Enzensbergers Panoptikum
Zwanzig Zehn-Minuten-Essays
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Originalausgabe
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Umschlag: Hans Magnus Enzensberger
eISBN 978-3-518-79460-9
www.suhrkamp.de
Statt eines Waschzettels
Mikroökonomie
Über unlösbare Probleme
Wie man Nationen am Schreibtisch erfindet
Rentenlust, Rentenangst und Rentenzwang
Sechs Milliarden Experten
Von den Tücken der Transparenz
Armer Orwell!
Das köstliche Unbehagen an der Kultur
Als Ob
Wohin mit der Photographie?
Normale Wunder
Ehrliche und weniger ehrliche Berufe
Warum immer alles kleckert
Geschenkt!
Zu der Frage, ob die Wissenschaft eine säkulare Religion sei
Wer wen? Alexander von Humboldt im Stammeskrieg zwischen Intelligenz und Macht
Muster ohne Wert
Muß Sex sein, und wenn ja, wie?
Vom Common sense und seinen Verächtern
Cosmic Secret
Ein paar Quellen
Notiz
Ist das seriös? Kann man, ohne Philosoph zu sein, zwischen lösbaren und unlösbaren Problemen unterscheiden, oder erklären, wie Nationen am Schreibtisch erfunden werden, ohne ein Standardwerk zu verfassen? Doch, das geht. Kleine Texte zu riesigen Themen: das ist nichts Neues, das gibt es seit fünfhundert Jahren. Der große Ahnherr des Essays, Michel de Montaigne, hat es vorgemacht: »Über die Traurigkeit«, »Über die Nachteile einer hohen Stellung«, »Über die Menschenfresser« hat er geschrieben, und zwar so, wie ihm zumute war, je nachdem, was ihm dazu eingefallen ist, und ohne sich, den Leser oder den Gegenstand zu erschöpfen.
Aber was besagt das schon, riesige Themen? Nichts war ihm zu unscheinbar; auch über die Daumen und das Schlafen, ja sogar über die Ablenkung wußte er dem Leser ein Licht aufzustecken. Dazu brauchte er meistens nur ein paar hundert Zeilen. »Ja kein Buch geschrieben, wo eine Seite hinreicht, und kein Kapitel, wo ein Wort eben die Dienste tut« -, so hat es übrigens auch Lichtenberg gehalten.
Ich gebe zu, die Gründlichkeit ist nicht meine Stärke. Wo mag plötzlich diese Ich-Form herkommen, ein Pronomen, das in Klappentexten und Waschzetteln nicht üblich ist? Das hat mit dem imaginären Ort zu tun, den ein Beobachter einnimmt, wenn er zugleich ein Teil dessen ist, was ihm auffällt, was ihn verwundert und was er zu beschreiben sucht. »Ich« muß in diesem Fall also selbst den Kopf hinhalten. Und weil es immer jemanden gibt, der es besser weiß als ich, zitiere ich, genau wie der unerreichbare Ahnherr, gern meine Nothelfer und Gewährsleute. Der Alte konnte sich Fußnoten und Kommentare sparen, weil seine Leser ihre Klassiker so gut kannten wie er selber. Sie waren nicht, wie unsereiner, auf das Internet angewiesen.
Wer weiß schon, was ein Panoptikum ist? Man braucht nur das Stichwort in die Suchmaske eingeben, schon wird man in die Irre geführt und auf einen Engländer namens Jeremy Bentham verwiesen. Das war ein furchtbarer englischer Jurist, der sich in seiner Freizeit ein ideales Gefängnis ausgedacht hat. Ein einziger Aufseher, der im Dunkeln saß, sollte möglichst viele Häftlinge überwachen. Solche Anstalten sind dann tatsächlich erbaut worden. Bald entdeckten scharf kalkulierende Unternehmer, daß diese ominöse Erfindung auch zur kostengünstigen und effizienten Organisation einer Fabrik dienen konnte.
