Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die wissen, wie es ist einen geliebten Menschen zu verlieren.

1. KAPITEL

Ich stapfte durch den Schnee, dabei knirschte es bei jedem Schritt beruhigend. Pfotenabdrücke pflasterten meinen Weg. Hier in den Weiten Nordskandinaviens brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, dass sie von Menschen entdeckt werden würden, also verwischte ich sie nicht. Kleine Krokusse kämpften sich schon durch die dünne Schneedecke. Die kleinen Vorboten des Frühlings waren wie Farbtupfer auf weißem Papier. Die noch eisigen Temperaturen ließen meinen Atem gefrieren, doch kalt war mir nicht. Mein Fell war dafür gemacht, mich selbst in den kältesten Gegenden warm zu halten. Ich war für die Kälte geboren und das ließ mich mein Schneeleopardenkörper jeden Tag spüren.

Es war berauschend, in dieser Umgebung die Natur ganz unverfälscht zu erleben. Die Bäume, die sich noch nicht aus ihrem weißen Kleid befreit hatten, umringten einen gefrorenen See. Ich sog die Ruhe dieser Szenerie gierig ein, genau wie den Sauerstoff, den ich zum Leben brauchte. Die Luft war im Winter immer frisch und konservierte viele Gerüche, die bei wärmeren Temperaturen schon längst verflogen wären. Doch am schönsten war die Stille. Die meisten in Schweden beheimateten Tiere hielten Winterschlaf.

Selbst Geräusche waren in der kalten Jahreszeit durch den Schnee gedämpft. Doch das alles würde bald ein Ende haben, meine tierischen Sinne nahmen die Luftveränderungen bereits wahr. Bald würden die Temperaturen steigen, der Schnee schmelzen und die Tiere in einem Wald, der wieder anfing zu leben, emsig auf Nahrungssuche gehen. Alle Lebewesen würden aus ihrem Schlaf erwachen. Müsste ich das auch tun? Müsste ich aus meinem Schlaf erwachen? Dieser Gedanke jagte mir eine Heidenangst ein. Ich wollte das nicht. Das Leben bedeutete nur Schmerz.

Meine Beine führten mich zurück. Ich war schon zu weit gelaufen, dabei hatte ich Liam versprochen in der Nähe zu bleiben. Das rote Holzhaus blitzte vor meinen Augen auf. In dieser weißen Landschaft konnte man es nicht übersehen. Ich lief darauf zu, bis ich mir sicher war nah genug zu sein. Dann ließ ich mich in der Kuhle nieder, die sich in den vergangenen Wochen gebildet hatte und perfekt auf meinen Körper zugeschnitten war. Meine Augen waren noch immer auf das Haus gerichtet, in dem meine Freunde wahrscheinlich gerade zu Mittag aßen und über einen von Liams Witzen lachten. Ich zog die Ruhe ihren Stimmen vor. Ich zog die Einsamkeit ihrer Begleitung vor. Nach dem Tod meiner Grandma war das einfach so. Ich konnte nichts daran ändern. Anfangs, als wir in Schweden angekommen waren, hatten sie mich noch zum Essen gerufen. Sie hatten versucht mich zu überreden, wieder länger ein Mensch zu bleiben und mit ihnen über das Erlebte zu sprechen. Sie hatten oft nach mir gesucht, wenn ich tagelang verschwunden war. Doch nichts und niemand konnte mich überzeugen in dieses Haus von Alice und Peter einzuziehen. Natürlich waren meine Kleidung, mein Waschbeutel und einige persönliche Gegenstände angekommen, ich selbst aber würde niemals ankommen in einem Zuhause, welches nicht meins war. Jetzt riefen sie nicht mehr nach mir.

Wir waren hierher geflüchtet. Wir waren geflüchtet vor den Jägern, die meine Grandma umgebracht hatten. Sie war die einzige Familie für mich und diese hatten sie mir, ohne mit der Wimper zu zucken, einfach genommen. Ich blinzelte die schrecklichen Bilder weg, die mich schon so lange verfolgten. Doch es half nichts, immer wieder flackerte ihr toter – auf dem Boden liegender Körper in meinem Verstand auf. So wie das ganze Blut, das in meiner Vorstellung immer mehr zu werden schien. Die Erinnerung daran zerriss mich jedes Mal aufs Neue. Die Erinnerung, die ich niemals vergessen würde können. Als Mensch hatte ich es kaum ausgehalten. Meine Grandma war immer da, sie war überall und lag neben mir mit ihren starren, toten Augen, wenn ich nachts die Augen aufschlug. Sie saß wie ein Sack auf dem Stuhl bei mir am Frühstückstisch und noch immer rann literweise Blut aus ihrem Körper. Sie war immer da und es wurde schlimmer, so schlimm, dass ich mich unter der Decke meines Bettes verkroch, aus Angst, sie wieder tot sehen zu müssen. Natürlich verhinderte die Dunkelheit nicht meine Wahnvorstellungen. Ja, ich nannte sie inzwischen Wahnvorstellungen, weil sie mich im wahrsten Sinne des Wortes wahnsinnig machten. Nate, Lana und Liam waren für mich da gewesen, hatten versucht mir zu helfen, doch auch noch Wochen später hatte ich mich nicht im Griff. Die einzige Flucht, die mir blieb, war mein Tier. Solange ich in einer meiner Tierformen unterwegs war, konnte ich diesen Schmerz abmildern. Ich nahm die Kälte, die Einsamkeit und die Natur in ihrer wildesten Version in Kauf, um nie wieder diese Bilder sehen zu müssen und tatsächlich half es. Ich ließ dem Verstand meiner Tiergestalten Schneeleopard, Wolf und Adler so viel Platz, dass der Mensch in mir schon fast gar nicht mehr existierte. Nate hielt das für bedenklich. Für mich war es ein Gefühl der Freiheit – frei zu sein von meinen Ängsten, Traumata, all dem, was mich zerstörte.

In den ersten Wochen hatte ich zumindest noch in meinem Bett geschlafen. Doch als mich immer wieder Albträume heimgesucht hatten, war ich schnell zu dem Schluss gekommen, dass ich gar kein Mensch mehr sein wollte. Nur noch selten verwandelte ich mich zurück, einmal die Woche, um genau zu sein. Das gehörte zu der Vereinbarung, die ich mit den anderen getroffen hatte, genauso wie nicht so weit vom Haus weg zu laufen und nicht tagelang verschwunden zu bleiben.

