cover

Buch

London 1884. Als die Hotelangestellte Sara Smythe ein Mädchen davor bewahrt, aus einem Fenster zu stürzen, ahnt sie nicht, dass dies ihr Leben für immer verändern wird. Denn der dankbare Vater, der Architekt Theodore Camden, verschafft ihr eine Anstellung im Dakota, einem luxuriösen New Yorker Apartmenthaus. In New York findet Sara ein Glück, größer, als sie es sich je erhoffte. Doch hier ist es auch, wo all ihre Träume zu Grabe getragen werden.

1985 ist das Dakota die letzte Hoffnung für Bailey Camden, die nach ihrem gesellschaftlichen Absturz ohne Job, ohne Geld und ohne Dach über dem Kopf dasteht. Bailey verbindet viel mit dem Dakota, denn ihr Urgroßvater war Theodore Camdens Mündel. Als Bailey zufällig einen Koffer mit der Hinterlassenschaft von Sara Smythe entdeckt, stellt dieser Fund alles infrage, was sie über Theodore zu wissen glaubte – und über die Frau, die ihn angeblich getötet hat …

Autorin

Die gebürtige Kanadierin Fiona Davis wuchs in New Jersey, Utah und Texas auf. Ihre Karriere als Schauspielerin führte sie schließlich nach New York, wo sie heute noch lebt. Ihre Wahlheimat New York prägt auch ihr Schreiben, sei es als Journalistin oder als Romanautorin.

Fiona Davis im Goldmann Verlag:

Wovon sie träumten. Roman

( auch als E-Book erhältlich)

Die Hoffnung der goldenen Jahre. Roman

( auch als E-Book erhältlich)

FIONA DAVIS

Die Hoffnung der goldenen Jahre

Roman

Deutsch von
Doris Heinemann

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Address« bei Dutton, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2018

Copyright © 2017 der Originalausgabe by Fiona Davis

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

All rights reserved.

This edition is published by arrangement with Dutton, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Paar: Arcangel/Susan Fox;

Dakota Apartment House: Getty Images/Universal History Archive; Brücke und Landschaft: istock/robertcicchetti

Redaktion: Ele Zigldrum

An · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22610-7
V001

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Caitlin, Erin und Lauren

Kapitel 1

London, Juni 1884

Es war der Anblick eines Kindes auf der Fensterbank von Zimmer 510, der Saras Leben auf den Kopf stellte.

Nachdem sie sich mehrere Jahre lang als Zimmermädchen geplagt und dabei mühsam hochgearbeitet hatte, war sie einen Monat zuvor mit der Stellung der Hausdame im Londoner Langham Hotel belohnt worden. Eine ihrer Hauptaufgaben bestand darin, über die Zimmermädchen zu wachen, die allesamt sehr jung und nur in Ausnahmefällen mit einem Funken Verstand begabt waren. Häufig traf Sara sie dabei an, wie sie, statt die Zimmer in Ordnung zu bringen, in den Fluren kicherten oder mit den Hotelpagen flirteten, die Teetabletts und Blumen austrugen.

Heute Morgen war sie in das Büro des Geschäftsführers einbestellt und dafür gerügt worden, dass sie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht streng genug vorging.

»Sie sind sehr nachsichtig. Wir fragen uns fast schon, ob Sie nicht einfach noch zu jung für diesen Posten sind«, erklärte Mr Birmingham hinter seinem Schreibtisch aus Walnussholz, der trotz seiner eleganten schmalen Beine in etwa die Ausmaße eines kleinen Bootes hatte.

Sara, die unlängst dreißig geworden war, fühlte sich keineswegs jung und hatte ohnehin nie jugendlichen Leichtsinn an den Tag gelegt. In ihrer Anfangszeit im Langham hatte sie alle auf Vergnügungen zielenden Freundschaftsangebote gleichaltriger Zimmermädchen abgelehnt, weil sie wusste, dass sie sich hervortun musste, wenn sie schnell aufsteigen wollte. Dieses Kalkül hatte sich ausgezahlt, und ihr höherer Lohn machte das Fehlen von Freundinnen mehr als wett.

Doch Mr Birmingham, der seinen Spaß daran hatte, die jüngeren Zimmermädchen zum Weinen zu bringen, war dennoch unzufrieden. Er befahl ihr, Platz zu nehmen. Saras Vorgesetzter war klein und hatte das Pech, dass sein Oberkörper einem Ei mit zwei Dottern glich. Sie überragte diesen Mann um mehrere Zentimeter. Und dennoch blickte Mr Birmingham von seinem thronartigen Sitz irgendwie auf sie herab. Das war bei ihrem letzten Besuch in seinem Büro noch nicht der Fall gewesen. Sie warf einen verstohlenen Blick Richtung Fußboden. Die unteren fünf Zentimeter seiner Stuhlbeine waren leicht anders gefärbt als der Rest. Er hatte sie verlängern lassen.

Als sie wieder zu ihm aufblickte, plusterte er sich auf wie ein Singvogel, offensichtlich verärgert darüber, dass sie es gemerkt hatte.

Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Es tut mir leid, Mr Birmingham. Ich werde strenger zu den Mädchen sein.«

»Wenn sie Probleme machen, geben Sie ihnen eine Ohrfeige. Oder noch besser, Sie schicken sie zu mir, und ich übernehme das für Sie.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

O ja. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er das enorm genießen würde. »Gibt es sonst noch etwas?«

»Nein, Mrs Smythe. Fort mit Ihnen.«

Sie musste sich immer noch daran gewöhnen, mit Mrs angesprochen zu werden. Seltsam, wie eine einfache Beförderung nicht nur einen Lohn mit sich brachte, von dem sie endlich leben konnte, sondern auch eine Anrede, die nichts mit ihrem Verheirateten- oder eben Nicht-Verheirateten-Status zu tun hatte. Als Hausdame durfte man nicht mit Miss angeredet werden. Das gehörte sich einfach nicht. Die Mädchen neigten immer noch dazu, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen, auch in diesem Punkt musste sie strenger durchgreifen. Mr Birmingham durfte auf keinen Fall zufällig mitbekommen, dass sie sie Sara riefen. Das würde das Fass zum Überlaufen bringen und sie ihren Posten kosten.

