Über dieses Buch

Berlin ist in Aufruhr: Nachts verschwinden bronzene Bärenskulpturen von den Autobahnen der Hauptstadt! Kurz darauf wird bei der 12-jährigen Maddie, dem jüngsten Stuntgirl Deutschlands, zu Hause eingebrochen. Hatte der Dieb es auf den Goldenen Berlinale-Bären abgesehen, der einst Maddies Großvater gehörte?

Zusammen mit ihren Freunden Loreta und Julius entdeckt Maddie eine uralte, geheime Botschaft, die das Trio auf eine Schnitzeljagd quer durch Berlin führt. Sie ahnen nicht, dass der Bärenjäger ihnen bereits dicht auf den Fersen ist …

Gewidmet allen Bären dieser Welt: den Eis-, Braun-, Schwarz- und Kragenbären, den Brillen-, Nasen-, Lippen- und Pandabären, den Ameisen- und Waschbären, den Kuschel-, Brumm- und Schmusebären, meinem wunderbaren Superbärlein, allen Tapps- und Tanzbären, den Sternbildern Kleiner und Großer Bär, den Gummibären und natürlich allen Teddybären …

Magdalena, genannt Maddie, 12 Jahre. Sie ist das jüngste Stuntgirl Berlins und tritt im Filmpark Babelsberg auf. Lieblingsfach: Sport. Hobbys: Motocross, Bungee-Jumping, Kampfsport, Tauchen, ins Kino gehen mit Loreta, ihrer besten Freundin.

Loreta, genannt Lora, 12 ½ Jahre. Seit sie ihren Vater das erste Mal in Florenz besuchte, ist sie ein großer Fan von Michelangelo und Leonardo da Vinci. Lieblingsfach: Kunst. Hobbys: Kunst, Kunst, Kunst, Backen (auch so was wie Kunst) und ins Kino gehen mit Maddie.

Julius, genannt »der Papst«, fast 13 Jahre. Kann viel besser mit Tieren als mit Menschen umgehen, würde aber auch gern öfter ins Kino gehen – mit Loreta … Lieblingsfach: Bio und Deutsch. Hobbys: alles was mit Tieren zu tun hat, außer Reiten (Pferde sind ihm irgendwie zu groß), lesen.

Inhalt

Die verschwundenen Bären

Der Einbruch

Ein Rätsel

Berlin von oben

Die Suche

Die Villa am Wannsee

Zelten gehen

Spuren

Verfolger und Verfolgte

In die Unterwelt

Tabula rasa

Epilog

Nachwort des Autors

Die verschwundenen Bären

»Julius, aufwachen!«

»Mmmmmmmmmmmmmhhhhhhhh!«

»Lass ihn doch schlafen, Schatz«, mischte sich Julius’ Mutter ein und gähnte. Sie saß hinter dem Steuer und lenkte den Familienwagen über die nachtschwarze Autobahn.

Julius’ Vater lachte leise. »Ich hab’s aber versprochen. Und wenn ich ihn jetzt nicht rechtzeitig aufwecke, ist er bis Weihnachten beleidigt.«

»Mindestens!«, stimmte ihm Julius’ Mutter seufzend zu, setzte den Blinker und überholte einen einsamen Lastwagen. Hinten auf der Rückbank brummte ihr Sohn wieder im Schlaf, und auf der Armatur leuchtete blassblau die Zeit: 02:42 Uhr. Sie hatten ihre Schwester besucht, die in Potsdam wohnte und die Patentante von Julius war – bis tief in die Nacht hinein hatten sie Rommé und Canasta gespielt. Als sie endlich aufbrechen wollten, hatte Julius schon längst zusammengerollt auf dem Sofa geschlafen. Trotzdem hatte ihr Mann recht: Julius musste geweckt werden.

»Also gut«, sagte sie. »Auf drei!« Sie zählte, dann riefen sie und ihr Mann zusammen: »Er kommt gleich!«

»Mmmmmmmmhhh … mähh … was?« Julius rekelte sich im Sicherheitsgurt. Er rieb seine Augen, gähnte mit aufgerissenem Löwenmaul und blickte suchend durch die Autofenster. »Gleich kommt er …«, wiederholte Julius murmelnd.

