Carl-Auer
Für Felix, Maxie und Samuel
Kommunikation als Lebenskunst
Philosophie und Praxis
des Miteinander-Redens
Zweite Auflage, 2016
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Umschlaggestaltung: Uwe Göbel
Umschlagfoto: Uwe Göbel
Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Zweite Auflage, 2016
ISBN 978-3-8497-0173-4 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8011-1 (ePUB)
ISBN 978-3-8497-8050-0 (PDF)
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Das dialogische Prinzip
Ein Vorwort von Bernhard Pörksen
Schreiben ist einsam. Zumindest in der Theorie. Im Moment des Schreibens ist der Autor, so heißt es, ganz für sich und allein, vertieft in jene Form der inneren Zwiesprache, die Platon Denken nannte. Er entwickelt seine Ideen, formt sie, feilt in aller Stille an Formulierungen, entwirft eine Dramaturgie und betritt erst, wenn das Geschriebene veröffentlicht wird, wieder die Bühne des sozialen Miteinanders. Bei der allmählichen Verfertigung dieses Buches war alles ganz anders. Es ist vom ersten bis zum letzten Satz aus Gesprächen und Begegnungen heraus entstanden. Man könnte sagen: Es handelt sich um eine Dokumentation und Illustration des dialogischen Prinzips, nicht aber um ein Resultat einsamer, monologisch strukturierter Selbstbefragung. Noch im eigentlichen Prozess des Schreibens und damit im Augenblick des tatsächlichen Rückzugs und der unvermeidlichen Isolation war für jeden von uns die Stimme des anderen präsent. Gespräch und Dialog sind im Falle dieses Buches nicht nur ein Instrument, um die Inhalte zu klären und vorzubereiten, sondern gleichzeitig auch die Gattung und die Darstellungsform, mit der hier Gedanken und Ideen entwickelt, erläutert und manchmal kontrovers diskutiert werden. Begonnen hat die Zusammenarbeit mit Friedemann Schulz von Thun vor drei Jahren mit einem Brief. Ich schlug ihm vor, die Entstehung seiner Kommunikationspsychologie – eine von der akademischen Welt lange tapfer ignorierte Erfolgsgeschichte – in Form einer kleinen intellektuellen Biografie für den Carl-Auer Verlag zu präsentieren und in einem solchen Buch seine eigene Begegnung mit der humanistischen Psychologie und dem systemischen Denken zu beschreiben. Denn er selbst kombiniert in seinen Arbeiten beide Paradigmen; mal steht der Einzelne im Vordergrund, mal sind es primär die Bedingungen und Spielregeln der Kommunikation, die diesen Einzelnen beeinflussen und bestimmen. Und doch geht es ihm stets darum, Autonomie und Abhängigkeit zusammenzudenken und als Berater und Coach innere und äußere Kräftefelder gleichermaßen zu betrachten und aufeinander abzustimmen. Es könnte, so schrieb ich, produktiv sein, die Entstehung seiner Ideen und Modelle (das Kommunikations- und Wertequadrat, die Metapher vom inneren Team, das Situationsmodell, die Maximen der Verständlichkeitsforschung, die Entdeckung der Stimmigkeit als einem Ideal der Kommunikation etc.) einmal auf seine persönlichen Denkerlebnisse zurückzuführen, also gleichsam eine private Theoriegeschichte moderner Kommunikationskonzepte zu schreiben. Dies schien mir aus zwei Gründen aufschlussreich: Zum einen hat Friedemann Schulz von Thun die Entstehungsgeschichte der humanistischen Psychologie aus nächster Nähe miterlebt. Er kam über seinen akademischen Lehrer, dem Hamburger Psychologen Reinhard Tausch, mit Carl Rogers in Kontakt. Er freundete sich mit der Therapeutin Ruth Cohn an, die als jüdische Studentin 1933 Berlin verlassen musste und