Champagner. Charleston. Chiffon.
1926: Mit klopfendem Herzen nähert sich die junge Elly Preissing der pulsierenden Metropole Berlin, in der sie eine Anstellung als Buchhalterin in einer Boutique gefunden hat. Aber schon bald entwickelt sich alles ganz anders als erwartet. Statt in einer eigenen Wohnung muss sie bei Henriette leben, einer waschechten Berliner Göre. Das schicke Modegeschäft entpuppt sich als Laden für Gebrauchtkleider. Und Joachim, in den sich Elly Hals über Kopf verliebt, scheint einer anderen Frau versprochen. Doch dann lernt Elly Armin kennen, der ihr nicht nur eine Stelle als Vorführdame in dem renommierten Modehaus Goldtstein & Lange besorgt, sondern ihr die Welt zu Füßen legt. Hat Elly endlich ihr Glück gefunden?
Dieses Buch ist bereits unter dem Titel »Champagner, Charleston und Chiffon: Metropolis Berlin« erschienen.
Ulrike Bliefert (Jahrgang 51, verheiratet, eine Tochter) arbeitet seit Anfang der 70er Jahre als Schauspielerin, Sprecherin und Drehbuchautorin für Film, Funk und Fernsehen. Berliner Geschichte und Geschichten sind ihr Hobby. Sie lebt abwechselnd in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg.
Rosenstern
Das Haus der schönen Stoffe
beHEARTBEAT
Digitale Neuausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment | Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2015 by Ulrike Bliefert| Bastei Lübbe AG, Köln
Titel der Originalausgabe: Champagner, Charleston und Chiffon: Metropolis Berlin
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Beke Ritgen
Covergestaltung: © www.buerosued.de unter Verwendung von Motiven © Arcangel Images: Ildiko Neer; © mauritius images: United Archives
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-6319-7
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
»Warten Se, Frolleinchen, ick mach det schon!«
Der dicke Mann stand schwerfällig auf und half Elly, das Abteilfenster nach unten zu schieben.
»Danke schön! Ich mach auch gleich wieder zu.«
»Keene Eile.«
Elly steckte den Kopf aus dem Fenster und sog genüsslich den Geruch von Kohlenstaub und regennassem Eisen ein, den ihr der Fahrtwind um die Nase blies. »Nicht zu kalt?«, fragte sie den Dicken.
Der schüttelte den Kopf, säbelte eine Scheibe von der Schlackwurst, die aus einer Manschette aus fettigem Butterbrotpapier herausragte, spießte sie auf sein Taschenmesser und hielt sie Elly hin. »Hier! Essen Se, Frolleinchen, det Se wat uff de Rippen kriejen!«
Wenn alle Berliner so nett sind wie der da, platz ich glatt vor Glück, dachte Elly und steckte die Wurstscheibe in den Mund.
»Lecker!«
»Det will ick meinen! Eijene Herstellung, vastehn Se?«, erklärte der Dicke mit unverkennbarem Stolz und stellte sich als »Siegfried Jabusch, Landwirt und Fleischermeister, Spandau« vor.
»Angenehm. Elly Preissing.« Elly deutete einen Knicks an und fragte sich zum x-ten Mal, ob sie diesen kindlichen Höflichkeitshopser in Berlin nicht einfach weglassen könnte. Menschenskind, Elly! In nicht mal einem Jahr bist du einundzwanzig und mündig!
»Kennen Se Spandau?« Der Dicke sah sie erwartungsvoll an.
»Nein, ich fahr nach Berlin.«
»Wat heißt denn Berlin?! Nee, nee, Meechen, wir sind zwar einjemeindet – leider, muss ick sagen – aber hier drinne …« – er tippte sich mit seinem rosigen Zeigefinger auf die Brust – »hier drinne bleibt der Spandauer Spandauer! Müssen Se sich unbedingt ma ankieken! De Zitadelle un so. Wissense: Spandau, det is einfach ’n herrlichet Fleckchen Erde! Und wo sin Sie her, Frolleinchen?«
»Ich komm aus Blumberg. Ganz kleines Dorf. Bei Gumbinnen.« Elly zuckte entschuldigend die Achseln, »Können Sie nicht kennen.«
»Ostpreußen? Na klar! Kenn ick!« Die Augen ihres Gegenübers begannen zu leuchten. »Die hatten ja ’n jroßen Stand uffe Jrüne Woche, wa? Und wat den Ostpreußen ihre Jäule sind, da is ja einfach det Ende von weg!«
Oje, dachte Elly, an den Dialekt muss man sich wirklich erst mal gewöhnen …
Obwohl sie ganz offensichtlich nur die Hälfte des Gesagten verstand, war Ellys Reisebekanntschaft jetzt nicht mehr zu bremsen: Wie großartig die Idee sei, ab jetzt jährlich eine internationale Landwirtschaftsausstellung in Berlin auszurichten und wie sehr ihn die Ostpreußen – »… also wat denen ihre Jäule sind, wa?« – beeindruckt hätten.
Nachdem Elly klar geworden war, dass es sich bei den »Jäulen« um Gäule – oder besser gesagt: Pferde – handeln musste, konnte sie endlich auch etwas zur Konversation beitragen. »Wissen Sie, ich bin ja sozusagen mit Pferden aufgewachsen«, erklärte sie eifrig, bevor der Dicke ihr weiter von der überaus Erfolg versprechenden Kreuzung von Berkshire-Ebern und Cornwall-Sauen vorschwärmen konnte.
Kurz vor Rummelsburg hatte Elly immerhin etliches Wissenswerte über Spandau und die Spandauer erfahren, während der freundliche Fleischermeister um einige Details aus dem Leben ostpreußischer Pferdezüchter reicher den Zug verließ, um in Spratt’s Hundekuchenfabrik über die Abnahme von Schlachtabfällen zu verhandeln.