Seine Eltern lächelten sich zu. Sie verstanden nicht wirklich, was ihr Julius an diesen Bären so toll fand.

Berlin war, wie die meisten Großstädte, von Autobahnen umzingelt, die aus allen möglichen Richtungen ins Zentrum führten. Passierte man auf einer dieser Zubringerautobahnen irgendwo die Stadtgrenze, wurde man nicht nur von dem gelben, viereckigen Schild mit der schwarzen Aufschrift »Berlin« begrüßt, sondern auch von der Skulptur eines Bären, dem Wappentier der Hauptstadt. Julius liebte diesen hier besonders: Auf den Hinterbeinen stehend reckte sich das bronzene Tier auf dem Mittelstreifen in die Höhe, hob die rechte Tatze und winkte den vorbeirauschenden Autos zu. Und seit Julius ihn mit drei Jahren das erste Mal richtig wahrgenommen hatte, freute er sich jedes Mal darauf, zurückzuwinken. Mittlerweile machten auch seine Eltern mit: Alle drei hoben, wenn sie an der Skulptur vorbeifuhren, die Hände und winkten dem Bären zu. Es war ein bisschen wie ein Ritual, wie ein Schwur unter Blutsbrüdern. Und den wollte Julius um keinen Preis verpassen, auch wenn sie erst nachts um drei daran vorbeikamen. Sich die Nase am Seitenfenster plattdrückend schaute er hinaus. Sie passierten die Brücke von Dreilinden – jetzt waren es nur noch ein paar hundert Meter bis zum ehemaligen Zoll- und Grenzübergang, wo der Bär stand.

»Waaaas?« Seine Nase wurde noch platter, als er das grelle Licht sah. Es sah aus wie der Scheinwerfer eines Polizeihubschraubers und blendete so stark, dass er die Augen zusammenkneifen musste. Julius wurde nach vorne geschleudert, als seine Mutter erschrocken abbremste. Trotzdem waren sie immer noch so schnell, dass sie in Sekunden an dem Licht vorbeisausten. Es leuchtete auf dem schmalen Mittelstreifen, der die beiden Fahrbahnen trennte – die eine Richtung Potsdam hinaus, die andere nach Berlin hinein. Es leuchtete genau dort, wo die Bronzeskulptur des Bären stand. Nein, wo sie hätte stehen sollen. Julius warf sich im Rücksitz herum und starrte durch die Heckscheibe.

»Was …«, murmelte er noch einmal.

So plötzlich, als hätte jemand den Stecker gezogen, erlosch das übergrelle Licht. Und obwohl die Helligkeit von eben und die Dunkelheit jetzt seinen Augen einen Streich spielen mochten, war sich Julius doch sicher: Sein Bär war verschwunden.

» … war das denn?«, beendete er seinen Satz.

Seine Eltern zuckten synchron die Schultern, seine Mutter gab wieder Gas und sein Vater murmelte: »Wohl ’ne Baustelle.«

Julius guckte noch immer nach hinten durch die Heckscheibe, als sie schon längst den Berliner Funkturm passiert hatten und die Häuser der Großstadt in den schwarzen Himmel wuchsen. Er hatte seinem Bären nicht zuwinken können. Wie verrückt war das denn?

Zu Hause konnte er lange nicht einschlafen. Immer wieder sah er das grelle Licht wie einen Blitz in seinem Kopf aufleuchten und träumte später von einem Ufo, das Berliner Bären entführt.

»Ich habe echt gedacht«, erzählte Julius am nächsten Morgen seinem Handy, »dass eine fliegende Untertasse den Bären hochbeamt. Unheimlich war das.«

Sein Handy kicherte. »Und dann werden die Aliens staunen, wenn sie im Kopf der Bronzefigur kein Gehirn finden«, meinte Loreta, immer noch kichernd.