zunächst in New York und dann in Esalen (Kalifornien) die neuen Formen der Erlebnis- und Gestalttherapie kennenlernte, diese dann nach Europa importierte und auf ihre Weise prägte. Zum anderen ist Friedemann Schulz von Thun längst selbst zu einem der wichtigsten Stichwortgeber einer modernen Psychologie und Kommunikationsphilosophie geworden. Die von ihm entwickelten Modelle und Konzepte (man denke nur an das Kommunikationsquadrat und den Verweis auf die vier Seiten einer Äußerung) haben unser Nachdenken über Kommunikation verändert. Sie sind längst in die Curricula berufsvorbereitender Studiengänge eingegangen und werden seit Jahrzehnten in der gymnasialen Oberstufe gelehrt, in Seminaren auf dem freien Markt unterrichtet und von Beratern und zunehmend auch Psychotherapeuten verwendet. Die Publikationen und die Fortbildungsangebote seines Instituts, die Veranstaltungen und Veröffentlichungen seiner Freunde und Wegbegleiter haben die Welt der Trainer und Berater in einer Weise geprägt, wie dies wohl kaum einem anderen Wissenschaftler deutscher Sprache gelungen ist. Seine Bücher über allgemeine kommunikationspsychologische Fragen und einzelne Praxis- und Anwendungsfelder sind längst zu Standardwerken mit Millionenauflage geworden. Zu den (inzwischen eher seltenen) Vorlesungen, die sein Institut an der Hamburger Rothenbaumchaussee organisiert, kommen nach wie vor Hunderte von Menschen, die ihn womöglich einfach nur einmal live erleben möchten und jenen Autor sehen wollen, der mit seinen Zeichnungen, seinen Aphorismen und Gedanken ihre Arbeit inspiriert. Kurzum: Friedemann Schulz von Thun ist einer der meistgelesenen Wissenschaftler des Landes, der mit der Kommunikationspsychologie sein eigenes Fachgebiet erfunden hat. Er ist ein Star, der keiner sein will und der sich mit Witz und Selbstironie und der ihm eigenen melancholischen Bescheidenheit der Gururolle und dem Beziehungskorsett von Anbetung und Verehrung verweigert, um eine Begegnung auf Augenhöhe zu ermöglichen.
Aber es ist nicht allein ein erstaunlich gelassener, zweifelnddistanzierter Umgang mit Erfolg, der sich bei Friedemann Schulz von Thun studieren lässt. Man kann auch von ihm lernen, unter welchen Bedingungen wissenschaftliches Denken Funken schlägt. Denn entstanden sind seine Ideen nicht im Elfenbeinturm der Universität, sondern in direkter Auseinandersetzung mit der beruflichen Praxis und den ganz alltäglichen Missverständnissen, Verwicklungen und Verknotungen im Beziehungsgeschehen. Gerade am Beispiel seiner Arbeit lässt sich zeigen, wie inspirierend das Wechselverhältnis von Theorie und Praxis sein kann und wie produktiv die selbstauferlegte Nötigung ist, das eigene Denken immer wieder in andere Aggregatzustände zu überführen, es zu popularisieren – und es eben auf diese Weise mit immer neuen Anregungen in der Sache zu versorgen. Könnte es nicht, so fragte ich in diesem ersten Brief Richtung Hamburg, bedeutsam sein, dieses Anregungsverhältnis von Theorie und Praxis einmal genauer und im Detail zu durchdringen, um eine höchst produktive Erkenntnissituation exemplarisch sichtbar werden zu lassen? Wäre dies nicht, gerade in einer Phase der forschungsintensiven Selbstabschottung deutscher Universitäten und einer neuen Hermetik in der akademischen Welt, auch eine Ermutigung für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihrer eigenen Spur zu folgen und ihre Arbeit durch Praxisorientierung und Lebensnähe mit Relevanz und Spannung zu versorgen?