Damit habe ich nichts im Sinn, auch wenn ich in anderer Hinsicht, soweit das möglich ist, gern den Überblick behalten möchte. Lieber möchte ich das Publikum an eine andere Wortbedeutung erinnern. Karl Valentin nannte sein Kuriositäten- und Gruselkabinett, das er 1935 eröffnete, Panoptikum. Dort konnte man, neben eigenartigen Folterinstrumenten, allerhand Abnormitäten, Sensationen und Erfindungen bewundern.
Treten Sie also bitte ein, meine Herrschaften! Sie werden es nicht bereuen.
Was Wirtschaftswissenschaftler unter Wirtschaft verstehen, ist bestenfalls ihnen selber klar; der Rest der Welt hegt gewisse Zweifel an ihren Vorstellungen und fragt sich, ob es sich bei ihrer Beschäftigung überhaupt um eine Wissenschaft handelt. Denn sie verfügen zwar über Institute, Lehrstühle und ein gesichertes Einkommen, aber mit der Art und Weise, wie die meisten Menschen, zum Beispiel Hausfrauen, Rentner oder Kinder wirtschaften, hat ihre Tätigkeit wenig zu tun. Ökonomen befassen sich am liebsten mit großen Aggregaten und operieren mit gewaltigen Mengen von statistischen Daten. Die meisten von ihnen hängen einem seltsamen Zopf von Theorien an, die, aus welchem Grund auch immer, als neoklassisch gelten. Wer ihnen zuhört, sieht sich in eine idyllische Welt mit märchenhaften Zügen versetzt. Staunend vernimmt er, daß der Markt unvermeidlich, trotz mancher Oszillationen, stets einem Gleichgewicht zustrebt. Er ist effizient, er korrigiert und optimiert sich selbst, und alle, die an ihm teilnehmen, verhalten sich durchaus rational. Diese Annahmen werden schlicht vorausgesetzt, obwohl es sich um bloße Hypothesen handelt, die unbewiesen, wenn nicht sogar unbeweisbar sind.
Nach dem vorläufigen Ableben des Kommunismus bot sich die neoklassische Theorie als Ersatz für die verlorengegangene Utopie an. Obwohl sie ziemlich mager daherkam, geizte sie nicht mit Verheißungen, und an Anhängern hat es ihr nicht gefehlt. Unterfüttert wurde sie gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts durch hoch elaborierte mathematische Modelle zum Risikomanagement. Auch vor Aussagen über die Zukunft schreckten die Ökonomen nicht zurück, und die Tatsache, daß sie sich mit ihren Prognosen gewöhnlich blamierten, hat nie dazu geführt, daß sie ihre umfassende Kompetenz bezweifelt hätten.
Das bedeutet aber nicht, daß die Zunft frei wäre von erbitterten Flügel- und Fraktionskämpfen, wie sie auch in anderen Disziplinen gang und gäbe sind. Keynesianer und Monetaristen kämpfen seit Jahrzehnten um die Deutungshoheit. Ein Charttechniker möchte um keinen Preis mit dem Fundamentalanalytiker oder mit dem Zyklusforscher verwechselt werden. Neuerdings gibt es sogar Ökonomen, denen aufgefallen ist, daß in der klassischen Theorie die meisten Leute nur als abstrakte Größen vorkommen. Sie schrumpfen in dieser Logik auf ihre jeweilige Rolle zusammen; sie sind entweder Lohnempfänger oder Verbraucher oder Versicherungsnehmer oder Anleger oder Aktionäre oder Unternehmer oder Sparer, und in jeder dieser Rollen kennen sie nur ein einziges Interesse: Sie wollen ihren ökonomischen Vorteil maximieren, und sonst gar nichts.
