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© 2019 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Diana Napolitano
Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de
Covermotiv: Shutterstock.com (ANEK SANGKAMANEE und VGstockstudio)
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Madison
Eine Katze schlägt mit ihrer Pfote nach einem herabhängenden Stück Stoff. Es stammt von einem Ledersofa, das seine besten Jahre vermutlich in den 70ern hatte. Die Katze ist getigert und mager, was mich nicht wundert. Jeder in Hunts Point ist mager. Hier hat niemand genug zu essen.
Ich greife nach meiner Tasche auf dem Rücksitz meines VW Lupos und nehme mein Fischbrötchen aus der Tüte, das ich auf dem Weg in die Bronx gekauft habe. Ich kurble das Fenster herunter und werfe es auf das schwarze Sofa. Erst erschrickt die Katze, macht einen Buckel und faucht, doch als sie keine Bedrohung feststellen kann, widmet sie sich dem Brötchen. Zweimal stupst sie es mit der Pfote, fast als wolle sie sichergehen, dass es nicht doch eine getarnte Bedrohung ist, dann schnappt sie sich den Backfisch heraus, hüpft vom Sofa und rennt davon.
Ich lächle. Eine Weile bleibe ich noch in meinem Lupo, die Beine angezogen, während ich der Musik im Radio lausche und überlege, ob ich endlich aussteigen oder einfach umkehren soll. Aber, verdammt! Die Konzertkarten im Internet waren ein Glücksgriff. Da kann es mir doch egal sein, ob der Verkäufer die Dinger höchstwahrscheinlich irgendjemandem abgezockt hat. Oder?
Ich reibe mir die Stirn und entscheide, dass ich nicht wissen kann, woher diese Karten stammen. Es lässt sich nichts Verwerfliches daran finden, wenn ein unschuldiges Mädchen zwei Konzertkarten für ihren Freund in Hunts Point kauft. Bevor ich es mir anders überlegen kann, ziehe ich den Schlüssel aus dem Zündschloss und steige aus dem Wagen.
Die Luft ist frisch und kündigt den kommenden Abend an. Der Wind streift meine frei liegenden Knöchel unter der Dreivierteljeans und lässt mich frösteln, während ich mich konzentriere, an dem stinkenden Müllberg vorbeizugehen und die dunkelbraune Plörre nicht weiter zu beachten, die in einem Plastikeimer neben dem Sofa steht. In Hunts Point häufen sich an jeder Straßenecke die Müllberge, darauf wartend, dass sie von den Wagen der Deponien entsorgt werden.
Vor dem ersten Wohnblock neben meterhohen schwarzen Zäunen, die allesamt mit weißen Planen versehen sind, bleibe ich stehen. Ich möchte den Namen, den mir der Verkäufer bei eBay gegeben hat, auf der Klingel drücken, doch fast jedes der Schilder baumelt an heraushängenden Drähten und befindet sich nicht mehr in der Mauer. Ich überlege, ob ich dem Verkäufer eine Nachricht senden soll, dass ich vor der Tür stehe, als mir auffällt, dass die Haustür nicht ganz geschlossen ist. Ein Stück des Schlosses ist herausgebrochen, sodass sie nicht mehr einrasten kann.
Da ist es. Grell und blinkend. Das Warnsignal, dass ich die Karten vergessen und sofort verschwinden sollte. Aber Luke würde sich so unfassbar freuen. Abgesehen davon hatten wir schon lange keinen ausgelassenen Abend mehr für uns, weil das Studium seine Klauen ausgeworfen und mich erdrückend für sich eingenommen hat.
Ich betaste das Pfefferspray in der Tasche meiner Steppjacke und überlege. Was soll’s … Mit der Schulter drücke ich die morsche Holztür auf und trete in das muffige Treppenhaus. Es riecht streng und feucht, und die Beleuchtung funktioniert nicht richtig. Der Verkäufer wohnt – Gott sei Dank! – direkt im Erdgeschoss, ich finde seinen Namen an einer weiteren herausragenden Klingel links von mir.
Ich klopfe. Ein Hund fängt an zu bellen.
»Halt die Schnauze!«, höre ich eine Stimme hinter der Tür. Dann Schritte, die sich nähern. Ich überlege, ob ich doch noch abhauen soll, ehe der Hund sich auf mich stürzt, aber da wird die Tür bereits geöffnet. Ein bulliger Mann mit vielen Tattoos und wenig Nacken blickt auf mich herab. Der Hund bellt immer noch.
»Wer ist das?«, brüllt eine Frau von weiter hinten. Der Typ antwortet ihr nicht. In seiner Hand hält er ein Billigbier. Das von Walmart für 12 Cent. Ich weiß das, weil das Bier der Renner auf Studentenpartys ist.
»Ja?«, fragt er. Sein Ton ist alles andere als freundlich.
»Ich bin wegen der Konzertkarten hier.« Eine Hand vergrabe ich in die Tasche meiner Steppjacke und umschließe das Pfefferspray. Nur für den Fall.
»Ach ja«, entgegnet der Typ. »Voll vergessen. Warte.« Er dreht seinen bulligen Kopf Richtung Flur. »Jennet! Wo sind die scheiß Karten? Die Alte ist hier und will sie abholen!«
Wow. Die Alte. Wäre der Kerl nicht mindestens einsneunzig groß und seine Arme doppelt so dick wie meine Oberschenkel, hätte ich mich über diesen Ausdruck beschwert. Aber jetzt will ich bloß noch die Karten und aus diesem stinkenden Treppenhaus verschwinden.
Besagte Jennet kommt aus einem der hinteren Zimmer. Sie ist mager. Wie die Katze. Ihre Beine machen den Eindruck, bei jedem Schritt wegzuknicken. Sie wühlt in einer Kommode, über der ein schiefer Spiegel ohne Rahmen hängt, und holt die Konzertkarten heraus.
»Fünfzig Mäuse«, sagt sie, als sie neben dem bulligen Kerl im Türrahmen erscheint. Ihre schwarzen Haare hängen stumpf an ihr herab. Ich hole den Fünfzig-Dollar-Schein aus meiner Hosentasche und warte, dass sie mir die Karten gibt, aber die Frau kneift die Augen zusammen.
»Du zuerst.«
Ich kann nicht fassen, dass sie denkt, ich würde sie abziehen wollen. Meine Güte! Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, kommt mir der Gedanke, dass sie es vielleicht vorhaben.
»Wir legen beides gleichzeitig auf den Boden«, schlage ich vor. »Okay?«
Himmel. Es geht hier um Konzertkarten, und ich fühle mich, als wäre ich Undercover Cop. Nie wieder werde ich etwas aus diesem Viertel kaufen.
Jennet scheint jedoch einverstanden. Sie reckt kurz ihr spitzes Kinn und lässt mich nicht aus den Augen, während wir uns bücken – ich mir endlos bescheuert vorkomme –, der Typ uns dabei mit Röhrenblick seiner dunklen Knopfaugen beobachtet, im Hintergrund der Hund wie ein Irrer bellt, und schließlich Währung und Karten zu Boden gehen. Jennet greift so schnell nach dem Geld, dass ich es kaum richtig mitbekomme, aber auch meine Finger bewegen sich hektisch. Meine Nägel kratzen über den Boden, als ich die Karten an mich nehme.
