Vorwort

Im Berliner Axel-Springer-Hochhaus befindet sich in der 19. Etage der Journalisten Club, dessen Holzvertäfelung aus den Originalteilen des Gebäudes der Londoner Times gestaltet wurde. In diesem Raum liegt auch der berühmte Stein aus der Berliner Mauer, den George Bush sen., Michail Gorbatschow und Helmut Kohl signiert haben.

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Ein Bruchstück der Berliner Mauer, das von George Bush sen., Helmut Kohl und Michail Gorbatschow signiert worden ist.

Dort traf ich wieder einmal meinen Freund Gunnar Schupelius, den Chefkolumnisten der b.z.. Außer uns waren nur noch Hans-Joachim Watzke, der Geschäftsführer von Borussia Dortmund, und Matthias Sammer, der sich zwei Monate später dem Club angeschlossen hat, sowie zwei Journalisten im Raum. Man vernahm ein bisschen Stimmengemurmel, sonst aber herrschte nur andächtige Stille in dieser faszinierenden Umgebung. Ab und zu schwebte ein Ober vorbei.

Wir sprachen natürlich wieder einmal über Bücher.

»Klaus, nächstes Jahr ist der Beginn des Zweiten Weltkrieges 80 Jahre her. Da musst du etwas tun!«

»Das ist richtig, aber was? Gibt es noch Zeitzeugen? Wenn ja, müssten die bereits weit über 90 Jahre alt sein. Versuch’s doch du, Gunnar, interviewe Menschen, die den Krieg erlebt haben, und schreib ein Buch.«

»Ich kann nicht, Klaus, ich hab einfach keine Zeit. Ich bin voll bis oben hin.«

Nachdenklich ging ich wenig später aus dem Hochhaus. Der Gedanke, es einfach zu versuchen, wurde in mir immer stärker. Ja, ich müsste mich bemühen, Zeitzeugen zu finden, die authentisch von ihren Erlebnissen berichten. Denn bald wird das niemand mehr können, dann werden wir nur noch in Büchern über diesen furchtbarsten Krieg, den die Menschheit jemals erlebt hat, lesen können. Aber das, was die jungen Soldaten gefühlt, gedacht und gesehen haben, wird vergehen. Unwiederbringlich!

Wieder in der Delegation unseres Landkreises für die »Grüne Woche« angekommen, fragte mich der Flintsbacher Bürgermeister Stefan Lederwascher, was ich denn im Axel-Springer-Hochhaus gemacht hätte.

»Ich werde versuchen, ein Buch über Gespräche mit Zeitzeugen zu schreiben, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben.«

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Sepp Heinrichsberger beim Interview in seiner Küche

Stefan war von der Idee spontan begeistert und versprach, mir zu helfen.

Bald schon kamen seine Anrufe mit Adressen von ehemaligen Soldaten, die bereit waren, mit mir zu sprechen. Auch Anton Heindl, der 2. Bürgermeister von Rosenheim, fand die Idee mit dem Buch großartig und sagte mir seine Hilfe zu.

Nun begann eine unvergessliche Serie von langen Gesprächen – in kleinen Küchen, in Seniorenheimen, in Wohnzimmern, an Esstischen. Ehemalige Kriegsteilnehmer berichteten mir ihre Erlebnisse. Viele weinten während des Gesprächs, überwältigt von der Erinnerung an Geschehnisse, die tiefe Spuren in ihren Seelen hinterlassen haben. Ich habe einfach nur zugehört, lange, aufmerksam, und ab und zu eine leise Zwischenfrage gestellt. Der jüngste Gesprächspartner war 90, der älteste 106 Jahre alt, und alle zeichnete eine erstaunliche geistige Frische aus, sie konnten sich an die meisten Details dieser schlimmen Zeit genau erinnern.

Und sie erzählten! Ja, sie wollten erzählen, zumeist zum ersten Mal in ihrem Leben, von ihren Jugendjahren, die sie in einem sinnlosen Krieg vergeuden mussten. Lange haben sie geschwiegen, vielleicht, weil sie sich geschämt haben. Mein Vater hat, wie die meisten Soldaten, auch nichts von seinem Schicksal in Russland erzählt. Geschichten vom Krieg wollte über Jahrzehnte niemand hören.

Zu diesen Aufzeichnungen konnte ich noch einige Texte von Kriegsteilnehmern, die bereits verstorben waren, durch Gespräche mit Angehörigen ergänzen und erweitern sowie in eine druckbare Form bringen. Ich danke allen Menschen, die mit mir gesprochen und die mir somit die spannendste »Zeitreise« meines Lebens ermöglicht haben. Durch diese Gespräche habe ich sehr viel gelernt, vor allem, dass sich ein derart fürchterlicher Krieg niemals mehr wiederholen darf. Niemals!

Klaus G. Förg

Mein unendlicher Weg

Zeitzeugenbericht von Sepp Heinrichsberger

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Zwar bin ich am 3. Oktober 1925 als waschechtes Münchner Kindl geboren worden, dann aber aufgewachsen auf dem Doberhof in Höslwang, einem Dorf in der Nähe des Chiemsees. Zu dieser Zeit, als die Armut aus allen Häusern herausschaute, musste man als Bauernbub natürlich auf dem Hof mitarbeiten. Schon mit fünf Jahren konnte ich Brennholz mit dem Leiterwagerl in den Hof einfahren, damit wir es in der Stube warm hatten. Aber das war damals nichts Besonderes, da wir alle zusammenhalfen.

