Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer

Markus Maeder

Vom Herzchirurgen
zum Fernfahrer

Der Spurwechsel des Dr. med. Markus Studer

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© Wörterseh, Lachen

Wörterseh-Bestseller als Taschenbuch
1. Auflage 2020

Die Originalausgabe erschien 2008 als
Hardcover mit Schutzumschlag

Lektorat: Claudia Bislin
Korrektorat: Andrea Leuthold
Fotos Bildteil: Matthias Just (Fotos von Markus Studer sind gekennzeichnet)
Foto Cover: Marcel Studer
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina
Karte: Sonja Schenk
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner, Buchherstellung
Lithografie: Tamedia Production Services
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel

ISBN 978-3-03763-316-8 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-03763-005-1 (Originalausgabe, vergriffen)
ISBN 978-3-03763-518-6 (E-Book)

www.woerterseh.ch

»Nur wer seinen eigenen Weg geht,
kann von niemandem überholt werden.«

Marlon Brando

Inhalt

Vorspiel im Festsaal

Sonntagabend

Asphaltfresser

Montag

Lugano – Genua – Lugano

Lehrfahrt

Hobby und Beruf

Hafenromantik

Walo lädt ab

Torturen vor Tortona

Der Traum vom großen Geschirr

Dienstag

San Bernardino

Nur noch bergab

Warten

Trucker-Elend

Mittwoch/Donnerstag/Freitag

Hauseckenfahrten

Tanken

Kunstfehler

Die Metapher vom halb vollen Glas

Im Dschungel der Gesetze

Euroklassen, Lohndumping und Dieselabgaben

Wolfgang und die »Drei Eidgenossen«

Samstag/Sonntag

Kleine Autobiografie

Aufstieg nach Samedan

Knochenschlosser Noldi Huggler

Zeitmanagement

Christiaan Barnard und Ake Senning

Birmingham, Alabama

Das Herzzentrum Hirslanden

Ein Auto zur Belohnung

Mehr Power für eine Superzeit

Montag

Olten – Aachen

On the Road Again

Schlafapnoe

Rollen, plaudern

Downshifting. Paradigmenwechsel

Dienstag

Aachen – Amsterdam – Luxemburg

Fernweh

Seekrank

Filefrij

Steigungen, Neigungen

Windhaff

Mittwoch

Luxemburg – Gruyère

Plädoyer

Kleiner Zoll

Zwangspause

Donnerstag/Freitag

Gruyère – Eppelheim

La donna è mobile

Radio Googoo, Radio Gaga

Autobahn zurück in die Zukunft

Autohof

Das Nachwort

Vorspiel im Festsaal

»Zwanzig Jahre am Puls« stand auf der Einladungskarte. Es war ein herzlicher, würdiger Akt, mit dem der runde Geburtstag des Herzzentrums Hirslanden gefeiert wurde. Das Kongresszentrum Lake Side, direkt am See inmitten des größten Zürcher Parks, gab den gebührenden Rahmen ab. Damen und Herren in Kammgarn, Samt und Seide stießen in einem Frühlingsblumenmeer auf das Erreichte an. Es gab Champagner und Reden zum Thema Medizin im Spannungsfeld von Forschung, Qualität und Ökonomie. Jubiläen seien stets ein Anlass zu selbstbewusster Rückschau und Vorschau, erklärte der Leiter der renommierten Privatklinikgruppe: »Die Bilanzierung des Erreichten formt zusammen mit einem Blick zurück die Gegenwart und gibt die Gestaltung der Zukunft vor.« Wohin das bei jedem Einzelnen führt, ist das nicht eine der Fragen, die sich jeder mal stellt und selten gültig beantworten kann? Eine Frage, die sich einer der Feiernden einmal noch entschiedener als andere gestellt hat. Ohne dass der Name Markus Studer fiel, wandten sich die Blicke des großen Auditoriums verstohlen Richtung rechte vordere Mitte, wo ein stattlicher Herr aufrecht sitzend im dunklen Anzug die Beine übereinanderschlug.

Dann fasste der Redner die Daten und Fakten zusammen: »Kaum ein anderes Ereignis führt den erfolgreichen Werdegang und die heutige Präsenz des Herzzentrums Hirslanden so klar vor Augen wie dieses Jubiläum. Während zweier Dekaden vermochten die Gründer und deren Nachfolger die ursprüngliche Idee eines Kompetenzzentrums für Kardiologie und Herzchirurgie auf einer privatwirtschaftlichen Basis erfolgreich umzusetzen und dem Herzzentrum dank höchstem Engagement und persönlicher Hingabe ein eigenes Gesicht zu verleihen und den Erwartungen von Medizin, Wissenschaft, Betriebsökonomie und Humanität gleichermaßen gerecht zu werden. Heute, nach zwanzig Jahren, zeigt sich das Herzzentrum als führendes und hoch qualifiziertes Unternehmen von beinahe einzigartigem Rang, das insbesondere von Kompetenz und Persönlichkeit gekennzeichnet ist.«

Das Publikum ließ sich die Preisung der Leistung, zu der die meisten persönlich beigetragen hatten, nicht ungern gefallen. Powerpoint rückte eine Reihe von Kurven und Kuchendiagrammen in den Mittelpunkt des Geschehens. Die zugrunde liegenden Zahlen sprechen für sich. Innert kurzer Zeit war das Team der fünf Gründer auf über zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewachsen. Der Redner sagte: »So durften in den letzten zwanzig Jahren über 53 000 Patienten behandelt und 12 269 Herzoperationen, 32 012 Herzkatheteruntersuchungen, 11138 perkutane koronare Interventionen mit 6451 Stenteinlagen sowie 1633 Schrittmacherimplantationen durchgeführt werden.«