Da waren manche Klassiker aus der Vergangenheit schon viel weiter. Die Vorstellung, daß ökonomische Entscheidungen auf rational choice beruhen, lag ihnen völlig fern. In seiner Bienenfabel aus dem Jahr 1714 behauptet Mandeville, daß es gerade die privaten Laster sind, etwa der Betrug, der Luxus und der Hochmut, die den öffentlichen Reichtum ermöglichen. Und Adam Smith folgte ihm, weniger polemisch, mit seinem berühmten Bild von der »unsichtbaren Hand«, die das unvernünftige Vorgehen des Einzelnen ausgleichen und zum allgemeinen Besten wenden sollte.
Davon hat die herrschende neoklassische Lehrmeinung nichts wissen wollen. Sie ist aber seit einiger Zeit durch eine neue Tendenz unter Druck geraten. Die Verhaltensökonomie hat hier eine gähnende Lücke erkannt. Sie möchte erforschen, warum sich die Leute nicht so benehmen, wie es die meisten Ökonomen annehmen. Von dem Dogma des vernünftigen homo oeconomicus hat sie sich zwar verabschiedet, nicht aber von dem Ehrgeiz, möglichst propere Modelle zu bilden. Dazu greift sie einerseits auf empirische Versuchsanordnungen, Tests und Befragungen, andererseits auf mathematische Methoden wie die Spieltheorie oder auf evolutionsbiologische oder sozialpsychologische Theoreme zurück.
Ob sie damit dem rätselhaften Benehmen der gedachten »Wirtschaftssubjekte« wirklich auf die Schliche kommt, darf bezweifelt werden. Die Ambition, den exakten Wissenschaften nachzueifern, führt dazu, daß die Leute in ihren Kalkülen nur als statistische Phantome auftauchen. Dauernd kommt den bedauernswerten Forschern ihre Liebe zur Abstraktion in die Quere. Sie können offenbar ebensowenig aus ihrer Haut heraus wie die Menschen, die sie untersuchen.
Die aber sind bekanntlich anfällig für alle möglichen Launen, Illusionen, Marotten und Gewohnheiten. Sie neigen zur Panik ebenso wie zur Trägheit, zum Eigensinn wie zum Herdentrieb. Viele sind zu jedem Opfer bereit, um ihr Gesicht zu wahren, ihre erotischen Vorlieben oder die bella figura zu retten. Dem Ökonomen muß das bedauerlich, unvernünftig und ignorant vorkommen. Nun ist es freilich eine Sisyphusaufgabe, Sucht und Angst, Vertrauen und Leichtsinn, Wut und Trotz zu quantifizieren. Interviews, Umfragen und Tests unterlaufen die Probanden dadurch, daß sie nicht nur den Befrager, sondern auch sich selbst hemmungslos belügen. Zudem verstoßen sie gewohnheitsmäßig gegen die einfachsten ökonomischen Regeln.
Die meisten ihrer alltäglichen Transaktionen verlaufen außerhalb der Geld- und Kreditkreisläufe. Sie ziehen Kinder auf, ohne dafür eine angemessene Bezahlung zu fordern. Sie gehen Beziehungen ein, ohne sich gegen mögliche Kreditausfälle zu versichern oder auch nur eine vernünftige Gewinn- und Verlustrechnung aufzumachen. Manchmal arbeiten sie einfach umsonst, lassen aus purem Trotz glänzende Chancen ungenutzt, werfen ihr Geld aus dem Fenster, vertrödeln wertvolle Zeit, verlassen sich auf ihr Horoskop oder auf die Fatwah eines Gottesgelehrten, verschenken alles mögliche ohne Gegenleistung; und so treiben sie es, zur Verzweiflung der Theoretiker, immer fort.