Als der Zug wieder Tempo aufnahm und sich der beißende Qualm von Siegfried Jabuschs Knasterpfeife verzogen hatte, schaute Elly mit klopfendem Herzen auf die Uhr.
Noch nicht mal mehr zwanzig Minuten bis Berlin! Ob Viktor schon auf dem Perron steht?
»Berlin ist einfach knorke!«, hatte ihr Bruder in seinem letzten Brief geschrieben. Obwohl Elly das Wort nicht kannte, war sie sicher, dass »knorke« nur eine Mischung aus »herrlich«, »wundervoll«, »großartig« und »ganz und gar einmalig« bedeuten konnte. Zwar hatte Großmama Auguste alles darangesetzt, ihre Enkelin gleich nach der Handelsschule mit einem heiratsfähigen Spross der benachbarten Gutsbesitzerfamilien zu verkuppeln, aber Elly hatte sich durchgesetzt: zuerst mit ihrer Ausbildung und gleich danach damit, die Stelle bei Elias Rosenstern in der Großen Hamburger Straße anzunehmen.
»Viktor wird doch noch `ne ganze Weile in Berlin studieren. Da kann er doch auf mich aufpassen!«, führte Elly – wenn auch wider besseres Wissen – ins Feld, und nach einigem Hin und Her hatte Großmama Auguste ihren Plänen zugestimmt.
Es hatte aufgehört zu regnen und Elly kam es vor, als warteten die Felder und Wiesen, die an ihrem Zugfenster vorbeizogen, genau wie sie selbst bereits sehnsüchtig auf die erste Frühlingssonne. Wie zum Trotz sandte die Lokomotive strahlend weiße Wolkenfahnen in den grauen Winterhimmel, und während der Zug seinem Zielbahnhof entgegenratterte, dachte Elly an all die wunderbaren Dinge, die mit jedem Kilometer näher rückten: Riesenradfahren im Luna-Park, Kaffeetrinken bei Kranzler, ein Einkaufsbummel im KaDeWe oder bei Goldtstein und Lange, dem berühmten Modehaus am Hausvogteiplatz. Und abends Theater, Kino, Kabarett und Tanzvergnügen. Viktor hatte ihr alles in den leuchtendsten Farben geschildert.
Die Lok stieß einen theatralischen Heulton aus und nahm die letzte Weiche vor der Endstation.
»Schlesischer Bahnhof! Alles aussteigen, bitte!« Der Schaffner hievte Ellys Gepäck auf den Bahnsteig, und da stand sie nun … Das ist also Berlin?
Der Lärm war ohrenbetäubend. Männer mit Schweißgeräten und riesigen Hämmern bearbeiteten die Stahlkonstruktion der Bahnhofshalle, Funken sprühten, und ein ganzer Schilderwald leitete sämtliche ankommenden Fahrgäste zum Nordausgang. Der Weg zum Südausgang war wegen der Bauarbeiten gesperrt, und so schoben und drängelten sich etwa doppelt so viele Menschen wie sonst zu den Treppen.
Gott sei Dank war Viktor nicht zu übersehen: Lang und schlaksig, die Studentenmütze kess auf die roten Locken gedrückt, stand er unbeeindruckt von all der Hektik auf dem Bahnsteig und reckte den Hals, um seine kleine Schwester in der Menge auszumachen.
»Viktooor! Hier bin ich!« Elly winkte mit dem Regenschirm. Ziemlich undamenhaft, gestand sie sich ein, aber es wirkte: Sekunden später kam ihr Bruder auf sie zugestürmt, hob sie hoch und wirbelte sie wie ein kleines Mädchen im Kreis herum.
»Hör auf!«, japste Elly, »Viktor, bitte! Das ist doch … peinlich!«
»Ach was! Peinlich gibt’s nicht, Schwesterherz; schließlich sind wir in Berlin!« Grinsend schulterte er Ellys Koffer und marschierte in Richtung Ausgang. »Kraft- oder Pferdedroschke?«
»Aber … wieso? Großmama hat doch gesagt, man kann mit der Elektrischen bis fast vor die Haustür fahren.«
»Aber nicht vor unsere!«
Auf der kleinen Geschäftsstraße, die an der Nordseite parallel zum Bahnhofsgebäude verlief, standen die Kutschen und Automobile dicht an dicht. Viktor winkte dem Fahrer eines blitzblanken neuen Opels. Der Chauffeur zog die Mütze, öffnete Elly mit einer kleinen Verbeugung den Wagenschlag und verstaute schwungvoll das Gepäck.
»Gartenstraße 111«, sagte Viktor und lehnte sich behaglich in die Lederpolster.
»Aber wir müssen doch zum Dönhoffplatz!«
»Hat sich was mit Dönhoffplatz. Bei Henri ist ’n Zimmer frei, gleiche Etage, direkt gegenüber. Ist doch viel praktischer!«
»Wer ist denn Henri?« Elly ahnte Schreckliches. »Und was ist mit der Wohnung am Dönhoffplatz? Großmama hat sie doch extra für mich …«
»Ist bestens untervermietet! Und bei Henri zahlst du nicht mal die Hälfte!«
»Aber ich kann doch nicht mit einem Mann zusammen in einer Wohnung …«
»Das Nasse da links ist die Spree«, unterbrach sie Viktor, »und nach der nächsten Biegung fahren wir dann schnurstracks auf den Alexanderplatz zu.«
»Lenk nicht ab!«
»Also, diese Brücke hier heißt Michaelbrücke; auf den Pfeilern in rotem Backstein verewigt: die Berolina und die Borussia. Und da vorne kommt die Jannowitzbrücke, benannt nach ihrem Erbauer, und ganz da hinten der Turm, das ist das Rote Rathaus!«
»Fremdenführer, wa?« Der Droschkenfahrer grinste.