Sie wollten mich damit beschützen. Ihrer Meinung nach könnte ich mich in dem Tier verlieren. Ich glaubte nicht daran und wenn es doch der Wahrheit entsprach, dann war es eben so. Ich schloss meine schon so schwer gewordenen Lider. Schlafen… mmh… – wie leicht mir das fiel im Gegensatz dazu, wenn ich ein Mensch war. Im Verstand des Tieres gab es nichts als Leere, denn ohne Reize erfolgten auch keine Gedankengänge, die Reaktionen auslösten und so konnte ich mich ganz in die Dunkelheit hineingleiten lassen.

Manchmal kam mich auch jemand besuchen, wie am nächsten Tag, als Nate in Wolfsgestalt Lust hatte, mit mir durch die Ebene zu laufen. Ich hatte nichts dagegen. Ganz im Gegenteil, ich freute mich darüber, mit jemand anderem um die Wette zu rennen, im Schnee zu kämpfen und als Rudel zu jagen. Für ihn nahm ich sogar die Form des Wolfes an, auch wenn der Leopard mehr Vorteile in dieser Jahreszeit hatte. Ich freute mich über Abwechslung in meinem sonst tristen Alltag, doch was ich gar nicht wollte, war reden. Ich wollte nicht darüber reden, dass meine Grandma eine Gestaltwandlerin gewesen war und meine Mutter, laut Grandmas Brief, offenbar ebenso. Das widersprach nämlich meiner Annahme, ich hätte die Gestaltwandler-Gene von meinem unbekannten Vater geerbt. Meine Grandma war der fremde Bär gewesen, der mich gerettet, der sich geopfert hatte, und als ich sie auf dem Boden in der Küche mit dem Speer gefunden hatte … da hatte alles einen Sinn gemacht.

Genauso wenig wollte ich thematisieren, dass wir schon immer genug Geld gehabt hätten, um das Dach zu bezahlen, das Studium zu finanzieren und dann noch eine Weltreise zu unternehmen. Das ganze Geld, nämlich über 300.000 $, lag nun in einer Tasche unter meinem Bett. Ich wusste nicht, wie Nate und die anderen es geschafft hatten, das ganze Geld von der Bank abzuholen. Fakt war, dass ich es hatte. Als Mensch hätte ich es vielleicht gebrauchen können, aber Tiere sahen keinen Wert in dem bunten Papier, welches man noch nicht mal essen konnte.

Ich wollte mich auch nicht damit beschäftigen, dass meine Grandma kein Begräbnis gehabt hatte. Da wir vor den Jägern fliehen mussten, hatten wir keine Zeit mehr gehabt, ein Begräbnis zu organisieren. Stattdessen hatten die Jäger sie wahrscheinlich einfach entsorgt, hatten mit ihrer Leiche jegliche Spuren ihrer Existenz verwischt.

Ich wollte nicht darüber reden, auch nicht über den Jäger, dessen Tod ich verschuldet hatte. Ich war an dem Tod meiner Grandma schuld und an dem Tod eines Menschen, der meinetwegen von einem Baum gestürzt war. Ja, natürlich musste ich mir eingestehen, dass es notwendig gewesen war – der Tod des Jägers hatte den Tod meiner Freunde verhindert aber genau das verursachte mir noch mehr Schuldgefühle. Warum war ich nicht fähig gewesen im Kampf gegen die Jäger richtig zu reagieren? Viele Möglichkeiten, den Kampf anders zu beenden, hatte ich ungenutzt verstreichen lassen. Meine Grandma könnte noch am Leben sein. Ich hatte nicht nur ein schlechtes Gewissen wegen des Mordes an einem Jäger, sondern auch noch wegen des Verschonens eines anderen. Es war total verwirrend und ich wusste nicht, wie ich mich aus dieser Gedankenspirale befreien sollte. Aber ein Gespräch würde daran auch nichts ändern.

Dennoch versuchte es Nate heute schon wieder, sich mit mir zu unterhalten. Ehe ich mich versah, war er zu einem Menschen geworden. Sein Gesicht löste etwas in mir aus. Gefühle, die unter meiner ganzen Taubheit vergraben waren, doch sie waren nicht stark genug, um sie wirklich wahrzunehmen.

»Ich weiß, dass dein Mensch-Sein-Tag erst am Montag ist, aber Peter hat sich die Mühe gemacht etwas zu kochen … nach dem Rezept seiner Mutter«, fing er an mich überreden zu wollen. Doch er musste doch wissen, dass mich Essen nicht locken konnte. Ich hatte schon lange aufgehört richtig zu essen. »Gulasch mit Klößen und Rotkohl. So etwas gibt es in seinem Heimatland, Deutschland, oft, besonders zu feierlichen Anlässen und da heute mein Geburtstag ist, hatte ich gehofft, du würdest uns Gesellschaft leisten.«

Er hatte Geburtstag!? Wann war eigentlich meiner gewesen? Am 15. Dezember. An das Datum konnte ich mich erinnern, aber was hatte ich an diesem Tag gemacht? Es war alles verschwommen in meinem Verstand. Es war alles so dunkel und leer. Nichts existierte, an das ich zurückdenken konnte. Ich kam einfach nicht drauf. Wahrscheinlich war dieser Tag wie jeder andere gewesen. Ich hatte einfach versucht ihn zu überstehen.

Er erwartete bestimmt, dass ich mich verwandelte, aber die Angst vor dem wiederkehrenden Schmerz war zu groß. Ich konnte ihm den Gefallen nicht tun. Er sah mich traurig an und wusste, wie meine Entscheidung ausgefallen war.

»Gut, Emma, dann sehen wir uns am Montag.« Enttäuscht stapfte er zurück. Die Emma in mir wollte ihm hinterherrennen, sich für ihr Verhalten entschuldigen, aber der Wolf sah keinen Grund dafür. Also ließ ich ihn gehen.

***

Der Montag war immer ein schrecklicher Tag. Besonders heute, weil mich in den frühen Morgenstunden ein Bär angegriffen und ich es nicht kommen gesehen hatte. Ich war nicht in Bestform gewesen – wie jedes Mal, wenn ich wusste, dass ich mich in einen Menschen verwandeln musste und dieses kräftige Tier hatte mich bei Tagträumen überrascht.