Es tut sich also, was die tatsächlichen wirtschaftlichen Praktiken der Spezies betrifft, ein riesiges Dunkelfeld auf. Die landläufigen Begriffe von Schwarzarbeit, Schwarzmarkt und Schwarzgeld greifen zu kurz und werden der informellen Ökonomie nicht gerecht. Um ein wenig Licht in die Sache zu bringen, müßte man wohl oder übel ins Detail gehen, und das heißt, auf generalisierbare Thesen verzichten und die Wissenschaft den Wissenschaftlern überlassen, auch wenn das dem Fachmann nicht erlaubt ist. Eine solche Mikroökonomie könnte ohne großen Aufwand auskommen und mit Forschungen im Bekannten- und Familienkreis beginnen. Ein halbes Dutzend Versuchspersonen dürfte fürs erste genügen, um sich davon zu überzeugen, daß auf diesem Gebiet eine sagenhafte Vielfalt herrscht.
Da wäre zum Beispiel die polnische Tante, die alle vierzehn Tage zwölf Stunden lang mit dem Bus nach Hause fährt, um sich um ihre halb gelähmte Mama zu kümmern, und danach mit demselben Bus zurückkehrt, um in Deutschland zu putzen. Sie hat noch nie ein amtliches Formular ausgefüllt, führt kein Konto, zahlt keine Steuern und nimmt nur Bargeld. Sie ist jedoch von einer unerschütterlichen Ehrlichkeit, weil sie weiß, daß Jesus alles andere mißbilligen würde.
Auch der von Ideen übersprudelnde Unternehmer, der immer neue Firmen gründet, spottet jedem Versuch, ihn einzuordnen. Denn sobald sich Gewinne zeigen, verläßt er das florierende Unternehmen, weil ihn die Routinen des Erfolgs zu Tode langweilen und weil er, wie er behauptet, »kein Geld braucht«.
Nicht zu vergessen der Schöngeist und Bibliophile, der seine Bekannten gern in ein erstklassiges Restaurant einlädt, aber mit schmerzverzerrtem Gesicht feststellt, daß er seine Brieftasche vergessen hat, sobald der Kellner die Rechnung bringt.
Ferner ist da der Hausarzt, der sich leidenschaftlich in einer Singakademie engagiert, einmal im Jahr aber immer eine Reihe von Proben versäumt, weil er sich wochenlang in Burundi oder im Kongo herumtreibt, wo er nicht nur bei den Médecins sans frontières Erste Hilfe leistet, sondern es auch mit Kindersoldaten und Warlords aufnimmt; die Flugtickets scheint er aus der eigenen Tasche zu bezahlen.
Niemand versteht, warum der Gärtner, der dreimal im Jahr ins Haus kommt, trotz mehrmaliger Mahnung nie eine Rechnung schickt, obwohl ihm die Bank den Kredit gesperrt hat; zur Begründung sagt er nur, er hätte andere, hautnähere Sorgen. Und wie kommt es, daß der namhafte Romancier für sein neuestes Buch keinen Verleger findet; daß er kein Geld hat, aber eine Köchin und eine Sekretärin beschäftigt, die er pünktlich bezahlt; daß er deshalb beim Lebensmittelhändler an der Ecke keinen Kredit mehr genießt und sich fürs Abendessen mit einer Semmel und einem Spiegelei begnügt.
Nun macht, wie jeder Zeitungsleser weiß, die totale Irrationalität, die Ökonomen bei den fälschlich so genannten Normalverbrauchern so nachhaltig irritiert und verblüfft, vor ihnen selber keineswegs Halt. Sie erreicht im Gegenteil bei den Akteuren der Finanzwirtschaft und ihren Beratern den höchsten Grad. Der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonom legt eine Pleite hin, vor der die Wallstreet zittert. Der soeben aus dem Gefängnis entlassene Investmentbanker, dessen Pyramidenspiel ihm drei Jahre komfortablen Knast eingebracht hat, macht sich unverzüglich nach Singapur oder Dubai auf, um den nächsten Hedgefonds zu gründen, und der einsame New Yorker Daytrader findet keinen Schlaf, weil die Börse in Tokyo schon um drei Uhr früh öffnet, weshalb er Tag und Nacht eine Tüte voll Kokain im Klo zur Hand haben muß, um sich wachzuhalten.