Viktor grinste zurück. »Stimmt. War ich auch mal.«
»Viktor, hör auf damit!« Elly gab sich trotz der aufsteigenden Panik Mühe, leise zu sprechen. »Was ist los? Wo fahren wir hin?«
»Wirst du schon sehen. Und wird dir gefallen!« Er zog sich die Nickelbrille von der Nase, nahm die Studentenmütze vom Kopf und stopfte beides in die Manteltasche. »So, das wär dann auch erledigt«, seufzte er erleichtert. »Weißt du, ich hab unsere Großmama ja von Herzen gern, aber ich bin heilfroh, dass sie es sich nicht doch noch in letzter Minute überlegt hat und mitgekommen ist.«
»Aha. Du brauchst also gar keine Brille«, stellte Elly trocken fest.
Viktor zuckte die Achseln. »Sieht halt studentischer aus.«
»Und die Mütze und das Couleurband …«
»Hab ich mir heimlich bei ’nem Kumpel ausgeborgt. Bis der seinen Rausch ausgeschlafen hat, ist alles wieder an Ort und Stelle. Robert heißt er. Robert Berghoff. Wohnt `ne Treppe tiefer. Wird dir gefallen.«
»Das heißt, du hast dein Zimmer im Verbindungshaus gekündigt?«
»Genau! Da wohnen nur angehende Rechtsverdreher. Stocksteif und gähnend langweilig.«
Elly schluckte. »Mit anderen Worten: Du hast dein Studium …« Sie brauchte den Satz nicht zu vollenden, denn die Antwort lag auf der Hand.
»Eintänzer«, beantwortete Viktor gleich die nächste unausgesprochene Frage. »Tanzschule Lemke. Steglitz. Großartiger Laden. Und das hier rechts ist das Polizeipräsidium.«
»Eintänzer?!«
»Ist ja nur der Anfang. Ab nächste Woche übernehm ich die Charleston-Klasse. Wird übrigens Rote Burg genannt.«
»Wer?«
»Das Polizeipräsidium.«
»Aha.«
Dann kann ich nur hoffen, dass du dir diesen riesigen roten Klinkerklotz nie von innen anschauen musst, dachte Elly.
Eine Zeit lang verlief die Fahrt in beiderseitigem Schweigen. Trotz allen Draufgängertums war Viktor Preissing im Grunde seines Herzens ein hoffnungsloser Romantiker und durchaus sensibel genug, um nachzuvollziehen, dass Elly erst einmal ein paar Minuten Zeit brauchte, um die Neuigkeiten zu verarbeiten.
Sie musterte ihn von der Seite. Zwischen ihr und dem hoch aufgeschossenen, sommersprossigen jungen Mann mit den ungewöhnlich großen, leicht abstehenden Ohren war beim besten Willen keine Familienähnlichkeit auszumachen.
Er kommt nach Papa. Der war auch keine Schönheit, aber Mama hat ihn regelrecht vergöttert. Und nicht nur Mama …
Elly selbst war gut einen Kopf kleiner als ihr zwei Jahre älterer Bruder, und ihre lockigen nussbraunen Haare waren ebenso wie die kleine, zierliche Nase eindeutig ein Vermächtnis der mütterlichen Linie. Einzig das ungewöhnlich dunkle Blau ihrer Augen war beiden Geschwistern gemeinsam.
Für einen kurzen Moment kämpfte Elly mit den Tränen.
Papa: gefallen 1915, Mama: gestorben 1919. Man sagt, an gebrochenem Herzen …
»Wir sind die letzten Mohikaner, du und ich«, flüsterte sie.
Sie nahm Viktors Hand und hielt sie in der ihren. Keine Angst, ich lass dich nicht im Stich, mein kleiner großer Bruder …
Dann fiel ihr die Sache mit der Wohnung wieder ein. »Aber zu diesem Kerl zieh ich auf gar keinen Fall!«, erklärte sie trotzig.
»Was denn für ’n Kerl?«
»Na, dieser Henri!«
Prompt bekam Viktor einen Lachanfall.
***
»Henri! Henri Linck! Mit zwei Mal i! Nich Jette oder Jettchen und schon ja nich Henriette«, trompetete es durchs Treppenhaus. Sekunden später flog Elly ein blond gelocktes Wesen um den Hals, verpasste ihr je einen dicken Schmatzer auf beide Wangen, riss ihr die Reisetasche aus der Hand und stürmte wieder nach oben. Während Viktor eine Treppe tiefer unter Ellys restlichem Gepäck ächzte, zwitscherte die Blonde munter weiter. »Wird dir jefallen, Kleene, wirste schon sehn! Kattjeh Lattäng sagen die Leute hier zu unsern Kiez. Wie in Paris, weeßte?«
Die Ähnlichkeit mit dem Quartier Latin besteht wahrscheinlich lediglich darin, dass hier die Mieten billig sind, dachte Elly, während ihr beinahe hörbar ein Stein vom Herzen fiel: Der gefürchtete Vermieter namens Henri war, Gott sei Dank, eine hübsche, quirlige Blondine in ihrem Alter!
Henriette-Linck-genannt-Henri erwies sich schon nach wenigen Minuten als Glücksfall: Auf dem Küchentisch stand ein Marmorkuchen – »… vom Bäcker, weil: Backen is ja nu nich meine Stärke, wa?« –, und das Zimmer, das vor ein paar Tagen frei geworden war, duftete anheimelnd nach einer Mischung aus Bohnerwachs und italienischem Körperpuder.