Noch schrecklicher war, dass ich in zwanzig Minuten am Küchentisch im Haus sitzen musste. So wollte es unsere Vereinbarung. Ich war sie nur eingegangen, um für den Rest der Woche meine Ruhe haben zu können.

Die Kratzer bluteten durch meinen abgenutzten Pullover. Den Schmerz nahm ich zwar nicht wahr, aber die rote Spur, die ich im Schnee hinterließ. Die Farbe verursachte bei mir immer eine unangenehme Gänsehaut. Im Haus war es noch ruhig und da ich früh dran war, konnte ich mich in das untere Bad schleichen und meine Wunde versorgen, bevor die anderen mich erwarteten. Auf Fußspitzen schlich ich zu der rettenden Tür. Keiner sah oder hörte mich, bis ich endlich das Zimmer erreichte. Ganz leise schloss ich die Tür. Im Gästebad gab es kaum Platz. Ich konnte mich gerade mal um die eigene Achse drehen, ohne an die Toilette, Türklinke oder Dusche zu stoßen. Schnell riss ich den Spiegelschrank auf, ohne auch nur einen Blick auf mein Äußeres zu werfen. Wie ich aussah, war mir schon lange egal geworden. Ich durchwühlte die Fächer und dabei fielen Medikamente in das Waschbecken.

»Scheiße«, fluchte ich. Das war ziemlich laut gewesen und tatsächlich hörte ich jemanden die Treppe runterkommen.

»Emma?« Es war Alice, die dieses Haus mit Peter besaß. Wir waren nie richtig miteinander warm geworden, weil ich die meiste Zeit draußen war und nicht im Haus.

»Ich bin auf der Toilette«, rief ich. Endlich fand ich die gesuchten Wundpflaster und klebte so ein riesiges Teil auf die tiefsten Kratzer, die davon kaum bedeckt wurden. Das Wichtigste war einfach, dass ich nicht mehr blutete und da reichte mir eine notdürftige Versorgung. Ich räumte schnell alles weg und betätigte die Spülung. Als ich die Tür öffnete, schaute ich in das skeptische Sommersprossengesicht von Alice. Bevor ich es verhindern konnte, hob sie meinen Pullover hoch und betrachtete meine Wunden.

»Das solltest du aber schon besser können«, meckerte sie. Ihr Englisch war perfekt, so wie es bei vielen Einheimischen der Fall war. Ohne mein Einverständnis drängte sie mich wieder zurück ins Bad. Sie setzte mich auf die Toilette und kramte in dem Spiegelschrank, ihr fiel natürlich nichts runter. Sie war geschickter als ich. »Bevor sich die Jungs wieder Sorgen machen, sollten wir es ganz abdecken. Die können Blut schon kilometerweit sehen, besonders wenn es deins ist.«

Natürlich wusste Alice über unsere merkwürdige Dreiecksbeziehung Bescheid, auch wenn man das gar nicht mehr so bezeichnen konnte. Nach dem Tod meiner Grandma hatte ich kaum mehr ein Wort mit ihnen gewechselt … mit keinem Menschen. Sie holte Verbandszeug heraus. »Kannst du deinen Pullover hochhalten?«, wies sie mich an. Mir war es mehr als peinlich, dass sie mich verarzten musste. Aber sie hatte Recht, Liam und Nate würden ausrasten, wenn sie mitbekämen, dass ich verletzt war. Sie presste einen Haufen Kompressen auf die Wunde und ich hielt sie fest, während sie den Verband um meine Taille herum legte.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Ein Bär«, erklärte ich.

»Irre ich mich oder müsstest du nicht stärker als ein Bär sein, zumindest in Tiergestalt?«

»Bin ich auch, nur am Montag bin ich nie ich selbst.« Ihre grünen Augen musterten mich besorgt. Sie war wirklich nett und hübsch dazu. Ihre langen roten Haare glitten über ihre Schultern und bedeckten den ganzen Rücken. Sie war sehr zierlich, dennoch hatte sie Kraft. Das wusste ich aus eigener Erfahrung. Sie hatte mich eines nachts festhalten müssen, als ich wieder Opfer eines Albtraumes geworden war. Vor lauter Panik hätte ich mich fast selbst verletzt, da ich komplett die Orientierung verloren hatte und nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden konnte. Ich hatte getreten, geboxt und an ihren Armen gerissen. Sie hatte mich kein einziges Mal losgelassen.

»Zieh den aus«, befahl sie und meinte meinen lädierten Pullover. Irritiert schaute ich sie an. »Der ist voller Blut. Ich hole dir einen anderen«, erklärte sie. Okay, das machte Sinn. Zögerlich schälte ich mich aus meinem Oberteil, das sie an sich nahm. »Bleib hier, ich komme gleich wieder.« Sie schloss die Tür und ich war wieder alleine im Bad. Alle paar Sekunden schaute ich auf die Armbanduhr, nur noch eine Viertelstunde, bis ich auf die anderen traf und wir gemeinsam frühstücken würden. Schon jetzt fühlte ich mich beengt. Wie sollte es erst werden, wenn ich mit fünf anderen am Küchentisch sitzen würde? Seitdem ich so viel Zeit als Tier verbrachte, war es für mich – umgeben von vier Wänden kaum noch auszuhalten, besonders wenn ich von anderen Menschen bedrängt wurde. Automatisch suchte ich nach einem Fluchtweg, auch wenn ich dem Drang der Flucht bis jetzt immer widerstanden hatte. In dem kleinen Bad gab es ein Fenster, durch das ich mich hindurch quetschen könnte, das nie verriegelt war. Sie klopfte, bevor sie eintrat. In der Hand hatte sie einen schwarzen Strickpullover mit weißen Streifen. »Du solltest dich auch ein bisschen waschen. Deine Zahnbürste ist im Spiegelschrank, Zahnpasta steht am Waschbecken.«