Derartige Phänomene kommen im Wirtschaftsteil höchstens vor, wenn es sich um Akteure handelt, die große Summen bewegen. Von den anderen ist in der Öffentlichkeit kaum die Rede. Sie bewegen sich vermutlich fern aller Lehrbuchvernunft in ökonomischen Zonen, über die keine Fakultät Auskunft geben kann. Nur ab und zu gewährt das Privatfernsehen einen flüchtigen Einblick in das Dunkel, etwa in der Serie »Heraus aus den Schulden«. Daß es gelingen könnte, solche Erkenntnisse kohärent zu verallgemeinern, ist kaum zu befürchten oder zu hoffen. Wer also tatsächlich wissen möchte, was die Leute treiben und was sie antreibt, sollte vielleicht bei sich selber anfangen. Er würde bald genug entdecken, daß es mit seiner ökonomischen Vernunft nicht weiter her ist als bei den Verrückten, über die er sich jedesmal von neuem wundert.
Weil es mit meinem Griechisch nicht weit her ist, habe ich im Wörterbuch nachschlagen müssen. Es scheint, als wäre mit einem Problem ursprünglich nicht etwas gemeint gewesen, das man sich aussucht oder gar wünscht, sondern eine Aufgabe, die einem gewissermaßen vor die Füße geworfen wird; denn das Wort leitet sich von dem Verbum ballein ab, und das heißt werfen.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn für jeden Menschen, der Probleme so weit wie möglich aussitzt, verdrängt, auf sich beruhen läßt, gibt es mindestens ein Dutzend andere, die sich nach ihnen sehnen, und zwar um so heftiger, je schwieriger das Problem ist. Je mehr sie sich dabei verheddern, desto hartnäk-kiger suchen sie nach der Lösung. Die Suchtgefahr, die darin liegt, wird oft unterschätzt, gleichgültig, ob es sich um ein Computerspiel oder eine Jahrhundertfrage handelt.
Die Alltagsdroge vieler ist das pünktlich erscheinende Kreuzworträtsel. Wer nach Höherem greift, der kann zum Beispiel über die Fermatsche Vermutung nachgrübeln. So erging es dem britischen Mathematiker Andrew Wiles. Er war als Zehnjähriger auf diese altbekannte, aber nie bewiesene Behauptung gestoßen. Zweiunddreißig Jahre später konnte er, nach einigen schweren Rückschlägen, den endgültigen Beweis vorlegen, der ihn weltberühmt machte. Zahllose andere, die sich im Lauf der Jahrhunderte um die Quadratur des Kreises bemühten, hatten weniger Glück. Die Lösung dieses Problems bestand nämlich darin, daß es keine Lösung gab. Wir verdanken sie dem Herrn von Lindemann aus Freiburg, der anno 1882 dafür den Beweis geliefert hat. Auch das war ein Triumph. Er hat es späteren Amateuren erspart, wie eine Wespe, die sich ins Wohnzimmer verirrt hat, bis zur Erschöpfung gegen ein unbezwingbares Hindernis anzurennen.
Man tut also gut daran, lösbare von unlösbaren Problemen zu unterscheiden. Leider ist das leichter gesagt als getan. Selbst die Mathematiker tun sich schwer damit, die beiden Klassen säuberlich voneinander zu trennen, auch wenn Autoren wie Gödel oder Turing heroische Anstrengungen unternommen haben, um ihrer Mit- und Nachwelt wenigstens in dieser Beziehung Klarheit zu verschaffen.