Felce Azzurra! Elly schnupperte hingerissen. Wie bei Großmama!
Neben dem blütenweiß bezogenen Bett stand ein Paravent, hinter dem sich eine altmodische Waschkommode verbarg.
»Zähneputzen kannste inne Küche, pullern und so is `ne halbe Treppe tiefer. Schlüssel hängt gleich rechts neben de Wohnungstüre.«
Einen Moment lang dachte Elly wehmütig an die schicke Wohnung am Dönhoffplatz, die Großmutter Auguste für sie gemietet hatte; mit Blick auf den Park, nur ein paar Schritte vom Kaufhaus Tietz entfernt und mit eigenem Badezimmer.
»Schlüssel steckt außen, heißt besetzt«, erklärte Henriette weiter, »und innen is denn ’n Haken zum Zumachen.«
Keine zwei Stunden später war der Koffer ausgeräumt, und Elly hatte ihr Reisekostüm gegen ein bequemes Wollkleid eingetauscht. Als der Kuchen zur Hälfte vertilgt war, hatte sie bereits alles Wissenswerte über ihre neue Vermieterin erfahren.
»Ick verkoof Schuhe, weeßte? Bei Leiser an ’n Tauentzien. Kannst mir glooben: Ick bin richtich jut in so wat! Hab zum Beispiel bei mir inne Herrenabteilung unten nur leere Kartongs inne Rejale.«
»Aha …?«
»Na, damit wir Mädels immer die Leiter hoch müssen mit unsere kurze Röcke, wa?«, erklärte sie auf Ellys und Viktors verständnislose Blicke hin und wollte sich schier ausschütten vor Lachen, als Elly tatsächlich rot wurde bei dieser Vorstellung.
Am Abend gingen die drei übergangslos von Marmorkuchen zu Leberwurstbrot, Bier und Klarem über.
»›Auch den soliden Lebenswandel stört nicht ein Stobbe’scher Machandel‹«, zitierte Viktor den Flaschenaufdruck.
Elly kippte den Schnaps hinunter, wie es die Pferdeknechte daheim auf Großmama Augustes Gestüt zu tun pflegten. Es brannte in der Kehle, aber sie verzog keine Miene. Als Henriette das Glas ein zweites Mal füllte, stieß sie übermütig mit den beiden anderen an. »Auf Berlin!«
»Und auf uns«, ergänzte Viktor.
»… und auf die Liebe«, fügte Henriette hinzu.
Als Elly am Morgen erwachte, fühlte sie sich wie Schneewittchen und Dornröschen in einem.
Nur eben leider ohne Prinz.
Aber was nicht ist, kann ja noch werden …
Von der Gartenstraße bis zur Großen Hamburger Straße brauchte sie zu Fuß nicht einmal zwanzig Minuten. »Rosenstern« stand in dicken, blauen Reliefbuchstaben über der Eingangstür. Der Laden war noch geschlossen, und Elly schaute sich – ein bisschen aufgeregt an ihrem ersten Arbeitstag – die Auslagen in den Schaufenstern an. Das linke wurde von einer überheblich dreinblickenden Schaufensterpuppe im schwarzen Spitzenkleid dominiert. Die braucht gar nicht so blasiert zu gucken, dachte Elly, die hat eindeutig schon mal bessere Zeiten gesehen, genau wie ihr absolut unpassendes Kapotthütchen!
Im zweiten Fenster ragte zwischen einem Sammelsurium von Handtaschen, Schuhen und unechtem Schmuck eine bleichgesichtige Dame ohne Unterleib empor, und im Schaufenster rechts neben der Eingangstür befand sich lediglich ein angestaubtes Schild mit der Aufschrift »Elegante Gebrauchtkleidung, Inh. Elias Rosenstern«.
Gebrauchtkleidung?!
Auf den Gedanken war Elly angesichts der Annonce im Berliner Tagesanzeiger beim besten Willen nicht gekommen. Viktor hatte sie ihr in einem seiner Briefe geschickt:
Modegeschäft sucht Buchhalterin
mit guten Umgangsformen.
Gelegentliche Mitarbeit in Laden
und Lager erwünscht.
»Genau das Richtige für Dich!«, hatte Viktor geschrieben, »Nebenbei ein bisschen schicke Kledage verkaufen ist doch zehnmal besser, als den ganzen Tag nur im Büro zu hocken!«
»Also allem voran wär Fensterputzen keine schlechte Idee«, murmelte Elly und rümpfte die Nase. »Und anschließend den ganzen Krempel raus und anständig dekorieren.«
»Ach, da spricht mir jemand aus der Seele!«
Erschrocken fuhr Elly herum. Vor ihr stand ein kleiner alter Mann mit weißem Rauschebart. Er hatte eine Kuchentüte unter dem Arm und strahlte sie an. »Eleonore, nicht wahr? So ist doch dein Name, nicht wahr?«
»J-j-a-ja,« stotterte Elly und schaute peinlich berührt zu Boden, »ich … ähm … Entschuldigung, ich habe Sie nicht kommen hören.«
Sie schätzte ihr Gegenüber auf glatte hundert Jahre. Der Knicks fiel ihr dem entsprechend nicht schwer. »Guten Morgen, Herr Rosenstern, und … ähm … eigentlich nennt mich niemand Eleonore, sondern Elly.«
»Na, gut, mein Tajbele, dann erst mal nichts wie rein in die gute Stube!«
Als Elias Rosenstern im Verkaufsraum das Licht anknipste, stieß Elly unwillkürlich einen kleinen Begeisterungsschrei aus: Das Innere des Ladens war weitaus geräumiger, als man von außen vermuten konnte, und altmodisch, aber ausgesprochen anheimelnd eingerichtet. Während an den Wänden entlang Kleider, Jacken und Mäntel an Eisengestellen hingen, war der Platz in der Mitte bis auf einen riesigen, schwenkbaren Spiegel frei. In einer Nische im rückwärtigen Teil des Raumes stand ein niedriger Tisch und ein grün und rosarot geblümtes Kanapee mit zwei passenden Sesseln; daneben, auf einer Anrichte, ein großer, goldglänzender Samowar.