Von der letzten Klasse der Volksschule wurde ich dann als 14-Jähriger von der Schulbehörde befreit, damit ich als Knecht zu Hause arbeiten konnte, weil damals der letzte Knecht vom Hof gegangen ist. Da habe ich schon Getreide aufgelegt mit der Gabel und Heu. Die Kühe im Stall versorgen, Feldarbeit und in den Wintermonaten Holz schlagen – für einen Buben war das eine sehr harte Arbeit. Schließlich gab es damals kaum moderne Landmaschinen und für Kleinbauern schon gar nicht. Handarbeit war angesagt, und todmüde bin ich jeden Abend in meine unbequeme Bettstatt gefallen und sofort eingeschlafen.

Aber dieses Leben hat mich auch sehr stark und widerstandsfähig gemacht. Ich hatte Muskeln wie ein Bär und ließ diese Kraft die anderen Burschen im Dorf spüren. Bei der geringsten Unstimmigkeit gab’s »Keileberger«, meine Faust landete immer wieder einmal im Gesicht eines Kontrahenten, oder ich nahm ihn zumindest in den Schwitzkasten, bis ihm die Luft wegblieb und er aufgab.

Vor 1933 hatten viele Menschen keine Arbeit, es herrschte eine unglaubliche Not, und die meisten hatten zu wenig zu essen. Einmal kam ein Schäffler auf den Hof und bat um Arbeit. Mein Vater hat ihn eine kleine Wanne machen lassen, um ihm zu helfen. Als er dann fertig war und schon gehen wollte, rief ihn meine Mutter zurück und gab ihm einen Laib Brot. Ich vergesse nie seinen Freude strahlenden Gesichtsausdruck, als er das Brot an sich drückte:

»Ein herzliches Vergelt’s Gott! Mein Gott, werden sich da meine Kinder freuen!«

Hitler war mittlerweile an die Macht gekommen, und vielen gab dies zunächst Hoffnung auf ein besseres Leben, auf Arbeit und genügend zu essen. Vor allem die Arbeiter folgten Hitler, weil sie sich von ihm einen Weg aus der Armut versprachen. Und das kann ich gut verstehen, da die Lebenssituation vieler Menschen unglaublich schlecht war. Als der Bau der Autobahn zwischen Rosenheim und Salzburg begann, gab es für viele Arbeit, und so mancher konnte sich sogar eine Sachs leisten, ein kleines Motorrad mit 98 cm³, 2,5 PS und Tretkurbel – ein ungeheuerer Luxus zu dieser Zeit. Manche leisteten sich sogar einen »KdF-Wagen« – nach dem Krieg als Volkswagen bekannt geworden – auf Abzahlung, mussten allerdings das Gespött in Kauf nehmen, dass hinten am Auto Kanonen herausschauen, weil man wusste, dass mit dem Kaufpreis die Produktion von Waffen finanziert wurde.

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Der junge Sepp Heinrichsberger im Jahre 1940 auf dem elterlichen Bauernhof

Die Jahre meiner Kindheit waren nicht nur in unserer Familie mit sieben Geschwistern von Armut geprägt. Allen ging es so. So konnte der wortgewaltige Adolf Hitler sein Machtstreben durchsetzen, und dies war sogar in unserem Dorf zu spüren. Es wurden Lautsprecher aufgestellt, damit die Propaganda des »Führers« wirklich jeden Bürger erreichen konnte. Unser Haus war über einen Kilometer vom Lautsprecher entfernt. Trotzdem konnten wir jedes Wort klar verstehen.

Diese Propaganda, dieses Machtgeschrei, war mir schon als Bub zuwider. Aber ich verstand sehr schnell, dass ich ruhig sein musste, denn unser Bürgermeister war überzeugter Nazi und meldete regimekritische Äußerungen sofort weiter. Als mein Vater einmal etwas Negatives über die Nazis zum Bürgermeister sagte, entgegnete dieser: »Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn man abgeholt wird.«

»Seid ruhig, sonst holen sie euch ab und stecken euch ins KZ nach Dachau!«, sagte deshalb unser Vater immer wieder. Es gab damals viele Denunzianten, die jeden an die Parteifunktionäre meldeten, der irgendetwas gegen Hitler gesagt hatte. Und den einen oder anderen führten sie tatsächlich ab und brachten ihn ins KZ nach Dachau. Allerdings gab es auch einige Nationalsozialisten, die keine Spitzel waren. Am meisten engagierten sich diejenigen für den Nationalsozialismus, die in der Partei etwas werden wollten.

Ich interessierte mich eigentlich in der Jugendzeit wenig für Politik, nahm aber die Nachricht vom Ausbruch des Krieges mit einer gewissen Sorge auf, weil mir damals schon klar war, dass Krieg mit Kampf, Verletzten und Toten verbunden ist. Und bald verbreitete sich im Dorf die Nachricht vom ersten Gefallenen und stürzte eine Familie ins Unglück.

Mittlerweile war ich 17 geworden. Die tägliche Arbeit auf dem Bauernhof prägte weiterhin mein Leben. Eines Morgens kam der Briefträger mit seinem Fahrrad und der Ledertasche voller Post wieder einmal zu uns herauf auf den Hof, was nicht allzu oft vorkam, und übergab mir einen Brief. Das Schreiben war an mich gerichtet und kam von der Bezirksleitung des Reichsarbeitsdienstes in München. Hastig bohrte ich meinen Zeigefinger in den Umschlag, riss ihn auf und begann zu lesen.