Es ist keine unzulässige Überhöhung, wenn man konstatiert: Friedemann Schulz von Thuns Herangehensweise, sein eigener praktisch inspirierter Forschungs- und Vermittlungsstil, lässt sich durchaus programmatisch deuten – nämlich als ein Beleg dafür, wie anregend die Verbindung von Wissenschaft und Anwendung tatsächlich sein kann, wird man doch durch den Zwang zur Verständlichkeit, zur Pointierung und konkreten Hilfestellung besonders herausgefordert und in ein eigenes gedankliches Reizklima hineinkatapultiert. Man tritt nun nicht mehr als vermeintlich allwissender Experte oder professoraler Hierarch in Erscheinung, sondern verwandelt sich in einen empathischen Übersetzer von Erkenntnis, in einen Dolmetscher der eigenen Disziplin – dies mit dem Ziel, anderen Menschen zu helfen, sich selbst und andere besser zu verstehen und Konflikte zumindest besprechbar zu machen, sie zu entschärfen, manchmal vielleicht auch gänzlich aufzulösen. Und diese Herangehensweise, eben darauf kommt es hier an, verändert einen selbst. Die Orientierung am anderen, der Auftritt vor großem Publikum, der situativ gegebene Zwang zur Zuspitzung, die spürbare Freude an einer gelingenden Formulierung – all dies erzeugt eine eigene Systemik der Erkenntnis, ein eigenes Inspirationsund Kräftefeld. Man denkt, spricht und schreibt auf einmal anders, bemüht sich in einer solchen implizit dialogischen Konstellation um ein tatsächliches oder imaginäres Gegenüber, wirbt um seine Zuhörer und Leser, deren Welt- und Alltagserfahrung auf einmal eine eigene Präsenz bekommt, überhaupt sichtbar wird. Wer sein eigenes Denken und Schreiben als Element eines großen, gesellschaftlichen Gesprächs über ein anderes, vielleicht besseres Leben begreift, wer vom ersten Satz an auf dieses Gespräch zielt, der dialogisiert auch noch im Moment des Monologs – und vermag selbst zu profitieren. Es entsteht, so zeigen die biografischen Passagen dieses Buchs, im Prozess der Popularisierung allmählich ein Gefüge der Bedingungen, das einem selbst beim Denken und beim Erfinden von Begriffen hilft. Es wird ein besonderer Druck zur präzisen und doch anschaulich-packenden Vermittlung und Verständigung erzeugt, der mit einem Mal geistige Kräfte in einen synergetischen Prozess geraten lässt. Das dialogische Prinzip schafft, dies wird deutlich, einen eigenen Resonanzraum. Und allmählich bildet sich in einem steten Wechselspiel von Abstraktion und Anschauung, von Anregung und Reaktion eine Erkenntnismethode eigenen Rechts, von der eine weltabgewandte Wissenschaft nichts weiß und auch nichts wissen kann.
Aber wie dem auch sei: Es war dieser erste Brief, der schließlich zu einem Besuch des Schulz von Thun Instituts in Hamburg führte. Und hier, im direkten Gespräch, entstand die Idee, gemeinsam ein Buch zu schreiben, das einerseits intellektuelle Schlüsselerlebnisse und Wegmarken seines Denkens rekonstruiert, aber doch andererseits auch neue Akzente setzt und zeigt, welche Bedeutung die Kommunikationspsychologie für die eigene Lebensführung, womöglich sogar Lebenskunst besitzt. 2013 fanden schließlich die entscheidenden Treffen statt. Stunde um Stunde und Monat für Monat sprachen wir über die Entstehung der Kommunikationspsychologie und ihre lebenspraktische Anwendung, debattierten und disputierten über die Grenzen des systemischen Denkens und den anthropologischen Optimismus der humanistischen Psychologie, die so entschieden an das Gute im Menschen und seine Entwicklungsfähigkeit glaubt. Und wir stritten einen Nachmittag lang darüber, ob die Birke vor dem Haus, die, während wir aus dem Fenster blickten, heftig vom Wind gezaust wurde, lediglich mithilfe der Sprache und in der Sphäre der Kommunikation von uns erzeugt wird – oder ob sie unabhängig von einem erkennenden Bewusstsein existiert. Ist die Birke auch dann noch da, wenn wir nicht mehr da sind? Gibt es überhaupt ein gemeinsames Erleben, das sich sinnvoll mit dem Wörtchen Birke fassen lässt? Entschieden uneins blieben wir auch in der Frage, welche Bedeutung das hier ziemlich konkret am Beispiel eines einzelnen Baumes erfasste Erkenntnisund Wahrheitsproblem überhaupt für die glückende Kommunikation besitzt oder ob es sich um ein intellektuelles Glasperlenspiel handelt, das für die Praxis des Miteinander-Redens nicht weiter von Belang ist.
