

Lex’ Miene ist voller Mitleid, als wäre ich diejenige, die man bedauern müsste.

»Warum sagst du solche Dinge?«, will ich wissen.

»Weil ich als Pharmaziestudent Leben gerettet habe«, antwortet er. »Und du kannst nicht der Grund dafür sein, dass jemand lebt, ohne darüber nachzudenken, was Leben überhaupt bedeutet.«

Ich ziehe die Hand weg. »Erinnere mich daran, dich niemals um Hilfe zu bitten, wenn ich sterbe.«

»Sei nicht böse. Es tut mir leid. Morgan, es tut mir leid. Ich wünschte, du hättest niemals mit solchen Dingen in Berührung kommen müssen.«

»Aber du schreibst doch darüber. Oder etwa nicht? Dass Menschen sterben und vom Treibsand verschlungen werden oder dergleichen.«

»Manchmal«, gibt er zu. »Du hast also finstere Geschichten gelesen? Wird in denen nicht gestorben?«

»Aber ich weiß, dass sie nicht echt sind«, sage ich. »Ich schlage das Buch zu und mein Leben geht weiter.«

Er runzelt die Stirn. »Die Dinge verändern sich, Schwesterchen, und nicht zum Besseren. Das fühle ich. Wenn ich könnte, würde ich Internment am Boden verankern und dich an einen strahlenden Ort bringen.«

»Internment ist ein strahlender Ort«, erwidere ich. »Es ist mehr als genug.«

Mehr als genug, wiederhole ich immer wieder in Gedanken und zwinge sie dazu, die Wahrheit zu sein.