Es erging ein Dank an alle, ohne deren Einsatz und Unterstützung eine solche Leistung nie hätte erbracht werden können. Nicht zuletzt an die treuen zuweisenden und weiterbetreuenden Kollegen. Zuallererst indessen an die fünf Herren Doktoren Gründungspartner. Der Redner fuhr fort: »Zu ihnen zählt seit der ersten Stunde der Herzchirurg Markus Studer.« Ein Räuspern, Köpfedrehen und Sesselrutschen ging durch den Saal. »Markus Studer spielte eine entscheidende Rolle in der Embryonalzeit des Zentrums sowie als sein Leiter in den letzten fünf Jahren seiner Tätigkeit.« Auf ein Handzeichen erhob sich der Geehrte. »Seine Leistungen sind nicht hoch genug einzuschätzen. Leider hat er uns nach sechzehn sehr erfolgreichen Jahren verlassen.« Markus Studer schaute in die Runde und verneigte sich mit Schalk im Blick. »Er hat sich vor vier Jahren entschieden …« – und schon ging ein zustimmendes Lachen durchs Auditorium. Applaus dem Helden, der seinem Herzen folgte und seine eigenen Wege ging.

Sonntagabend

Asphaltfresser

»Ich weiß das Datum noch so gut wie meinen Geburtstag. Am 16. Februar 1987 eröffneten wir das erste integrale Herzzentrum in Europa: ein Meilenstein in meinem Leben. Wenn ich noch ein zweites Mal Geburtstag hatte, dann am Tag, als ich in meinen Sattelschlepper umstieg. Am 1. Mai 2003 bin ich Meilenfresser geworden.«

Markus Studer

Eine Fahrt vom Mittelmeer an die Nordsee ist kaum ein Ereignis, aber wenn vor dem Fenster ein Leben vorbeizieht, oder zwei, kann man doch einen Blick darauf werfen, besonders aus der höheren Warte eines Sattelschlepperfahrers. Das Geschirr, wie Markus Studer in nostalgischer Fuhrhalterseligkeit sagt, wartet an einem späten Sonntagabend im April in Lugano-Manno auf uns: hinter Maschendraht, zwischen weitläufigen Lagerhäusern und Siloanlagen im Dunkel des Neumonds. Nichts bewegt sich, auch nicht in der nahen BP-Tankstelle, nichts ist zu hören, es sei denn hie und da das einsame Zirpen früher Grillen. So sehen die Orte aus, an denen in Krimis Morde passieren.

»Markus Studer, Internationale Transporte« steht quer über dem Kühlergrill, Schneeweiß auf Blutrot. Der Chromstahl des Aufliegers ist auf Hochglanz poliert, das ist selbst im Dunkeln erkennbar. Markus sagt: »Unter uns Truckern sagt man sich du.« Ich bin gerührt, dass er mich gleich mit in seinen Kreis aufnimmt, und sage, auch ich heiße Markus. Schön. Dann schreitet er auf seinen Mercedes zu wie auf eine Geliebte, die er kurz zuvor verlassen hat und die wiederzusehen er kaum erwarten kann. Noch aus dem Schwung der Bewegung heraus tritt er mit dem Fuß gegen einen der Reifen, geht von Rad zu Rad, und weiter von Detail zu Detail, auf allen vier Seiten: »Man weiß nie, ob noch alles dran ist. Die Heckleuchten, die Spiegel. Der Reifen sah etwas platt aus von Weitem, aber es scheint nichts geklaut worden zu sein, alles okay.«

Weil er am Freitag noch im französischen Zentralmassiv unterwegs gewesen und dann abends um zehn an den Schweizer Ruhezeitbestimmungen hängen geblieben war, wie Unkraut in einem Rechen, musste Markus am Samstag per Bahn von Lugano heim nach Zürich fahren. Jetzt drückt er auf den elektronischen Schlüsselhalter. Die Geliebte, die nun mich neben ihm zu dulden hat, begrüßt uns mit einem Klicken und einem Blinzeln der geröteten Augen ihrer Blinklichtanlage. Augenblicklich ist das riesige, ruhende Wesen hellwach und heißt uns mit offenen Türen willkommen. Der Fußboden der Kabine liegt etwa auf Augenhöhe, und der Weg von draußen nach drinnen führt über eine senkrechte fünfsprossige Leiter. Der Türgriff liegt nur wenige Zentimeter über der Türschwelle, die liegt allerdings so hoch über dem Rad, dass ich mich zum Öffnen strecken muss wie ein Kind an der Haustür. Ich suche an der senkrechten Treppe Halt für Hände und Füße, irgendwie kriege ich im Dunkeln den Schlafsack aus der Tasche, schlüpfe aus den Hosen und hinein in die Pritsche, die mir so eng vorkommt wie ein Schuh.