»Gut.« Ich richte mich auf. Mein Herz rast. Kurz habe ich geglaubt, Jennet schnappt sich Geld und Karten. »Danke schön.«
Ich bekomme keine Antwort. Stattdessen wird die Tür zugeknallt und der Hund angeschrien, er solle sein verfluchtes Maul halten.
Den Weg zum Auto renne ich. Und als ich endlich den vertrauten Geruch meines Vanillebaums rieche, der vom Rückspiegel baumelt, verriegle ich die Tür und erlaube mir, kurz die Augen zu schließen und erleichtert durchzuatmen. Meine Hände zittern, als ich mir die Karten ansehe, und ich kann nicht verhindern, dass mir ein freudiges Lachen über die Lippen huscht.
The Jonas Brothers. Für das kommende Wochenende. Luke wird völlig ausrasten.
Meinen Wagen parke ich vor der Alumni Hall. Es ist die Wohnresidenz der höheren Semester. Luke und ich leben beide hier; er im dritten und ich im ersten Stockwerk. Oft lernen wir zusammen im Gemeinschaftssaal oder falten unsere Klamotten im Waschraum. Da haben wir uns auch kennengelernt. Er hat mich gefragt, ob ich ihm ein Waschpulver-Pad leihen kann, daraus entwickelten sich dann stundenlange Gespräche, während wir den Trocknern zusahen, und irgendwann wurde aus der platonischen Waschzimmer-Beziehung dann eine richtige, die jetzt schon fast ein Jahr lang hält.
Mit einem Lächeln im Gesicht klopfe ich an seine Tür.
»Herein.«
Ich zwänge mich in den schmalen Flur. Luke sitzt am kleinen Tisch in der Küche. Er teilt sich die Wohnung mit einem anderen Studenten. Als er aufsieht, lächelt er. »Madison! Was für eine Überraschung. Ich dachte, wir sehen uns erst morgen wieder?«
»Wäre doch keine Überraschung gewesen, wenn ich dich vorgewarnt hätte.« Ich lasse mich neben ihn auf den klapprigen Stuhl plumpsen. Ihm rutscht sein Algebrabuch vom Schoß, in dem er gerade noch gelesen hat. Luke studiert Mathe und Physik auf Lehramt.
Er beugt sich vor, um mir einen Kuss zu geben, dann kramt er sein Handy aus der Tasche. »Muss nur kurz eine Nachricht schreiben. Sekunde.«
Meine Füße tippen aufgeregt auf dem Boden, weil ich es nicht erwarten kann, ihm die Karten zu geben.
»So.« Er legt das Handy beiseite und neigt den Kopf. »Womit habe ich den Überraschungsbesuch verdient?«
»Mach dich auf den ultimativen Kick gefasst. Bist du so weit?«
Luke nickt. Er sieht süß aus, wie er mich mit freudiger Erwartung aus seinen dunklen Augen ansieht. Ich kann nicht verhindern, dass meine Lippen sich zu einem breiten Lächeln formen, als ich die Karten aus meiner Jeanstasche ziehe.
»Tada! Zweimal Jonas Brothers fürs Wochenende.«
»Nicht dein Ernst!« Luke nimmt die Karten entgegen und hält sie ganz vorsichtig, als könnten sie sich sonst auflösen. Mit leicht geöffnetem Mund sieht er zu mir auf. »Die waren doch schweineteuer!«
Vor Aufregung wippe ich auf dem Sofa auf und ab. In mir kribbelt alles. »Hab sie bei eBay gekauft. Ein Glücksgriff.«
Luke strahlt. Er fährt sich durch das blonde Haar und wirkt, als könnte er mit seiner Freude gerade Bäume ausreißen. »Da kann ich mit David hingehen! Der hat auch keine Karten mehr bekommen. Seine Augen werden rausfallen, wenn ich ihm die zeige.«
Mein Lächeln erstirbt. »Mit David?«
»Ja! Er hat gestern noch davon gesprochen und … Alles okay?«
»Na ja …« Ich reibe mir mit den Handflächen über die Jeans, weil ich gerade nicht weiß, was ich mit ihnen anstellen soll. »Ich dachte, wir gehen zusammen hin. Das letzte Mal sind wir ausgegangen, als deine Mutter mit uns ins Technikmuseum wollte.«
»Mochtest du das Technikmuseum nicht?«
Es fällt mir schwer, nicht die Augen zu verdrehen. »Doch! Aber ich dachte einfach, wir machen mal was zu zweit.«
Luke legt die Karten beiseite und rutscht näher zu mir. Die Stuhlbeine schleifen über die Fliesen. Er nimmt meine Hände in seine. »Sieh mal, Maddy. Ich würde es auch schön finden, mit dir zum Konzert zu gehen. Aber ich weiß doch, wie sehr du dich hinterher tadeln würdest, weil du die Zeit nicht zum Lernen genutzt hast. Und außerdem ist deine Seminararbeit noch immer nicht fertig. Das hat wirklich Vorrang.«
Es versetzt mir einen Stich, dass er mir das ausgerechnet in diesem Moment unter die Nase reibt. Zweimal muss ich Luft holen, ehe ich zum Sprechen ansetzen kann. »Denkst du nicht, dass ich selbst entscheiden kann, wie ich mit meiner Seminararbeit vorankomme?«
»Doch! Ich dachte nur …« Er seufzt. »Maddy, ich meine es doch nur gut.«
Die Enttäuschung sitzt zu tief, als dass ich es in diesem Augenblick wahrnehmen kann. Ich habe einen dicken Kloß im Hals. Gerade habe ich keine Lust, weiter mit ihm zu diskutieren und mir noch ein paar Mal anhören zu müssen, dass ich Stoff aufholen muss und hinterherhänge.
»Ja. Du hast recht. Schon gut. Geh mit David auf das Konzert.«
Luke lächelt. Als ich es nicht erwidere, sagt er: »Du bist doch nicht sauer, oder?«
»Nein. Nur müde. Und ich muss noch ins Juridicum. Also ich hoffe, du freust dich.«
»Klar, Maddy!« Er küsst mich noch einmal und drückt mich fest an sich. »Du bist die Beste. Viel Erfolg mit deiner Arbeit.«
»Danke. Schlaf später gut.«
»Du auch.«
Die Enttäuschung lässt sich nicht vertreiben. Den ganzen Weg hoch zu meinem Appartement schlurfe ich und lasse den Kopf hängen. Erst als ich den Schlüssel aus der Hosentasche ziehe, um meine Tür aufzuschließen, wird mir bewusst, dass ich mich gekratzt habe. Mein Arm ist wund.
»Super.« Ich öffne die Tür und gehe direkt auf den Kühlschrank zu, um die Salbe herauszuholen. In dem Moment kommt Gloria aus ihrem Zimmer. Meine Mitbewohnerin und beste Freundin. Sie sieht meinen Arm und zieht mitfühlend eine Braue in die Stirn.
»Was ist passiert?«
Erst antworte ich nicht. Ich lasse sie stehen, während sie sich das dicke blonde Haar zu einem französischen Zopf flicht, und packe mein MacBook, Gesetzbuch und eine Wasserflasche in meine Tasche. Als ich merke, dass sie mich mit Blicken taxiert und nicht locker lassen wird, erzähle ich ihr alles. Angefangen bei der Katze in Hunts Point bis hin zu eben gerade.