An diesem heißen Juninachmittag war sie, nachdem sie durch alle Flure und das Untergeschoss patrouilliert war, um etwaige heimliche Zusammenrottungen zu unterbinden, in ihr Dienstzimmer im fünften Stock zurückgekehrt und wollte noch einmal die Wäschereirechnungen überprüfen. Sie brauchte eine Pause vom Böse-Blicke-Werfen, ihr Gesicht war schon ganz müde von all dem Grimm. Das einzige Fenster des Raums war so weit wie möglich geöffnet, um eine etwaige Brise einzulassen, die Petrus ihr jedoch beharrlich verweigerte. Den ganzen Tag über hatte eine feuchte, schwere Atmosphäre geherrscht, und das Hotel hatte sich ein bisschen so angefühlt – und gerochen – wie die Königlichen Gewächshäuser. Als sich der Vorhang leicht bewegte, stand sie vom Schreibtisch auf, in der Hoffnung, Anzeichen eines aufziehenden Gewitters entdecken zu können.

Zu ihrer Enttäuschung war der Himmel dunstig, aber blau. Sie blickte über den Hof, und da fiel ihr plötzlich ein Stockwerk tiefer eine hautfarbene Bewegung auf, ein rundliches Ärmchen, eine kleine Hand, die jetzt nach dem Rand der Fensterbank griff. Hastig folgte der andere Arm, eine zweite kleine Hand umschloss den Rand des Fensterbretts, und ein blonder Lockenkopf beugte sich vor. Hinten auf diesem Lockenkopf saß etwas schief eine Haarschleife aus Samt. Sara hielt den Atem an. Sicher würde gleich ein Erwachsener auftauchen und das Mädchen zurück ins Zimmer holen.

Mit einiger Mühe zog es sich jetzt bis auf Brusthöhe zur Fensterbank hoch und verhielt dann eine Sekunde, um mit über der Brüstung baumelnden Armen nach unten zu schauen. Sara überlegte fieberhaft, wie sie das Kind außer Gefahr bringen konnte. Wenn sie nach ihm rief, würde es möglicherweise so erschrecken, dass es sich noch weiter vorbeugte. Noch immer war keine Aufsichtsperson in Sicht. Zu ihrem Schrecken wurde jetzt ein Fuß hochgeschwungen und über die Fensterbank geschoben – schon drei Gliedmaßen! Das Mädchen kletterte am Fenster hoch, vielleicht hoffte es auf frischere Luft außerhalb des stickigen Raums.

Es war höchste Zeit. Sara stürzte aus ihrem Dienstzimmer und den Gang hinunter, eine Hand um den großen Schlüsselbund gekrampft, der an ihrer Taille hing. Sie raffte ihre Röcke weit höher, als der Anstand es erlaubte, und rannte die Treppe hinunter, den Blick direkt vor die Füße gerichtet, um auf dem glatten Marmor nicht ins Straucheln zu geraten. Im vierten Stock verließen gerade einige Gäste den Lift, und sie entschuldigte sich flüchtig, als sie an ihnen vorbeischoss, behielt jedoch ihr Tempo bei. Dann kam eine Biegung nach links und eine, wie ihr schien, endlose Strecke bis Zimmer 410. Klopfen kam nicht in Frage, es konnte das Kind erschrecken, und in einem solchen Moment machte es nichts aus, dass sie einfach hereinplatzte, auch wenn es gegen jede Hotelregel verstieß.

Der Schlüssel drehte sich leise im Schloss, und sie trat ein. Das Mädchen in seinem hellrosa Kleid stand inzwischen aufrecht auf der Fensterbank und hielt sich mit einer Hand am Fensterrahmen fest. Sie war etwa drei Jahre alt. Wieso war sie allein?

Jetzt tauchten schwer atmend Walter, einer der Hausdiener, und Mabel, das leitende Zimmermädchen des Stockwerks, neben ihr auf. Wahrscheinlich waren sie ihr hinterhergerannt, weil sie ahnten, dass etwas Schlimmes drohte oder schon geschehen war.

Sara streckte die Arme aus, um die beiden daran zu hindern, weiter in das Zimmer zu treten. »Psst. Wir dürfen sie nicht aus dem Gleichgewicht bringen.«

»Wo ist das Kindermädchen?«, flüsterte Mabel. »Ist jemand im Schlafzimmer?«

»Ich weiß nicht.« Sara machte einen Schritt vorwärts, als betrete sie unsicheres Gelände. Der dicke Teppich dämpfte das Geräusch.

Als sie näher kam, hörte sie, dass das Mädchen leise vor sich hin sang. Ein Wiegenlied über ein Kind in einem Baumwipfel.

Jetzt wandte es den Kopf und sah Sara an. Der rosige Mund öffnete sich, die Augen wurden weit.

Sara streckte eine Hand aus, die Handfläche nach oben, und begann die Melodie leise weiterzusummen. Darauf lachte die Kleine, doch ihre Stimmung war so unbeständig wie die aller Kinder ihres Alters, und schon sammelten sich Tränen in ihren Augen.