Es war meine Einberufung zum Reichsarbeitsdienst, letztendlich zur Vorbereitung auf den Kriegsdienst, die ich mit gemischten Gefühlen aufgenommen habe. Schon zwei Wochen später sollte ich im Lager Donauwörth erscheinen.

Meine Eltern sagten nicht viel, auch die Geschwister waren ziemlich still. Alle ahnten: Dies bedeutete für mich, dass ich in den Krieg ziehen müsste. Und alle befürchteten, dass ich ebenso fallen könnte wie einige aus unserem Dorf. In mehreren Bauernhöfen wurde getrauert, und an den Endsieg glaubten immer weniger Menschen, vor allem nach den entmutigenden Nachrichten aus Stalingrad, die gerade die Runde machten. Nur durfte man solche Gedanken natürlich nicht äußern, sonst wäre man mit Sicherheit denunziert worden. Und dies konnte das Konzentrationslager bedeuten, vielleicht sogar die Hinrichtung. Ebensowenig konnte man sich weigern, dem »Ruf des Vaterlands« zu folgen, sonst wäre man ebenfalls erschossen worden.

Vater sagte nicht viel, als er mich zum Zug brachte. Schweigend saßen wir nebeneinander, ein kurzer Abschied, leise gesprochene Glückwünsche, und dann wandte er sich mit traurigen Augen ab. Nun ging’s über München nach Donauwörth. Vom Bahnhof wanderte ich mit meinem Köfferchen zur Kaserne und machte mir dabei eigentlich wenig Sorgen über die nahe Zukunft, über den Krieg und seine schrecklichen Folgen, die ich ja höchstens ahnen konnte. Ein großes Sensibelchen war ich noch nie. Doch diese Eigenschaft und meine unbändige Körperkraft sollten in den kommenden Jahren mein Leben retten.

Der Reichsarbeitsdienst war gleichzeitig meine Vorbereitung auf den Dienst in der Wehrmacht, die sechs Monate dauerte. Das bedeutete tagaus tagein militärische Übungen, Umgang mit der Waffe, Training im Gelände, Aufenthalt fast ausschließlich in der Kaserne, Freizeit gab’s praktisch nicht.

Ein Rückkehrer aus Stalingrad schüttelte über diese Ausbildung den Kopf: »Dass man die jungen Buben nur so schinden kann!«

Und das, was er von der Ostfront berichtete, machte uns sehr nachdenklich. Unzählige Tote und Schwerverwundete gab es dort jeden Tag. Und was sollte der Sinn dahinter sein? Warum diese vielen Opfer?

Dann aber nahm mich der Alltag in der Kaserne wieder gefangen. Ohne groß darüber nachzudenken, habe ich mich mit dieser Situation arrangiert, auch mit den Kameraden – zumindest weitestgehend. Trotzdem kam es einmal vor, dass ich mit irgendeinem Schlaumeier so in Streit geriet, dass er mir ohne rechten Grund eine reingehauen hat. Mein hitziges Gemüt konnte ich wieder einmal nicht zügeln, sprang auf und verpasste dem Kontrahenten einen derart starken Faustschlag ins Gesicht, dass dieser ein dunkelblaues Auge davontrug, während ich mir einen Knochen der Hand brach.

Natürlich musste der Vorfall vertuscht werden, denn sonst wären wir beide hart bestraft worden. Mein Kamerad redete sich damit heraus, dass er im Dunklen gestolpert wäre, und ich behauptete, dass ich ein Seil übersehen hätte und hingefallen wäre.

Nach einigen Monaten ging es für mich und viele meiner Kameraden an die französische Atlantikküste nach Saint-Nazaire in der Nähe von Nantes, wo wir die Aufgabe bekamen, Schützengräben zu schaufeln – eine stupide Tätigkeit, tagtägliches Schaufeln bei Wind und Wetter. Und gerade dieser Wind, der an der Atlantikküste häufig mit großer Stärke bläst, aber auch der Regen setzten uns zu. Ein Glück, dass ich mit einer robusten Natur gesegnet und durch die Tätigkeit auf dem Bauernhof schweres Arbeiten gewöhnt war.

Dann fuhren wir 1943 in Güterwaggons wieder zurück nach München zu einer vierwöchigen Grundausbildung zum Soldaten. Nach dieser Ausbildung wurde ich abkommandiert zur 3. Kompanie des Pionierbataillons, das sich in Grenoble befand.

Zu dieser Zeit hatten die ursprünglich mit Hitler verbündeten Italiener gerade die Fronten gewechselt. Sie waren plötzlich keine Freunde mehr und sollten entwaffnet werden. Als wir uns Grenoble näherten, sahen wir schon die vielen Berge rund um die Stadt, in denen sich zahlreiche Partisanen versteckt hielten, die von den Alliierten unterstützt wurden und kaum zu fassen waren. Sie schossen immer aus dem Hinterhalt und hatten stets eine Rückzugsmöglichkeit.