»Oh, wow.« Gloria nimmt sich eine Cola aus dem Kühlschrank und lässt sich am Tisch mir gegenüber fallen. Es zischt, als sie den Schraubverschluss öffnet. »Du solltest ihm den Laufpass geben.«
»Ich mache doch nicht Schluss, nur weil er sich einmal scheiße verhalten hat.«
Meine Freundin zuckt die Achseln. »Ich mein ja nur. Also ich würd’s machen.«
»Ich aber nicht.« Ich erhebe mich vom Stuhl und hänge mir meine Tasche über die Schulter. »Wenn ich es sacken gelassen habe, werde ich noch einmal mit ihm sprechen. Und dann wird er sich entschuldigen.«
Gloria prostet mir mit der Colaflasche zu. »Wie du meinst.«
Da bin ich mir sicher. Luke ist ein Engel. Er wird noch draufkommen, dass seine Aktion nicht in Ordnung war. Mit dieser Überzeugung verlasse ich das Appartement und mache mich auf den Weg ins Juridicum. Auf dem Flur blicke ich über die Schulter, ob mich jemand beobachtet, aber es ist niemand zu sehen. Erst dann greife ich nach dem schmalen Blister in meiner Tasche, aus dem mich die violette Kapsel verführerisch anfunkelt.
Meine Hand zittert, als ich sie herausdrücke. Es ist fast zwei Tage her, seit ich eine genommen habe, aber das hier ist die Letzte. Ich wollte sie mir aufsparen. Schnell werfe ich die Kapsel in den Mund, spüle sie mit dem Wasser aus meiner Flasche herunter und merke zufrieden, wie das Zittern meiner Hände allein von dem Gedanken, in wenigen Minuten die unvergleichliche Wirkung zu spüren, vertrieben wird.
Oliver
»Er ist schon fünf Minuten über der Zeit.«
»Bleib locker, Amigo.« Enzo streckt die Beine aus und lehnt sich in seinem Sitz zurück. Es ist still im Wagen. Nicht einmal das Radio ist eingeschaltet. »Er wird gleich anrufen.«
Mit dem Finger fahre ich über das Armaturenbrett und warte. Wir stehen in einer Seitenstraße hinter einem Baum in der Bronx und beobachten ein heruntergekommenes Haus, dessen Veranda schon halb in sich zusammenfällt. Ein paar Meter weiter sehe ich, wie jemand ein Fischbrötchen aus einem schwarzen VW Lupo auf einen Müllberg wirft. Vermutlich für die Katze, die sich die Bulette schnappt und verschwindet. Diese Müllberge sind überall in Hunts Point.
Ein paar Sekunden später steigt die Person aus dem Auto. Ich muss zweimal hinsehen, weil ich meinen Augen nicht traue, doch dann besteht kein Zweifel mehr.
Es ist Madison Sanders.
Ihr Gesicht kann ich nur kurz sehen, als sie das Auto verschließt, doch auch von hinten ist sie unverkennbar. Sie hat einen schiefen Rücken. Bis zur Hüfte ist alles in Ordnung, aber die Schultern beugen sich nach rechts. Sie hat eine schlimme Skoliose.
»Wieso starrst du die so an?«, fragt Enzo.
»Ich kenne sie.« Vor einem Backsteinblock hält Madison kurz inne, ehe sie ins Haus tritt und verschwindet. »Sie ist in meinem Semester.« Was zur Hölle macht sie hier?
»Sie ist hübsch. Krasse Augen.«
Ich entgegne nichts, weil ich nie darüber nachgedacht habe, ob Madison hübsch ist. Aber ihre Augen sind mir damals sofort aufgefallen, als ich sie das erste Mal gesehen habe. Sie sind eisblau. Zu ihren dunklen Haaren ist das ein starker Kontrast.
Ich will mich gerade von dem Häuserblock abwenden, da sehe ich sie aus der Tür kommen. Sie rennt zu ihrem Lupo.
»Wird die verfolgt?«
Ich zucke die Achseln. »Kommt ihr zumindest keiner hinterher.«
Madison wirft sich förmlich in ihren Wagen, ehe sie davonfährt. Wie seltsam.
Enzos Handy klingelt. Er nimmt ab. »Enzo dran.«
Eine Weile sagt er kein Wort. Am anderen Ende der Leitung gibt ihm sein Cousin Anweisungen, wie ich weiß.
»Gut. Bis gleich.« Enzo legt auf und sieht mich an. »Dann los.«
Wir ziehen diese Sache durch wie immer, doch mein Herz wird sich nie an das zusätzliche Adrenalin gewöhnen. Es rast förmlich in meiner Brust. Ich taste meine Hüfte nach der Waffe ab, die an dem Gurt unter meinem Pullover baumelt, und teste kurz, ob ich sie im Notfall schnell genug ziehen kann.
Enzo verdreht die Augen. »Dass du das immer wieder machen musst.«
»Ich will nur sichergehen.«
Wir steigen aus Enzos Ford Mustang. Die kühle Abendluft streicht über meine Haut und lässt mich tief durchatmen. Um uns herum herrscht absolute Stille. In dieser Gegend treibt sich bei Einbruch der Dunkelheit kaum noch jemand auf den Straßen rum.
Enzo wirft mehrmals Blicke über die Schulter, während wir uns dem Haus nähern. Das macht er meistens. Er tut gern so, als würden diese Situationen ihm nicht den Angstschweiß ausbrechen lassen, aber ich weiß, dass er innerlich am Zittern ist. Sein Onkel weiß das auch. Und ich glaube nicht, dass Enzo jemals dieser Aufgabe zugeteilt worden wäre, würde ich nicht dabei sein.
Wir sind jetzt fast beim Haus. Ich werfe Enzo einen Blick zu, und er nickt knapp als Zeichen, dass er so weit ist.
Die Treppe der Veranda ist morsch. Sie knarrt bei jedem Schritt, den wir machen. Der Wind fährt durch die Blätterdächer der Bäume und weht ein düsteres Rascheln zu uns herüber. Fast so, als wollten sie mit uns sprechen. Fast so, als wollten sie uns warnen.
Ich klopfe. Neben mir hat Enzo den Atem angehalten. Ich würde ihm gern einen warnenden Blick zuwerfen, damit er sich zusammenreißt, aber das würde ihn bloß noch mehr verunsichern.
Im Inneren ertönen schwere Schritte, die über den Flur kommen und sich uns nähern. Dann wird die Tür geöffnet. Nur einen Spaltbreit, doch ich erkenne herabhängende Backen eines Typen. Sieht aus wie ein fetter Hamster.
»Was wollt ihr?«
»Wir kommen von Eduardo«, sagt Enzo. »Wegen der Pizzalieferung.«
Zugegeben, nicht das spektakulärste Codewort, aber es erfüllt seinen Zweck. Der fette Kerl öffnet die Tür ein Stück weiter, lässt seinen Blick einmal über unsere Köpfe schweifen und nickt dann hinter sich.
Der Flur ist eng. Neben Enzo habe ich kaum Platz; meine Schulter streift die kahle Wand. Die Tür fällt ins Schloss, und ich kann kaum mehr etwas erkennen. Die einzige Lichtquelle stammt aus einem Zimmer, dessen Tür angelehnt ist. Der Typ hebt seine fleischige Hand und deutet auf die Tür. »Er erwartet euch.«
Enzo wirft mir einen kurzen Seitenblick zu, und ich weiß, was er denkt. So läuft das normalerweise nicht ab. Niemand erwartet uns auf diese Weise. Die meisten sind so verängstigt, wenn sie uns sehen, dass sie kaum ein Wort rausbringen.