»Mama!«, rief sie flehentlich und schüttelte dann den Kopf. Sara wagte sich nicht mehr weiter vor, ihre Muskeln verkrampften sich in der Anstrengung, sich nur ja nicht zu bewegen. Ein Luftzug von draußen ließ die Locken des Mädchens aufwehen und brachte es ganz leicht ins Schwanken. Sollte sie nach hinten fallen, dann würde Sara gerade zur rechten Zeit da sein können, um den Sturz abzufangen.

Doch stattdessen setzte das Mädchen dem Luftstoß ein bisschen zu viel Widerstand entgegen, und seine Hand begann vom Fensterrahmen abzurutschen. So kleine Fingernägel, so kleine Finger.

Sara hechtete nach vorn. Ihre Hand krallte sich in den weiten Rock des Kleidchens, sie packte so viel Stoff wie irgend möglich und zog mit aller Kraft. Das Mädchen schrie auf und fiel von der Fensterbank, zurück ins Zimmer. In einem Wirrwarr von Gliedmaßen und Stoff trafen sie gleichzeitig auf dem Boden auf, die Kleine praktisch auf Saras Schoß.

Sie wandte sich um und sah Sara überrascht blinzelnd an. Sara war darauf gefasst, dass sie weinen würde, doch stattdessen begann sie wieder zu summen und streckte eine Hand aus, um Saras Kinn zu streicheln.

»Gut gemacht, und gerade noch rechtzeitig«, sagte Walter mit einem tiefen Seufzer, als er und Mabel sie in die Mitte nahmen.

»Glauben Sie, sie hat sich wehgetan?«, fragte Sara.

»O nein, kein bisschen. Sie haben sie abgefangen. Aber ist bei Ihnen alles in Ordnung?« Mabel nahm ihr das Kind ab, während sich Sara von Walter wieder auf die Füße helfen ließ. Sie war gerade dabei, ihre Röcke glattzustreichen und ihre Hüfte zu reiben, auf der am nächsten Tag wahrscheinlich ein großer blauer Fleck prangen würde, als eine hochgewachsene, schlanke Frau in der Tür erschien.

»Was in aller Welt geht hier vor?«, fragte sie und umfasste die Hand eines Mädchens, das ein paar Jahre älter war als das in Mabels Armen.

Sofort stand Sara die Eintragung im Gästebuch vor Augen: The Honourable Mrs Theodore Camden. Sie reiste mit drei Kindern, einem Ehemann und einem kleinen Gefolge von Dienstboten. Mr Birmingham hatte Sara eingeschärft, dass den Camdens alle Wünsche von den Augen abgelesen werden mussten, weil Mrs Camden die Tochter eines Barons war.

Sara trat vor. »Die Kleine stand auf der Fensterbank, und wir holten sie ins Zimmer zurück.«

»Es war eher so, dass sie ihr das Leben gerettet hat«, mischte sich Walter ein. »Mrs Smythe konnte sie durch einen beherzten Sprung gerade noch rechtzeitig zurück ins Zimmer ziehen.«

Die Kleine schien jetzt die Anspannung der Erwachsenen ringsum zu spüren und begann zu weinen. Die Frau stürzte zu ihr, riss sie Mabel aus den Armen und drückte sie an sich. Als das Weinen nachließ, sah Mrs Camden auf, als würde sie sie alle zum ersten Mal wahrnehmen.

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, aber wo ist das Kindermädchen?«

Wie aufs Stichwort erschien jetzt ein eher reizloses Mädchen in der Tür.

»Ma’am?«, fragte sie, einen Ausdruck der Verwirrung auf dem Gesicht.

»Miss Morgan, wo waren Sie? Lula wäre während Ihrer Abwesenheit beinahe in den Tod gestürzt.«

»Wie meinen Sie das?« Die junge Frau sah jeden im Raum an. »Ich war nur eine Minute lang weg, um an der Rezeption eine Postkarte einzuwerfen. Ich dachte, Mr Camden wäre hier gewesen.« Ihre Stimme war leiser geworden, sie sah sich um, als wollte sie Mr Camden herbeizaubern.

»Sie hätten hier sein und auf die Kinder aufpassen sollen!«

Die Kleine barg das Gesicht an der Schulter der Mutter und begann wieder zu weinen.

»Wo ist Luther?« Mrs Camden stürzte in das Zimmer nebenan, und alle folgten ihr. Da lag noch ein Kind – etwa in Lulas Alter – fest schlafend auf dem großen Bett, die feuchten Locken klebten ihm an der Stirn.

Sara, die neben Mrs Camden stand, konnte regelrecht fühlen, wie in einer Art Nachbeben erst Angst und dann Erleichterung durch den Körper dieser Frau gingen. Das Kindermädchen übernahm Lula von Mrs Camden und begann, sie zu beruhigen, wich dabei aber dem Blick ihrer Arbeitgeberin aus.

Wie schrecklich, wenn etwas passiert wäre. Zwei Kleinkinder allein mit einem weit offenen Fenster, einfach unvorstellbar. Sara wandte sich Mrs Camden zu. Diese hatte ein fein geschnittenes Profil, ihr Haar war blond, doch ihre braunen Augen wurden von dicken schwarzen Wimpern beschattet. Sara war im Langham unzähligen Mitgliedern des Adels begegnet, sie bewegten sich alle auf dieselbe Weise durch die Welt – im sicheren Vertrauen darauf, dass man ihnen jeden ihrer Wünsche erfüllen würde. Nur selten begegnete man jemandem von ihnen in einer Notsituation.

Sara spürte Walters und Mabels Anwesenheit in ihrem Rücken und entwickelte eine Art Beschützerinstinkt gegenüber der Würde dieser Frau. »Können wir sonst noch etwas für Sie tun, Mrs Camden?«, fragte sie.

»Nein, das ist alles.« Mrs Camdens Gesicht wurde weicher. »Danke, dass Sie sie gerettet haben.«

»Keine Ursache, Ma’am.« Sara nickte Walter und Mabel zu und ging ihnen voraus aus dem Zimmer. Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, seufzte Sara erleichtert auf.