Wenn wir in der Stadt unterwegs waren, spürten wir den Hass, den die Franzosen auf uns hatten. Keiner grüßte, die meisten schauten weg mit versteinerten Gesichtern. Im Nachhinein ist das natürlich für mich verständlich, da wir ihre Armee besiegt und ihr Land besetzt hatten. So manche Familie hatte einen Gefallenen zu beklagen.

Einmal hatten wir einen Einsatz im Vercors, einem Gebirgszug südlich von Grenoble, und zwar in Villard-de-Lans, einem Dorf, das so hoch gelegen ist wie die Kampenwand. Dabei verloren wir sieben Kameraden, weil die Partisanen, die sich da oben verschanzt hatten, sehr gut geschützt und bewaffnet waren. Diese Waffen hatten sie von den Amerikanern erhalten, die die Partisanen in der Nacht mit Fallschirmabwürfen aus Flugzeugen mit Material versorgt haben. Wir beschossen die Widerstandskämpfer mit MG-Salven und trieben sie in die Flucht. Sie zogen sich immer in die Berge zurück und verschwanden spurlos, nicht mehr greifbar für uns. Eine grausame Aufgabe war es dann immer, die erschossenen Kameraden zu bergen und die oft Schwerstverwundeten zurückzubringen in der Hoffnung, dass sie überleben würden. Gerade noch war man gemeinsam unterwegs, und urplötzlich musste man erkennen, dass der Freund mit dem Tode rang. Man versuchte, diese Situation zu bewältigen, Zeit für Sentimentalitäten hatte man nicht, auch nicht nach der Rückkehr in die Kaserne. Man war einfach nur froh, unverletzt geblieben zu sein.

Bei diesen Einsätzen habe ich immer das Gefühl gehabt, dass irgendjemand aus dem Hinterhalt auf mich zielen, dass ich vielleicht schon in wenigen Augenblicken tot sein würde. Aber den Befehl verweigern war undenkbar. Man wäre vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen worden. Zum Glück ist das bei uns niemals passiert.

Bei einem anderen Einsatz auf einem lang gezogenen Hochplateau wurden wir beschossen, und der Huber Bart aus Ampfing, mit dem ich mich so gut verstanden habe, der mein wirklicher Freund war, wurde wenige Meter neben mir getroffen. Vermutlich bekam er einen Schuss durch den Hals. Er bäumte sich zwei-, dreimal auf und war dann sofort tot.

Das traf mich augenblicklich wie ein Schuss ins eigene Herz. Ich beugte mich über ihn, versuchte irgendein Lebenszeichen wahrzunehmen, indem ich mit der flachen Hand seine Wangen tätschelte, aber er bewegte sich nicht mehr.

»Mein Gott, Bart, du kannst doch nicht sterben, ich brauch dich doch!«

Ein Gefühl der Verzweiflung und der Ohnmacht übermannte mich. Noch ein Blick in sein Gesicht, auf den blutüberströmten Hals und dann weg, schnell weg! Denn der nächste Schuss eines Scharfschützen könnte mich treffen.

Die Partisanen führten den Krieg gegen uns sehr geschickt. Sie waren sehr gut verschanzt und perfekt getarnt, sodass wir eigentlich kaum Chancen hatten, sie zu stellen. Immer wieder einmal hat es einen von uns erwischt, und wir mussten einige Kameraden begraben. Aber für mich am schlimmsten war der Tod meines Freundes Bart. Hatte ich zuvor noch gedacht, dass ich niemals einen Menschen würde erschießen können, änderte sich das schlagartig durch diesen Tod. Ich wurde kalt, fühlte nur noch Wut und Hass – auf den Krieg, aber auch auf die Feinde. Von nun an war mir klar, dass ich jeden Gegner erschießen würde, ohne groß darüber nachzudenken und ohne Schuldgefühle zu entwickeln. Dieses Gefühl wurde überlagert von ständiger Todesangst. Immer, wenn wir im Gelände waren, spürte ich förmlich, dass irgendjemand auf mich zielte. In solchen Situationen hat man keine ruhige Minute. Man schaut immer in alle Richtungen, um den Feind zu entdecken. Aber man sieht niemanden und kann nur hoffen, dass keiner da ist.

Bei den Einsätzen gegen die Partisanen kamen wir einmal zu einem circa 800 Meter langen Tunnel, der erkundet werden sollte. Als wir am Eingang angekommen waren, befahl Leutnant Biss, der aus Wien stammte: »Heinrichsberger, Sie bleiben hier!« Dann ging der Trupp von acht Mann in den Tunnel, um ihn zu erkunden und zu sehen, ob auf der anderen Seite Feinde waren. Ich blieb mit einigen Kameraden und einer Handvoll Kosaken zurück, um den Eingang zu sichern.

Diese Kosaken stammten aus Russland und hatten sich uns als Freiwillige angeschlossen, weil sie in ihrer Heimat von Stalin verfolgt wurden. Es waren raue Burschen, eigentlich richtige Söldner, von denen so mancher einigermaßen gut deutsch sprach. Die Amerikaner lieferten diese Kosaken nach Beendigung des Krieges an die Russen aus, die sie dann einfach erschossen.

Als die acht Mann rund zehn Meter vor dem Ende des Tunnels waren, hörten wir plötzlich einen dumpfen Knall.