Sie wissen, wer hinter uns steht.
Sie wissen, von wem wir kommen.
Sie wissen, wie gefährlich wir sind.
Ich erhasche einen kurzen Blick in die Küche, als wir den Flur entlanggehen. Sie ist zugemüllt bis in den letzten Winkel. Leere Pizzakartons, offenstehende Konservendosen, Plastikbehälter mit Essensresten, Gläser mit Flüssigkeiten, auf denen sich bereits Schimmel abgesetzt hat. Der beißende Gestank verfolgt uns, bis wir in das Zimmer mit der angelehnten Tür treten.
Vor dem Fenster hängt eine fleckige Wolldecke. Im Gehäuse einer schirmlosen Stehlampe steckt eine einsame Glühbirne, die den kargen Mann auf dem Zweiersofa vor uns in schwaches Licht hüllt. Seine fettige Haut glänzt im Schein, und die Haare hängen ihm stumpf und ungepflegt zu beiden Seiten des Gesichts herunter. Er blickt kurz auf, als wir eintreten, und gibt dem anderen Kerl ein Zeichen, die Tür hinter uns zu schließen.
»Ah«, sagt er. »Die Laufburschen sind da.«
Neben mir spannt sich Enzo an. »Eduardo fordert ein, was ihm zusteht.«
»Witzig.« Der Mann kratzt mit einer Karte über den schmutzigen Glastisch und formt einen kleinen Haufen weißes Pulver zu einer Linie. Kokain.
»Was soll witzig sein?« Mein Ton ist alles andere als freundlich.
Er zieht das Kokain in die Nase und lehnt sich mit ausgebreiteten Armen zurück ins Sofa. »Dass ihr glaubt, ich könnte euch einfach so zwanzig Kilo Kokain geben, bloß um eine Schuld zu begleichen.« Sein Blick gleitet zur Wand unter dem Fenster, an der vier verschlossene Tragetüten stehen. »Von dem Scheiß muss ich die Verkäufer bezahlen. Also würde ich sagen …« Er zieht ein Messer hinter sich hervor und begutachtet es mit gespielt gelangweilter Miene. »Der Deal ist geplatzt.«
Zehn Sekunden. Ich genehmige mir zehn Sekunden, um nachzudenken. Das ist ein Ablenkungsmanöver. Er würde kein Messer ziehen, um uns zu drohen, wenn er nicht weiß, ob wir bewaffnet sind. Wovon er ausgeht, weil wir von den Fünf Familien kommen, der mächtigsten Mafia in New York. Und da sie wissen, dass sie so gut wie tot sind, wenn wir hier lebend rauskommen, wollen sie auch das nicht zulassen. Aber sicher nicht mit einem Messer.
Ich reagiere sofort. In einer schnellen Bewegung ziehe ich meine Waffe, wirble herum und blicke direkt in den Lauf einer weiteren Pistole.
Ich wusste es.
Der Kerl hat seinen Finger auf dem Abzug. Er ist nur eine Millisekunde davon entfernt, mir eine Kugel in den Kopf zu jagen.
Ich zögere nicht. Mein Schuss trifft ihn direkt ins Bein. Mit einem erstickten Schrei geht er zu Boden. Blut verteilt sich auf dem Teppich. Ich wirble gerade herum, als ein zweiter Knall ertönt. Enzo hat in den Tisch geschossen. Der Typ auf dem Sofa weicht erschrocken zurück, als Enzo den Lauf der Waffe in seiner Richtung erhoben hält.
»Beweg dich nur einmal, und ich schwöre, ich drück ab!«
Ich hetze zu den Plastiktüten rüber und ziehe die Reißverschlüsse auf, um mich zu vergewissern, dass es das Kokain ist. »Alles klar!«, sage ich.
Enzo eilt zu mir, nicht ohne den Typen aus den Augen zu lassen, und schnappt sich zwei Tüten. Ich die anderen beiden.
Wir haben Schwierigkeiten, den fetten Kerl vor der Tür beiseitezuschieben. Er ächzt vor Schmerz, als wir ihn über den Boden rollen, doch er ist nicht lebensgefährlich verletzt.
Ich werfe einen schnellen Blick über die Schulter, aber der Typ auf dem Sofa macht keine Anstalten, uns zu folgen. Er sitzt bloß mit großen Augen da und starrt uns hinterher. Vermutlich ist er nicht davon ausgegangen, dass wir schießen würden.
Ich ehrlich gesagt auch nicht. Das habe ich noch nie getan.
»Los, rein da!« Enzo öffnet den Kofferraum und wirft die Tüten ins Innere, ehe wir uns in den Wagen stürzen und er den Motor aufheulen lässt. Obwohl unser Herz rast, fahren wir in normaler Geschwindigkeit.
Das ist eine der Regeln. Nicht aufzufallen.
»Verfickte Scheiße!« Ich drücke mir die Hand auf die Brust und versuche, meine zitternden Finger unter Kontrolle zu bringen.
Enzos Mund steht offen. Sein Gesicht ist kalkweiß, dabei ist er ein gut gebräunter Italiener. Kreuzung um Kreuzung lenkt er den Wagen aus dem Stadtteil heraus.
»Ich komm noch nicht klar«, sagt er. »Fuck, ich komm nicht klar!«
»Geht mir auch so.«
Noch eine Weile ist das Auto erfüllt von unserem Keuchen. Die Fahrt bis zum Anwesen von Enzos Familie bekomme ich kaum mit. Ständig hallt der Schuss in meinen Ohren wider, und die Situation keimt erneut vor meinen Augen auf.
Die Überwachungskamera scannt den Wagen vor der Einfahrt. Kurz darauf klingelt Enzos Handy. Seine Finger zittern, als er den Anruf entgegennimmt.
»Fuck, ja, wir sind’s. Mach auf, verdammt!«
Das Tor öffnet sich. Wir fahren um den großen Springbrunnen herum und parken den Wagen hinter dem seines Onkels.
Enzos Cousin Victor kommt uns entgegen. »Wieso habt ihr nicht angerufen, wie abgesprochen? Ist was passiert?«
Enzo knallt die Wagentür zu. Der Boden unter meinen Füßen wackelt. Ich atme tief durch, um mich zu beruhigen.
»Wir wurden fast gekillt da drin, Mann! Was für ein scheiß Auftrag war das?«
Victor sieht von seinem Cousin zu mir. Seine Augen bleiben kurz an meiner Jeans heften, deren Stoff mit Blut gesprenkelt ist.
»Oh, merda! Aber ihr habt das Kokain?«
»Natürlich haben wir das verfluchte Koks!« Enzo spuckt aus, ehe er den Kofferraum öffnet und sich dann mit der Hüfte gegen den Wagen lehnt. »Interessiert dich scheinbar mehr als die Tatsache, dass wir in dem verkackten Haus beinahe draufgegangen wären!«
»Enzo«, sage ich. »Beruhige dich.«
»Stimmt doch nicht.« Victor legt seinem Cousin eine Hand auf die Schulter. Jetzt, wo er das Koks gesehen hat, scheint er besser mit der Situation umgehen zu können. »Aber du weißt, dass Eduardo durchdrehen würde, wenn es schiefgelaufen wäre. Wir versagen nie. Das wäre vor den anderen Familien …«
»Eine Blamage bis aufs Blut. Ich weiß.« Enzo streicht sich über das Gesicht und deutet dann aufs Haus. »Ist er da?«
Victor nickt.