Es gibt nämlich scheinbar simple Aufgaben, die prinzipiell lösbar sind, nur daß der Zeit- und Rechenaufwand, der dazu nötig wäre, derart astronomisch hoch ist, daß man es besser läßt. Mit einem solchen Problem hat es ein Vertreter zu tun, der eine bestimmte Zahl von Kunden aufsuchen soll. Dazu markiert er ihre Aufenthaltsorte auf seiner Landkarte. Nun überlegt er sich, wie der kürzeste Weg aussieht, den er wählen kann, um jedem Kunden seine Aufwartung zu machen. Er wird sich an den Kopf greifen, wenn sich herausstellt, daß die Zahl der möglichen Routen mit der Zahl seiner Ziele über alle Maßen zunimmt. Bei zwanzig Kunden hätte er sich zwischen vielen Billiarden zu entscheiden. Wollte er sie alle ausprobieren, so müßte er nicht nur seinen Beruf aufgeben, sondern länger leben als der Planet. Eine praktikable Lösung für das Problem des Handlungsreisenden gibt es nicht. In einem solchen Fall muß man sich also mit Näherungslösungen begnügen. Dazu haben sich die Mathematiker eine Reihe von Tricks einfallen lassen, die im Lauf der Zeit immer raffinierter geworden sind. Damit kommen sie ihrem Ziel immer näher; aber nie und nimmer können sie es vollständig erreichen.
Mit solchen Schwierigkeiten haben auch die Physiker zu kämpfen. Das fängt schon mit den Turbulenzen in der häuslichen Badewanne an. Kein Gleichungssystem kann sie exakt beschreiben. Ein paar Regentropfen auf einem spiegelglatten See richten einen Wellensalat an, dessen Dynamik wir nicht berechnen können. (In der subatomaren Quantenwelt hat der normale Menschenverstand ohnehin nichts zu bestellen.)
Noch unerfreulicher sieht es mit Aussagen aus, welche die Zukunft betreffen. Bisher ist niemand in der Lage, das nächste Erdbeben oder den Ausbruch eines Vulkans vorherzusagen. Und wie jeder weiß, der eine Urlaubsreise plant, gerät auch die beste Wetterprognose für die kommende Woche rasch ins Schlingern.
Die Naturwissenschaftler wissen das, weil sie die Mucken komplexer Systeme kennen. Ein einziges Sandkorn kann die Flanke einer hohen Düne ins Rutschen bringen. Ob und wann genau ein kritischer Zustand erreicht ist, läßt sich oft erst sagen, wenn es zu spät ist. Auch lauert hinter den meisten Problemen, welche die Wissenschaft gelöst hat, eine Menge neuer Fragen, für die keine Antworten zur Hand sind. Die Zahl der Aufgaben, die sich stellen, kann also nie ab-, sondern nur zunehmen. Daß ihnen die Arbeit je ausgehen wird, brauchen die Forscher nicht zu befürchten.
Wenn es aber schon in den exakten Wissenschaften so prekär zugeht, um wieviel trüber mag es da erst mit unserer Zurechnungsfähigkeit in der Lebenswelt bestellt sein? Auch dort gibt es zwar Fortschritte, wohin man blickt. Produktionsprozesse in der Industrie lassen sich bis zu einem gewissen Grad optimieren. Logistiker sorgen für reibungslose Abläufe. Sicherheitsprüfungen suchen Risiken zu minimieren, Normen machen, wenn man Glück hat, Geräte kompatibel, und so fort.
Doch sobald man es nicht mit Maschinen, sondern mit Menschen zu tun hat, erreicht die Rationalisierung ihre Grenzen, und das Chaos siegt. Daran können auch die schnellsten Computerprogramme, die ausgefeiltesten statistischen Methoden und die schönsten Modelle der Wahrscheinlichkeitsrechnung nichts ändern.