»Setz dich, mein Tajbele!« Rosenstern deutete einladend auf das riesige, grünrosa Plüschsofa. »Bei uns zu Hause trinkt man ihn ja nur am Nachmittag, aber so ein schöner schwarzer Tee am Morgen wärmt den Magen und weckt die Lebensgeister.«
Während das Wasser zu sieden begann, stellte er den mitgebrachten Kuchen und ein Schälchen mit eingemachten Kirschen auf den Tisch. »Warenije nennt man die in meiner Heimat. In den Mund nehmen und dann a klejn Schlickele Tee hinterher. Statt Zucker. Probier`s aus!«
Es schmeckte köstlich.
»Tut mir wirklich leid, was ich eben gesagt habe,« beteuerte Elly ein zweites Mal, doch Rosenstern winkte ab.
»Hast ja recht, mein Tajbele.« Er deutete seufzend auf die triste Schaufensterdekoration. »Seit meine Judith nicht mehr ist, ist eben alles nicht mehr so, wie’s mal war.«
»Ihre Frau?«
Rosenstern nickte.
»Oh, mein Beileid.«
»Na, ist ja nun schon über drei Jahre her, aber ich versteh nun mal nichts von Mode und Eleganz und Schmoos, und Kinderlach haben wir nun mal keine.«
»Keine Sorge, Herr Rosenstern, ich mach das schon.«
Als die erste Kundin kam, hatte Elly die hochnäsige Pappmaché-Kameradin mit dem Rücken zur mittlerweile blitzblanken Fensterfront gedreht und sie mit einem perlenbestickten Samtmantel eingekleidet. Im zweiten Fenster trug die Dame ohne Unterleib jetzt einen pastellfarbenen Frühlingshut mit zart geblümtem Seidenschal, und sie war umgeben von ausschließlich weißen, cremefarbenen, rosa und zartgelben Accessoires.
Die Kundin klatschte vor Begeisterung in die Hände, überschüttete Rosenstern mit Komplimenten – die er galant an Elly weitergab – und verließ den Laden mit einem Lächeln und zwei großen, prall gefüllten Einkaufstaschen.
»Herzliebste Großmama, hier ist alles zum Besten …«
Elly gab sich redlich Mühe, die Schilderung ihrer ersten drei Wochen in Berlin der Empfängerin ihres Briefes anzupassen. Schon allein die Erlaubnis, als Mädchen einen Beruf erlernen zu dürfen, rechnete sie ihrer Groß- und Ziehmutter so hoch an, dass sie sie auf keinen Fall beunruhigen wollte.
Dass Auguste von Alsfelds einzige Tochter seinerzeit den Verwalter geheiratet hatte und aus Elly und Viktor auf diese Weise Bürgerliche geworden waren, bedeutete nach Großmama Augustes Ansicht nämlich noch lange nicht, dass sie sich auch wie diese benehmen durften. Zudem hielt Ellys Großmutter eisern an den preußischen Tugenden fest und erwartete das auch von ihren Enkeln. Nach dem Krieg hatte sie – mit über siebzig und ganz auf sich allein gestellt – auf den Trümmern des von Alsfeldschen Herrenhauses eine mittlerweile aufstrebende Pferdezucht aufgebaut. »Sie reitet wie ein Kerl, schwingt notfalls selbst die Mistgabel und trinkt sogar den letzten Pferdeknecht noch untern Tisch«, pflegte Elly sie zu beschreiben, »aber im Salon macht sie ihrer kaiserlichen Namensschwester alle Ehre.«
Zweifellos hatte Auguste von Alsfeld ein gerüttelt Maß ihrer Gene an ihre Enkelin weitergegeben. Das Zupackende jedenfalls hatte Elly genauso von ihr geerbt wie das Talent, auch in schlechten Zeiten noch eine gute Figur zu machen.
Also wurde der Großmama zuliebe die Wahrheit ein bisschen aufpoliert: »Viktor wollte mich einfach ganz in seiner Nähe haben«, begründete Elly die Tatsache, dass sie nicht wie geplant in die Wohnung am Dönhoffplatz gezogen war. Und natürlich verschwieg sie geflissentlich, dass das Ganze eher auf Viktors Pechsträhne beim Pferdewetten und den daraus resultierenden Geldmangel zurückzuführen war. Henriette mutierte in ihrem Brief von der Schuhverkäuferin zu einer »Kollegin aus der Modebranche« und Elias Rosensterns Gebrauchtkleider-Laden zu einem »Spezialgeschäft mit ganz entzückendem Interieur«.
»Die Arbeit macht mir viel Freude, und der Geschäftsinhaber ist ein reizender alter Herr«, schrieb Elly – diesmal zu hundert Prozent wahrheitsgemäß – weiter.
Die Sache mit dem Topp-Keller ließ sie wohlweislich unerwähnt: Der für den Abend geplante Besuch in einer von Berlins prominentesten Lasterhöhlen würde die Toleranzgrenze ihrer Großmutter definitiv sprengen.
»Heute Abend werde ich in Viktors Begleitung erstmalig eines der renommierten Berliner Tanzlokale besuchen«, schrieb sie stattdessen.