»Leute, jetzt ist etwas passiert! Wir müssen schauen, was mit unseren Kameraden geschehen ist.«

In dem Moment war ich so aufgeregt, dass ich einfach allein losgestürmt bin, hinein in den dunklen Tunnel, der mit Pulverdampf und Staub erfüllt war. Eternitplatten hingen von der Decke, es hat fürchterlich ausgesehen. Ein Obergefreiter, der immer große Sprüche gerissen und mit seinen Heldentaten geprahlt hat, die er in Russland begangen haben wollte, ist vor dem Tunnel stehen geblieben und hat sich nicht hineingetraut.

Als ich in dem dunklen Chaos in die Nähe der Kameraden kam, merkte ich sofort, dass alle regungslos am Boden liegen, nur einer stöhnte und röchelte.

»Herr Leutnant, sind Sie’s?«

Ich wollte ihn am Arm nehmen, um ihn aus den Trümmern herauszuziehen. Doch das, was ich mit meiner Hand zu fassen bekam, war nur der blanke Oberarmknochen. Es war ein fürchterliches Gefühl, das ich bis heute nicht mehr aus dem Gedächtnis bekommen habe. In diesem Moment starb der Leutnant und sackte zusammen.

Dann stolperte ich nach vorne, aus dem Tunnel heraus. Unten war ein Stausee, und ein Mann kam auf mich zu. Ich legte an und merkte im letzten Augenblick, dass es ein Kamerad war. Gleichzeitig versuchte ein Partisan, der ober mir stand, noch einmal eine Ladung Dynamit zu zünden, was ihm aber nicht gelang. Er flüchtete in die hereinbrechende Dämmerung hinein. Ich schoss ihm mit meinem Karabiner hinterher, traf ihn aber nicht, obwohl ich eigentlich ein sehr guter Schütze war. Zurück im Tunnel fand ich meine Kameraden, die durch den Sprengsatz alle bis auf einen getötet worden waren. Und dieser eine hatte das Glück, dass er direkt hinter dem Leutnant gegangen war und so die Wirkung des Sprengsatzes nicht voll abbekommen hatte. Er hat überlebt, wenn auch mit Verbrennungen im Gesicht und Schädigungen des Gehörs.

Danach mussten wir die Kameraden aus dem Tunnel bergen – ein furchtbares Erlebnis, weil sie durch die Explosion so entsetzlich zugerichtet worden waren. Was ich dabei gedacht und gefühlt habe, weiß ich heute nicht mehr. Aber in das Grauen über das gerade erlebte Desaster mischte sich bestimmt ein wenig Freude, selbst überlebt zu haben.

»Wenn es dir nicht aufgesetzt ist, wirst du nicht hin«, glaubten wir.

Ein Einsatz, der mir immer wieder einmal durch den Kopf geht, der sich einfach nicht verdrängen lässt, führte meine Kompanie wieder einmal ins Vercors, einen im Südwesten von Grenoble gelegenen Gebirgsstock. Hier lag in einem Hochtal mit dem Dorf Villard-de-Lans ein wichtiges Zentrum der Widerstandskämpfer, der Resistance. Wir fuhren zusammen mit zwei anderen Kompanien, also rund 300 Mann, in die Berge auf das Hochtal zu und mussten einen Tunnel passieren. Bald nachdem wir in das weite, ebene Hochtal kamen, wo wir keine Deckung fanden, wurden wir aus den nahe gelegenen Bergen beschossen. Einige Kameraden wurden getroffen und lagen reglos auf dem Boden, einige schrien verletzt vor Schmerz.

Unsere MG-Schützen feuerten in die Berge, aus denen die Partisanen uns beschossen hatten. Die Widerstandskämpfer zogen sich blitzartig zurück, sodass wir keine Chance hatten, sie zu stellen.

Plötzlich war Ruhe, eine unheilvolle Stille legte sich über die Ebene. Vor uns die Dörfer Vassieux-en-Vercors und La Chapelle-en-Vercors. Ich weiß nicht mehr, wer den Befehl dazu gab. Wir stürmten nach vorn, auf die Dörfer zu. Es war kein Schuss zu hören, einfach nichts. Und wir, die wir erfüllt waren von einer unglaublichen Wut auf die Widerstandskämpfer, die uns aus dem Hinterhalt beschossen und wieder einige Kameraden getötet hatten, drangen in die Dörfer, in die Häuser ein und erschossen einfach alles, was lebte. Alles Leben in den Häusern wurde ausgelöscht, ja sogar die Kühe wurden erschossen vor unbändigem Hass und unkontrollierter Wut. In so einer Situation verlierst du alle Hemmungen, sodass du alles umbringen kannst.

Die Häuser wurden in Brand gesetzt, einer von uns zündete sogar die Kirche an.

»Das wird dir Unglück bringen«, rief ich ihm zu und rannte weiter.

Überall lagen die Leichen der Dorfbewohner herum, die als Unschuldige büßen mussten, dass uns die Partisanen schrecklich zugesetzt hatten. Wir kümmerten uns nicht darum, ließen sie einfach liegen. Wir hatten nur ein Ziel: die auszulöschen, die gegen uns waren. Für die Getöteten hast du in dieser Situation nichts übrig, du denkst nur, Hauptsache, die sind weg.