»Danke.« Sie nickte und verschwand. Langsam wurde das Haus lebendig. Ich hörte Schritte auf dem Parkett und Stimmen, die von Lana und Peter stammten. Sie waren schon in der Küche. Es war immer wieder eine Überwindung für mich, ihnen unter die Augen zu treten, ihre besorgten Blicke auf mir zu spüren. Dennoch gehörte es zu unserer Abmachung. Mein Herz schlug schneller und Schweiß bildete sich auf meiner Stirn, als mir klar wurde, dass ich das gleich wieder durchleben müsste. Vielleicht hatte Alice Recht und ich sollte mich etwas waschen. Ich nahm mir die Zahnbürste raus und fing an meine Zähne zu putzen. Dabei sah ich mich zum ersten Mal seit einigen Wochen wieder im Spiegel. Ich erkannte mich nicht wieder. Meine Haare hingen mir in fettigen Strähnen um das Gesicht. Sie waren lang und ungezähmt, völlig durcheinander. Unter den Augen waren tiefe Ränder, die mich krank wirken ließen, und auch mit meinen Augen stimmte etwas nicht. Sie wirkten so fremd, so tot. Mein Gesicht war von Erde und Schmutz verdreckt und ich roch nach kaltem Schweiß. Am liebsten wäre ich gleich unter die Dusche gesprungen, aber ich wollte den frischen Verband nicht nass machen. Also musste es reichen, mir die Haare zu waschen und mich mit einem Waschlappen frisch zu machen. Es dauerte etwas, den ganzen Dreck unter meinen Fingernägeln zu entfernen, aber danach fühlte ich mich besser. Ich zog mir den Pullover, den mir Alice gebracht hatte, über und musste feststellen, dass er mir ganz und gar nicht passte. Er saß viel zu locker an Bauch und Brust. Von wem stammt der bloß? Ich machte mir nicht die Mühe, meine Haare zu föhnen, sondern ging gleich raus, um es hinter mich zu bringen. Aus der Küche drang unbeschwertes Stimmengewirr. Pfannen klapperten. Sie waren schon am Kochen. Als ich zögerlich eintrat, stoppten sie ihre Unterhaltung sofort. Alle Augenpaare waren wie immer auf mich gerichtet.

»Ihr müsst damit aufhören, mich jedes Mal so anzustarren, als wäre ich von den Toten auferstanden«, ging ich in die Offensive. Ich hatte gehofft, sie würden dann aufhören mich zu mustern. Doch es bewirkte eher das Gegenteil. Nates, Liams und Lanas Augen schienen sogar vor Überraschung aus den Höhlen zu fallen, Peter und Alice reagierten jedoch anders. Sie lächelten freundlich.

»Ist doch kein Wunder, immerhin siehst du fast aus wie eine Tote«, scherzte Alice. Ihre Lippen wurden von einem provozierenden Lächeln umspielt. Damit hatte sie nun alle Aufmerksamkeit. In den Gesichtern meiner Freunde, die sich Alice zuwandten, spiegelte sich Vorwurf wider. Hatten sie Angst, dass Alice etwas Falsches gesagt hatte? Immer wieder schauten sie zwischen mir und Alice hin und her. Geradezu voller Erwartung, dass etwas passieren würde. Ich lächelte einfach zurück, um die Situation zu entschärfen und sofort fingen alle an laut loszuprusten und so ihrer Spannung Luft zu machen. Die Küche wurde wieder von Stimmen und Gelächter erfüllt. Ich wagte es währenddessen, mich an den Küchentisch zu setzen und Alice gab mir ein Brett, zwei Zwiebeln und ein Messer. »Wir brauchen Würfel«, klärte sie mich auf und ich fing an mich an die Arbeit zu machen.

Wie immer am Montag gab es ein Festmahl, bestehend aus Rühreiern mit Champignons und Cheddar. Außerdem gab es Speck, Pancakes mit Schokosplittern und natürlich Wurst und Käse für die Brötchen. Das alles machten sie für mich, damit ich etwas auf die Rippen bekam. Während ich Gabel für Gabel hinunter zwang, damit sie zufrieden waren, schaute ich immer wieder zu dem nächstliegenden großen Terrassenfenster, meinem Fluchtweg. Die Küche war großzügig und schön. Eigentlich hatte ich mir unter einem Schwedenhaus etwas Anderes vorgestellt, etwas Kleineres, um ehrlich zu sein. Wir saßen in einer kleinen Nische an einem Eichenholztisch, dessen weiß lackierte Beine zu den weißen Stühlen passten, auf denen Nate, Liam und Lana gegenüber von mir saßen. Ich hatte meinen Platz immer neben unseren Gastgebern, die mit mir die weiße Sitzbank teilten, die an der Wand angebracht war. Die Küche war im skandinavischen Landhausstil gehalten. Die hauptsächlich weißen Möbel passten perfekt zu dem dunklen, rustikalen Parkett. Gegenüber befanden sich bodentiefe Fenster, die zu einer von zwei Terrassen führten. Alles war schön und geschmackvoll eingerichtet, aber am schönsten war der Ausblick. Rundherum gab es nichts außer schneebedeckten Wiesen und nackten Bäumen, deren knorrige Äste mit Eis umhüllt waren. Ich konnte gar nichts dagegen machen. Es zog mich immer nach draußen. Abgelenkt von der Natur nahm ich kaum an den Gesprächen teil, nur wenn ich direkt gefragt wurde, gab ich auch eine Antwort.

Beim Aufräumen half ich natürlich mit – wie immer am Montag. Ich war mit einem riesigen Stapel Teller bewaffnet, den ich zu Peter und Lana brachte. Sie übernahmen den Abwasch, der hauptsächlich darin bestand, die Spülmaschine einzuräumen. Dabei streifte mich Liam mit seinem Ellenbogen. Er traf genau auf meine Wunde. Ich war völlig unvorbereitet, als der Schmerz meinen Körper durchzuckte und natürlich ließ ich alle Teller vor Schreck fallen. Der Krach war ohrenbetäubend, als das Geschirr auf dem Boden aufschlug und in kleine Stücke zerbrach. Doch das war nicht das Schlimmste. Liam musterte mich nun mit Sorgenfalten auf der Stirn.

»Entschuldigung«, murmelte ich und suchte mit meinem Blick ganz aufgeregt nach einem Besen. Doch meine Augen trafen nur immer wieder auf meinen Fluchtweg.

»Ich habe dich kaum berührt«, bemerkte Liam.

»Ich habe mich erschreckt«, versuchte ich ihm weis zu machen.