Dass das der Wahrheit nicht einmal annähernd nahekam, stellte sich ein paar Stunden später bereits vor Betreten des Topps – wie Henriette und Viktor den Topp-Keller vertraulich nannten – heraus: Die Schwerinstraße und ihre Umgebung waren nur spärlich beleuchtet, und nachdem man drei düstere Innenhöfe hinter sich gelassen hatte, ging es nicht wie erwartet in den Keller, sondern eine enge Treppe hoch in den ersten Stock. Viktor zahlte dreißig Pfennig Eintritt, während Elly und Henriette stattdessen zwei Damen in Nadelstreifenanzügen küssen mussten, die den Eingang bewachten.
»Trude, lass die Zunge drin«, warnte Henriette die Ältere der beiden.
Elly klopfte das Herz bis zum Hals. Schließlich hatte sie noch nie jemanden auf den Mund geküsst, außer Wilhelm Hensel, und da waren sie beide gerade einmal elf und zwölf Jahre alt gewesen. Sie kniff die Augen zu und presste den Mund so fest zusammen, wie es nur ging.
»Na, det üben wer aba noch!« Die Trude Genannte zog grinsend an ihrer Zigarre und winkte Elly durch die Barriere in den Saal.
Es war brechend voll. Die einzige Dekoration bestand aus einer Unmenge kreuz und quer gespannter Papiergirlanden. Auf der winzigen Bühne spielte eine vierköpfige Combo Sweet Georgia Brown, es war heiß und stickig, und obwohl zwischen den Tischen eigentlich kein Mensch mehr Platz hatte, wurde exzessiv getanzt.
»Schorschiii!« Henriette flog auf der Stelle einem ausgesprochen hübschen jungen Mann um den Hals. Der zog sie auf seinen Schoß und schnupperte verzückt an ihrem Ausschnitt. »Es geht doch nichts über den Duft von Doktor Thompsons Kernseife!«, verkündete er kichernd, küsste Henriette auf beide Wangen und orderte umgehend eine weitere Flasche Champagner. Dabei versetzte er dem Kellner zur Bekräftigung einen Klaps auf den Po.
Irritiert sah Elly sich zu Viktor um. »Kennst du den?«
»Schorschi halt.« Viktor zuckte die Achseln. »Dauerfreund von Henri.«
»Heißt das, Henriette ist mit ihm … verlobt?«
»Was?!« Viktor schlug sich in gespielter Verzweiflung an die Stirn, »Mensch, Elly, der Junge ist doch eindeutig vom anderen Ufer!«
»Ja, natürlich. Jetzt, wo du’s sagst«, beeilte sich Elly zu versichern. Dabei hatte sie keine Ahnung, was damit gemeint sein könnte. Sie kam sich dumm, naiv und völlig verloren vor.
»Wir sind die neue Geistigkeit, wir machen es mit Dreistigkeit« stand über dem Toiletteneingang.
Elly Preissing, dachte Elly, du hast noch viel zu lernen.
Letzteres bestätigte sich erst recht am nächsten Morgen, als sich der flotte Smokingträger, der Henriette in der Nacht nach Hause gebracht hatte, als adeliges Fräulein namens Olga von Brongé erwies: ein zierliches Zauberwesen mit pechschwarzen, kurz geschnittenen Haaren, Porzellanteint und mit Wimpern, die Elly an die Schlafaugen ihrer Lieblingspuppe erinnerten.
»Olly is ja nu Kunstfliejerin, wa?«, erklärte Henriette strahlend, »und wir bleiben ab heute für immer zusamm!«
Nach je einer hastig heruntergestürzten Tasse Kaffee verschwanden die beiden Frischverliebten umgehend wieder im Schlafzimmer, aus dem sie auch an den nächsten beiden Tagen nur herauskamen, um zur Arbeit zu gehen: Die eine in die Herrenschuhabteilung bei Leiser am Tauentzien, die andere nach Tempelhof, um mit ihrer Udet U 10 die neusten Kunstflugmanöver zu üben.
Viktor ließ sich ebenfalls selten blicken. Er hatte die ehrenvolle Aufgabe übernommen, die Besten der Tanzschule Lemke in Shimmy und Black Bottom zu trainieren und eine entsprechende Bühnenschau für den nächsten Ball vorzubereiten.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft fühlte Elly sich einsam in Berlin.
Vor dem Gloria-Palast an der Gedächtniskirche hatte sich eine riesige Menschentraube angesammelt. Der Film Geheimnisse einer Seele hatte Premiere. Natürlich gehörte Elly nicht zu den geladenen Gästen; es ging ihr – genau wie den anderen Normalsterblichen rechts und links vom roten Teppich – einzig und allein darum, einen Blick auf die Abendroben der Schauspielerinnen zu werfen. Trotzdem hatte auch sie sich extra fein gemacht.
Werner Krauß, der Hauptdarsteller, kam als Erster an. Er grüßte nach rechts und links wie ein König, aber er war offensichtlich nervös und beeilte sich, den roten Teppich in Richtung Kinofoyer zu verlassen.
Danach kam eine ganze Reihe Unbekannter; Elly vermutete, dass es sich um Kameraleute, Kostüm- und Maskenbildnerinnen und andere Mitarbeiter handelte. Nachdem sie eine gute Viertelstunde lang frierend in der Menge der Wartenden gestanden hatte, wäre sie beinahe wieder nach Hause gegangen. Sie war bereits im Begriff, ihren Platz zu verlassen, als sich eine umwerfend elegant gekleidete Blondine in die erste Reihe vordrängelte und ihr mit einem knappen »Halten Sie mal!« einen Stenoblock samt Drehbleistift in die Hand drückte.
