Jaroslav Rudiš
Der Himmel
unter Berlin
Roman
Aus dem Tschechischen
von Eva Profousová

Es sind Geräusche, die einem in Erinnerung bleiben. Durch sie wird das Geschehene sortiert, verworfen und wieder gefunden. Die Welt ist ein Tonstudio, unsere Ohren die Antenne. Wir fahren, wohin sie uns lenken. Ich stehe am Fenster, den Hörer in der Hand, und warte.
«Mácha. Ich höre?» Ich sage: «Guten Tag. Bém hier. Herr Direktor, ich wollte sagen, dass ich heute Nachmittag nicht zur Besprechung komme. Ja ... morgen komm ich auch nicht … Eigentlich nie wieder … Also tschüs dann … Und seien Sie nicht böse.»
Aus dem Hörer donnert es zurück: «Was … Wie nicht … Wer … Was ist los … Bém, was soll der Quatsch?»
Ich lege den Hörer auf den Rand des Blumentopfes, setze Kaffeewasser auf und lasse Mácha in die Pflanzen hineinblubbern.
«Hallo-Hallo-Hallo. Wie stellen Sie sich das vor? Ausgerechnet am Anfang des Schuljahres. Sind Sie noch da?
Mensch, was ist denn los? Wachen Sie doch auf … Was Sie da machen, ist eine ziemliche … Ich krieg noch ’ne … Hallooooo … Verdammt …»
Klick.
Ein kurzer Moment Stille, zerstückelt durch ein schwaches Piepen am anderen Ende der Leitung. Dann pfeift der Wasserkessel, und hinter den Fenstern rattert der Bummelzug nach Nymburk.
Ich legte den Hörer zurück, goss Wasser auf, machte das Fenster zu. Und wartete ab, wann sich der Direktor der Grundschule in Jindřišská zurückmelden würde. Dass er sich melden würde, war mir klar.
Unter den Fenstern donnerte der Schnellzug nach Liberec, eine alte Diesellok, dahinter zwei gammelige Waggons. Das Telefon klingelte zum zweiten Mal.
Wenn ich abnehme, werde ich wohl bleiben. Werde mich unterkriegen lassen. Ich bin keine Kämpfernatur.
Nach zwei Minuten klingelte es zum dritten Mal.
Ich habe nicht weggehen wollen.
Zum vierten Mal.
Ich habe weggehen müssen.
Ohne genau zu wissen, warum und wohin.
Ich machte mich auf, meine Sachen zu packen. Die Gitarre. Und die Stimmgabel. Schrieb einen Brief, wenn man die paar Zeilen so nennen kann: Lasst es euch gut gehen. Ich werde mich melden. Tut mir Leid. Ich muss weg und so weiter, aus der Hosentasche fischte ich etwas Geld heraus und legte es auf den Tisch. Das Sparbuch auch. Es hört auf das Passwort Elvis ist tot. Das stand auf der Klotür geritzt, im Bunker, wo Žeňa und ich uns die Nächte um die Ohren gehauen haben, als es dort anfangs so super gut lief. Žeňa fand es klasse.
Elvis ist tot.
Der Bunker ist tot.
Unsere damalige Band Drobný za bůra – Für eine Hand voll Wechselgeld – ist auch tot, und mein Bruder hat nie wieder eine andere Band gegründet. Dafür hat er eine Familie und eine Tapezierfirma gegründet.
Žeňa lebt.
Und bald nicht mehr allein.
Wahrscheinlich will ich deswegen weg. Weil ich Schiss davor habe.
Ich kippe den Kaffee aus, das Telefon klingelt wieder. Ich spüre die Hitze aufsteigen. Wenn ich nervös bin, höre ich besser und kriege davon manchmal Nasenbluten.
Das Blut tropft ins Waschbecken. Hinterm Fenster brummt die Rangierlok, sie schiebt die Postwaggons von einem Bahnhof zum anderen. Den Kopf nach hinten gebeugt, kucke ich nach oben, hinter den Boiler, und spüre, wie sich meine Kehle mit dem bitteren und klebrigen Saft füllt. Der Schimmelfleck an der Decke sieht aus wie Australien.
Ein monotones Dröhnen: Der Boiler hält die Zeit an.
Ich schließe ab und werfe den Schlüssel in den Briefkasten. Dreißig Sekunden später breche ich ihn mit meinem Taschenmesser wieder auf, hole den Schlüssel, öffne die Wohnung und prüfe, ob kein Wasser im Badezimmer läuft.
Es war abgedreht. Die Gasleitung auch. Das Telefon protestierte nicht mehr. Und das Radio schwieg. Der Ostrava-Express unter meinem Fenster legte an Geschwindigkeit zu. Neun, ach was, zehn Waggons! Ich knallte die Tür zu. Verließ das Haus und rannte unter den ausgestreckten Brückenpfeilern die Příběnická hinunter, bis zum Tunnel, der Straßenbahnen verschlingt und Wolken von Staub ausspuckt.
Hinter dem Tunnel liegt ein Park, neben dem Park ein Bahnhof. Von diesem Bahnhof aus fahren Züge in eine Stadt, aus der einst mein Onkel, der kein richtiger Onkel war, gekommen ist, und sein Auto, das kein richtiges Auto war, vor unserem Haus stehen ließ, um über die Mauer der westdeutschen Botschaft zu klettern, wo die Flüchtlinge weder Cola noch Dead-Kennedys-T-Shirts oder echte Levis verteilt bekamen, sondern nur Tee, Kaffee und belegte Brote.
Ich ging schnell. Dicht an der dunklen Tunnelwand entlang.