Montag

Lugano – Genua – Lugano

Warum wir schon bei der ersten Dämmerung aufstehen müssen, begreife ich erst allmählich im Laufe der Woche. Das tückische Regelwerk, dem das Gewerbe der Fahrenden Genüge tun muss, verlangt es so, das weiß ich irgendwie aus den Medien. Aber warum Markus sich keine Privilegien gönnt, lässt sich nirgends nachlesen. Vier Jahre ist es her, seit er umsattelte, sich auf dem Höhepunkt seiner Medizinkarriere eine Zugmaschine kaufte und mit einem Auflieger kreuz und quer durch Europa zu ziehen begann. Warum? Auf mich wirkt es, als hätte er das schon immer gemacht. Während er auf der kleinen Stehfläche zwischen den Sitzen den Hosengurt festzurrt, werfe ich einen Blick auf die Szene rundum.

Das fast mediterrane Tessiner Morgenlicht verzaubert das Grau in Grau der Lagerhallen und Lastwagenparkplätze in eine Palette von Goldtönen und taucht die Kabine in den samtenen Glanz eines Thronsaals. Der König der Landstraße und ich sitzen auf luftgefederten, ergonomischen Sitzen. Wir haben Kühlschrank, Fernseher, alles ist da, sogar Gardinen zum Ziehen, wie es sich für ein richtiges Häuschen gehörte, bloß eine Toilette fehlt – was sich gegen Morgen unangenehm bemerkbar macht.

Als Markus in Jeans und T-Shirt mit einer Plastikflasche Mineralwasser aus der Kabine springt, über den ölverfleckten Asphalt geht, um sich bei Sonnenaufgang drüben am Rand zur Wiese beim Maschendraht die Zähne zu putzen, und seine große, schlanke Gestalt einen langen Schatten wirft, streift mich eine Ahnung: Da geht einer, der das Erbe von Lucky Luke, dem guten alten Lucky Luke, in sich trägt, Tag für Tag auf seinem Klepper zu einem fernen Glück jenseits des Horizonts unterwegs, stets erkennbar an jenem schmalen Strich zwischen Himmel und Erde und an einer Zigarette im Mund.

Markus kommt mit Walo vom Zähneputzen zurück. Walo fährt wie Markus flüssige Lebensmittel für die Firma Transfood, wie der Schriftzug auf dem Auflieger zeigt. Walo soll uns heute mit seinem Sattelschlepper nach Genua begleiten und wieder zurück nach Lugano-Manno. So heißt der Ort, wo wir jetzt stehen. Jetzt warten wir, bis das Sonnenblumenöl aus unseren Tanks in die Silos hier abgepumpt ist. Das kann noch etwas dauern, und jede Minute, die wir warten, ist für die Kasse der Fahrer verschenktes Geld.

»Kennst du Genua?«, fragt Markus Walo. Ich freue mich auf wertvolle touristische, kulinarische oder kulturelle Tipps eines alten Europakenners.

»Zweimal war ich dort«, sagt Walo auf irgendwie Süddeutsch, »das letzte Mal war prima. Morgens früh hier laden, weg, verzollen, abladen, und abends gegen sechs stand ich in Horn am Bodensee vor dem Tor.«

Markus steckt sich die erste Zigarette an.

»Du rauchst wieder?«, sagt Walo.

»Waldluft«, sagt Markus, »Dunhill mit Menthol.«

»Na gut, du bist der Doktor, du musst es wissen.« Walo dreht einen Gabelschlüssel zwischen den Fingern. »Reinigen musst du nicht in Mailand.«

»Wo denn?«

»Nirgends, wir laden ja in Genua wieder das gleiche unappetitliche Zeug, das wir hier abladen. Mit dem gleichen dicken Bodensatz.«

»Sonnenblumenöl roh«, sagt Markus, »Lebensmittel.«

»Na und, das kontrolliert in Genua kein Schwein.«

»Meinst du, wir schaffens auch heute Abend bis Horn?«

Nach einer alten Regel der Kino-Dramaturgie sind Dialoge nicht der Rede wert, es sei denn, unter dem Tisch brenne eine Zündschnur. Das fällt mir ein, als sich die beiden so wortkarg den Tag zurechtlegen. Und ich habe den Eindruck, da knistere etwas, aber ich weiß nicht, was. Wahrscheinlich höre ich die Zeit zerrinnen und das Einkommen zerfressen. Auf einer Betonwand steht in schwarzer Farbe gesprayt: »Hic leones sunt. A. C. Milan«.

Walo vibriert vor Morgenfrische. Er hat übers Wochenende ganz allein in seiner Kabine gewohnt, weil sich der Weg zu seinem Wohnort Singen und zurück nicht gelohnt hätte – und er scheint es genossen zu haben. Er holt eine massive Spiegelreflexkamera aus seinem Auto, dessen Auflieger noch länger ist als der unsere, und zeigt uns die Früchte seines Müßiggangs auf dem Display. Mit dem Makro hatte er Marienkäferchen, einen Feuersalamander und eine Hummel fotografiert, die sich so weit in eine Sumpfblüte verkriecht, dass nur noch ihr geringeltes Hinterteil aus den Staubblättern guckt. Nicht weit hinter dem Parkplatz hat Walo eine soooolche Forelle in einem Flüsschen entdeckt.