»Die Dinger machen mich noch mal wahnsinnig«, keuchte die Blonde und kramte hektisch in ihrer Handtasche. Nachdem sie gefunden hatte, wonach sie suchte, schob sie blitzartig ihren Rock hoch und ersetzte den offenbar verloren gegangenen Strumpfhalterknopf durch ein Einpfennigstück. »Danke«, seufzte sie erleichtert, nahm Block und Stift wieder entgegen und zwinkerte Elly verschwörerisch zu. »Mal ehrlich: Strümpfe, die Wasser ziehen, sind doch das nackte Grauen, oder?«
Dem konnte Elly zwar nur zustimmen, doch dazu kam es gar nicht erst: Die Blonde stieg, ohne mit der Wimper zu zucken, über die Absperrkordel und rannte auf einen der Premierengäste zu. »Herr Forster? Martha Goldtstein vom Berliner Tagesanzeiger«, stellte sie sich vor. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, bevor das Ganze losgeht?«
Der gut aussehende Herr im Kleppermantel gehörte eindeutig nicht zur Crème der geladenen Gäste. Unwillkürlich verkniff sich Elly ein Kichern: Zum Smoking eine Armbanduhr zu tragen widersprach definitiv der Etikette, und die braunen Schnürschuhe stellten diesen modischen Fauxpas sogar noch in den Schatten.
»Herr Kommissar«, begann die Blonde, ohne eine Antwort abzuwarten, »der Film ist ja laut Ufa ein Lehrstück in Sachen Psychoanalyse, und es geht um das Thema Mord. Was erwarten Sie als Kriminalbeamter von dieser Art von Volksaufklärung?«
Während Elly interessiert dem weiteren Verlauf des Interviews lauschte, schob sich ein schmächtiger kleiner Junge mit tief ins Gesicht gezogener Schiebermütze durch die Menge. Elly merkte rein gar nichts, als er den Henkel ihrer Handtasche mit einem kaum hörbaren »Rrritsch« durchtrennte.
Der Kleine rannte los, schlug einen Haken und landete just in dem Augenblick auf der Fahrbahn, als der Chauffeur eines eleganten Maybach-Landaulets die Beifahrertür öffnete. Der Junge schlug der Länge nach aufs Pflaster.
»Pappkopp! Kannste nich uffpassen?«, schimpfte der Fahrer. Der Kleine rappelte sich auf, schob Ellys verstreut liegende Habseligkeiten zurück in ihre aufgeplatzte Tasche, streckte dem Chauffeur die Zunge heraus und wollte weiterrennen. Doch schon nach ein paar Metern hatte ihn der Besitzer des Wagens am Schlafittchen gepackt.
»Moment, Freundchen! Die lassen wir mal schön hier.« Er nahm dem Jungen die Tasche ab und drückte ihm stattdessen eine Handvoll Münzen in die Hand. »Und das hier lieferst du nicht bei deinem Anführer ab, verstanden?«, rief er ihm hinterher. »Davon kaufst du dir erst mal was Anständiges zu Futtern!«
Mittlerweile hatte die Szene die Aufmerksamkeit aller Umstehenden auf sich gezogen. Einige applaudierten, andere meuterten, man solle solche Bengels lieber bei Wasser und Brot einsperren, bis sie Verstand angenommen hätten.
»Ich halte Wasser und Brot in dieser Hinsicht für wenig Erfolg versprechend«, hörte Elly die blonde Journalistin sagen. Den Kommentar des Polizeibeamten nahm sie schon nicht mehr wahr. »Das ist meine!«, rief sie und kämpfte sich zum roten Teppich durch.
Der junge Mann machte eine entschuldigende Geste, als er ihr die Handtasche zurückgab. »Tut mir leid, der Henkel ist hin.«
»Macht nichts«, Elly knickste höflich, »das kriege ich repariert, vielen, vielen Dank!«
»Keine Ursache.« Der freundliche Handtaschenretter machte keinerlei Anstalten weiterzugehen, obwohl hinter ihm ein weißes Horch-Cabriolet angehalten und zwei der weiblichen Nebendarstellerinnen auf den roten Teppich entlassen hatte.
Auch Elly stand wie angewurzelt da und lächelte den Fremden an, als sei sie allein mit ihm auf der Welt.
»Oh, Achim, schön, dass du da bist!« Die jüngere der beiden Schauspielerinnen winkte im Vorbeigehen, doch Ellys Gegenüber schien das gar nicht wahrzunehmen »Bitte nach Ihnen«, sagte er und forderte Elly mit einer kleinen Verbeugung auf, vor ihm ins Foyer zu gehen.
Elly erwachte wie aus einer Trance. »Oh! Nein … ähm …« Sie räusperte sich. »Ich … ich hab gar keine Einladung; ich bin ja nur Ihretwegen über die Absperrung! Ich meine: wegen meiner Tasche,« korrigierte sie sich hastig. Je verzweifelter sie versuchte, souverän zu wirken, desto linkischer kam sie sich vor. Der junge Mann lächelte. »Möchten Sie den Film denn gerne sehen?«
»Ob ich …? Was …? Ja, eigentlich schon«, stotterte Elly.
»Dann darf ich Sie hiermit in die Vorstellung einladen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Ja, ähm … natürlich.«
»Das freut mich. Und, Pardon, ich hab mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt. Joachim Lange.« Er reichte ihr seinen Arm, und Elly hakte sich mit klopfendem Herzen bei ihm ein. »Eleonore … ähm … Elly Preissing.«
Kurz vor dem Eingang zum Foyer rauschte Ruth Weyher, die Hauptdarstellerin des Films, an ihnen vorbei und hinterließ eine betörend duftende Wolke teuren Parfüms.