»Ja, ja, lach du nur«, brummte Julius. Er war ein bisschen verknallt in Loreta, auch wenn er das nicht mal seinen Aquarium-Fischen erzählt hätte – und die konnten schweigen! Loreta hatte tolle schwarze Locken, konnte zeichnen wie Picasso und war nie fies zu anderen. Andererseits war sie so was von groß – Julius musste immer seinen Kopf in den Nacken legen, wenn er ihr ins Gesicht schauen wollte. Eigentlich waren alle Mädchen größer als er. Aber wie sagte seine Mutter immer? »Du bist doch noch in der Wachstumsphase!« Na, schönen Dank auch. Viel gemerkt hatte er von dieser Phase allerdings noch nicht.

»Was machst du heute noch?«, fragte Julius schließlich.

»Und du?« Wieder lachte Loreta, und Julius stellte sich vor, wie sie danach eine Lockensträhne zwischen die Lippen nahm und darauf herumkaute.

»Zoo?«, fragte er hoffnungsvoll. »Da ist gerade ein indisches Weißschwanz-Stachelschwein geboren worden, total süß.«

»Ähm, nee!«, antwortete Loreta. »Aber egal, ich muss sowieso noch für den Englischtest lernen. Vor den Sommerferien schütten die uns noch mal richtig zu, was?«

»Stimmt, ich komm mir schon vor wie ’ne Kiesgrube. Dann bis Montag? Mach’s gut, Lora.«

Loreta kaute nachdenklich auf einer Haarsträhne herum, starrte ihr iPhone an und murmelte schließlich: »Ufos an der Autobahn und samstags in den Zoo – was für ein Spinner!«

Aus Julius wurde sie einfach nicht richtig schlau – eigentlich kannte sie ihn ja kaum. Er war zwar in derselben Klasse wie sie, wirklich bemerkt hatte Loreta ihn aber erst vor ein paar Monaten, als sie bei einer Bioarbeit die Plätze tauschen sollten und Julius sie abschreiben ließ. Dafür korrigierte sie im Kunstunterricht mit ein paar Strichen seine unbeholfenen Bilder. Und seit ein paar Wochen rief er sie immer mal wieder an. Na ja, nett war er auf jeden Fall, auch wenn sie nicht kapierte, was er an den ganzen Viechern so toll fand. Loretas eigenes und einziges Lieblingstier war jahrelang ein Stoffhase mit grünen Ohren gewesen – alles Lebendige dagegen, das knurrte, sabberte oder nach Fell stank, war nichts für sie. Julius dagegen verbrachte jede freie Minute entweder im Zoo, in den großen Parks von Berlin oder in seinem Zimmer, das angeblich bis in den letzten Winkel mit Aquarien, Terrarien und Hamsterrädern vollgestopft war.

Loreta seufzte und ließ ihren Blick über das aufgeschlagene Englischbuch schweifen. Warum vergingen die letzten Wochen vor den Sommerferien bloß immer so langsam? Und warum war Vokabellernen nur so entsetzlich langweilig? Loreta warf ihr iPhone in die Luft, fing es auf und rief ihre beste Freundin an. Aber nur die Mailbox sprang an. Sie runzelte die Stirn: Maddie ging eigentlich immer ran, es sei denn …

Loreta blickte auf die Uhrzeit: Na klar, Samstagmittag. Da gab es nur einen Ort, an dem Maddie sich um diese Zeit aufhielt. Und das Beste war: Wenn Loreta sich beeilte, würde sie’s noch schaffen.

Sie schnappte sich ihre Tasche, flitzte zur Tür ihres Zimmers, warf noch einen letzten Blick auf das stumm mahnende Englischbuch und huschte entschlossen hinaus.

Maddie drehte am Gas. Die Yamaha YZ 85 wieherte auf, als ihre dreißig Pferdestärken mit einem Mal losgelassen wurden. Die Motocross-Maschine preschte vorwärts und schlingerte ein paar Sekunden lang, bis Maddie sie wieder unter Kontrolle hatte. Sie schwitzte unter dem Motorradhelm und der gefütterte Overall machte es auch nicht besser. Ganz zu schweigen von der Mauer aus orangerotem Feuer, auf die Maddie zuraste. Noch einmal drehte sie am Gas, packte den Lenker fester und schmiegte sich dicht an die Maschine. Jetzt hörte sie durch den Helm hindurch das Prasseln des Feuers. Die Hitze schlug ihr entgegen mit harten, heißen Fäusten. Ihr Motorrad röhrte, als sie punktgenau die Maschine auf die kleine Rampe steuerte.