Er war schon am Zipfel meines Pullovers dran. »Du bist schon wieder verletzt, oder?« Diese Nähe hatte früher einmal schöne Gefühle in mir ausgelöst. Doch nun verspürte ich nur Panik. Panik davor, in eine Ecke gedrängt zu werden, gefangen genommen zu werden, nie wieder nach draußen zu dürfen. Sie hatten die Macht, mich einzusperren. Besonders, wenn sie der Meinung waren, es wäre zu meinem Besten. Alice kam mir zu Hilfe. Sie quetschte sich zwischen Liam und mich und reichte mir ein Kehrblech und einen Besen. »Wer es verursacht hat, räumt es auch wieder auf«, sagte sie ganz trocken.

»Liam, kann ich kurz mit dir reden?« Er wollte nicht weg von mir, aber Alice ließ nicht locker.

»Es ist wichtig.« Sie packte ihn an der Schulter und zog ihn davon. Was auch immer sie ihm sagte, führte dazu, dass er mich in Ruhe ließ und aus der Küche verschwand.

Ganz erleichtert fing ich an die Teller zusammen zu fegen. Alice kam dazu und half mir. »Danke«, sagte ich zu ihr, als wir die Scherben in den Müll schmissen.

»Danke für deine Hilfe beim Aufräumen und bei Liam.« Sie zuckte bloß mit den Schultern.

»Es würde mich auch ganz verrückt machen, wenn zwei Kerle dauernd um mich herumscharwenzeln.« Sie entlockte mir dabei ein Grinsen.

»Von wem ist eigentlich der Pullover?«, fragte ich und schaute auf den an mir herunterhängenden Sack.

»Was meinst du von wem? Erkennst du deinen eigenen Pullover nicht mehr?« Ich durchforstete meine Erinnerung. Natürlich, den hatte mir Dana im vorletzten Jahr zu Weihnachten geschenkt. »Er passt mir gar nicht mehr«, stellte ich irritiert fest.

»Du bist auch nur noch Haut und Knochen, was kein Wunder ist bei den geringen Mengen an Nahrung, die du zu dir nimmst.« Ich zog die Stirn kraus, noch immer ihre Worte verarbeitend.

»Hör mal, ich würde dich gerne um einen Gefallen bitten«, fuhr sie fort. »Nächste Woche kommt ein junger Gestaltwandler zu uns. Sein Name ist Nicholas und wir wollen ihn ausbilden und trainieren. Sein Tier ist ein Weißkopfseeadler und da du die Einzige bist, die sich in einen Vogel verwandeln kann, bräuchten wir deine Hilfe.« Sie sah, dass ich wenig begeistert war.

»Nicht jeden Tag und natürlich musst du dafür nicht ins Haus einziehen.« Eigentlich sprach nichts dagegen und ich hatte auch Lust, mal wieder durch die Lüfte zu ziehen. Ich hatte das Fliegen, das so ein unbeschreibliches Gefühl war, noch nie mit jemandem teilen können.

»Ist in Ordnung.« Diesmal war ich es, die mit den Schultern zuckte.

***

Der restliche Tag verging schleppend. Alle waren so freundlich zu mir, fast schon pissfreundlich. Das war überhaupt nichts für mich. Am Abend schauten wir noch eine DVD, als ob wir ganz normale Menschen wären und nicht zum Töten gezwungen und mit dem Verlust von Personen, die einem am Herzen lagen, konfrontiert. Und was schauten wir? Eine harmlose Liebeskomödie, damit ich, die Irre, nicht durchdrehte. Natürlich taten sie mir damit kein Unrecht. Bei Leichen, selbst wenn sie nur gefakt waren, drehte ich durch. Es erinnerte mich einfach zu sehr an meine Grandma.

Wir waren gerade an der Stelle, wo Ms Right ihrem Mr Right die Liebe erklärte. Doch dann begann das Licht zu flackern und plötzlich war alles stockdunkel - ein Stromausfall. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, wenn man bedachte, dass wir mitten im Nirgendwo in einem alten Haus lebten und die Sicherung schon öfters rausgeworfen wurde, aber seitdem ich im Dunkeln über den Fuß meiner toten Grandma gestolpert war, hatte ich als Mensch schreckliche Angst davor. Bevor sich überhaupt einer bewegen konnte, war ich schon aufgesprungen und versteckte mich in der hintersten Ecke des Zimmers, vollkommen zusammengekauert. Niemand war davon überrascht.

»Komm, Peter, wir sehen mal nach.« Während sie auf dem Weg in den Keller Richtung Stromkasten waren, holte Lana Taschenlampen. Ich hörte Schritte, die sich näherten, und zuckte zusammen, als sich plötzlich jemand neben mich hinsetzte.

»Ganz ruhig. Ich bin es, Nate«, flüsterte er und legte einen Arm um mich.

»Es ist gleich vorbei«, versuchte er mich zu beruhigen. Allerdings wusste ich, dass mir das Schlimmste noch bevorstand, der Moment an dem das Licht wieder angehen würde. Das versetzte mich zurück in meine Küche, auf der Suche nach Essen, wo ich über Grandmas Fuß gestolpert war und nicht gewusst hatte, was das war. Dann endlich hatten meine Finger den Lichtschalter ertastet und mit dem hellen Schein der Hängelampe kam das grausige Bild meiner toten Grandma zum Vorschein. Ich legte meinen Kopf auf meine angezogenen Knie und baute mit meinen Armen eine schützende Mauer auf, um nicht von dem Licht überrascht zu werden. Ich wollte die Kontrolle über die Situation behalten.

»Ich wünschte, ich könnte dir irgendwie helfen«, flüsterte Nate. Seine Worte unterstrichen die Traurigkeit, die ihn umgab, wenn ich in der Nähe war.

»Das kannst du«, flüsterte ich zurück. »Sprich mit den anderen und überzeuge sie davon, mich nicht dazu zu zwingen ein Mensch zu werden, wenn ich es nicht möchte. Diese Montage sind für mich eine Qual … eine so große Qual, dass ich nicht weiß, ob ich das noch länger aushalte.« Er streichelte über meinen Rücken.

»Das kann ich nicht. Du würdest dich verlieren. Schon jetzt bist du mehr Tier als Mensch.«

»Und warum tut es dann noch so weh? Ein Tier kennt diesen Schmerz nicht. Ein Tier würde weiterleben, weil der Drang zum Überleben größer ist als alles andere. Jede Sekunde, die ich in Menschengestalt verbringe, wäre ich lieber tot, als in mir dieses riesige Loch zu spüren, das immer größer zu werden scheint.«

»Sag das nicht.« Seine Stimme zitterte. Ich hatte ihm Angst gemacht.