So entstand allmählich, in immer neuen, manchmal streng und energisch geführten, manchmal fröhlich mäandernden Gesprächen ein stetig wachsender Stoß von Transkripten, der schließlich auf knapp 600 Seiten anwuchs – ein Konvolut des bestenfalls halb Geordneten, von dem wir sicher waren, dass es niemand würde lesen wollen, belief sich doch schon der Disput über die Birke und ihre eventuell rein von unserer Wahrnehmung abhängige Existenz auf immerhin siebzehn Seiten. Aus diesen Transkripten formten wir in den nun folgenden Wochen und Monaten dieses Buch. Wir schrieben manche Passage neu und um, versuchten das einfach so Dahingesagte und aus dem Moment der Situation heraus Geborene prägnanter zu fassen und erlebten in einem ganz handfesten, handwerklich-praktischen Sinne, dass der zu Papier gebrachte und für die Veröffentlichung bearbeitete Dialog ein Dokument der Mehrstimmigkeit darstellt. Es handelt sich um einen Text mit zwei Autoren, die mit Blick auf ein nie ganz klar eingrenzbares Publikum um das vermutlich beste Ergebnis ringen. Es ist ein realer Dialog zwischen uns und gleichzeitig ein imaginärer Dialog mit womöglich interessierten Leserinnen und Lesern, den wir hier versuchen.
Was nun gedruckt vorliegt, wird in Form eines Dreischritts entfaltet. In einem ersten Kapitel geht es um die großen Fragen, die das Werk von Friedemann Schulz von Thun greifbar werden lassen. Wir diskutieren über seine Modelle, dazu gehören: das Kommunikationsquadrat, die Verständlichkeitsforschung, das Bild des Teufelskreises, das Wertequadrat, die Metapher vom inneren Team und das Ideal der wesensgemäßen und situationsgerechten Stimmigkeit. Wir beleuchten die Entstehungsgeschichte und die möglichen Einflusslinien, um auf diese Weise eine praktische Kommunikationsphilosophie in ihrer ganzen Vielschichtigkeit sichtbar werden zu lassen. In einem zweiten Schritt geht es um die konkreten Fragen der Anwendung. Am Beispiel des Führungskräftecoachings, der Pädagogik und der interkulturellen Kommunikation wird gezeigt, wie sich die einzelnen Modelle für die Selbst- und Teamentwicklung, die Konfliktanalyse und die lösungsorientierte Reflexion nutzen und vor allem auch – gerade mit Blick auf ganz konkrete Herausforderungen, Verwicklungen, Missverständnisse – kombinieren lassen. Hier, im Kapitel über die interkulturelle Kommunikation, kommt dann auch der Disput über die Existenz jener magischen Hamburger Birke zu ihrem Recht.