»Das ist der Ticino«, sagt Markus. Einen Augenblick lang stellen wir uns diese Forelle brutzelnd in der Bratpfanne vor. Markus schaut beiläufig auf die Uhr, tritt etwas unruhig von einem Fuß auf den andern und klappert mit dem Zündschlüssel. Wenn wir nicht in Genua oder auf dem Heimweg am Zoll in Chiasso stecken bleiben wollen, sollten wir bald aufbrechen. Aber noch sind die beiden Autos erst halb entladen. Sie stehen vor einem Silo und werden immer noch leer gepumpt. Mit dem Sonnenblumenöl fließen auch die Minuten dahin. Ich begreife, dass Fahren zwar die schönste, aber nicht die einzige Truckerpflicht ist. Um uns die Zeit bis zum Start totzuschlagen, gehen wir alle für Kaffee und Cornetti hinüber in die Tankstellenbar. Dort säuselt Roberta Flacks Stimme:

Strumming my pain with his fingers,
Singing my life with his words,
Killing me softly with his song,
Telling my whole life …

Der Charme des Girls an der Bar verpufft wirkungslos an ein paar Latzhosen-Männern, die schlapp und ausdruckslos über der »Gazzetta dello Sport« hängen. Danach hämmerte It’s a Man’s World in den Montagmorgen, der so heraufschleicht wie ein Sattelschlepper an einer gröberen Steigung. Als die Tanks endlich leer sind, ist in den Kaffeebechern schon lang nichts mehr drin. Markus knistert vor Energie. Von Weitem klickt er die Tür auf, um seine Geliebte zu wecken, und schwingt sich die fünf Tritte hoch Richtung Sitz. Noch bevor er ganz oben ist, greift er mit langem Arm um die Lenkkonsole herum, um dem Sekundenzeiger vorauszueilen und unverzüglich den Motor anzuschmeißen. Ein sattes Brummen steigt aus den Eingeweiden des Gefährts auf, während die Hydraulik unter unseren Thronen allmählich Druck aufbaut, sodass wir in einer Art Levitation sanft noch ein paar Zentimeter höher schweben. Und los gehts, hinter Walo her.

Lehrfahrt

»Schau, obs rechts gut ist«, sagt Markus. Bei der Ausfahrt aus dem Lagergelände kann er von seinem Platz aus die Einmündung rechts hinten nur schwer überblicken. Ich drücke auf den Scheibenknopf und strecke den Kopf aus dem Fenster. Die Straße ist übersichtlich und schnurgerade. Es ist »gut« fast bis zum Horizont. Dort flimmert etwas Chrom in der Sonne. Ich sage: »Rechts ist gut.« Bis Markus Gas gegeben, am Lenkrad gekurbelt und den Auflieger in unserem Rücken ganz um die Kurve gezogen hat, wartet das flimmernde Chrom in Form eines Opel-Kapitän-Oldtimers stehend darauf, wieder Fahrt aufzunehmen. So schnell steht man im Weg, wenn man so lang und langsam ist wie ein Sattelschlepper.

Von so hoch oben kommt mir alles ziemlich unwirklich vor, wie damals in den ersten Fahrstunden, mit zwanzig, als mir die Fahrzeuge mit ihrem Gewicht und ihrer Energie, die Scheiben und die Spiegel bloß virtuell vorhanden zu sein schienen. Ich hätte sie wie in den einfachen Computerspielen, die in den Spielsalons damals die Jumbo-Flipperkasten abzulösen begannen, ohne mit der Wimper zu zucken, rammen und umstoßen können, und wenn ich mein virtuelles Leben verwirkt hätte, für eine Scheidemünze von Neuem beginnen. Bloß vor den Lastwagen hatte ich damals etwas mehr Respekt. Jetzt, an Markus’ Seite, ändert sich die Perspektive, aus der Position der Stärke heraus haben die kleinen Fahrzeuge etwas Bedeutungsloses, Seelenloses, Vernachlässigbares an sich. So etwa könnten in vergangenen Zeiten die Ritter hoch zu Ross das gemeine Fußvolk eingeschätzt haben. Eine Dosis Sporen, und die Meute stob auseinander.

Drei Ampeln und eine Baustelle später habe ich mich ans Privileg der großen Übersicht gewöhnt. Der Rest ist Rollen. Leer, wie wir sind, rollen wir vorbei an gelangweilten Beamten durch den Personenwagenzoll in Chiasso, Richtung Italien, während sich die Beladenen von Norden wie von Süden her in kilometerlangen Kolonnen mühselig Richtung Schranke quälen.

Wir rollen durch die letzten Tunnels der Alpenverwerfungen und hinunter in die Poebene, wo sich der dichte Verkehr von der Schweiz her in die Breite der Autobahnen um Mailand ergießt. Von unserem Hochsitz aus kommt es mir vor, als ständen wir still und rollte die Erde unter uns weg. Links und rechts und vorne und hinten wimmeln die kleinen, lebendigeren Blechgeschöpfe um unsere Behäbigkeit herum, als wären wir ein Elefant. Schon bei leichtester Steigung scheinen wir noch größer, noch behäbiger zu werden: ein Mammut.

Von hinten und schräg oben betrachtet, wirken Personenwagen wie ein Schwarm von Insekten, die sich nach unergründlichen, immer wieder überraschenden Mustern bewegen. Jederzeit kann eines zu einem tödlichen Angriff ansetzen. Trucks folgen leichter erkennbaren Gesetzen. Rechte Spur, Einerkolonne, 89 km/h. Wenn einer nicht mithalten kann, setzen die schnelleren zum Elefantenrennen an. Es lebe die Steigung. Sie selektioniert. Asphaltfresser. Kilometermillionäre. Noch mal vier Jahre, und auch Markus wird zu ihnen gehören.