Jetzt geht’s los, dachte Maddie, und gab ein letztes Mal Gas. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, als sie abhob und direkt auf die Flammen zuflog.

Julius legte in diesem Moment seinen Kopf schräg. Der Schimpanse hinter der Glasscheibe machte es ihm nach, zog die Lippen zurück und bleckte die Zähne. Julius lachte zurück. Manchmal hatte er das Gefühl, dass er die Tiere im Zoo von Berlin besser verstand als die Menschen der Stadt.

Loreta zum Beispiel. Die dachte jetzt bestimmt, dass er ein Spinner sei. Ufos, die Bären-Skulpturen klauten, na klar. Warum hatte er nicht einfach seine Klappe gehalten? Julius winkte dem Schimpansen zu, doch der hatte sein Interesse und seine Hände auf eine Banane am Boden verlagert. Julius seufzte. Er wusste genau, dass er kein Superman war: Er war nicht nur ein Stückchen zu klein, sondern auch ein bisschen zu schüchtern und zu pummelig. Und geringfügig zu langsam war er auch. Insgesamt eher der Typ: Im-Sport-wählen-wir-den-als-letzten-in-die-Mannschaft. Manchmal fragte er sich, ob Loreta ihn überhaupt beachten würde, wenn er sie nicht ab und zu mal anrief oder ihr bei den Bio-Hausaufgaben half.

Julius seufzte erneut und begann weiter durch den Zoo zu schlendern. Erst beim großen Freigehege der Brillenbären blieb er wieder stehen, wo es einen künstlichen Wasserfall gab, hohe Bäume zum Klettern und anstelle von Gittern Glasscheiben. Wenn sich so ein Tier auf seine Hinterpfoten stellte, sah es fast so aus wie die verschwundene Bärenfigur von der Autobahn.

Aber auch die Brillenbären im Berliner Zoo wollten Julius nicht zuwinken.

Die tödliche Hitze spürte sie kaum, zu schnell war sie auf der anderen Seite, zu dick gepolstert war ihr Overall. Maddie flog, die Augen immer noch ein wenig zusammengekniffen, durch die Flammen, riss am anderen Ende das Motorrad hoch, sodass die Maschine nur mit dem Hinterrad aufsetzte und wurde von einer Stimme aus den Lautsprechern begrüßt: »Meine Damen und Herren, Applaus für Magdalena Baumgartner, dem jüngsten Stuntgirl Berlins!«

Tosender Applaus, winkende Hände und jubelnde Gesichter – die als Amphitheater angelegte Vulkan-Arena schien tatsächlich wie in Lava zu kochen. Dicht an dicht saßen knapp 2500 Besucher des Filmparks Babelsberg und bestaunten eine halbe Stunde lang mit offenem Mund die tägliche Show mit all ihren Kämpfen, Stürzen, Verfolgungsjagden und Explosionen. Und sie staunten über Magdalena, die jetzt von der Maschine sprang, einen Hechtsprung nach vorne machte, in eleganter Rolle wieder hochkam und endlich ihren Helm vom Kopf zerren konnte.

Maddies Herz schlug laut, die Juliluft schmeckte nach Sommer und ihre Klamotten rochen nach rauchigem Schweiß. Sie machte eine Verbeugung, bockte die Motocross-Maschine auf und war froh, in die Umkleideräume verschwinden zu können.