»Das war wirklich knapp.« Walter rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Sie waren atemberaubend, Sara, ich meine, Mrs Smythe«, sagte Mabel.

Am liebsten wäre Sara einfach auf dem Boden zusammengesunken, doch ein derartiges Schauspiel durfte sie ihren Untergebenen nicht bieten.

»Mehr als genug Aufregung für einen Tag, zurück an die Arbeit. Und bitte, Mabel, denken Sie daran, mich korrekt anzureden.«

»Gewiss, Mrs Smythe.«

Sara wandte sich ab und ging den Flur hinunter, dankbar dafür, dass ihre zitternden Knie von mehreren Rock- und Unterrockschichten verborgen wurden.

***

Wann immer Sara an diesem Tag an die Ereignisse in Zimmer 410 zurückdachte, begann ihr Herz wild gegen die Rippen zu klopfen. Was, wenn sie das Kind nicht rechtzeitig hätte packen können? Was, wenn sie über die Brüstung geschaut und auf dem harten Boden des Hofes ein lebloser, zerschmetterter Körper gelegen hätte? An Schlaf würde heute Nacht in ihrem stickigen Zimmer in Bayswater nicht zu denken sein.

Doch bis dahin gab es noch genug für sie zu tun. Sie prüfte die Rechnungen zu Ende und wollte gerade aufbrechen, um zu kontrollieren, ob die Betten in den Zimmern korrekt für die Nacht aufgeschlagen worden waren, als ein Mann an die Tür ihres Büros klopfte. Dass es ein Mann war, erkannte sie am harten, hohlen Klang. Das Anklopfen der Zimmermädchen war kaum hörbar, es entschuldigte sich gewissermaßen schon für die Störung, doch die Männer, sei es nun Mr Birmingham oder der Hausmeister, hatten da keinerlei Skrupel.

Sie stand auf und öffnete die Tür, darauf gefasst, dass Mr Birmingham extra zu ihr heraufgekommen war, um sie wegen des unangenehmen Auftritts zur Rede zu stellen. Stattdessen blickte ein Fremder auf sie herunter. Und trat einen Schritt zurück, als hätte er ihr Unbehagen gespürt. »Mrs Smythe?«

»Ja. Kann ich Ihnen helfen, Sir?« Er war eindeutig Hotelgast, er trug einen perfekt maßgeschneiderten Anzug und unter dem Arm einen seidenen Zylinder.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich hier einfach eindringe.« Er wischte sich mit seiner großen Hand über die Stirn. »Wie halten Sie es bei dieser unerträglichen Hitze nur hier oben aus?«

»Zum Glück ist es selten so heiß.«

»Sie haben, glaube ich, heute meine Tochter Lula gerettet. Dafür wollte ich Ihnen persönlich danken. Mein Name ist Theodore Camden.« Er hatte eine warme Tenorstimme und sprach mit amerikanischem Akzent.

Sara bot ihm mit einer Handbewegung einen Platz auf der anderen Seite ihres Schreibtischs an. Er bewegte sich mit einer angesichts seiner Größe nicht zu erwartenden Anmut. Nichts an ihm war nach üblichen Maßstäben schön. Der Kopf war klein im Verhältnis zu den breiten Schultern, die Augen engstehend über der unregelmäßigen Nase. Aber alles zusammengenommen machte ihn geradezu magisch anziehend. Sie setzte sich, senkte den Blick und klappte das Kontobuch zu, um ihn nicht weiter anzustarren.

»Ich bin froh, dass sie heil und in Sicherheit ist. Es geht ihr doch gut, oder?« Sie dachte an die weinende Lula.

»Ja. Sie bekam ein Stück Biskuitkuchen spendiert, und darüber hat sie den Vorfall völlig vergessen.« Er lachte in sich hinein, doch dann huschte ein schmerzvoller Ausdruck über sein Gesicht. »Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn Sie nicht rechtzeitig gekommen wären. Die Zwillinge, Lula und Luther, geraten ständig in Schwierigkeiten.«

»Am besten denken wir gar nicht mehr darüber nach.«

Sara wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Noch nie hatte sie einen Hotelgast in ihrem kleinen Büro gehabt, und er war so groß, dass er sehr viel Platz darin einnahm.

»Woher wussten Sie, was los war?« Mr Camden lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte den Hut auf die Knie. Ihm schien nicht klar zu sein, wie unschicklich es war, dass sie hier so zusammensaßen, auch wenn die Tür offen stand, sodass nichts Ungehöriges unterstellt werden konnte. Er schien diese Zusammenkunft geradezu zu genießen, obwohl die meisten Gäste nicht im Traum daran dachten, sich mit dem Personal auf Gespräche einzulassen.

»Von meinem Fenster aus kann ich Ihr Zimmer sehen. Ich stand am Fenster, um ein wenig Luft zu schnappen, und dabei sah ich sie aufs Fensterbrett klettern.«

»Das Kindermädchen sollte auf die Zwillinge aufpassen, während meine Frau ausgegangen war. Unnötig zu sagen, dass wir ihr fristlos gekündigt haben.«

»Nun, zum Glück ist ja alles gut ausgegangen.« Außer für das Kindermädchen natürlich.