Ich packe zwei der Tüten und nehme sie aus dem Kofferraum. »Bringen wir das Zeug rein. Ich will es nicht mehr sehen.«
Es dauert eine Weile, bis Eduardo uns in sein Büro ruft. Jeder Mafiaboss hat einen Berater. Sie nennen sich Consigliere. Victor musste uns erst bei ihm ankündigen, der dann wiederum Eduardo Bescheid gegeben hat, dass wir zurück sind.
Er hat mich gefragt, was passiert ist. Nicht seinen Neffen. Das ist eine Beleidigung für Enzo, denn ich gehöre nicht zur Familie. Ich glaube, dass Victor dem Berater von Enzos Reaktion gerade erzählt hat. In dieser Familie wird nichts verheimlicht.
Als ich geendet habe, bleibt es lange Zeit still im Raum. Es herrscht schummriges Licht. Nur ein Feuer knistert neben uns in der Wand und wirft einen schwachen Schein auf Eduardos Gesicht.
»Ich werde mich um den Mann kümmern«, sagt er.
Ich hake nicht nach, weil ich nicht wissen möchte, was er mit ihm macht. Also nicke ich nur.
»Du hast schnell reagiert, Oliver. Das war schlau.«
»Danke.«
Neben mir sieht Enzo zu Boden. Er pult an seiner Nagelhaut. Ich wünschte, er würde es nicht tun, denn natürlich bemerkt sein Onkel es. Aber er sagt nichts dazu. Stattdessen lehnt er sich in seinem breiten Sessel zurück und bettet die Arme auf die Lehnen.
Er sieht mich an. »Ich weiß noch nicht, was ich mit dem Kokain machen soll. Verkaufen oder behalten. Aber bis ich mich entschieden habe, will ich es nicht im Haus haben. Mein Anwesen ist keine Lagerhalle. Du wirst es solange bei dir behalten, Oliver. Ja?«
Das war eine rhetorische Frage, weil Eduardo kein Nein akzeptiert. Entweder ich tue, was er verlangt, oder ich bin raus. In der Mafia sind die Mitglieder loyal zueinander. Sie verpflichten sich zu Loyalität. Jeder schätzt jeden wert und steht für den anderen ein. Etwas, das es in meiner eigenen Familie nie gab.
»Ja.« Ich habe zwar keine Ahnung, wie und wo ich das Zeug verstecken soll, aber ich muss mir etwas einfallen lassen.
Und zwar schnell.
Madison
Es ist laut im Gruppenraum. Normalerweise hasse ich es hier, weil ich mich nicht konzentrieren kann. Aber die kleine violette Pille bewirkt, dass ich die Geräuschkulisse um mich herum fast gänzlich ausblenden kann. Außerdem stehen die Regale mit den Zivilrecht-Rechtsprechungen in diesem Bereich, und ich habe keine Lust, alle zehn Minuten aufstehen und einen Stapel Wälzer durch die Bibliothek schleppen zu müssen.
Den Satz im Gesetzkommentar lese ich gerade zum fünften Mal. Schließlich entscheide ich, dass ich ihn nicht verstehe. Vielleicht kann ich ihn trotzdem in die Seminararbeit übernehmen. Er klingt schlau, und alles, was in Jura schlau klingt und andere nicht verstehen können, ist meist richtig.
Craig Parker am Tisch neben mir pfeift durch die Zähne. »Wir dachten schon, du bist eingepennt, Mann. Wieso kommst du so spät?«
»Sorry. Bin wirklich eingepennt.«
Ein kollektives Lachen. Als ich Olivers Stimme höre, zwinge ich mich, nicht aufzusehen. Es fällt mir schwer, weil mein Kopf sich selbstständig machen will. Oliver hat eine Anziehungskraft, die nur selten vorkommt. Egal wo er ist, egal mit wem und in welcher Situation auch immer – alle lieben ihn. Auf Anhieb.
Vielleicht liegt es daran, dass seine Schwester eine bekannte Sängerin ist. Aber ich glaube nicht. Schon bevor das öffentlich wurde, hat jeder Student um seine Aufmerksamkeit gebuhlt. Und ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Er ist einfach … Oliver. Charismatisch. Lustig. Immer eine schlagfertige Antwort parat. Und verboten gut aussehend. Sogar die Dozenten lachen über jeden Witz, den er reißt.
Ich schlage den beinahe schon antiken Buchdeckel des Gesetzkommentars zu und gebe im Online-Archiv der Rechtsprechungen mein Schlagwort ein, zu dem ich einen Artikel suche. Ich notiere mir den Jahrgang der Rechtszeitschrift, in der der Artikel erschienen ist, und stehe auf.
Meine Augen huschen zu Oliver. Er sitzt in enger Slimfit-Jeans und weißem Poloshirt am Tisch und holt gerade sein Gesetzbuch aus der Tasche. Die Beine hat er ausgestreckt und die Füße überkreuzt. Er trägt Timberland Boots. Er hat sie vor zwei Wochen bestellt, nachdem ich ihm ein Ohr abgekaut habe, wie schön ich diese Schuhe finde. Wenn seine Jungs das wüssten …
»Was starrst du so, Sanders?«
Craigs Stimme lenkt meine Aufmerksamkeit von Oliver weg. Aber ich spüre, dass sein Blick dafür auf mir ruht. »Ich war nur in Gedanken«, entgegne ich.
Olivers hellgrüne Augen streifen meinen Blick, als ich mich zum Gehen wende und auf den Ausgang des Gruppenraums zusteuere. Die Stimmen der Jungs wehen schwach zu mir herüber, und ich bekomme noch mit, worüber sie tuscheln.
»Was ist bloß schiefgelaufen mit ihrem Rücken?«
Keine Ahnung, von wem die Frage kommt. Die Stimme kann ich nicht einordnen. Trotzdem zieht sich mein Magen zusammen.
»Schiefgelaufen«, wiederholt Craig. Er lacht. »Geiles Wortspiel.«
»Halt die Fresse.«
Der letzte Satz kam von Oliver. Ich ziehe den Kopf ein, versuche, so gerade wie möglich zu laufen und verlasse den Gruppenraum. In meinem Hals pocht ein heftiger Kloß, aber inzwischen weiß ich, wie er sich wieder auflöst. Es sind nur Worte. Nur ein paar verletzende Worte von Menschen, die verdrängen wollen, dass sie eigene Probleme haben.
Der Druck hinter meinen Augen lässt nach, als ich das dritte Bücherregal hinter mir gelassen habe und an der Bibliotheksaufsicht vorbeikomme. Sie bemerkt meine Schritte auf dem dumpfen grauen Teppich und sieht kurz auf. Ich schenke ihr ein schnelles Lächeln und nehme die Treppe in die zweite Etage zu den Zeitschriften. Mit dem Finger fahre ich die unterschiedlichen Jahresdaten auf den Buchrücken ab, bis ich schließlich das richtige finde und den schweren Einband aus dem Regal ziehe. Die Seiten sind vergilbt, und sie haben diesen speziellen Bibliotheksgeruch, den ich liebe. Er trägt Geschichte mit sich.
»Wieso machst du das bloß immer?«
Vor Schreck klappe ich das Buch zu. Oliver steht neben mir.
»Was mache ich immer?«
»Du schnüffelst an Büchern. Jedes Mal.«
»Stimmt nicht.«
»Doch.«
Ich klemme mir das Buch unter den Arm und will an Oliver vorbei, aber er streckt die Hand zum Regal aus und versperrt mir damit den Weg.