»Du warst wieder Mal super, Maddie.« Loreta wartete im Umkleideraum schon auf sie und stürzte sich auf ihre Freundin. »Hast du denn nie Angst?«

»Hm.« Maddie zog die dicken Handschuhe von den Fingern und schälte sich aus dem extra gepolsterten Overall. »Ein bisschen, klar. Aber ich mach ja nur Sachen, die eigentlich nicht schiefgehen können.«

»Eigentlich?«

Maddie lachte nur. »Ja, passieren kann natürlich immer was. Aber du kannst auch über deine offenen Schnürsenkel stolpern und dir ein Bein brechen.«

»Hm«, wiederholte Loreta nur nachdenklich, eine ihrer Locken schon wieder in gefährlicher Lippenreichweite.

»Komm!«, sagte Maddie, während sie Jeans und ein neues T-Shirt überzog. »Du sagst noch meinem Vater Hallo, und dann verschwinden wir in die City. Wie klingt das?«

»Ziemlich …«

Aber Maddie hatte sich schon umgedreht und war losgeflitzt, ihre rappelkurzen Haare blitzten dunkelblond in der Sonne auf.

» … gut«, beendete Loreta ihren Satz und rannte hinterher.

Maddie war zwar schneller, aber Loreta hatte die längeren Beine, sodass sie zeitgleich an der Tür des Kontrollzentrums ankamen. Hier drin wurden die Stuntshows des Filmparks geplant, gesteuert und überwacht. Hier stand das Mischpult für die Lautsprecher und eine größere Anzahl an Bildschirmen als in Cape Canaveral, wo die NASA ihre Raketen in das Weltall schoss. Das fand zumindest Loreta, die jedes Mal über diesen Raum staunte, wenn sie ihre Freundin hier besuchte. Sosehr der Raum auch nach Hightech aussah, so bodenständig wirkten die beiden Männer darin: beide mit dampfenden Kaffeepötten in der Hand, beide mit löchrigen Jeans und breitem Grinsen im Gesicht. Der jüngere von beiden war Maddies Papa. Der andere hatte unzählige Falten im Gesicht – so tief wie die Rillen in Eichenborke. Das war der alte Herr Klamotte, der für die Requisiten zuständig war.

»Wenn ich’s dir doch sage«, hörten Maddie und Loreta ihn gerade sagen, »der an der A115 ist jetzt schon der Zweite! Ich hab’s grad im Radio gehört. Sie nennen ihn BBB: den Berliner-Bären-Banditen!«

»So ein Scheiß«, murmelte Maddies Vater, bemerkte dann seine Tochter. »Hey, Sonnenschein!«, grinste er sie an. »Gute Performance, aber die ersten Sekunden warst du unaufmerksam!«

»Ja, ja, hast recht.« Maddie nickte. »Ich fahr mit Lora nach Berlin rein, okay?«

»Na klar, gib deiner Ma schon mal einen Kuss von mir. Ich komme dann …«

»Julius sagt«, platzte Loreta plötzlich heraus, »das war ein Ufo!«

Maddie, ihr Vater und der alte Herr Klamotte starrten sie verblüfft an. Loreta fummelte eine Haarsträhne zwischen ihre Lippen. »Ich meine, also, er hat’s gesehen, äh …«

»Was denn?«, fragte Maddie.

»Das Ufo. Das Licht.«

»Kind, wovon redest du?« Herr Klamotte schaute sie an, als wollte er gleich den Notarzt rufen.

»Na von … den Bären-Skulpturen. Darum ging’s doch eben, oder?«

Maddies Vater schaute Herrn Klamotte an und nickte. »Ja. Irgendein Idiot klaut offenbar Bären aus Bronze. Aber was …«

»Ach, nicht wichtig«, winkte Loreta ab und warf einen fragenden Blick zu Maddie: »Gehen wir?«

»Was sollte das denn?«, fragte Maddie, als sie zusammen zum Ausgang des Filmparks schlenderten.

»Ach, das ist mir nur so rausgerutscht. Diese Bären …«

»Ich mein doch nicht die doofen Figuren und Ufos«, unterbrach Maddie sie. »Ich meine: Wer ist Julius? Von dem hast du mir noch nie erzählt!«

Loreta lachte. »Doch, hab ich, hast du nur vergessen. Der Typ aus meiner Klasse, der mir in Bio hilft.«

Maddie kramte in ihrem Gedächtnis, konnte den Namen aber immer noch nicht finden und zuckte die Achseln.