Gerade dort, wo am meisten Geld und Mühe aufgewendet wird, häufen sich die Blamagen. Besonders anfällig sind die Finanzmärkte. In ein und derselben Ausgabe einer Wirtschaftszeitung sind Ratschläge, Empfehlungen und Warnungen zu lesen, die einander diametral widersprechen. Die meisten Fondsmanager schneiden nicht besser ab als ein beliebiger Aktienindex. Es soll Kaffeekränzchen von älteren Damen geben, die jeden Anlageberater schlagen. Die durchschnittliche Trefferquote der Experten kommt der eines Zufallsgenerators nahe. Das wiederum kann kein Zufall sein; es liegt in der Natur der Sache. Systeme wie die globalisierte Wirtschaft, die einen gewissen Grad von Komplexität überschreiten, sind einfach nicht mehr berechenbar. Wundern kann man sich höchstens über das Selbstbewußtsein der sogenannten Analysten, die Tag für Tag ihren nächsten Irrtum verkünden, ohne je an ihrer Unfehlbarkeit zu zweifeln.
Die gewöhnlich weit schlechter bezahlten Politiker stehen nicht besser da als die Auguren des Kapitals. Sie sind jedoch weit eher zu bedauern. Auch sie sind zu Entscheidungen gezwungen, deren Folgen nicht absehbar sind. Dazu sind die unabhängigen Variablen zu zahlreich, die Nebenwirkungen und Rückkopplungen ihrer Eingriffe zu unübersichtlich. Aber im Gegensatz zu den Händlern werden sie für das, was sie anrichten, politisch haftbar gemacht.
Ihre Wähler denken nicht im Traum daran, zwischen lösbaren und unlösbaren Problemen zu unterscheiden. Ein Politiker muß stets den Anschein erwecken, als hätte er alles im Griff. »Ich habe keine Ahnung«, »Mal sehen, was dabei herauskommt«, »Augen zu und durch« – solche Auskünfte kann er sich um so weniger leisten, je mehr sie zutreffen. Aus diesem Grund greifen die Verantwortlichen immer öfter zu der Behauptung: »Dazu gibt es keine Alternative«, die jeden Zweifel ausschließen soll, obwohl es sich in vielen Fällen um Aporien handelt, die aufzulösen nicht in ihrer Macht liegt. Das zuzugeben würde jedoch ihre Position auf dem Spielbrett weiter schwächen.
Deshalb kann es sich eine Regierung nicht erlauben, zwischen lösbaren und unlösbaren Problemen zu unterscheiden. Leider zeigt sich, daß die zweite dieser Klassen um so mehr wächst, je genauer man hinsieht. An Beispielen dafür fehlt es nicht. Jeder Gesundheitsminister weiß davon ein Lied zu singen. Nicht nur hat er es mit den zahllosen Beschwerden der Leute statt mit ihrem Wohlbefinden zu tun, weshalb er seinen Titel zu Unrecht trägt. Er ist auch deshalb nicht zu beneiden, weil ihn das Sy-stem, das er zu verantworten hat, hoffnungslos überfordert. Alle Versuche, es zu reformieren, sind an einem Drahtverhau von ineinander verfilzten Zielkonflikten gescheitert. Krankenhäuser, Ärzte, Pflegedienste, Krankenkassen und Pharmakonzerne verfolgen konträre Interessen. Nebenbei muß der bedauernswerte Minister auch noch Millionen von Patienten berücksichtigen, eine immerhin recht zahlreiche Wählerkohorte. Die rasant steigenden Kosten sprengen jedes vorstellbare Budget, und es ist absehbar, daß die demographischen Tatsachen über kurz oder lang das ganze System aus den Angeln heben werden. Es bleibt ihm nur das Durchwursteln, der Versuch, Zeit zu gewinnen, der Kompromiß, der das System eher verfestigt, als daß er seine Widersprüche auflösen könnte.
Damit befindet sich der Minister in guter Gesellschaft. Ein Bildungspolitiker, dessen Trachten danach ginge, allen Schülern gleiche Chancen einzuräumen und dem Durcheinander auf seinem Gebiet ein Ende zu machen; ein Finanzminister, der sich vornähme, den absurden Dschungel des Steuersystems zu lichten; ein Kanzler, der versuchen wollte, die Finanzmärkte an die Kandare zu nehmen – sie alle bekämen es mit Gegnern zu tun, gegen die sie sich niemals durchsetzen könnten.