»Mitsouko! Von Guerlain!« Wie aus dem Nichts war die blonde Journalistin neben Elly und ihrem Begleiter aufgetaucht und schnupperte der Schauspielerin ungeniert hinterher. »In Sachen Parfüm ist meine Nase untrüglich, stimmt’s, Achim?«
»Nicht nur in Sachen Parfüm, meine Liebe!« Joachim Lange nickte der hübschen Blonden amüsiert zu.
»Bis später!« Sie warf ihm im Davongehen einen Luftkuss zu. »Bin im Dienst!«
Die Blonde sah einfach hinreißend aus, und Ellys Hochgefühl erlitt vorübergehend einen Dämpfer.
Dann jedoch verschlug ihr das Innere des vor wenigen Wochen neu eröffneten Gloria-Palastes den Atem: Mit seinen vergoldeten Stuckverzierungen, den Marmortreppen und Kristalllüstern glich das Kino einem barocken Opernhaus. Ein Aufzug brachte sie und ihren Begleiter auf den Rang: Hier waren die Wände mit roter Seide bespannt, und das Ganze wurde gekrönt von einer riesigen, gelb beleuchteten Kuppel. Von der ersten Reihe aus hatte Elly einen sensationellen Ausblick auf die elegant gekleideten Premierengäste im Parkett. Dort hatten die Musiker bereits im Orchestergraben Platz genommen, und als der Dirigent sich verbeugte, spendete man gedämpften Applaus. Der Film begann zunächst harmlos:
Ein Paar am frühen Morgen; der Ehemann seift gut gelaunt sein Gesicht mit Rasierschaum ein, seine Frau sitzt an ihrer Frisiertoilette. Als sie eine Strähne im Nacken entdeckt, die man offenbar beim Haareschneiden übersehen hat, bittet sie ihren Mann, sie abzuschneiden.
Und schon floss bereits in der allerersten Nahaufnahme Blut! Der Ehemann hatte seine schöne Frau mit dem Rasiermesser verletzt.
Als jedoch weder dies noch ein Mord im Haus gegenüber negative Folgen hatte, galt Ellys Aufmerksamkeit zunächst weniger dem weiteren Verlauf der Handlung als Ruth Weyhers hinreißendem Filmkostüm. Sie vermutete, dass das Kleid aus nachtblauer oder tiefgrüner Atlasseide war.
Schade, dass es keinen Buntfilm gibt …
Rock und Manschetten waren mit großen Blumen bestickt, und Elly folgte konzentriert jeder Bewegung, um sich sämtliche Details einzuprägen. Sie hatte keinen Zweifel daran, das Modell haargenau nacharbeiten zu können. Beflügelt von der Vorstellung, demnächst selbst so ein Kleid zu tragen, kuschelte sie sich wohlig in ihren Kinosessel.
Doch nur wenige Szenen später fuhr sie mit einem Aufschrei zusammen: In einer Art Zukunftsvision stach der Ehegatte wie besessen auf seine eigentlich doch innig geliebte Ehefrau ein!
Atemlos lehnte Elly sich vor, als könne sie auf diese Weise ins Geschehen auf der Leinwand eingreifen.
»Sie waren noch nicht oft im Kino, oder?«, flüsterte ihr Begleiter und schmunzelte.
Elly schüttelte den Kopf. In Gumbinnen gab es zwar gleich zwei Kinos, aber Großmama Auguste hatte ihr eine solche Frivolität wie den Besuch einer Filmvorführung strikt untersagt: »… zumindest bis du volljährig bist, mein Kind.« Natürlich hatte Elly sich trotzdem heimlich in Valentinos Der Scheich geschlichen, aber dies hier war etwas völlig anderes. Je tiefer der Film in die Wahnvorstellungen der Hauptfigur eindrang, desto nervöser wurde Elly.
Wird dieser Unmensch tatsächlich seine unschuldige, junge Frau ermorden?!
Als in einer der grauenerregenden Visionen eine riesige Dampflok auf die Zuschauer zuraste, krallte Elly sich mit einem Aufschrei in Joachim Langes Arm.
Die Geschichte zog sie so in ihren Bann, dass sie nicht einmal bemerkte, wie sich die Hand ihres Begleiters über die ihre legte und dort blieb, bis der Film zu einem geradezu märchenhaften Ende kam: Das Paar machte Ferien in einer wunderschönen Alpenlandschaft, glücklich, zufrieden und mit einem niedlichen kleinen Jungen gesegnet. Elly schluchzte vor Erleichterung auf, und als sie feststellte, dass ihr Taschentuch bei der Diebstahlsaktion abhanden gekommen war, nahm sie dankbar Joachim Langes entgegen.
Im kinoeigenen Wintergarten und an den Buffets herrschte anschließend Hochbetrieb. Elly hatte das Gefühl, um mindestens zehn Zentimeter zu schrumpfen, als ihr Begleiter – kaum dort angekommen – von allen Seiten belagert wurde.
»Ach nee, lässt du dich auch mal wieder bei ’ner Premiere blicken?«
»Mensch, komm doch zu uns an den Tisch!«
»Hast du gesehen? Die Vollmoellers sind auch da!«
Joachim Lange lächelte verbindlich und grüßte hier und da Bekannte, aber Elly spürte deutlich, dass er sich mehr als unbehaglich dabei fühlte. »Machen wir, dass wir hier wegkommen, ja?«, flüsterte er ihr im erstbesten unbeobachteten Moment zu. An der Garderobe half er ihr galant in den Mantel. Elly schlug das Herz bis zum Hals: Sollte das bereits das Ende dieser bis dahin so wunderbaren Begegnung sein?
»Fräulein Preissing …«