Natürlich ist die Fahrt ein Genuss. Der Thron mit allen Schikanen der Ergonomie, die göttliche Übersicht über das Gewimmel, ein Hochsitz, man fühlt sich als Jäger mit Lizenz, Radler, Fußgänger und anderes Niedrigwild straflos abschießen zu dürfen. Das alles führt zu einer Art Trance, die sich unter den wohligen Vibrationen des Motors in Gebiete des Körpers verteilt, die mit anderen Mitteln kaum zu erreichen sind.

Wir rollen weder schnell noch langsam, sondern am äußersten Limit. Achtzig ist gesetzlich erlaubt, doch kaum ein Trucker, der seinen rechten Fuß nicht schwer auf das Pedal abstützt und damit genau die 89 km/h erreicht, auf die jeder Vierzigtönner amtlich geeicht ist. So bummeln und brummeln die Elefanten unablässig in Einerkolonne hintereinander her, kreuz und quer durch Europa, und wenn einer doch etwas mehr mag, ein anderer auf 87 oder 88 blockiert ist, kommen die schier endlos scheinenden Elefantenrennen ins Rollen.

Das Gefühl, dem anderen überlegen zu sein, ist mit vierzig Tonnen Gold nicht aufzuwiegen.

Hobby und Beruf

Markus und ich können stundenlang fahren und schweigen. Im Herzklopftempo scheppert von der Stereo-Bordanlage so etwas wie

All we hear is Radio Gaga Radio Googoo Radio Gaga
All we hear is Radio Gaga Radio Blahblah

Von Chiasso bis weit um Mailand herum zieht sich links und rechts der Autobahn die Agglomeration bis hin zum Horizont. »Nichts Schönes, wirklich nichts Schönes«, sagt Markus, und ich sage, um etwas zu sagen, in ein paar Jahren könnte die Poebene eine von Autobahnen durchzogene Betonfläche wie etwa der Großraum von Los Angeles werden.

Die vier Rückspiegel rechts vervierfachen die Hässlichkeit in grotesker Verzerrung – und behalten in Selbstbespiegelung das eigene Blechkleid aus allen möglichen Winkeln im Blick. Es gibt den Seitenspiegel, den Weitwinkelspiegel und den Rampenspiegel, der die Sicht von oben aufs Rad der Vorderachse erlaubt. Darin kann ich die Fahrspur verfolgen und staune, wie passgenau Markus Kilometer um Kilometer dem Randstrich entlangfahren kann.

Der Totwinkelspiegel unten rechts von der Frontscheibe zeigt Fahrräder und Fußgänger, die sich hinter dem Blech der Tür und den fünf Einstiegsstufen verbergen. Niedrigwild, das sich nahe an der Front aufhält oder nahe seitlich der Kabine parallel mitfährt, lebt gefährlich. Auch das ein Grund, warum einen in der Kabine immer ein bisschen die Angst begleitet. Um Kinder zu sehen, die hinter dem Auflieger spielen, schaltet mit dem Rückwärtsgang automatisch eine Kamera ein. Es wäre zu schlimm, sich aus Unachtsamkeit schuldig zu machen. Doch sieht die Kamera auch unter die Karosserie? Markus sagt, nein.

Drei Raststätten früher hat das Navigationsgerät Stau um Mailand angezeigt. Nun ist die Meldung weg. Auf einen Stau auflaufen gilt für Markus wie für jeden Fernfahrer als persönliche Schlappe. Mit etwas Voraussicht lässt sich das vermeiden, davon ist Markus überzeugt. Es sei denn, die Ausweichstraßen seien für den Schwerverkehr gesperrt. Aber bis jetzt läuft alles rund. Mit etwas Glück können wir heute tatsächlich noch laden in Genua, denn eben ruft Michi von Transfood aus Frauenfeld an. Michi ist der Disponent einer Flotte von über einem Dutzend Fernfahrern und meldet, dass wir die Tanks nicht zu reinigen brauchen. Die Zeitersparnis verlängert den Tag um zwei bis drei Stunden.

Wir rollen und rollen, bummeln und brummeln in gebührendem Abstand hinter Walos Heck her. Nach Mailand wird die Agglo allmählich zur Landschaft. Reis und Raps folgen sich in rechtwinkligen Flächen, die sich in der Perspektive zu Trapezen verziehen, darüber Hochspannungsleitungen unter einem schweflig diesigen Himmel. Area Servizio, Total Servizio. Gelati Motta. An den Wiesenböschungen blüht der Klatschmohn fast im gleichen Rot wie unser Blechkleid.

Später, in den zerklüfteten Hügeln, welche die Poebene von Genua trennen, heulen drei Polizeiautos mit Vollgas und Blaulicht an uns vorbei. Markus scheint eine Rechnung offen zu haben, sei es mit der Polizei, sei es mit Italien überhaupt. Er sagt: »Wahrscheinlich fahren sie zum Mittagessen.« In den Serpentinen, hinunter Richtung Genua holen wir sie wieder ein. Sie haben bei einem Brückenkopf geparkt, beugen sich über das Geländer und schauen, immer noch bei Blaulicht, unverwandt hinunter in eine endlos tiefe Schlucht. Die Fantasie serviert mir andere Geschichten als die vom Mittagessen.