Es war ein fürchterlicher Lärm wegen der vielen Schüsse, Pulverdampf mischte sich mit dem Rauch der brennenden Häuser. Menschen liefen schreiend aus den Häusern. Aber die Schreie gingen unter im Chaos. Überall lagen Tote herum, unschuldige Menschen, denen du nicht in die leeren Augen blicken kannst, weil du zu einer Todesmaschine geworden bist und hoffst, diese Katastrophe selbst zu überleben. Alles, was erwischt worden ist, wurde erschossen. Wenn du einen gesehen hast, dann hast du einfach drauf gedrückt. An diesem unglückseligen Tag sind wir alle zu Mördern geworden.

Immer, wenn ich heute an diese schreckliche Situation denke, graut es mir. Ja, kaltes Grausen überkommt mich, und ich kann die quälenden Gedanken nicht verdrängen. Dieser furchtbare Krieg hat uns zu Tätern gemacht. Das, was wir getan haben, ist nicht zu entschuldigen. Hätten wir es aber nicht getan, wären wir verurteilt und erschossen worden.

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Sepp Heinrichsberger (Mitte) bei seinem Heimaturlaub 1942 mit seiner Schwester Maria und Sepp Blank aus Gebertsham, der in russischer Kriegsgefangenschaft gestorben ist

Heute sage ich mir, wir hätten umkehren sollen und die eigenen Kommandeure erschießen. Jeder hat um sein Leben gekämpft. So war’s einfach. Ich denke mir jetzt immer noch, wie man so etwas hat tun können. Zuerst hast du müssen, und dann hast du es auch gemacht.

Diejenigen, die diesen brutalen Krieg angezettelt haben, hätten eigentlich verurteilt werden müssen, die hätte man erschießen müssen, allen voran Adolf Hitler. Der kleine Soldat musste für deren Wahnsinn büßen. Wie viele Menschen sind elendiglich draufgegangen! Lauter junge Leute! Nun bin ich froh, zum ersten Mal nach so vielen Jahren über die Ereignisse im Vercors sprechen zu können. Denn das, was dort geschehen ist, kann ich nicht verdrängen und nicht vergessen. Es belastet mich, solange ich lebe.

Immer wieder setzten uns die vielen in den Bergen versteckten Partisanen zu. Einmal sprengten sie unser Waffenlager, das rund 500 Meter von unserer Kaserne entfernt war. Durch die Druckwelle der Explosion wurden die in der Nähe gelegenen Häuser stark beschädigt, die Fenster aus den Rahmen gerissen, und ein schwerer Eisenträger flog die weite Strecke bis zu unserer Kaserne durch die Luft. Damit waren alle schweren Waffen, die wir benötigten, zerstört.

Manchmal geschah es auch, dass Partisanen aus den bewaldeten Bergen mit erhobenen Händen herauskamen, um sich zu ergeben. Danach wurden sie von uns zusammengefangen. Wir hatten Posten an einer Straße aufgestellt, die aus den Bergen nach unten führte. Alle, die sich auf dieser Straße befanden, ob Partisanen oder nicht, wurden festgenommen und abgeführt. Dann begannen die Verhöre, in denen die Festgenommenen oft von unserem Spieß brutal geschlagen worden sind. Er war wirklich eine Bestie, der die Gefangenen so lange quälte, bis sie sagten, was er hören wollte. Und am Schluss wartete auf sie dann doch nur ein Schuss in den Kopf oder in das Genick. Unser Kommandeur befahl Kameraden von mir, diese Partisanen einfach zu erschießen. Zum Glück bin ich damals nie dazu abkommandiert worden, diese schreckliche Aufgabe zu übernehmen.

Einmal kamen zwei Brüder aus dem Wald, von denen einer Jude und der andere keiner war. Sie wurden an den Handgelenken mit einem Draht zusammengebunden und abgeführt. Keiner von den beiden sagte dabei auch nur ein Wort. Zum Glück wurde ich nicht abkommandiert, um sie zu erschießen.

Unser Bataillon war etwas außerhalb von Grenoble stationiert, in der Nähe des Flusses Isère, circa 700 bis 800 Meter vom Ufer entfernt. Einmal war ich mit einem Obergefreiten an der Reihe, zwei gefangene Partisanen fortzubringen. Wir gingen mit den beiden einen Weg zum Damm hinauf, unter dem sich ein kleines Stauwehr befand. Einer von den beiden Gefangenen konnte gut Deutsch, er hatte Todesangst und versuchte, mit uns zu sprechen.

»Wo tun wir sie denn hin? Zu den anderen oder in eine andere Zelle, die wir noch haben?«, rief ich dem Obergefreiten zu.

»Wir wären gerne allein«, stammelte der Franzose angstvoll.

Dann gingen wir einige Meter rechts nach oben, und plötzlich krachten zwei Schüsse. Sie trafen die Gefangenen in den Hinterkopf. Der eine war sofort tot, der andere hat fürchterlich geschrien, weil der Schuss nicht tödlich war. Der Obergefreite hat noch mehrmals geschossen, bis völlige Ruhe herrschte und die beiden reglos am Boden lagen. Dann zogen wir die zwei Partisanen zum Damm, um sie ins Wasser zu werfen. Dabei wäre ich fast abgerutscht und ertrunken. Ich konnte mich gerade noch an irgendetwas festhalten und wieder herausziehen.

Dies war ein weiteres furchtbares Erlebnis, das ich niemals vergessen kann, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Es war ein einziges Morden. Aber hätten wir das nicht getan, dann hätten die Partisanen uns umgebracht. Ich dachte in diesen Tagen eigentlich immer nur: »Hoffentlich erwischt es dich nicht. Hoffentlich bekomme ich keinen Schuss in den Rücken.« Einerseits taten mir die Menschen, die erschossen wurden, leid, andererseits waren wir aber auch so wütend und hasserfüllt, weil diese Partisanen schon so viele von uns getötet hatten.

