Cover

In den Dreißigerjahren hatte der Maler Masuji Ono seine Kunst in den Dienst der japanischen Expansionspolitik gestellt. Jetzt, nach dem Krieg, ist sein einstiger Patriotismus anrüchig geworden. Als seine Tochter heiraten will, wird seine Vergangenheit sogar zur Belastung für die Familie: Die junge Frau gilt aufgrund der Nähe ihres Vaters zum faschistischen Regime und seiner Tätigkeit als Informant der Staatspolizei als keine gute Partie. Onos gesellschaftlicher Statusverlust veranlasst ihn zu einer Lebensbeichte, die ein heilloses Geflecht aus Schuld und Irrtum offenbart und einen schmerzvollen Läuterungsprozess beschreibt.

Der Maler der fließenden Welt ist ein eindringlicher, meisterhaft erzählter Roman über einen Künstler, der mit seiner Vergangenheit ringt. Kazuo Ishiguro lässt das vom Krieg zerrüttete Japan der Nachkriegszeit wieder aufleben – ein Land im Umbruch und ein Volk, das nach einem neuen Lebenssinn sucht.

»Der Maler der fließenden Welt ist ein Buch voller Weisheit und wunderbar zu lesen.« – The Times Literary Supplement

»Kazuo Ishiguro ist ein genialer Erzähler, der neue Maßstäbe setzt.« –  The Independent

KAZUO

ISHIGURO

Der Maler der

fließenden Welt

Roman

Aus dem Englischen

von Hartmut Zahn

Mit einem Vorwort

des Autors

BLESSING

Titel der Originalausgabe:

AN ARTIST OF THE FLOATING WORLD

Originalverlag:

Faber & Faber, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Neuausgabe 03/2021

Copyright © 1986 by Kazuo Ishiguro

Copyright © 2016 des Vorworts by Kazuo Ishiguro,

aus dem Englischen von Sabine Herting

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -illustration: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs von JoyImage/Shutterstock

Herstellung: Gabriele Kutscha

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-28074-1
V001

www.blessing-verlag.de

VORWORT

Ich begann Der Maler der fließenden Welt im September 1981 in einer Kellerwohnung im Londoner Shepherd’s Bush. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt. Mein erster Roman Damals in Nagasaki wurde zwar gerade zur Veröffentlichung vorbereitet, aber zu dem Zeitpunkt gab es für mich keinerlei vernünftigen Grund, davon auszugehen, ich hätte ein Leben als Vollzeitschriftsteller vor mir.

Lorna und ich waren in jenem Sommer nach London zurückgekehrt (wir hatten zuvor in Cardiff gelebt), wir hatten neue Jobs in der Hauptstadt, aber noch keine Wohnung gefunden. Wenige Jahre zuvor waren wir beide Teil eines losen Netzwerks von jungen, links gerichteten, alternativen Leuten gewesen, die in der Gegend von Ladbroke Grove und Hammersmith in Wohnungen mit kurzen Mietverträgen lebten und für gemeinnützige Projekte oder Aktionsgruppen arbeiteten. Heute erscheint es seltsam, wie sorglos wir waren, als wir in jenem Sommer in der Stadt auftauchten und darauf vertrauten, wir könnten, bis wir eine passende Wohnung aufgetan hätten, in der einen oder anderen Hausgemeinschaft unterkommen. Wie sich herausstellte, passierte nichts, was unsere Gelassenheit herausgefordert hätte, und schon bald fanden wir eine kleine Untergeschosswohnung direkt an der belebten Goldhawk Road.

Die Wohnung lag neben den Tonstudios der damals angesagten Virgin Records, und oft sahen wir große langhaarige Männer Equipments in das fensterlose, bunt bemalte Gebäude hinein- und von dort hinausschleppen. Doch die Schalldämmung war beispielhaft, und wenn ich an unserem Esstisch saß, den winzigen Garten im Rücken, befand ich mich in einer Umgebung, die sich zum Schreiben bestens eignete.

Lorna hatte bei Weitem den längeren Weg zur Arbeit, zu ihrer neuen Stelle als Sozialarbeiterin bei der Gemeinde Lewisham am anderen Ende der Stadt. Meine Arbeit lag nur einen Steinwurf entfernt – ich war »Helfer für Wiedereingliederung« bei den West-Londoner Cyrenians geworden, einer hoch angesehenen Organisation, die mit Obdachlosen arbeitet. Wir trafen eine Vereinbarung, um die Sache gerechter zu gestalten: Wir würden jeden Morgen gemeinsam aufstehen, und wenn Lorna zur Tür hinausginge, würde ich mich an den Tisch setzen und meine frühmorgendlichen neunzig Minuten schreiben, ehe ich zu meiner eigenen Arbeit aufbräche.