»Wie viel Personal gibt es hier im Verhältnis zur Gästezahl?«

Eine seltsame Frage. »Wir haben dreihundert Zimmer und etwa vierhundert Angestellte.«

»Wie lange sind Sie schon Hausdame?«

»Es ist mein erster Monat.« Er war nicht zu ihr heraufgekommen, um sich nur zu bedanken, ganz sicher nicht. Hinter seinen Fragen steckte etwas anderes. Sie nahm die Schultern zurück und lehnte sich leicht vor, als würde sie sich gegen einen Wind stemmen, um ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. »Aber ich arbeite hier schon seit elf Jahren in verschiedenen Positionen.«

»Dann kennen Sie das Haus gut.«

»O ja.«

»Mr Birmingham sagt, dass Sie sehr tüchtig sind.«

Mr Camden hatte sich also nach ihr erkundigt. »Nett von ihm, dass er das sagt.«

»Das Langham ist ein großes Haus. Und schön gebaut.«

»Ja.« Die Amerikaner waren wirklich seltsam. Er schien es überhaupt nicht eilig zu haben, zu seiner Familie zurückzukehren. Ob Mr Birmingham ihn zu ihr hinaufgeschickt hatte, um sie irgendwie zu testen? »Ich arbeite sehr gern hier.«

»In diesem Hotel gab es die ersten hydraulischen Aufzüge in England. Wussten Sie das?«

Vielleicht gehörte er zu den Männern, die solches Wissen sammelten, um damit angeben zu können. Sie nickte.

Mr Camden lächelte. »Ich rede und rede, bitte verzeihen Sie. Ich versuche nur herauszufinden, wie ich Ihnen danken kann.«

»Das ist ganz unnötig. Wir alle hier im Hotel tun für die Gäste, was wir können.«

»Sie haben mehr getan. Ich hoffe nur, Sie haben sich dabei nicht verletzt.«

»Nein, gar nicht.«

Eins der Wäschereimädchen steckte den Kopf durch die offene Tür und zuckte erschrocken zurück, als sie Mr Camden entdeckte.

»Bitte entschuldigen Sie, Mrs Smythe, ich komme später wieder.«

»Schon in Ordnung, Edwina.«

»Edwina? So hieß auch meine Mutter.« Mr Camden drehte sich um und lächelte das Mädchen an. Er strahlte vor Vergnügen. »Edwina, dürften wir Sie um etwas Tee bitten?«

Er wollte länger bleiben. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, wozu. Edwina sah Sara an. In ihren Augen stand derselbe leichte Schrecken, der sicher auch in ihren eigenen zu lesen war, doch Sara riss sich zusammen. »Ja, bitte, Edwina.«

Das Mädchen verzog sich, und Mr Camden wandte sich wieder Sara zu. »Natürlich nur, wenn ich Sie nicht von Wichtigerem abhalte.«

»Gar nicht. Aber wir brauchen wirklich nicht mehr über diesen Zwischenfall zu reden. Es ist ja alles gut.«

»Darf ich Sie nach Ihrer Vorgeschichte fragen?«

»Ich glaube nicht, dass die etwas zur Sache tut, Mr Camden.«

Er errötete. Sie hatte ihn nicht in Verlegenheit bringen, nur das Gespräch in andere Bahnen lenken wollen. Doch wie schnell er rot geworden war, wie ein kleiner Schuljunge. Er legte den Kopf schief und stotterte: »Ich meine natürlich in beruflicher Hinsicht. Ich wüsste gern, wie ein Riesenhaus wie dieses immer weiter funktioniert, von Tag zu Tag, egal, was passiert.«

»Ich kann Ihnen versichern, dass wir selten Zwischenfälle wie den heute erleben. Die meiste Zeit läuft das Hotel wie eine gut geölte Maschine.« So drückte sich Mr Birmingham gern aus. Sie hatte es nie gemocht, weil die Angestellten aus Fleisch und Blut so zu Rädchen im Getriebe herabgewürdigt wurden, doch sie wusste nicht mehr, wie sie das Gespräch mit Mr Camden in Gang halten sollte.

»Natürlich. Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem für die Angestellten?«

Sie dachte nach. »Wir sind in jeder Beziehung ein Grandhotel, Mr Camden. Wir gehen auf jeden Wunsch und jede Laune der Gäste ein. Was manchmal zum Jonglierkunststück wird, denn wir haben eine hohe Fluktuation.«

»Bringen viele Gäste ihre eigenen Dienstboten mit?«

»Ja, natürlich. Dennoch müssen auch ihre Räume gereinigt und gelüftet werden. Die Zofen und Butler haben ihre ganz eigenen Aufgaben, die mit den Hotelannehmlichkeiten nichts zu tun haben.«

»Haben Sie auch vor Ihrer Anstellung hier solche Hauspersonalaufgaben erfüllt?«

»Nein. Allerdings war meine Mutter Haushälterin bei einem Earl. Ich habe eine Schneiderlehre gemacht, bevor ich hierherkam.«

»Und endeten dann doch als Dienstmädchen?«

Sie hätte ihm nie so viel aus ihrer eigenen Vergangenheit erzählen dürfen. Doch etwas am Verhalten dieses Mannes hatte sie bewogen, mehr preiszugeben, als gut war. Und jetzt war sie auf schwieriges Terrain geraten.

Zu Saras Erleichterung kam nun der Tee. Ein Schlusspunkt für Mr Camdens unaufhörliche Fragen. Sie würde die Rollen umkehren und wieder Oberhand gewinnen. Während sie den Tee einschenkte, erkundigte sie sich nach seiner Arbeit. Amerikaner schienen sehr gern ausführlichst über ihre Leistungen zu plaudern.