»Du brauchst noch Zeit und das Abschotten in Tiergestalt verzögert nur das Erlebte zu verarbeiten. Ich weiß, es ist schlimm, schlimmer als alles andere, was du durchlebt hast. Aber wenn du als Mensch durchhältst, dann wird es besser werden.«

»Das glaube ich dir nicht.« Er seufzte. »Habe ich mir schon fast gedacht.« Ein Schrei entfuhr mir in dem Moment, als das Licht wieder anging, auch wenn er durch meine Arme und den Stoff meiner Hose gedämpft wurde. Ganz langsam hob ich meinen Kopf und blieb wieder einmal nicht von den Bildern verschont, die mich in Menschengestalt unentwegt verfolgten.

2. KAPITEL

»Hi. Ich bin Nicholas«, gab mir der frech aussehende Neuling die Hand. Es war schon wieder mein Lieblingstag – Montag und schon wieder wurde ich gezwungen ein Mensch zu sein.

»Du bist also die, die mir das Fliegen beibringen soll?« Abschätzig schaute er mich an. »Ich hätte mir eine hübschere Lehrerin gewünscht, aber es wird schon gehen mit dir.« Ich riss die Augen auf. So etwas hatte ich nun nicht erwartet.

»Wie alt bist du?«, fragte Nate.

»Schon fast 18«, sagte er, als ob es etwas Weltbewegendes wäre. Wow, er war fast so alt wie ich, wirkte aber wesentlich unreifer. Er war zwar groß, konnte aber diese Größe durch seine Schlaksigkeit nicht vollständig ausfüllen. Seine dunkelblonden Haare waren an den Seiten kurz und oben sorgfältig zu kleinen Stacheln hochgegelt. Ich schätzte, er brauchte jeden Tag eine ganze Tube Haargel, um es so aussehen zu lassen. Die Kleidung war lässig, er trug eine zu große, locker sitzende Jeans und einen weiten Pullover mit NY drauf. Wahrscheinlich hoffte er mit den Klamotten etwas kräftiger zu wirken. Sein Parfüm war so überdosiert, dass das ganze Haus bestimmt schon danach roch.

»Wo ist mein Zimmer? Ich hoffe, es hat einen Fernseher.« Die anderen schauten genauso verdutzt drein wie ich.

»Emma zeigt es dir.« Peter bekam einen bösen Blick von mir.

»Na dann mal schnell, bevor sie noch umkippt. So dünn wie sie ist, kann das jede Sekunde passieren.« Nicholas nahm kein Blatt vor den Mund und schon jetzt wusste ich, dass ich diese Eigenschaft an ihm hassen würde. Wir gingen die Treppen nach oben und ich riss die Tür am Ende des Flurs auf. Missbilligend schaute er sich um.

»Die Bude ist ja kleiner als mein Schrank und dann gibt es nur ein Einzelbett? Da drin kann ich auf keinen Fall schlafen. Ich muss die ganze Nacht aufpassen, dass ich nicht herausfalle und wie ich schon befürchtet hatte, gibt es natürlich keinen Fernseher.« Ich ignorierte sein Meckern.

»Das Bad ist gegenüber und der Fernseher unten.«

»Das kann nur ein Scherz sein. Zeig mir bitte mein richtiges Zimmer.« Völlig belämmert schaute ich ihn an. Er meinte es ernst.

»Wenn du hier drin nicht schlafen willst, in der Ecke steht auch noch ein Schrank, vielleicht genügt er mehr deinen Ansprüchen. Wir sind weder ein Hotel noch dein Zuhause und wenn du von uns ausgebildet werden möchtest, musst du dich damit zufriedengeben.« Er riss den Mund auf, um darauf etwas zu entgegnen, doch mein böser Blick ließ ihn verstummen. Er warf seine Tasche zum Schrank und setzte sich auf das Bett. Mehrmals hüpfte er auf und ab.

»Es ist weicher, als es aussieht. Naja, das wird schon reichen.« Ich rollte mit den Augen. »Sind Alice und Peter eigentlich zusammen?«

»Ja. Wieso?«

»Sie ist hübsch.«

»Sie ist viel älter als du.«

»Ich bin sehr reif für mein Alter.« Dabei streckte er sein Kinn vor, um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.

»Ja, sie sind zusammen«, zischte ich. »Ich werde dich alleine lassen, damit du Zeit hast, deine Sachen auszuräumen. Komm einfach runter, wenn du uns suchst.«

»Bist du noch Single?«, rief er mir nach. Als Antwort schlug ich die Tür einfach zu. Diesem triebgesteuerten Milchbubi, der überzeugt ist alles zu wissen, soll ich etwas beibringen? Worauf habe ich mich da nur eingelassen?

»Und was hältst du von unserem Neuzugang?«, fragte Peter. Sein deutscher Akzent schwang immer in seinen Sätzen mit. Ich zog meine Nase kraus.

»Mit dem werden wir noch eine Menge Spaß haben. Übrigens hast du jetzt einen Konkurrenten.« Fragend schaute er mich mit seinen sanften braunen Augen an.

»Er steht auf Alice.« Peters hellblonde Haare bebten, als er in Gelächter verfiel.

»Immerhin scheint er ein großes Selbstbewusstsein zu haben«, redete er sich die Situation wie immer schön. Das musste man Peter echt lassen. Er sah immer das Beste in jedem Menschen, selbst wenn es sich dabei um einen egozentrischen, in der Pubertät steckengebliebenen Jugendlichen handelte.

***

Wir saßen beim Abendessen zusammen und Nicholas betrachtete skeptisch seinen Teller mit Spaghetti Bolognese.

»Morgen fangen wir mit deinem Training an. Kannst du deine Gestalt schon steuern?«, fragte Peter.

»Noch nicht, aber die Verwandlung in den Adler klappt immer besser.«

»Als Adler muss es schwer sein, noch nicht die Kontrolle über das Verhalten zu haben, oder?«, schaltete sich Nate in das Gespräch ein. Ich sah Lana an und dabei bemerkte ich, dass ihre Haare viel kürzer waren. Sie gingen ihr nur noch bis zur Schulter.