»Klein, pummelig, nett, Tierfreak, komische Nase«, zählte Loreta auf. »Klingelt’s?«

»Ach so, du meinst den Papst.« Maddie lachte, und Loreta erinnerte sich an den Tag, als ihr Geschichtslehrer Herr Schalwo über Namenstraditionen geredet hatte. Als er hörte, dass Julius den gleichen Vornamen trug wie sein Vater, hatte Schalwo begeistert eine ganze Stunde lang von Julius II. geschwärmt, einem berühmt-berüchtigten Papst in der Renaissance.

Der Papst – dieser Spitzname war hängen geblieben, zumal Julius oft so langsam durch die Gegend spazierte, dass er wirklich wie ein Würdenträger aussah. Die halbe Schule zog ihn seither damit auf.

»Ich glaube nicht, dass der Titel ihm gefällt«, meinte Loreta.

»Na ja, mein Spitzname ist auch nicht besser«, entgegnete Maddie. Bedeutet schließlich so viel wie: die Verrückte«.

»Und Lora klingt nach ’nem Papagei.« Kichernd zog Loreta ihre Freundin durch die Menschenmassen, die sich hier in Babelsberg einen vergnügten Samstag machten: ein bisschen Filmluft schnuppern, ein wenig durch die Western-Kulissen toben, ein paar Currywürste futtern. Der Julitag war warm und weckte alle Sehnsüchte nach Sommer und Ferien auf.

»Der Papst also«, griff Maddie das Thema auf, als sie draußen auf dem großen Parkplatz nach dem nächsten Bus Ausschau hielten. »Der gefällt dir?«

»Ich hab dir doch gesagt, ich kenn ihn kaum«, brummte Loreta. »Aber ja: Er ist nett. Und er hat gesehen, wie der Bär verschwand!«

Die nächsten Tage brachten Loreta einen erträglichen Englischtest, Maddie nichts als Langeweile, Julius eine Erdkröte im Grunewald und den Nachrichten wilde Spekulationen über BBB – den Berliner-Bären-Banditen. Egal, ob in Fernsehen oder Internet, in den Zeitungen oder im Radio, in den Wartezimmern oder bei Stammtischgesprächen: Ganz Berlin regte sich über seine geklauten Bären auf. Bei dem ersten Bären, der an der Autobahn Richtung Schönefeld gestanden hatte, auf der Mittelspur der A113, dachte die Polizei noch an Randalierer oder einen schlechten Scherz. Die zweite verschwundene Skulptur aber machte Furore. Zu viel Geld und Aufwand kostete es, eine schwere Bronzeskulptur nachts von ihrem drei Meter hohen Betonsockel mitten auf der Autobahn zu klauen. Julius’ Eltern meldeten sich als Zeugen und wurden von zwei Beamten befragt. Julius hielt klugerweise diesmal tatsächlich die Klappe und verschwieg seine Ufo-Theorie. Die Polizei bewachte den dritten großen Bären im Norden der Stadt, aber nach ein paar ereignislosen Nächten fuhren die Streifenwagen wieder woanders herum. Nichts passierte. Eine Woche nach dem zweiten Bären-Diebstahl interessierte sich eigentlich nur noch Loreta für dieses Rätsel, denn immerhin ging es dabei ja um Kunst. Und damit kannte sie sich aus.

Seit sie ihren Vater nach der Scheidung ihrer Eltern das erste Mal in Italien besucht hatte – damals war sie neun gewesen –, gab es für sie kaum etwas anderes als Kunst. Ja, der Besuch in Florenz hatte dazu geführt, dass sie nicht mehr für Schauspieler oder Sänger schwärmte, sondern stattdessen für Michelangelo oder Leonardo da Vinci.