Er ging sofort darauf ein. »Ich helfe beim Bau eines Apartmenthauses in New York City.«

»Sind Sie Architekt?«

Er strahlte. »Ja. Ich arbeite für den großen Henry Hardenbergh.«

Sara schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich fürchte, ich kenne diesen Namen nicht.«

»Er erobert New York City im Sturm. Er hat ein Haus entworfen, in dem die besten Familien elegant und in aller Privatheit leben können und sich Dinge wie Wäschereien und Haushaltsdienstleistungen teilen. Wir haben sogar einen Schneider und einen Bäcker im Team. Sehen Sie, deshalb fasziniert mich das innere Getriebe eines Hotels. Wer es am Laufen hält und wie.«

Das erklärte alles. Ihre Schultern entspannten sich, sie lächelte ihn freundlich an, erleichtert darüber, dass nicht Mr Birmingham hinter all den Fragen steckte. »Das klingt nach einem wirklich großen Vorhaben.«

»Das Dakota, so wird es heißen, wird die Art und Weise verändern, wie die Oberklasse der Stadt wohnt. Im Augenblick residiert die New Yorker Elite in Brownstone-Häusern, die ihren Terraced Houses, etwa am Grosvenor Square, entsprechen. Das heißt, es lebt immer nur eine Familie in einem Haus. Sich Räume und Einrichtungen mit anderen zu teilen, wie es etwa in Frankreich vorkommt, gilt als unpassend.«

»Und warum?«

»Es hat zu viel Ähnlichkeit mit Behausungen für die Arbeiterklasse, wo Dutzende Familien in Armut und Schmutz zusammenleben.«

Fast ohne Atem zu holen, redete er immer weiter über das neue Gebäude, und Sara trank rasch ihren Tee, um endlich ihre trockene Kehle zu erfrischen. Schließlich zückte Mr Camden seine Taschenuhr. »Ich muss gehen. Wir brechen sehr früh auf, wir fahren nach New York zurück. Sagen Sie, Sie hätten nicht Lust, im Dakota zu arbeiten?«

Porzellan schepperte gegen Porzellan. Als er es gesagt hatte, hatte sie zu ihm aufgeblickt und mit der Tasse die Mitte der Untertasse verfehlt.

Er lachte. »Ich sehe, ich habe Sie überrumpelt. Wir brauchen jemand, der sich um die Organisation von Reinigung und Hauswirtschaft kümmert, und Sie sind offensichtlich sehr qualifiziert. New York City ist eine aufregende Stadt, das kann ich Ihnen sagen. Ich könnte Sie Mr Douglas empfehlen, dem Verwalter des Gebäudes.«

Er sprudelte es hervor, als wäre er gerade erst auf die Idee gekommen. Typisch amerikanische Gedankenlosigkeit. So ein alberner Vorschlag, in ein anderes Land zu gehen, wo sie doch hier eine absolut gute Stelle hatte, auch wenn Mr Birmingham nie wirklich zufrieden war.

»Ich bin da, wo ich bin, durchaus glücklich, Mr Camden. Aber vielen Dank für das Angebot.«

»Ich meine es ernst.« Seine Stimme und sein Gesicht wurden lebhaft, als er in die Details ging. »Ich werde Ihnen nach meiner Rückkehr einen offiziellen Brief schicken und auch eine Geldanweisung für die Überfahrt. Die Eröffnung soll Ende Oktober stattfinden. Denken Sie darüber nach. Es ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann, nach dem, was Sie heute für meine Familie getan haben. Werden Sie es in Betracht ziehen?«

Sie schüttelte den Kopf. Er lebte ganz im Augenblick, ein impulsiver Amerikaner wie so viele andere, denen sie im Langham begegnet war. Zu laut, zu distanzlos, ohne jeden Sinn für Schicklichkeit.

»Nein, Mr Camden. Aber vielen Dank. Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn Sie während Ihres Aufenthalts noch etwas benötigen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«

Als er aufbrach, schloss sie die Tür hinter ihm und trat an ihr Fenster. Das von Zimmer 410 war fest geschlossen, und die Vorhänge waren zugezogen. Sehr gut.

Für einen Tag hatte sie mehr als genug Aufregungen gehabt.

Kapitel 2

Fishbourne, August 1884

Ich weiß wirklich nicht, warum du dir die Mühe machst und mich besuchst. Es geht mir sehr gut.«

Mit zitternden Händen zog Saras Mutter die Wolldecke enger um sich, und Sara unterdrückte den Impuls, aufzuspringen und sie ihr um die schmaler werdenden Schultern zu legen. Damit hätte sie sie nur noch mehr verärgert.

Sie nippte an ihrem Sherry. »Ich komme doch jedes Jahr um diese Zeit. Weißt du noch? Mein Urlaub vom Hotel.«

»Natürlich weiß ich das noch; ich bin im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, Sara.« Die Mutter richtete ihre blauen Augen auf ihre Tochter und runzelte die Stirn. »Ich verstehe nur nicht, was das alles soll. Du hättest genauso gut in London bleiben und dir die Finger wund arbeiten können, da dir das doch so viel Freude macht. Ich denke wirklich darüber nach, ob ich nicht mit Seiner Lordschaft darüber sprechen sollte.«

Sie saßen am Kamin des Cottages in Fishbourne, wo sich ihre Mutter Jahre zuvor niedergelassen hatte, nachdem sie ihre Stellung auf dem vierzig Meilen ostwärts gelegenen Besitz des Earls of Chichester verloren hatte. Selbst an den langen Augustabenden war das Haus noch so kühl und klamm wie an einem Novembermorgen, als würden die Mauern, ebenso wie ihre Mutter, alle von außen kommende Wärme abwehren.

Sara versuchte, sie in die Gegenwart zurückzuführen. »Du arbeitest gar nicht mehr für Seine Lordschaft, weißt du noch? Schon seit dreißig Jahren nicht mehr.« Eine leicht zu merkende Zahl.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.« Ihre Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen, als spräche sie vom anderen Ende eines langen Tunnels her.