Schließlich und endlich geht es in einem dritten Schritt um die letzten Fragen. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass jede Kommunikationsphilosophie auf der Annahme basiert, dass man – lebendig genug, kräftig und gesund genug – noch einmal sprechen kann. Das ist der Idealfall, den man unvermeidlich voraussetzen muss: Es gibt noch einen zweiten Versuch; man kann noch einmal anders reden, einen Konflikt auflösen. Es geht irgendwie weiter und die einmal begonnene Kommunikation bleibt prinzipiell reversibel. Ebenso klar ist, dass irgendwann Krankheit, Gebrechen und Tod die Chance des kommunikativen Neubeginns ruinieren und schließlich fundamental zerstören. In den letzten Abschnitten dieses Buches wenden wir uns, eher vorsichtig, tastend und nach der richtigen Tonalität suchend, dem Problem des Todes aus der Sicht einer Kommunikationsphilosophie zu, die vom Miteinander-Reden ausgeht – und doch weiß, dass diese Form des symbolischen Austauschs irgendwann enden muss. Es ist ein durchaus heikler Moment im Gespräch, weil die Gefahr entsteht, andere ungefragt mit Ratschlägen zu versorgen und irgendwelche Fertig-Rezepte einer Lebenskunst zu verkünden, die nicht zur Dramatik der Situation passen und vielleicht besser in den zahllosen Glücks- und Simplify-Ratgebern aufgehoben sind, die seit einigen Jahren den Markt fluten. Friedemann Schulz von Thun »löst« diese Spannung zwischen einem Bemühen um Orientierung und dem stets gegenwärtigen Risiko der pauschalen Bevormundung ohne Rücksicht auf konkrete Gegebenheiten, indem er (und das gilt auch für die anderen Kapitel des Buchs und insgesamt alle Versuche einer lebenspraktischen Anwendung seiner Modelle) die Idee einer allgemeingültigen Norm oder Verhaltensmaxime radikal zurückweist – und die persönliche Stimmigkeit als eine Art Oberideal vorstellt, die einerseits wesensgemäß, andererseits situations- bzw. schicksalsgerecht ist. Lebenskunst ist, so sagt er, »nicht in einem Regelbuch fixierbar, sondern stellt diejenige Lebensführung dar, die zu mir und der individuellen Beschaffenheit meiner Seele passt, aber eben doch auch von der Frage geleitet wird, was das Leben selbst an mich heranträgt und mir abverlangt. Es ist diese dynamische Balance aus Selbstfürsorge und Hingabe an ein Ganzes, von dem man selbst ein Teil ist, um die es geht. Statt fertiger Antworten haben wir eine Heuristik zu bieten im Sinne einer Kunst des Herausfindens. Die heuristischen Modelle und Methoden laden ein zur individuellen Selbsterarbeitung.« Eine solche ins Offene weisende Programmatik ist folgenreich. Es ist nicht nur die Aussicht auf die unter allen Umständen erfolgreiche Selbstoptimierung, die einem genommen wird. Man muss überdies von einem bequemen Rezeptdenken Abschied nehmen, der Suche nach fertigen, situationsunabhängig gültigen Prinzipien, die für alle gelten können – immer und überall. Was bleibt, sind Meta-Rezepte und gedankliche Rahmenbildungen, Werkzeuge zur Entdeckung der eigenen, individuellen Lösung. »Wer das Stimmigkeitskonzept ernst nimmt«, so heißt es ganz in diesem Duktus an anderer Stelle, »kann keine Verhaltensschablonen mehr empfehlen – und wenn man doch einmal ein Rezept präsentiert, so bleibt dies der Selbsterarbeitung überlassen.« Das ist, wenn man so will, der innere Liberalismus der Kommunikationspsychologie: Ihre Reflexionswerkzeuge und Denkmodelle erlauben es, einen Rahmen für die überlegte Suche nach der besten Lösung zu kreieren, aber sie sind nicht schon selbst das fertige Bild oder gar eine endgültige Antwort. Sie sind vielmehr (und eben darin besteht ihr Wert) Starthilfe und gedankliches Geländer für eine sinnvolle eigene, unvermeidliche individuelle Suchbewegung, die die Kommunikation mit sich selbst, den eigenen inneren Stimmen und die Kommunikation mit anderen zur Lebenskunst reifen lassen kann.
Dieses Vorwort setzte mit der Behauptung ein, Schreiben sei einsam und monologisch und ein Text Resultat eines Rückzugs in die soziale Echolosigkeit und Einsamkeit. Aber all dies trifft hier offenkundig nicht zu. Und das liegt nicht nur daran, dass es sich um ein Buch handelt, das eine im Kern dialogische Kommunikationsphilosophie in dialogischer Form behandelt: der Mensch mit dem anderen Menschen – das ist der elementar-existenzielle Fokus, um den es hier geht. Es hat auch damit zu tun, dass schon die Monate der Vorbereitung von Gesprächen geprägt waren, die ich mit Mitarbeitern, Freunden und Gefährten von Friedemann Schulz von Thun geführt habe. Namentlich danken möchte ich für diese Gelegenheit zum Austausch und zur Debatte: Karen Knipping, Dagmar Kumbier, Marcus Poenisch, Alexander Redlich, Eberhard Stahl, Roswitha Stratmann, Christoph Thomann und Ingrid Schulz von Thun.