Um mich für den Panoramablick auf Genua etwas zurückzulehnen, heble ich an der Mechanik des Sitzes. Unser Mercedes ist wie ein Hightech-Gerät bis zum Rand mit Elektronik gefüllt. Unversehens macht die Heizung Feuer unter dem Arsch, mitten in diesem schwülwarmen Tag.

»Du hast den falschen Knopf erwischt«, sagt Markus.

»Ja klar, aber welcher ist der richtige? Es gibt so viele Knöpfe, so viel zu lernen.«

Markus lacht durch die Frontscheibe in einen imaginären Fluchtpunkt: »Das ging mir genauso, das hält einen frisch. Als ich auf den Sattelschlepper umstieg, das ist jetzt vier Jahre her, hatte ich zuvor einen Crash-Kurs in Fernverkehr zu bestehen. Erst fuhr ich jede zweite Woche. Seit bald zwei Jahren, nachdem mein Kumpel ausgestiegen ist, Woche für Woche. Fünfzig Wochen im Jahr. Ich lernte von Kollegen und von den eigenen Fehlern. Unterdessen kann ich eine halbe Million Kilometer Erfahrungen weitergeben.«

Ich rechne kurz: »Bei einem Erdumfang von vierzigtausend Kilometern wärst du ein gutes Dutzend Mal rund um die Erde gefahren.«

Markus sagt nach einer Weile: »89 km/h sind keine Geschwindigkeit, aber in vier Jahren kommt man damit doch ziemlich weit.«

Später sagt er unvermittelt: »Einfach ein schönes Gefährt.«

Ich nicke: »Man kann süchtig werden nach diesem Fahrgefühl.«

Wieder lacht Markus durch die Frontscheibe.

Hafenromantik

Genua hat nichts von seiner sperrigen Hässlichkeit verloren, seit ich zum letzten Mal dort war. Verwitterte, von Feuchtigkeit, Öl und Ruß zerfressene Fassaden der grob hingeklotzten Gebäude, die fast auf Griffweite an die Serpentinen der holprigen Autobahn am Rand der Berge heranreichen.

»Möchtest du so wohnen?«, fragt Markus und schüttelt den Kopf. Nun meldet sich Walo, der uns immer noch vorausfährt, über Handy: »Habt ihr das gesehen?«, ruft er fröhlich. »Die hängen die Wäsche zum Trocknen raus. Stellt euch das vor. Die ist so toxisch, wenn sie die wieder anziehen, fällt ihnen die Haut in Fetzen vom Leib.«

In der Stadt wartet Walo auf uns, führt uns zielstrebig zum Hafen. Markus schaut auf sein Navigationsgerät. Es weist uns den genau gleich verschlungenen Weg um Lagerhallen, Siloanlagen und abgestellte Güterwagen herum. Die einzige sichtbare Orientierung bietet die Laterna di Genova, der mächtige alte Leuchtturm am Hafenrand. Wir kurven hinter Walos schwer schaukelndem Auflieger her, über Schlaglöcher, um verbeulte Container, gespenstisch kaputte Fassaden, um Berge von Schrott herum, auf einen Parkplatz am Rande eines zerbröselnden Backsteingebäudekomplexes. Die Tanks stehen wie überdimensionierte rostende Konservendosen vor der Kulisse des mediterranen Himmels. Markus parkt rückwärts nach allen Regeln der Kunst, sauber mit Walo koordiniert, der Pas de deux eines Sattelschlepperballetts.

Unsere Lagertanks stehen unmittelbar am Hafenbecken, wo die Fähre nach Algerien und die großen Kreuzfahrtenschiffe zum Auslaufen bereit liegen. Das Blau des Wassers und die schneeweißen Rümpfe gaukeln den Hauch einer besseren Welt vor. In den Lärm der Lastkräne und den Geruch der Dieselabgase mischt sich der Geruch von Sonnenblumen, als wiegten sich ihre Blüten goldgelb bis hin zum Horizont im Wind. Wer weiß, woher unsere Ladung für Horn am Bodensee kommt, vom Schwarzen Meer oder von der Ukraine? Häfen, denke ich, Häfen sind ja auch so Herzen. Sie pumpen Rohstoffe in die Fabriken und pumpen Waren aus den Fabriken hinaus in die Märkte der Welt, zu ihrer Endbestimmung in den Verbrennungsanlagen.

Es gibt eine ganze Reihe von Schläuchen, durch die wir unser Sonnenblumenöl hätten einfüllen können, aber nur eine der Pumpen ist in Betrieb. Nichts zu machen. Mittagspause. Im Dauerrennen, das Trucker im Kampf um Minuten gegen die Uhr fahren, ist gegen Italien nichts zu gewinnen. Markus erledigt die Formalitäten an einem Schmuddelschalterchen in einer zugigen Schattenecke und übersetzt für Walo. Im Übrigen sucht Walo eine Antwort auf die Frage, wo er tanken kann. Als Angestellter von Transfood muss er bei Tankstellen der Marke Q8 Oils auffüllen, weil Transfood bei dem Label Verträge zu günstigen Konditionen hat. Markus ist Selbstfahrer. Er wirtschaftet auf eigene Rechnung, auch beim Diesel.

»Gibt es nicht in Tarragona Q8?«, fragt Walo.