»Lass mich durch, Oliver. Wir haben einen Deal. Keinen Kontakt in der Uni!«
»Was hattest du in Hunts Point verloren?«
Seine Frage trifft mich unvorbereitet. »Beschattest du mich jetzt?«
»Gott bewahre. Da fallen mir doch weitaus interessantere Dinge ein.«
»Was hattest du denn dort verloren?«
Oliver grinst. »Du bist schlau. Vielleicht kannst du es dir denken, Maddy.«
»Ich will es gar nicht wissen.« Damit versuche ich, an ihm vorbeizukommen, aber es braucht nur eine schnelle Bewegung von Oliver, und schon wieder versperrt er mir den Weg zum Gang.
»Die Gegend ist gefährlich.«
»Mein Vater ist Polizist, Oliver. Ich weiß, wie gefährlich Hunts Point ist.«
»Ach ja.« Der Schalk sitzt in seinen Augen. »Hat Daddy seinem kleinen Mädchen beim Abendessen von den bösen Jungs erzählt?«
»Witzig. Kannst du mich jetzt durchlassen?«
»Bei mir zu Hause bist du netter. Aber da brauchst du ja auch …«
»Oliver!« Ich sehe nach links und rechts, um zu sehen, ob uns jemand beobachtet. Ein Mädchen nicht weit von uns wirft einen mahnenden Blick herüber. »Sprich nicht davon. Nicht hier. Lass mich jetzt durch, wir stören die anderen.«
»Ach. Kurz ist mir entfallen, dass niemand von unserer Freundschaft wissen soll.« Er kneift mir in die Wange und äfft eine Babystimme nach. »Dabei bist du doch mein süßes Maddylein.«
»Lass das!« Sofort schlage ich seine Hand beiseite und sehe mich um, ob uns jemand beobachtet. Ich presse die Lippen zusammen. »Was willst du, damit du mich durchlässt?«
»Sag mir, was du in Hunts Point gemacht hast.«
Das Mädchen von gerade zischt, damit wir leise sind. Ich sehe in Olivers entschiedenen Gesichtsausdruck und kann nicht fassen, dass er das gerade echt durchzieht.
»Schön. Ich habe über eBay zwei Karten für das Jonas Brothers-Konzert gekauft. Für mich und Luke.« Betreten sehe ich auf meine Sneakers. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie Oliver sich mit der Schulter gegen das uralte Regal lehnt.
»Und warum guckst du dann, als hätte dich jemand abgezogen?«
Seufzend hebe ich den Blick. »Er will nicht mit mir hingehen, sondern mit seinem Kumpel. Habe ich mich jetzt genug vor dir gedemütigt, dass ich endlich vorbeikann?«
Oliver sagt nichts. Er sieht mich bloß an, wobei seine Gesichtszüge unmöglich zu deuten sind, dann macht er einen Schritt zur Seite und lässt mich gehen.
Heute ist ein schlimmer Tag. Erst bin ich zwei Irren in Hunts Point begegnet, um meinem Freund eine Freude zu machen, dann serviert er mich quasi ab, ich bekomme verletzende Dinge über meinen Rücken zu hören, und dann maßt es sich Oliver auch noch an, unsere Regel zu brechen und in der Uni mit mir zu sprechen!
Wütend lasse ich den dicken Wälzer auf meinen Tisch fallen und schlage die Seite mit der korrekten Rechtsprechung auf.
»Das solltest du noch mal überarbeiten.«
Ich schließe die Augen und verharre in meiner Position, den Finger noch auf der Textstelle im Buch. »Oliver«, zische ich. »Hau ab.«
»Aber das hier ist nicht korrekt. Siehst du? Verpflichtungsgeschäft und Verfügungsgeschäft musst du trennen, wegen des Abstraktionsprinzips. Nur weil der schuldrechtliche Vertrag nichtig ist, wirkt sich das nicht auch auf den dinglichen Vertrag aus. Die Verpflichtung zur Einigung in einem Kaufvertrag hängt nicht mit der tatsächlichen Einigung zusammen. Das hast du hier nicht beachtet.«
Ich sollte nicht wütend auf ihn sein, dafür, dass er mir helfen möchte. Aber die Tatsache, dass er einfach so unsere aufgestellte Regel bricht, und uns von jetzt an jeder in diesem Gruppenraum miteinander in irgendeine Verbindung bringt, macht mich panisch. Seine Jungs gaffen zu uns herüber, als könnten sie nicht glauben, was sie sehen. Aber jetzt ist es sowieso nicht mehr zu ändern. Ich klappe das MacBook zu. »Das wird nichts. Niemals werde ich mit dieser Arbeit den Kurs bestehen.«
Oliver setzt sich auf den Stuhl neben mich. »Wieso nicht?«
»Weil ich eine Niete in Zivilrecht bin.«
»Ich weiß.«
»Aha.«
Oliver zieht ein gefaltetes Stück Papier aus seiner Hose. Er glättet es und legt es neben mich. »Du hast dich für die studieninterne Nachhilfe eingetragen. Eigentlich waren schon alle Plätze vergeben, aber ich habe mich zu spät für die Schlüsselqualifikation angemeldet, deshalb wurde ich dir zugewiesen.«
Ich starre das Blatt Papier an. Ein roter Stempel verkündet über die Hälfte der Seite das Wort »vermittelt«. Und ganz oben stechen mir unsere beiden Namen ins Auge.
Schlüsselqualifikation, §4 Nr. 2 PrüfO; Kursbezeichnung: Studieninterne Nachhilfe; Rechtsgebiet Zivilrecht III, Oliver Bishop.
Vermittelte Studentin: Madison Sanders, 4. Fachsemester, Immatrikulationsnummer 3170380.
»Das ist nicht dein Ernst.« Ich schüttle den Kopf. »Das werde ich nicht machen.«
»Wieso? Wir sehen uns doch sowieso einmal die Woche.«
»Ja, aber das ist was anderes.«
»Irgendwie nicht. Du kommst zu mir, weil davon dein Studium abhängt. Deiner Meinung nach. Aber von Zivilrecht hängt dein Studium doch auch irgendwie ab oder nicht?«
Ich knirsche mit den Zähnen und halte seinem Blick stand. Ein Mädchen, deren Name ich ständig vergesse, kommt an unserem Tisch vorbei. Sie rempelt den Stuhl neben Oliver an und lässt es so aussehen, als würde meine Rechtsprechungszeitschrift dabei auf den Boden fallen. Aber ich habe gesehen, wie sie sie mit der Hand heruntergewischt hat. Oliver hebt sie auf, beachtet das Mädchen aber nicht. Sie wirkt enttäuscht und schlendert weiter zu seinen Jungs, die uns immer noch beobachten.
»Na schön«, sage ich. »Aber unsere Regel bleibt, Oliver. Ich will nicht, dass unsere Freundschaft bekannt wird. Also bitte geh jetzt, und sag deinen Jungs, dass du … keine Ahnung. Mich für meinen Rücken hänseln wolltest oder so.«
Oliver zieht die Brauen zusammen. Er faltet das Stück Papier wieder zusammen und steckt es sich in die Hosentasche. »Das werde ich sicher nicht tun, Maddy. Sorry für deren dummen Kommentare vorhin.«
»Ist egal.« Ich klappe mein MacBook wieder auf, um vorzutäuschen, etwas zu tun.