Recherchen im Archiv des Esalen-Instituts brachten mir die großen Philosophen und Psychologen der Gegenkultur nahe. Hier, in einem kleinen, fensterlosen Holzhaus an der atemberaubenden Steilküste im kalifornischen Big Sur, stieß ich auf Hunderte, noch unveröffentlichte Filmaufnahmen aus der Ur- und Frühgeschichte der humanistischen Psychologie und des systemischen Denkens. Und wenn man sich, wie geschehen, für ein paar Tage in das Halbdunkel im Innern dieses Häuschens zurückzieht und eine der zahllosen DVDs einwirft, dann beginnen die Anreger von einst wieder zu sprechen und erscheinen plötzlich seltsam lebendig. Man hört mit einem Mal den Kybernetiker Gregory Bateson, der über das Spiel der Fischotter und die notwendige Metakommunikation der Fischotter doziert, die doch irgendwie signalisieren müssen, dass das, was sie da tun und treiben, eben nur ein Spiel ist und eben kein ernsthafter Kampf, der zum Äußersten herausfordert. Man stößt auf Virginia Satir, Familientherapeutin der ersten Stunde, und schaut ihr beim Aufstellen eines Familiensystems zu. Man begegnet Abraham Maslow und seinem Spott über einen traurigen, alten Mann mit Namen Sigmund Freud, der sich so entschieden auf Pathologien, Defekte und frühkindliche Mangelerfahrungen konzentrierte und dabei die kreativen Höchstleistungen des Menschen und die Phasen einer fröhlich-behaglichen Normalität übersah. Und man stolpert gleichsam in eine Sitzung mit dem beständig rauchenden Gestalttherapeuten Fritz Perls, der die inneren Stimmen eines Menschen auf verschiedenen Stühlen zur Aufführung bringt. Und je länger man zuhört und zuschaut und sich der Magie der hier versammelten Dialogiker überlässt, desto greifbarer wird eine Stimmung des Aufbruchs und des intellektuellen Neubeginns, die die Entwicklung des systemischen und humanistischen Denkens begleitet und hintergründig auch die Entstehung der Kommunikationspsychologie geprägt hat. Der Coach und Freund Jan-Lüder Röhrs brachte mir – nach diesen Streifzügen in die Grenzbereiche von Wissenschaft und Weltanschauung und den Besuchen in Esalen – die praktische Anwendung der Modelle von Friedemann Schulz von Thun näher und führte vor, wie man sie im alltäglichen Einsatz kombiniert. Kati Trinkner half mit einem detektivischen Gespür bei Beschaffung von Literatur und wurde bei Aufbereitung von Archivmaterialien und Transkripten von Nina Linsenmayer, Sabine Volk und vor allem Judith Schächterle unterstützt. Ralf Holtzmann vom Carl-Auer Verlag begleitete das gesamte Projekt mit einer ermutigenden Begeisterung, die auch dann nicht endete, als der Zeitplan immer enger wurde. Und Julia Raabe war wie stets die erste Leserin, die ihre Einwände so charmant formulierte, dass sie den Charakter einer Inspiration bekamen. Ohne Friedemann Schulz von Thun und seine unermüdliche Gesprächsbereitschaft, ohne sein Engagement und sein Vertrauen wäre all dies nicht entstanden. Was mir dann fehlen würde, das weiß ich jetzt – drei Jahre nach einem ersten Brief, der ihn eigentlich dazu verführen sollte, allein und für sich ein Buch zu schreiben und in der Stille seines Schreibzimmers einen Monolog zu beginnen. Insofern sei auch ihm herzlich und in besonderer Weise gedankt.
Bernhard Pörksen
Tübingen, im Februar 2014
I. Die großen Fragen