»Ich bin jetzt Hausdame im Langham, genauso wie du damals in Stanmer House.«

»Ich werde nie verstehen, warum du in die Fußstapfen deiner Mutter trittst, obwohl ich dir jede Chance gegeben habe, etwas Besseres aus dir zu machen.« Sie hob eine Hand. »Schenk mir noch etwas Sherry nach.«

Schon als sie noch bei vollem Verstand gewesen war, hatte Saras Mutter Sara und die Zugehfrau, deren Lohn zu einem Großteil von Sara finanziert wurde, ohne jedes Danke oder Bitte herumkommandiert. Vielleicht lebte sie in ihrer Fantasie ein anderes Leben, eines, in dem Seine Lordschaft sie nicht nur geschwängert, sondern danach geheiratet hatte, und das nichts mit der Realität zu tun hatte, in der sie sich tagaus tagein hatte abrackern müssen, bis sie so sehr zitterte, dass sie nicht einmal mehr eine Teetasse in der Hand halten konnte.

Nachdem Sara ihr nachgeschenkt und ihr das Glas an die Lippen gehalten hatte, setzte sie sich auf das kleine Sofa und griff nach einem Unterrock, der geflickt werden musste. Sie spürte den Blick ihrer Mutter auf den Händen, als sie geschickt den gerissenen Saum zusammenheftete.

»Deine Stiche sind feiner als meine.«

Ein Kompliment. Sara hielt den Blick auf ihre Arbeit gesenkt, sie wusste, dass sie diesen Moment leicht verderben konnte. »Danke, Mum.«

»Ich kann immer noch nicht verstehen, dass du Mrs Ainsworth verlassen hast, um nach London zu gehen. Mit deinen flinken Händen hättest du ein Vermögen machen können.«

»Es war einfach nicht das Richtige.«

»Du hast dir eine gute Gelegenheit entgehen lassen, wenn du mich fragst. Mrs Ainsworth’ Mann ist vor drei Monaten gestorben, habe ich dir das schon erzählt? Er wurde von einer Kutsche überfahren.«

Die vermutlich von einer der Frauen gelenkt wurde, die bei seiner Frau in die Lehre gegangen waren. Hätte Sara die Möglichkeit gehabt, hätte auch sie ihn überfahren.

»London gefällt mir gut. Das Langham ist ein erstklassiges Hotel. Genauso groß wie Stanmer House, aber es gehen jeden Tag viel mehr Leute ein und aus.«

»Aber ist es die richtige Art von Leuten?«

»Ich denke schon, schließlich können sie für ein Hotelzimmer fünfzehn Shilling pro Nacht ausgeben.« Dieses Gespräch führten sie jedes Jahr, und Sara musste jedes Mal ihren Entschluss verteidigen.

»Du arbeitest in einem Hotel. Erstklassig hin oder her, ein Hotel ist nicht der rechte Ort für ein anständiges Mädchen. Geld ist kein Zeichen für gute Erziehung.«

»Genauso wenig wie gute Erziehung für eine hohe Moral.«

Ihre Mutter zog scharf die Luft ein. Sara blickte auf und wollte sich schon entschuldigen, doch ihre Mutter sprach hastig weiter. »Davon hast du keine Ahnung.«

»Natürlich nicht, Mum.« Um das Thema zu wechseln, sprach sie aus, was ihr gerade durch den Kopf ging. »Ich habe ein neues Angebot bekommen.« Seit sie im Haus ihrer Mutter war, hatte sie es vor sich hergeschoben, ihr von Mr Camdens Brief zu erzählen, weil sie wusste, dass sie nur mit noch größerer Geringschätzung reagieren würde. Aber jetzt wollte sie ihr etwas beweisen.

»So? Und was für eins?«

»Als leitende Hausdame in einem großen Apartmenthaus in New York City.«

Da. Nun war es heraus.

Das Gesicht ihrer Mutter erstarrte. »In den Staaten?«

»Ja. Weißt du, die Tochter eines Gastes wäre fast aus dem Fenster gefallen, ich sah es zufällig und konnte sie retten. Ihr Vater war mir so dankbar, dass er mir diese Stellung angeboten hat.«

Ihre Mutter schwieg einen Moment lang. Sara verknotete den Faden und faltete den Unterrock zusammen, wobei sie den schmutzigen Stoff auf ihrem Schoß glattstrich. Morgen würde sie ihn gründlich waschen.

Zugegebenermaßen war sie geschockt gewesen, als der Brief ankam, in dem sie offiziell gebeten wurde, nach Amerika zu kommen, und der neben einem Scheck für ihre Ausgaben eine Zweite-Klasse-Passage auf einem Schiff ab Liverpool enthielt. Mr Camden hatte sie gebeten, über das Angebot nachzudenken und, falls sie es ablehnen sollte, Geld und Schiffspassage zurückzuschicken. Es hatte sie überrascht, dass er ihr nach so kurzer Bekanntschaft so sehr vertraut hatte.

»Das Mädchen fiel aus dem Fenster?«

»Fast. Aber ich kam gerade noch rechtzeitig. Ehrlich gesagt weiß ich nicht so genau, was ich tun soll.«

»Wenn du nach Amerika gehst, sehe ich dich nie wieder.« Die Äußerung war eine Feststellung von Tatsachen, nur ein leichtes Zittern in der Stimme verriet ihre Sorge.

»Die Überfahrt dauert nur eine Woche. Ich kann zurückkommen und dich besuchen.«

»Wie bald sollst du dort sein?«

»Das Apartmenthaus soll Ende Oktober fertig sein, und sie möchten, dass ich einen Monat vorher da bin, um alles vorzubereiten.«

»Du kannst wohl nie bei einer Sache bleiben, oder? Immer musst du neue Risiken eingehen, immer setzt du dir etwas Neues in den Kopf.«

»Mutter, ich arbeite seit elf Jahren im Langham. Ich denke, meine Beständigkeit steht also außer Frage. Es geht um mehr Geld, viel mehr Geld. Was bedeutet, dass wir dir sowohl einen neuen Unterrock kaufen als auch Avril anstellen können, damit sie sich um dich kümmert. Wir müssten uns dann nicht mehr für eines von beidem entscheiden.«

»Avril hat ein Spatzenhirn. Und wozu brauche ich Geld? Ich sterbe sowieso bald.«

»Nein, so bald stirbst du nicht.«

»Dr. Torrington ist da anderer Meinung.«

»Er sagte mir, dass es dir gut geht.«

Ihre Mutter wandte den Kopf ab und schloss die Augen, das Thema war beendet.