Im Jahre 1944 kamen dann die Amerikaner mit Flugzeugen von Süden, von Marseille, und warfen Bomben auf uns. Angriff folgte auf Angriff. Da sind die Fetzen geflogen, es war fürchterlich. Wenn wir unterwegs waren und die Flugzeuge näherten sich – das grauenvolle, dunkle Brummen kündigte sie schon von Ferne an –, konnten wir uns nur noch auf den Boden werfen, möglichst in einen Graben, wenn einer da war, und hoffen, dass wir den Angriff lebend überstehen. Mein einziger Gedanke dabei war immer: Hoffentlich fällt mir keine Bombe auf den Kopf, hoffentlich überlebe ich das. Und wenn eine Bombe in meiner Nähe explodierte, gab es einen fürchterlichen Knall, und die Erde flog durch die Luft. Gesehen habe ich allerdings wenig, denn ich presste mein Gesicht dicht auf den Boden, zog das Genick ein, und wartete mit Todesangst darauf, dass die gewaltigen Detonationen aufhörten und das Brummen leiser wurde. Dann sprangen wir auf und rannten weiter.

Einmal kam in diesen Tagen ein Aufklärungsflugzeug der Amerikaner, eine Lockheed Lightning, auf uns zu, als wir im Umland von Grenoble unterwegs waren. Der Pilot entdeckte uns und raste im Sturzflug nach unten. Dabei schoss er aus allen Rohren. Wir konnten nur noch irgendwie Deckung suchen und hoffen, dass uns kein Geschoss trifft. Nach oben zurückgeschossen hat jedenfalls von uns keiner mehr.

Die Macht der Widerstandskämpfer wurde von Woche zu Woche größer, die Amerikaner drangen immer weiter vor, das Ende unserer Zeit in Grenoble deutete sich an. Als wir im Süden der Stadt bei einem Einsatz in der Nähe des Stausees Notre-Dame des Commiers waren, wurden wir von den Amerikanern massiv beschossen, vor allem mit der »Ari«, wie wir die Artillerie nannten. Es war fast so dicht wie MG-Feuer. In kurzer Folge schlugen die Salven neben uns ein. In dieser Lage hatten wir keine Chance mehr. Es gab keinen Ausweg. Zur linken Seite der Fluss, zur rechten die Berge – wir konnten nicht entkommen. Um zum Stützpunkt zurückzukehren, hätten wir über eine Brücke gemusst, die auf der anderen Seite von Partisanen besetzt war. Zunächst dachte ich daran, mich unter der Brücke über den Fluss zu hangeln. Aber dann verwarf ich diesen Gedanken und ging wieder zu den Kameraden zurück. Die Gefahr, abzurutschen und in den Fluss zu fallen oder erschossen zu werden, war einfach zu groß.

Schließlich sahen wir, dass eine weit überlegene Einheit amerikanischer Infanterie vor uns auftauchte. In dieser ausweglosen Situation befahl der Leutnant, der unseren Trupp führte, die Waffen zu strecken. Einer von uns ging dann mit einem weißen Tuch auf die Amerikaner zu, die vorsichtig herankamen. Unser nur noch rund 100 Mann starkes Häuflein wurde in zwei Busse verfrachtet und in ein umzäuntes Zeltlager gebracht. Nach dem, was wir erlebt hatten, waren wir froh, nicht erschossen zu werden. Das geschah Ende 1944, und der Krieg war noch in vollem Gange.

Nun begann die Zeit der Kriegsgefangenschaft, eine Zeit, die eine Odyssee für mich werden sollte mit vielen Stationen in verschiedenen Ländern, mit Strapazen, von denen ich bis heute nicht weiß, wie ich sie überstehen konnte.

Zunächst ging es nach Grenoble, wo wir untersucht wurden. Aber schon nach kurzer Zeit wurden wir nach Marseille verlegt und in ein umzäuntes und bewachtes Zeltlager gebracht. Immer wieder einmal habe ich mir überlegt, über die Berge nach Italien zu fliehen, wo mein Bruder war. Aber es gab keine Chance zu fliehen. Wie hätten wir das auch tun sollen? In Frankreich hätte man nie überlebt und in Italien vermutlich ebenfalls nicht. Denn die Italiener hatten ja die Fronten gewechselt und waren keine Freunde mehr, weil sie auch so viele Tote zu beklagen hatten. Außerdem waren die Berge von Partisanen besetzt, die mich ohne viele Umstände einfach erschossen hätten.

In Marseille mussten wir dann den ganzen Tag im Hafen Frachter entladen und die Kisten, die von den Schiffen kamen, in Magazine transportieren und aufstapeln. Die Kisten enthielten ausschließlich Verpflegung, keine Munition, aber derart viel, dass man sich das kaum vorstellen konnte. Da wurde uns schnell klar, dass wir gegen einen solchen Gegner nie hätten gewinnen können.