»Hast du eine neue Frisur?«, fragte ich sie. Dabei verschluckte Lana sich an ihrem Getränk.

»Schon seit zwei Monaten«, brachte sie hervor. Nicholas lachte. »Was bist du denn für eine Freundin? Dir entgeht ihr neuer Haarschnitt, obwohl er ihre perfekten Wangenknochen betont und sie deutlich schlanker macht«, schleimte er. Was gab der da nur von sich? Er wusste doch gar nicht, wovon er sprach.

»Danke«, sagte Lana. Aber in ihren Augen war keine Dankbarkeit zu sehen, nur Amüsement.

»Zurück zu meiner Frage«, wechselte Nate das Thema. Nicholas schob sich eine volle Gabel in den Mund und kaute, während die Hälfte wieder rausfiel.

»Ist nicht so wild«, antwortete er, als er die Reste mit einem Schluck Wasser runterspülte. Seine Augen wanderten gelangweilt durch die Küche.

»Kann ich ein Bier haben?«, fragte er und sah dabei Peter und Alice an.

»Du bist noch minderjährig«, machte ihm Nate einen Strich durch die Rechnung.

»Ach, verdammt. Bin ich in dem einzigen Land in Europa gelandet, wo man keinen Alkohol ab sechzehn trinken darf?«

»In vielen Ländern in Europa darf man erst ab achtzehn trinken. Wir sind hier nicht in Deutschland«, sagte Peter.

»Wo kommst du her?«, fragte ich Nicholas, als mir auffiel, dass ich Alice gar nicht danach gefragt hatte.

»Kanada«, antwortete er.

»Und ist es schön dort, wo du wohnst?«

»Auch nicht anders als hier.«

»Was meinst du mit nicht so wild?«, wollte Nate noch immer eine Antwort auf seine Frage haben. »Als Adler kannst du innerhalb von Stunden eine Ländergrenze überwinden. Was machst du, wenn das passiert?«

»Ich kette vor jeder Verwandlung meinen Fuß an einem Baum fest«, sagte er ganz trocken. Ich war ganz überrascht von dieser einfachen Lösung. War er wirklich ganz alleine darauf gekommen?

»War das deine Idee?«, fragte Liam. Nicholas nickte. »Mein Vater hat mir eine Kette gekauft und seitdem gab es keine weiten Ausflüge mehr.«

»Dein Vater weiß über dich Bescheid?«, fragte ich.

»Ja, er ist zwar kein Gestaltwandler, aber seine Mutter war eine. Bei ihm hatte sich das Gen nicht ausgeprägt. Meine Grandma kann mir leider nichts mehr beibringen, da sie schon unter der Erde liegt. Mein Vater hat versucht mir so gut wie möglich zu helfen, nur leider war sein Wissen schnell erschöpft und so kam er auf die Idee Martin anzurufen und der meinte, ich solle hierherkommen. Was ist das, eine Art Verhör?«

Martin Martin, wo hatte ich den Namen schon gehört? Ach ja, das ist der Vater von Liam.

»Ja, mein Vater war der Meinung, er wäre bei uns am besten aufgehoben«, ergänzte Liam und schaute mich dabei ganz merkwürdig an.

»Wie sieht es mit den nächtlichen Verwandlungen aus? Müssen wir dich bewachen?«, fragte Nate.

»Die hatte ich komischerweise nie«, antwortete Nicholas. Das erstaunte mich, aber ich wusste von Liam, dass die Symptome von Gestaltwandlern bei jedem anders sein konnten.

Er hielt den Teller hoch. »Kann mir jemand noch einen Nachschlag holen?«

»Steh selber auf. Wir sind nicht deine Angestellten«, knurrte Liam. Beschwichtigend hob Nicholas die Arme hoch. »Ist schon gut, du musst nicht gleich sauer werden.«

»Und welche Tiere seid ihr so?« Nicholas nahm wieder Platz, nachdem sein Teller erneut vollgeschaufelt war. Als niemand etwas sagte, schaute er Liam an, der neben ihm saß.

»Schneeleopard.« An Liams abschätzigem Ton erkannte man, dass er Nicholas offensichtlich nicht leiden konnte.

»Ich bin ein schwarzer Jaguar.« Als Lana das sagte, konnte Nicholas sich ein schmieriges Grinsen nicht verkneifen.

Peter zeigte auf seine fast weißen Haare als Hinweis auf sein Tier. »Ein Eisbär.«

»Fuchs«, machte Alice weiter.

Mich überging er. »Und du, Nate?«

»Ein Wolf.«

»Du hast mich gar nicht gefragt«, wies ich ihn auf seinen Fehler hin. Doch er winkte ab. »Du bist ein Adler wie ich. Ein Steinadler, wenn ich mich recht erinnere.«

»Stimmt, aber nur, wenn ich nicht gerade ein Schneeleopard oder ein Wolf bin.« Sein Mund klappte auf und zum ersten Mal fand er keine Worte. Auf diese Reaktion hatte ich gehofft.

»Du, du, du … kannst dich in mehr als ein Tier verwandeln«, stotterte er. Ich genoss es richtig, wie ihm die Spucke wegblieb.

»Ja, das kann ich«, sagte ich extra langsam, damit es auch Beschränkte verstanden.

»Kann ich das auch?« Er war ganz aufgeregt. Doch Alice bremste ihn.

»Emma ist die Einzige, die dazu fähig ist.« Er war zwar enttäuscht, aber etwas in seinen Augen verriet mir, dass er die Hoffnung nicht sofort aufgab.

Nach dem Essen wollten wir noch einen Film schauen, hier gab es auch nichts Anderes zu tun. Nach langer Diskussion mit Nicholas, der lieber einen Thriller gesehen hätte, entschieden wir uns für eine affektierte Komödie, die selbst mir zu langweilig war. Endlich kam der Abspann und Liam schaltete den Fernseher aus.

»Echt Leute, nächstes Mal solltet ihr auf mich hören. Ihr habt absolut keinen Geschmack«, sagte Nicholas kopfschüttelnd.