Markus denkt kurz nach: »Meinst du vielleicht Tortona?«

Walo windet sich. Die Verwechslung ist ihm peinlich: »Dieser Hafen macht mich konfus.«

Walo lädt ab

Walo und ich setzen uns auf zwei rostige Poller am Quai, während Markus wieder mit Papieren von Schalter zu Schalter unterwegs ist. »Der Markus ist spitze«, sagt Walo unvermittelt ins Blaue des Wassers hinaus, »er hat das so richtig angenommen von uns, das, hm, Proletarische. Absolut solidarisch. Echt.« Walo sagt oft »echt«, obwohl er keinen Verdacht der Unechtheit erweckt. Aber wenn es um Markus geht, fühlt er sich zu Nachdruck verpflichtet: »Markus ist wie wir. Sogar noch mehr. Er ist einer von uns – und die Respektsperson, die kühl und unbestechlich zwischen den Parteien vermittelt. In seiner ruhigen Art holt er für uns immer wieder mal was heraus: beim Spediteur, beim Verband, bei der Polizei, beim Zoll. Einer wie er ist Gold wert für uns. Und wir – wir sind ja fast, das kann man schon sagen, Geächtete, Aussätzige, am Rand der Städte, wir stinken nach Pisse, nach Scheiße und Diesel, denkt mancher, ohne uns näher zu kennen. Wir haben herzuhalten als Sündenböcke für Staus, für die Verstopfung der Straßen, für den Klimawandel … Einfach für alles. Man hält uns für die Parias der Gesellschaft, die Aussätzigen, die an den Rand der Städte in Dauerquarantäne gehören. Einunddreißig Jahre auf dem Bock sind genug, jetzt höre ich auf, bevor ich nicht mehr sitzen kann.«

Markus hat mich gewarnt, dass Walo stets vom Aufhören redet, obwohl er weiß, wie schwierig es ist, sich von einer so langen Gewohnheit zu trennen, auch wenn er sie als schlechte Gewohnheit, ja fast als chronische Krankheit bezeichnet. Irgendwie versteht er es, seinen Frust zur Freude an der bunten Vielfalt des wirklichen Lebens zu verdichten. Er sieht mir wohl an, dass ich seinen Ausbruch für einen Ausdruck von momentanem Verleider und sein Schimpfen und Klagen eher für ein Stilmittel der Unterhaltung halte.

Walo sagt: »Die Politiker treten auf uns herum, wir werden schikaniert und zur Kasse gebeten, auf Gedeih und Verderb. Ich geb dir ein Beispiel. Mit Sensoren quer über die Straße messen sie deinen Achsdruck.«

»Meinen waaas?«, frage ich.

»Deinen Achsdruck. Jede Achse messen sie einzeln.« »Sie« erweist sich als gängiges Synonym für die Polizei oder die Polizisten. »Nach der nächsten Kurve stoppen sie dich. Ich war in Deutschland mit meiner Schweizer Nummer unterwegs. Sie dachten, den nehmen wir, der kommt nicht aus der EU. Die hintere Achse der Zugmaschine hatte 1,4 Tonnen zu viel. Das fällt bei vierzig Tonnen kaum ins Gewicht. Man verschätzt sich leicht, weil die Waagen an den Ladestellen nur das Gesamtgewicht wägen, nicht aber den Achsdruck. Sie knöpften mir zweitausendeinhundert Euro ab für mein Vergehen. Schwupps, waren ein paar Tage Einkommen weg. Direkt von der Kreditkarte. Das nur als Beispiel, keine drei Wochen ists her. Sollen wir wieder mal streiken? Es ist bewiesen. Die Welt hat ein Dieselherz. Diesel pumpt die Waren in den Wirtschaftskreislauf. Per Container von Kontinent zu Kontinent, auf der Straße, den Kapillaren des Systems, bis an die Rampen der Fabriken und weiter in die Gestelle der Supermärkte, in Hongkong, in Java, in Chile und Schanghai.«

Die Reminiszenz an Melina Mercouris Lied passt in den Hafen, in dem wir stehen, und Walo freut sich, dass ich lache. »Ohne uns geht gar nichts«, sagt er, stell dir vor, ich fahre mit Frischmilch, Salat oder lebenden Tieren. Und stell dir vor, wir fahren alle zur gleichen Stunde nicht mehr. Bleiben einfach stehen, basta. Nach zwei bis drei Tagen Lieferstopp beginnt die Welt stillzustehen. Zugegeben, ob wir unbedingt Milch aus Neuseeland brauchen und ob wir deutsche Kartoffeln nach Süditalien karren müssen, um sie auf EU-Normgröße zu hobeln, ist eine andere Frage. Aber ändern können wir auf unseren Böcken das genauso wenig wie die Abhängigkeit der Milch von der Kuh und der Kuh vom Heu, das sie frisst. Die Milch wächst nun mal nicht im Supermarkt, das Benzin kommt nicht durch die Röhren der Wasserversorgung ins Haus. Jemand muss die Dinge holen und bringen. Den Kreislauf in Gang halten. Ist das so schwer zu begreifen? Die Tankstelle liegt nicht am Bahnhof. Der Bauernhof hat keinen Gleisanschluss.«

Weiter hinten im Hafen hebt ein giraffenähnlicher Laufkran Stück für Stück Container wie Legoklötze aus einem Schiffsbauch und schichtet sie zu einer gigantischen Mauer auf. Walo hat das wohl schon tausendmal gesehen, er nimmt es kaum wahr. Er sagt: »Womit haben wir die Schikanen und die ganze schlechte Behandlung verdient, wofür verachtet man uns? Um die Welt zu versorgen, das hinterste Dorf, die letzte Fabrik am Ende der Welt, reißen wir uns täglich den Arsch auf der Straße auf. Warum? Nein, ich will keinen Dank, aber ich will meinen Lohn und einen gewissen Respekt. Das wäre nicht mehr als Anstand. Wir sind nicht der Dreck, für den man uns hält.«