»Finde ich nicht.« Er greift über meinen Arm hinweg und löscht einen ganzen Absatz in meinem Text, tippt dann einen neuen und schlägt in meinem Gesetzbuch eine neue Norm auf.
Super. Ich bin die ganze Zeit von der falschen Anspruchsgrundlage ausgegangen.
Oliver beugt sich zu mir. »Ich werde ihnen sagen, dass ich Stress mit den Bullen hatte und dich überreden wollte, bei deinem Vater ein gutes Wort für mich einzulegen. Einverstanden?«
»Ja.«
»Gut. Dann sehen wir uns morgen zur ersten Nachhilfestunde. Nach der Uni bei mir.« Damit erhebt er sich und geht zu seinen Jungs zurück, die ihn sofort belagern.
Es fällt mir schwer, nicht immer wieder zu ihnen rüberzuspähen. Schließlich entscheide ich, dass es für heute keinen Sinn mehr macht, an der Seminararbeit zu arbeiten. Mein Kopf ist überall, nur sicher nicht bei schuldrechtlichen Ansprüchen. Also packe ich zusammen und gehe.
Oliver
Ich habe das Kokain in zwei Louis-Vuitton-Reisetaschen verpackt. Eine der Rezeptionistinnen sieht auf, als ich das Foyer durchquere.
»Das sieht schwer aus. Ich kann einen Gepäckträger rufen, der trägt dir das hoch.«
»Danke, nein. Sind nur neue Klamotten. Kein großes Ding.«
Die Rezeptionistin nickt und wendet sich wieder ihrem Computer zu. Ich muss zugeben, dass mein Herz schneller klopft, als ich es gewohnt bin.
Verfluchte Scheiße, das ist krank! Ich schleppe 20 Kilo Koks am helllichten Tag durch das Plaza Hotel, in dem es von versnobten Menschen nur so wimmelt. Wären meine Eltern nicht die Eigentümer und ich hier aufgewachsen, hätte ich diese Aktion im Traum nicht gewagt.
Ich steige in den Fahrstuhl, und die Türen schließen sich. Ich bete, dass Mutter in ihrem Arbeitszimmer hockt und am Telefon mit einem erbosten Kunden diskutiert, der sie vor exakt zwei Minuten angerufen hat, weil er vor Wochen ein Zimmer reserviert hat, das System ihn aber versehentlich rausgekickt haben muss.
Was natürlich nicht stimmt. Der fiktive Kunde ist Enzo und kaut meiner Mutter ein Ohr ab, während er in seinem Zimmer die Scheine irgendeiner Erpresser-Aktion seines Onkels zählt und Family Guy auf stumm nebenherläuft.
Die Türen des Lifts gleiten auf, und mir bleibt die Luft weg. Meine Mutter tigert vor dem Sofa auf und ab, während meine Schwester Grace mit ihrem Mann Logan am Esstisch sitzt. Auf den Knien balancieren sie jeweils einen Chinakarton mit Nudeln. Meine vierjährige Nichte Aubrey liegt auf einem Läufer auf dem Boden und pennt.
Grace und Logan starren mich an. Mutter hat nur einen kurzen Blick für mich über. Als sie die Taschen auf meinen Schultern sieht, verengt sie kurz die Augen, aber sie verhält sich zu professionell, als dass sie dem Kunden am Telefon das Gefühl geben würde, er hätte nicht ihre volle Aufmerksamkeit. Deshalb sagt sie nichts.
Dafür tut es Grace. »Hiermit sende ich offiziell einen Appell in den Himmel, dass irgendein Mädchen dieser Welt meinen kleinen Bruder sexy finden wird, wie er mit zwei Louis-Vuitton-Taschen auf den Schultern durch die Welt spaziert und dabei aussieht wie ein Kind mit übergroßen Schwimmflügeln.«
Logans Mundwinkel zuckt. »Hör doch auf. Ich wette, eine Menge Frauen stehen auf Oliver.«
»Ich bin immer noch hier.«
»Niemand steht auf Oliver.« Grace zieht sich eine Nudel in den Mund. »Er hatte noch nicht eine feste Freundin.«
»Hatte ich vor dir auch nicht«, sagt Logan. Dann nickt er in meine Richtung. »Was ist in den Taschen?«
Holy Shit. Ich merke, wie mir ein Schweißtropfen über den Nacken läuft.
»Klamotten.«
»Uh, pack mal aus.« Grace schiebt ihren Nudelkarton beiseite, um Platz auf dem Tisch zu schaffen.
»Bestimmt nicht.« Mehr sage ich nicht. Ich wende mich ab und gehe mit dem Kokain an meiner Mutter, meiner Schwester, ihrem Freund und meiner Nichte vorbei. Das ist tatsächlich einer der wenigen Momente, in denen ich mich für etwas schäme. Aber wenn Eduardo von mir verlangt, das Zeug zu verstecken, dann komme ich dem nach.
Sie sind meine Familie. Die Mafia. Seit über fünf Jahren. Erst durch sie weiß ich, was es heißt, einander zu vertrauen und was Zusammenhalt und Loyalität bedeutet. Erst durch sie weiß ich, was es bedeutet, eine Familie zu haben, die einander wertschätzt und für jeden den Kopf hinhalten würde.
Sie schenken mir Anerkennung und das Gefühl, gebraucht zu werden. Dafür lasse ich sie nicht im Stich. Keinen von ihnen. In Eduardo sehe ich endlich die Vaterfigur, die ich mir mein Leben lang gewünscht habe. Ich fühle mich gut und angenommen und nicht verurteilt für alles, was ich tue.
Ich fühle mich gebraucht.
In meinem Zimmer schließe ich die Tür hinter mir und werfe die Taschen aufs Bett. Ich ziehe meinen Schreibtischstuhl in die Mitte des Raums, stelle mich hinauf und versuche, das Gleichgewicht zu halten, während ich nach dem kleinen Ring in der Decke greife. Die Treppe zum Dachboden quietscht, als ich vom Stuhl steige und sie Stück für Stück nach unten lasse. Ich bete, dass die anderen davon nichts mitbekommen.
Ich muss zweimal gehen, um die Taschen auf den Dachboden zu schleppen, weil die Luke zu klein ist. Aber dann ziehe ich die Treppe wieder hoch, schalte das Licht ein und unterdrücke ein Niesen, das vom aufgewühlten Staub rührt. Es riecht alt. Nach längst vergangenen Erinnerungen. Mir war dieser Ort noch nie geheuer. Es ist, als lebten hier die Geister längst vergessener Momente.
Ich komme an zwei Paar Inliner vorbei, die Grace und ich bekommen haben, als wir noch kleiner waren. Ihre Räder wirken abgenutzt, weil meine Schwester eine Zeit lang jeden Tag mit den Dingern gefahren ist, aber mein Paar sieht aus, als wäre es nie benutzt worden. Ich erinnere mich, dass ich es zwei- oder dreimal probiert habe, aber jedes Mal endete es mit aufgeschürften Knien, und schließlich hatte ich keinen Bock mehr.
Ich verstaue die Taschen hinter einem großen Spiegel, dem eine Ecke fehlt, und lege vorsichtshalber ein paar alte Gardinen und Bettlaken darüber. Hier sollte das Zeug sicher sein.
Wieder knarrt jeder Schritt auf der Treppe, als ich zurück in mein Zimmer gehe, doch in diesem Moment bringt mich etwas ganz anderes aus der Fassung. Zwei kugelrunde braune Augen starren mich an.