Später am Abend, nachdem Sara ihrer Mutter ins Bett geholfen hatte und sie durch die Wand schnarchen hören konnte, ging sie zum Bücherregal und holte vom obersten Brett eine Blechdose herunter. Das tat sie bei jedem Besuch, sie hatte jedes Jahr nachgesehen, nachdem sie, mit zehn Jahren, die Dose zum ersten Mal geöffnet hatte. Darin waren vier Briefe von Lord Chichester an ihre Mum, alle ziemlich geschäftsmäßig, es ging darin um Saras Wohl und die damit verbundenen Ausgaben, für die gesorgt sein sollte, solange sie sich fernzuhalten versprachen.

Sara hatte ihrer Mutter die Briefe gezeigt und eine vitriolgetränkte Reaktion erlebt, als hätte ihre Mutter schon seit Langem auf diesen Augenblick der Wahrheit gewartet. Wütend hatte sie erzählt, sie sei von der Countess aus dem Haus geworfen worden und nun verbannt und überdies mit einem undankbaren Kind gestraft. Von da an diente jeder kleine Fehltritt Saras als Vorwand dafür, ihr die Schuld für den sozialen Absturz ihrer Mutter zuzuweisen. Die Rolle des Earls of Chichester in dieser Sache blieb selbstverständlich unerwähnt.

Ihre Mutter hatte es geliebt, den Haushalt von Stanmer House zu leiten. Mit ihrem militärischen Ordnungssinn hatte sie ihre Aufgabe bestens erfüllt, und Sara war sicher, dass sie Lord Chichester mit der Hingabe eines Schoßhündchens angebetet hatte. Zum Dank war sie fortgeschickt worden. Wie schrecklich es für sie gewesen sein musste, den großen Schlüsselbund, das Zeichen ihrer Macht über fast jeden anderen Dienstboten im Haus, von seinem angestammten Platz an ihrer dicker werdenden Taille zu entfernen.

Ihre Mutter hatte sich zurückgezogen und erwartet, dass Sara ihre Sache besser machen würde. Doch trotz der wilden Entschlossenheit der Mutter hatte Sara als Lehrling versagt und war nur ein einfaches Dienstmädchen geworden. Das hatte ihre Mutter ihr nie vergeben, und sie hatte sie auch nie nach dem Grund für den plötzlichen Sinneswandel gefragt. Den Sara ihr auf keinen Fall genannt hätte.

Dennoch, wie grausam es für ihre Mutter gewesen sein musste, aus der vertrauten Rolle und Umgebung herausgerissen zu werden. Sich nach Jahren treuer Dienste verstecken zu müssen. Eine Ungerechtigkeit, die Sara empörte, zumal ihre eigene Stellung im Langham ähnlich gefährdet war, denn wie kompetent auch immer sie ihre Aufgaben erfüllte, sie hing von Mr Birminghams tyrannischen Launen ab. Immerhin hatte ihre etwas seltsame, kurze Begegnung mit Mr Camden sie daran erinnert, dass sie ihre Arbeit tatsächlich gut machte.

Im Moment ihrer Beförderung hatte sie die Herausforderung, die vielen Pflichten einer Hausdame unter einen Hut zu bringen, freudig erregt. Wie ein General im Krieg stellte sie ihre Truppen auf und gewährleistete dabei die Präzision und Qualität, die das Langham zu einem der ersten Häuser Londons gemacht hatten. Doch für Mr Birmingham war es nie genug, und in jüngster Zeit hatte diese Aufgabe ihre Nerven anzugreifen begonnen. Den ganzen Tag lang arbeitete sie wie besessen, fiel dann erschöpft ins Bett und konnte doch nicht schlafen, weil am nächsten Morgen so viel Dringendes anstand: beispielsweise die reizbare Chefin der Wäscherei mit Schmeicheleien dazu bewegen, bei den Bettlaken weniger Bleiche zu verwenden, und herausfinden, welches Zimmermädchen einen Schildpattkamm aus Zimmer 322 gestohlen hatte.

Sie legte die Briefe wieder weg und verließ das Haus durch die Hintertür. Die kräftigen Lilienstängel lagen wie gefallene Wachtposten quer über dem Gartenweg. Der orangefarbene Abendhimmel spiegelte sich im Teich, und es war, als stünden Himmel und Wasser in Flammen. Sie war dreißig Jahre alt. Zu alt für eine Veränderung, zu alt, um auf einem völlig anderen Kontinent einen Neuanfang zu wagen.

Und doch, was sie in den Zeitungen über Amerika gelesen hatte, hatte sie fasziniert. Kein Getue wegen des richtigen Titels. Jeder wurde mit Mr oder Mrs oder Miss angesprochen. Und die amerikanischen Gäste, die sie kennengelernt hatte, waren, wie Mr Camden, weit weniger anspruchsvoll als die englischen.

Wie es aussah, konnte sie für weitere dreißig Jahre im Langham bleiben, sich dann in dieses Cottage zurückziehen und dort weitermachen, wo ihre Mutter aufgehört hatte. Tee am Kamin, Sherry am Kamin, und das jeden Tag.

Oder sie konnte etwas Neues versuchen.