Ich habe Mühe, Walo zu verstehen, nicht weil er undeutlich spricht, sondern weil ein Abbruchbagger in der Nähe beim Rückwärtsmanövrieren unermüdlich schrill piepst und auch weil mir seine Truckerwelt noch zu wenig vertraut ist. »Die meisten von uns haben etwas gelernt. Markus sowieso. Aber auch ich zum Beispiel, ich bin Automechaniker und habe erst kurz vor dem Abitur die Schule geschmissen. Bin ich etwa nicht konversationsfähig? Sind wir etwa dumm, bloß weil man uns nicht denken sieht und reden hört, hoch oben hinter dem Blech der Kabine. Gut. Klar, dumm ist es schon, dreißig Jahre lang dranzubleiben, Autobahn auf und Autobahn ab durch Europa. Sag mir ein Land der EU, in dem ich nicht war. Und dann? ›Nach so langer Zeit können die nicht mal unsere Sprache‹, wirft man uns vor. Wie sollten wir auch. Das ist gar nicht möglich. Französisch, Italienisch, Polnisch, Finnisch, Rumänisch … Wie denn? Wer spricht denn so viele Sprachen? Nicht einmal Markus. Frag ihn mal etwas auf Serbokroatisch.«

Ich schaue dem Abbruchbagger zu, der bei jedem Richtungswechsel aufheult und eine schwarze Dieselwolke ausstößt. Walo folgt seinen Gedanken weiter: »Wenn ich heute noch fahre, fahre ich einzig fürs Geld. Und das ist kaum mehr zu verdienen. Als ich anfing, war ich einundzwanzig und meine Freundin schwanger. Die Entscheidung, auf die Straße zu gehen, fiel rasch. Als Fahrer kriegte ich das Doppelte eines Mechanikers. Dann bin ich hängen geblieben, obwohl mir heute kaum mehr halb so viel bleibt wie damals. Doch was soll ich tun?«

Während Walo spricht, geht mir immer die gleiche Frage durch den Kopf. Markus, Markus, warum tust du das? Warum tust du dir das an?

Walo hat noch andere Zeiten erlebt. Er kommt fast ins Schwärmen: »Angefangen habe ich auf einem Scania. Die Kabine war eine enge Zelle ohne jeden Komfort. Rechts neben dem Sitz lag der Motor in einem Tunnel; der wurde so heiß, dass wir Spiegeleier brieten darauf. Die ›schwedische Folterkammer‹ hieß der Scania damals im Truckervolksmund. Die Achsen hatten sechzehn Blattfedern aus hartem schwedischem Stahl. Das Einzige, was federte, war die Luft in den Reifen. Wir saßen auf Scherensitzen. Wenn die Mechanik ausgeleiert war, schlug sie durch. Wir fielen ungedämpft auf den Asphalt – und fühlten uns wie rohe Eier im freien Fall. Humpty Dumpty, du weißt schon. Ja, so fing das an. Ich habs überlebt, mit einem Bandscheibenschaden.

Die Scherensitze haben mich unters Messer gebracht. Als man mir sagte, was mich auf dem Schragen erwartete, wurde mir heiß und kalt und so schlecht wie noch nie. Das Rückgrat liegt hinter dem Bauch, eben im Rücken, aber damit ich wieder geradeauf sitzen konnte, musste der Chirurg den Bauch von vorne aufschlitzen, die Innereien beiseiteräumen und dann mit Säge und Skalpell die Nerven freilegen. Freilich pennte ich, als ich meine offene Bauchhöhle dem Werkzeug darbot. Die Operation dauerte fünf Stunden. Zwei Bandscheiben wurden miteinander verschraubt, damit sie nicht mehr aneinanderscheuern können. Als mir der Chirurg im Nachhinein erzählte, dass eine Schwester die Sehnen mit einer Pinzette festhalten musste, wurde mir grad noch einmal schlecht. Gewiss, es kam wieder gut, wie jedermann sieht. Bloß, nach wie viel Zeit. Anderthalb Jahre ging ich am Stock. Kururlaub, Physiotherapie, liegen, liegen, liegen. Oft dachte ich da: Weshalb haben sie mich nicht wie einen Sportwagen etwas tiefer gelegt. Am besten gleich einen Meter achtzig.«

Markus, der unterdessen triumphierend mit den Papieren winkend vom Parcours durch die Schalter zurückgekommen ist, meint: »Du hättest mit dem Eingriff noch ein paar Jahre zuwarten sollen.«

»Bei Schmerzen wie von einer glühenden Zange im Rücken?«

»Du wurdest noch nach der alten Methode operiert. Heute, mit dem Endoskop, bräuchte es nicht mehr als drei schmale Schnittchen. Da stehst du noch am gleichen Tag auf und gehst bald wieder heim. Das wäre für die Rekonvaleszenz schon damals besser gewesen – dich sofort wieder zu bewegen.«

Walo schwenkt testweise sein Becken, Markus meint: »Auch das Endoskop muss nicht sein. Es lohnt sich nicht, an den Sitzen zu sparen, auf denen man so manche Stunden den Arsch drauf hat.«