»Wie spät ist es?«, fragte ich, als Alice und Peter Gute Nacht sagten. »22:30 Uhr«, antwortete Liam verwundert. »Du bist schon seit einer halben Stunde entlassen.« Immer noch schaute er mich merkwürdig an, er konnte es nicht fassen. »Oh, echt? Gut, dann gehe ich los.«

»Was?«, fragte Nicholas. »Darf sie in einem Hotelzimmer schlafen, während ich mich mit diesem kleinen Bett oben begnügen muss?«

»Nein, ich schlafe lieber draußen.« Entgeistert starrte er mich an. »Draußen?«

Ich zeigte auf das Fenster. »In der Natur.«

»Ach so!? Waren hier keine Zimmer mehr frei?«

»Doch, ich schlafe aber lieber draußen«, wiederholte ich meine Worte. Er schüttelte den Kopf. »Hauptsache, ich muss das während meiner Ausbildung nicht tun.« Sein Gesicht war voller Ekel und etwas Angst.

»Nein, keine Sorge. Wenn du auf deine Lehrer hörst, dann werden wir dich nicht dazu zwingen.« Jetzt gewann Nicholas' Angst die Oberhand.

Er schaltete auf einen anderen Kanal und ich wollte meine neugewonnene Macht austesten. »Es ist spät. Du sollest schlafen gehen.« Erst dachte er, ich würde es nicht ernst meinen, doch nur ein Fingerzeig auf das Fenster genügte schon, dass er den Fernseher ausschaltete und nach oben schlurfte. »Gute Nacht«, rief ich ihm noch nach.

»Gute Nacht«, antwortete er missmutig.

»Du kannst ja ziemlich streng sein«, lachte Lana.

»Muss ich auch, wenn ich ihn ausbilden soll und so sind wir ihn wenigstens losgeworden.«

»Ich wusste gar nicht, wie nervig es sein kann, einen pubertierenden Teenager im Haus zu haben.« Sie stimmten mir zu. »Hoffentlich habe ich es meiner Grandma nicht so schwer gemacht.« Ich war wie erstarrt, als dieses Wort aus mir herausschlüpfte. Noch nie hatte ich so von ihr gesprochen. Es hatte sich etwas verändert und die anderen merkten es. »Willst du heute in deinem Zimmer schlafen?«, fragte Liam. Ich sprang auf und schüttelte den Kopf, mit allem völlig überfordert. »Nein, ich kann nicht.« Sie sahen mich verständnisvoll an und bevor es noch merkwürdiger wurde, stürmte ich raus aus der Haustür - dem Fluchtweg, der mir am nächsten war.

***

Am nächsten Tag wurde ich von den Stimmen meiner Freunde herbeigelockt. Sie standen draußen um Nicholas herum und wollten ihn zeigen lassen, zu was er schon in der Lage war. Dabei wurde sein Fuß von einem metallischen Ring umschlossen, der über eine sehr stabil wirkende, lange Kette mit einem Baum verbunden war. Das war seine eigene Idee gewesen und es war nachvollziehbar, dass die anderen an dieser Strategie festhielten. Es war sonst nichts los, also gesellte ich mich zu ihnen, die Form des Schneeleoparden behielt ich aber bei, es war mir lieber so. Nate, Alice und Peter konnten ihre Freude nicht verbergen, als sie mich sahen. Von Liam und Lana fehlte jede Spur. Vielleicht waren sie in der Stadt.

»Ach, Emma, lässt du dich auch dazu herab mir deine Zeit zu schenken?«, begrüßte mich Nicholas. Ich hatte gehofft, seine Einstellung hätte sich geändert. Aber eigentlich hatte ich selber nicht daran geglaubt. Ich nickte ihm zu.

»Heute geht es nur darum zu sehen, wie schnell du dich in einen Adler und wieder zurück in einen Menschen verwandeln kannst«, erklärte Alice.

»Anspruchsvoll ist das nicht gerade.«

»Hör auf zu quatschen und leg los«, fuhr ihn Nate an.

Die Verwandlung in den Adler ging wirklich schnell und stellte für ihn noch kein Problem dar. Das Tier, das sich uns zeigte, war prachtvoll und stolz. Die riesigen Schwingen breiteten sich aus, bereit zu schlagen. Die großen Augen zuckten nervös zwischen seinen Zuschauern hin und her. Das Gefieder glänzte im Sonnenlicht und der weiße Kopf hob sich vom Rest des Körpers ab. Die kraftvollen Klauen durchwühlten mit Leichtigkeit den Schnee, bis sie auf Erde trafen und krallten sich fest in den Boden. Sie waren seine tödlichsten Waffen, zusammen mit dem festen Schnabel, der Knochen zermalmen konnte. Ein enormer Windstoß ließ meinen Körper erbeben, als der Adler versuchte abzuheben. Für einen Moment dachte ich, die Kette würde nicht halten, aber dann schlug der große Vogel auf der Erde auf und blieb mit ausgebreiteten Flügeln liegen. Er raffte sich wieder auf und versuchte es nochmal, wieder ohne Erfolg.

»Gut und jetzt zurück«, gab ihm Alice die Anweisung. Minuten vergingen, nichts passierte und dann wurde mir klar, er hatte die Zurückverwandlung noch nicht im Griff. Sein Mundwerk war größer gewesen als sein Können. Mal schauen wie lange er brauchen würde. Eine halbe Stunde des Wartens verging und dann stand endlich wieder Nicholas vor mir. Ich tat es ihm nach und verwandelte mich in einen Menschen.

»Wie ich sehe, wird meine Anwesenheit noch nicht gebraucht«, kommentierte ich seinen Misserfolg. »Erst wenn du dich auf Kommando zurückverwandeln kannst, können wir einen Schritt weitergehen.«

Er wirkte richtig zerknirscht und meine Worte verbesserten seine Laune auch nicht. Dieser Dämpfer tat aber seinem Ego gut und das hielt mich davon ab, ihn zu trösten. Stattdessen nahm ich erneut die Gestalt des Schneeleoparden an und rannte los.

»Dann nochmal von vorn«, hörte ich Peter noch sagen. Das würde jetzt den ganzen Tag so weitergehen. In dem kleinen Wald neben dem Haus ließ ich mich nieder und beobachtete sie. Er übte und übte und als die anderen abbrechen wollten, weil es langsam dämmerte, schüttelte er den Kopf und machte weiter. Ehrgeizig war er, das musste man ihm lassen. Auf einmal konnte ich Nate wittern. Mein Kopf drehte sich zurück und Nate stand da, angelehnt an einen Baum und beobachtete Nicholas mit mir.