Loreta googelte, was das Zeug hielt, und fand schnell heraus: Der noch unangetastete, dritte große Autobahnbär stammte von einem Bildhauer namens Günter Anlauf und aus dem Jahr 1983. Die beiden verschwundenen Bären von der A113 und A115 aber waren von einer Künstlerin in den Fünfzigerjahren geschaffen worden: Renée Sintenis. Loreta pfiff leise durch die Zähne, als sie sich durch die alten Schwarz-Weiß-Fotos klickte. Ein kantiges Gesicht und kurze Haare, die man früher als Bubikopf bezeichnet hatte. Und irgendwie traurig: Auf keinem der Bilder lächelte Renée Sintenis. Loreta surfte weiter, las Artikel und Wikipedia-Einträge. Die Künstlerin hatte von 1888 bis 1965 gelebt, seit 1907 in Berlin gewohnt und war zu ihrer Zeit richtig berühmt gewesen. »Die Riesin mit dem Kleintierzoo«, las Loreta halblaut einen Zeitungstitel. »Wow, fast zwei Meter«, murmelte sie grinsend. »Noch größer als ich.« Interessiert stellte Loreta fest, dass Renée Sintenis vor allem durch ihre Tierplastiken bekannt geworden war und …

Loretas Handy zappelte und trillerte. Ein Blick aufs Display zeigte: Julius.

Sie drückte die grüne Hörertaste: »Was gibt’s?«

»Hast du’s schon gehört?«, fragte Julius. »Die Ufos machen Urlaub in Bayern.«

»Hä?«

Julius lachte. »Also in München gibt’s ’ne Autobahn, wo auch ein Berliner Bär steht. Und der ist gestern Nacht verschwunden.«

»Was für einer?«, fragte Loreta.

»Hä?«, machte diesmal Julius.

Aber Loreta tippte schon, das Handy zwischen Schulter und Wange, an ihrem alten Computer herum. »München Autobahn Berliner Bär« schrieb sie in die Suchanfrage und klickte auf »Bilder«.

Langsam bauten sich die digitalen Fotos auf dem Bildschirm auf.

»Das gibt’s nicht«, murmelte Loreta.

»Was denn?«, fragte Julius durchs Handy.

Aber Loreta antwortete nicht. Fasziniert starrte sie auf die grün angelaufene Bronzeskulptur des Bären, der sich auf seinen Hinterpfoten aufrichtete und ihr durch den Bildschirm zuwinkte. Kein Zweifel: Das hier war die gleiche Skulptur.

»Ich glaube«, sagte Loreta schließlich, »dass BBB nicht einfach irgendwelche Bärenskulpturen jagt.«

»Sondern?«

»Nur eine bestimmte Art. Die Berliner Bären von Sintenis.«

»Jim Tennis?«, fragte Julius. »Was ist das denn für ein komischer Name …«

Aber Loreta hörte gar nicht richtig zu. »Ich ruf später zurück«, sagte sie nur, legte auf und hing schon wieder über ihrem PC.

Renée Sintenis’ Bärenskulptur war 1957 in Berlin aufgestellt worden, auf dem Mittelstreifen der Autobahn A115, wo sie noch bis vor wenigen Tagen gestanden hatte. Der Abguss in München entstand 1962. Der dritte verschwundene Bär, wieder in Berlin, war noch ziemlich neu: Erst 2008 wurde er an der Autobahn Richtung Schönefeld platziert. Zwei weitere Kopien, las Loreta in dem Artikel, gingen nach Amerika. Und Nummer sechs stand ebenfalls in Deutschland: Die winkte seit 1960 in der Innenstadt von Düsseldorf.

Nachdenklich schnappte sich Loreta eine Haarsträhne und zog sie durch ihre Lippen. Mit einem Ruck stand sie auf, machte ein paar Schritte durch ihr Zimmer und schaute aus dem Fenster. Draußen freute sich Berlin über das gute Wetter. Aufgeklappte Tische und Stühle vor den Cafés luden zum Sonnenbaden ein, Unmengen von T-Shirts samt kurzen Hosen liefen durch die Straßen und sämtliche Schüler Berlins freuten sich auf die bevorstehenden Sommerferien. Nur Loreta wurde plötzlich kalt. Wie eine Spinne aus Eiswürfeln kroch ihr ein Schauer über den Rücken. Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich so sicher war, aber sie wusste: Etwas Böses ging um in Berlin.