»Aubrey. Was machst du hier?«
»Mommy hat gesagt, du bist in deinem Zimmer.«
Meine Nichte lispelt und verschluckt ein paar Silben beim Sprechen. Manchmal kann ich sie nicht verstehen, aber inzwischen erschließt sich mir das meiste.
»Richtig. Ich war nur kurz … was holen. Für dich.«
Ihre Augen leuchten. »Für mich?«
»Ja. Ähm, Sekunde.« Unauffällig steige ich eine Treppenstufe höher, stecke den Kopf wieder durch die Luke und suche die Gegenstände im Radius von einem Meter ab, und da! – Gott ist mir gnädig – finde ich tatsächlich etwas.
»Hier.« Schnellen Schrittes gehe ich die alte Treppe hinunter und halte meiner Nichte den kleinen Stoffhasen unter die Nase. »Das ist Klopfer. Der hat mal mir gehört. Hilft gegen böse Träume. Jetzt schenke ich ihn dir.«
Aubrey formt ein kleines O mit ihren Lippen und macht den Anschein, als hätte ich ihr gerade den Nobelpreis überreicht. Sie drückt sich den Hasen an die Brust und rennt mit ihren kurzen Beinchen in der Strumpfhose davon. Schnell schiebe ich die Treppe hoch und den Schreibtischstuhl zurück an seinen Platz, als ich auch schon höre, wie Aubrey mit vor Aufregung quietschender Stimme von ihrem Geschenk berichtet.
»Oh, ich erinnere mich an Klopfer«, höre ich Grace sagen. »Oliver ist nie ohne ihn ins Bett gegangen. Manchmal habe ich ihn versteckt, um ihn zu ärgern, und er hat pausenlos geschrien.«
Ich überlege, die Tür zu schließen, weil die Stimme meiner Schwester mich nervt, als ich plötzlich ein leises Kichern höre, das weder zu meiner Mutter noch zu Logan oder Aubrey gehört.
Schneller, als ich es für möglich gehalten hätte, stehe ich am Türrahmen und blicke zum Esstisch im Wohnzimmer. »Madison?«
Sie sieht auf, wobei ihr das dunkle Haar über die Schulter streicht. »Oh, hey. Ich weiß, ich bin ein bisschen zu früh, deshalb dachte ich, du brauchst vielleicht noch kurz.«
Grace schenkt mir ein schnelles Lächeln, das schadenfroher nicht sein könnte. »Keine Sorge. Wir waren höflich zu ihr.«
Das sehe ich. Vor Madison steht ein Margarita mit Schirmchen, und davor sind drei Fotoalben ausgebreitet, die allesamt Babyfotos von mir enthalten. Auf den meisten bin ich nackt oder in Windeln.
Logan hebt beschwichtigend die Hände und hilft dann Aubrey, die auf seinen Schoß klettert und sich eine Nudel aus dem Chinakarton ziehen will. »Ich bin unschuldig. Das war ihre Idee.«
Alle sehen mich an. Vermutlich befürchten sie, ich würde jetzt ausrasten und meine Schwester anbrüllen, dass die Bilder privat sind. Aber es interessiert mich ehrlich gesagt nicht, ob Madison weiß, wie ich als nacktes Baby ausgesehen habe oder nicht. Es würde mich nur nerven, wenn ich auf sie stehen würde. Aber das tue ich nicht. Ich habe sogar vergessen, dass sie heute zur Nachhilfe kommt.
Keine Ahnung, ob ich überhaupt schon mal auf jemanden stand. Vielleicht auf Enzos Cousine Maria vor zwei Jahren, aber da hat er mir gleich den Wind aus den Segeln genommen und mir geraten, sie nicht mehr auf diese Weise anzusehen, wenn ich meinen Kopf behalten wollte. Außerdem war sie irgendeinem hochrangigen Mafiosi versprochen.
Ich trete einen Schritt beiseite und winke Madison durch meine Tür. »Komm.«
Sie sieht von ihrem Margarita zu mir und wieder zurück, ehe sie die Achseln zuckt, das Glas in einem Zug leert und sich schließlich erhebt.
Meine Schwester gibt einen theatralischen Seufzer von sich und sinkt in ihrem Stuhl zusammen. »Tut mir leid, Madison. Viel Spaß in der Höhle des Grauens. War schön, dich kennengelernt zu haben.«
Maddy kichert – »fand ich auch!« –, und ich bin froh, als ich endlich die Tür hinter uns schließen kann und dieses Gelaber ein Ende hat.
Ich wühle meine Unterlagen vom Schreibtisch zusammen und lege alles auf den Boden, damit wir uns ausbreiten können. »Sorry, hab vergessen, dass du kommst.«
»Soll das ein Witz sein? Ich bin doch nur hier, weil du meintest, die Nachhilfe sei nicht mehr rückgängig zu machen!« Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Da hätte ich auch zu Luke gehen können.«
»Klar. Nachdem er dich abserviert hat.«
»Er hat mich nicht abserviert!«
»Er hat dir Karten abgezockt, die du für euch gekauft hast. So was nennt man abservieren. Ergibt sich aus dem Verhalten. Ist konkludent. Wollen wir da ansetzen? Bei einer konkludenten Willenserklärung? Dann verbindest du dein Privatleben mit dem Lernstoff, wie schön, findest du …«
»Sei still.« Madison setzt sich zu mir auf den Läufer und funkelt mich an. »Ich weiß, was konkludent bedeutet.«
»Dann erklär mal.«
»Bei einer konkludenten Willenserklärung lässt sich der Geschäftswille mittelbar aus dem Verhalten entnehmen, obwohl unmittelbar ein anderer Zweck verfolgt wird.«
»Immerhin. Erstes Semester kannst du schon mal. Müssen wir nur noch drei aufholen.«
»Warum bist du so ein verfluchter Scheißkerl, Oliver?«
Ich strecke meine Beine aus und lehne meinen Rücken gegen mein Bett. »Bin ich nicht. Nur ehrlich. Wärst du nicht so schlecht in Zivilrecht, würdest du jetzt nicht hier sitzen.«
»Gut. Bin ich halt schlecht.« Madison greift nach einem Handventilator, der auf meiner Kommode liegt, und inspiziert die einzelnen Rotorblätter. Dabei bleibe ich einen Moment zu lange an ihrem Gesicht hängen, weil die Deckenlampe das Licht in ihren Augen reflektiert und ich kurz nicht imstande bin, wegzusehen. Enzo hatte recht. Madison hat wirklich krasse Augen. Wie ein Husky. Verrückt.
»Warum starrst du mich so an?«
Ich blinzle. »Tue ich nicht.«
»Natürlich starrst du.«
Jetzt weiß ich wieder, wieso ich nicht auf sie stehe. Sie nervt. Madison ist eine gute Freundin. Ich könnte mir nicht vorstellen, wie langweilig mir ohne ihre regelmäßigen Besuche werden würde. Wir können uns Scheiße erzählen und uns voreinander verhalten, als wären wir allein. Wir werfen uns zu unserem Vergnügen Schimpfwörter an den Kopf, ohne es wirklich ernst zu meinen, und wissen viel zu viel voneinander. Alles, was eine Freundschaft ausmacht.
Aber nicht mehr. Madison und ich, das wäre … komisch.
»Gut, lass uns anfangen. Was bereitet dir am meisten Schwierigkeiten?«