Nach einiger Zeit, in der wir natürlich nicht wussten, was man mit uns vorhatte, wurden wir auf ein Schiff geladen, das uns von Marseille nach Neapel brachte. Von dort ging es bald weiter nach Gibraltar, wo sich 72 Schiffe versammelten, die Richtung Amerika fahren sollten. Hier gerieten wir in einen schweren Sturm, in dem viele Schiffe verloren gingen – eigentlich kein Wunder, denn diese schnell zusammengeschusterten Liberty-Schiffe waren zum Teil sehr schlecht gebaut. Die Schiffe sind teilweise fast quer gelegen, und in den Kabinen ging es drunter und drüber. Die Sachen flogen durch den Raum, und viele Soldaten wurden natürlich seekrank. Alle lagen am Boden und wollten am liebsten sterben. Mein Magen hat es ausgehalten, aber das Essen hat mir nicht mehr geschmeckt. Wir hatten unglaubliches Glück, dass unser Schiff den Sturm überstand.

Nur rund 40 Schiffe mit deutschen Kriegsgefangenen machten sich dann auf den Weg quer über den Atlantik. Was mit den anderen Schiffen geschehen ist, haben wir nie erfahren. Vielleicht sind sie auseinandergebrochen und mit Mann und Maus untergegangen.

Als wir endlich New York erreichten, waren wir kaputt, aber froh. Zuerst wurden wir entlaust, denn die kleinen Tierchen hatten sich in den Haaren von uns allen prächtig vermehrt. Das war ein Andenken an Neapel, wo die Unterkünfte total verlaust waren.

Natürlich sahen wir von der Stadt praktisch nichts, denn wir waren ja in einem bewachten Lager untergebracht, und schon bald ging es in Güterwaggons auf die lange Reise nach New Mexico. Quer durch Amerika in einem Güterwaggon – das klingt nicht gerade bequem. Aber wir waren froh, dass wir nun nicht mehr vom Tode bedroht waren.

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Sepp Heinrichsberger nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft

Schließlich begegnete ich dem Wagner Gust, der im Krieg einen Fuß verloren hatte.

»Sepp, wie geht’s dir denn?«

»Na ja, es geht schon, war schon mal besser.«

Bergab stolperte ich vor mich hin, bergauf dauerte es eine Ewigkeit. Ich konnte die Knie kaum mehr durchdrücken, als ich den Hof meines Taufpaten erreichte. Als ich über die Schwelle trat, schaute man mich verwundert an.

»Wer bist du denn?«

Ich muss so furchtbar ausgesehen haben, dass mich meine eigenen Verwandten nicht mehr erkannt haben.

»Der Dober-Sepp«, keuchte ich mit kraftloser Stimme.

»Komm, setz dich hin, ich mache dir etwas zu essen.«

Bald stand ein Teller voll dampfendem Kaiserschmarrn auf dem Tisch. So etwas hatte ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmte mich. Ohne zu sprechen, schlang ich diese Köstlichkeit in mich hinein.

»Kann ich mich ein wenig aufs Kanapee legen?«

Die Bäuerin deckte mich zu, ich bin sofort eingeschlafen und erst am Nachmittag wieder aufgewacht.

Nachdem ich wieder wach war, bat ich darum, jemand möge zu unserem Hof gehen, damit mich mein Bruder Franzl mit dem Ross und einem Schlitten nach Hause bringen könne. Ich konnte einfach keinen einzigen Schritt mehr gehen.

Plötzlich wusste ich nicht mehr, was geschehen war. Ich hatte Gedächtnislücken wegen des Schädelbruches und kannte die Leute nicht mehr. Schließlich kam mein Bruder mit dem Schlitten. Wir redeten nicht viel. Er war über meinen Zustand zutiefst betroffen, und ich konnte einfach nicht mehr. So legten wir den letzten Kilometer zu unserem Hof zurück.

Als wir zum Haus gelangten, kamen meine Eltern und meine Geschwister heraus und nahmen mich in die Arme. Es wurde nichts gesprochen, alle weinten, ich auch. Dann gingen wir hinein in die Stube, und ich bekam ein Kletzenbrot. Meine Mutter hat zu Weihnachten immer für jedes Kind ein Kletzenbrot gebacken. Auch eines für mich, obwohl ich nicht da war.

Mein Vater hatte gesagt: »Wieso backst du für Sepp? Der kommt doch eh nicht mehr.«

Und plötzlich war ich wieder da, körperlich am Ende, aber mit ungebrochenem Lebenswillen. Meine Mutter muss wohl gespürt haben, dass es mich noch gibt und dass ich zurückkomme.

Warum ich jetzt noch lebe, weiß ich nicht, nach diesem unendlichen Weg durch den unbeschreiblich furchtbaren Krieg, in dem ich so viel menschliches Leid erleben und miterleben musste.

Den Hof hat dann mein Bruder übernommen, obwohl ich als ältester Sohn der Hoferbe gewesen wäre. Aber ich war körperlich derart geschwächt, dass mir das nicht möglich war. Ich hätte die tägliche schwere Arbeit keinesfalls geschafft.

Es dauerte einige Zeit, bis ich wieder gesundheitlich auf der Höhe war und den Schädelbruch ausheilen konnte. Meinen Lebensunterhalt verdiente ich mir mit Fahrradreparaturen in Bad Endorf und mein Glück fand ich im nahe gelegenen Flugplatz mit der Fliegerei. Heute noch ist das meine Heimat, und ich frage mich immer wieder einmal, wie ich diese schrecklichen Jahre überleben konnte. Es sollte wohl so sein.