Viele großartige Werke sind von Schriftstellern geschaffen worden, die einem herausfordernden Beruf nachgingen. Doch ich war immer erbärmlich, nahezu krankhaft unfähig, meine Aufmerksamkeit aufzuspalten, und jene Wochen, in denen ich mich bemühte, am Esstisch zu schreiben, während die Sonne langsam höher stieg und unser Untergeschoss mit Licht erfüllte, sind bis heute mein einziger Versuch geblieben, »Teilzeitautor« zu sein. Das war nicht unbedingt ein Erfolg. Ich ertappte mich dabei, dass ich auf die weißen Blätter starrte und gegen das dringende Bedürfnis ankämpfte, mich wieder ins Bett zu legen. (Mein Tagesjob forderte mich rasch intensiv und zwang mich oft, bis spät in die Nacht zu arbeiten.) Daran änderte auch Lornas Beharrlichkeit nichts, dass ich jeden Tag mit einem absonderlichen Frühstück beginnen sollte, das aus gruselig grobkörnigen Ballaststoffen bestand, über die Hefe und Weizenkeime gestreut wurden – eine Mischung, die bewirkte, dass ich mich manchmal auf meinem Stuhl zusammenkrümmte. Und dennoch geschah es während dieser Stunden, dass mir der Kern – die Story und die zentrale Prämisse – von Der Maler mehr oder weniger vollständig ausgeformt in den Sinn kam. Es gelang mir, die Geschichte auf fünfzehn Seiten (später in Granta unter dem Titel »The Summer after the War« veröffentlicht) niederzuschreiben, aber da wusste ich bereits, dass ich eine viel umfangreichere, komplexere Architektur bräuchte, um die Idee in den Roman einzubauen, der sich in meiner Fantasie bereits reizvoll abzeichnete. Doch dann bereiteten die Anforderungen meines Jobs meinen morgendlichen Schreibstunden ein Ende.

Ernsthaft kehrte ich zu Der Maler erst im Winter 1982 zurück. Unterdessen war Damals in Nagasaki mit – für einen Erstlingsroman – ordentlichem Wirbel erschienen. Das Buch hatte Verleger in den USA und in mehreren anderen Sprachräumen gefunden und mich auf die neu lancierte Granta-Liste der zwanzig besten, jungen britischen Romanciers gebracht, die im folgenden Frühjahr vorgestellt werden sollten. Meine Schriftstellerkarriere schien noch immer heikel, aber nun hatte ich Anlass zur Zuversicht und kündigte meine Stelle bei den Cyrenians, um Vollzeitschriftsteller zu werden.

Wir siedelten nach Süd-Ost-London um und bezogen die oberste Etage eines hohen viktorianischen Hauses in einer ruhigen Gegend von Upper Sydenham. In unserer Küche fehlte eine Spüle, sodass wir das schmutzige Geschirr auf einen alten Teewagen packen und ins Badezimmer karren mussten. Aber wir wohnten nun näher an Lornas Arbeitsstelle, und der Wecker schellte sehr viel später. Die gruseligen Frühstücke hatten ein Ende. Das Haus gehörte Michael und Lenore Marshall, einem wunderbaren Ehepaar Anfang sechzig, das unten wohnte, und rasch wurde es zur Gewohnheit, dass wir uns am Ende eines jeden Arbeitstags in ihrer Küche trafen (die eine Spüle hatte), um miteinander Tee zu trinken, Mr-Kipling-Kuchen zu essen und oft ausschweifende, vergnügte Gespräche über Bücher, Politik, Cricket, die Werbebranche, die Exzentrik der Engländer zu führen. (Nach Lenores überraschendem Tod, wenige Jahre später, widmete ich ihr zum Gedenken Was vom Tage übrig blieb.) Etwa um dieselbe Zeit wurde mir ein Job bei Channel 4 angeboten, der in Kürze sein Programm aufnehmen sollte, und diese Erfahrung als TV-Drehbuchautor (letztendlich wurden auf diesem Kanal nur ganze zwei Filme von mir gesendet) hatte bedeutsame, wenn auch gegenteilige Auswirkungen auf mein Schreiben von Der Maler.

Ziemlich besessen verglich ich meine Drehbücher – insbesondere die Dialoge und dazugehörigen Regieanweisungen – seitenweise mit meinem veröffentlichten Roman und fragte mich: »Unterscheidet sich meine Fiktion ausreichend von einem Drehbuch?« Große Teile von Damals in Nagasaki erschienen mir einem Drehbuch entsetzlich ähnlich – Dialog, gefolgt von einer »Anweisung«, wiederum gefolgt von Dialog. Ich war ernüchtert. Warum sich die Mühe machen, einen Roman zu schreiben, wenn er doch mehr oder weniger die gleiche Erfahrung bot, die man beim Einschalten des Fernsehers machen konnte? Wie sollte der Roman, als Form, gegen die Macht des Kinos und des Fernsehens aufs Überleben hoffen, wenn er nicht etwas Einzigartiges zu bieten hat, etwas, das die anderen Formen so nicht können? (In den frühen Achtzigerjahren, das sollte ich betonen, schien es dem zeitgenössischen Roman deutlich schlechter zu gehen als heute.) Ich hatte seit jenen morgendlichen Anstrengungen in Shepherd’s Bush eine klare Vorstellung von der Geschichte, die ich schreiben wollte. Aber in Sydenham trat ich nun in eine lange Phase des Experimentierens, auf welche Weise ich sie erzählen würde. Ich hatte mir fest vorgenommen, dass mein neuer Roman kein »Drehbuch in Prosa« werden sollte. Aber was könnte er dann sein?

Zu der Zeit schnappte ich einen Virus auf und lag ein paar Tage im Bett. Als ich das Schlimmste überstanden hatte und nicht mehr stundenlang schlief, entdeckte ich, dass es sich bei dem Buch, das ich mit ins Bett genommen hatte, bei dem Gegenstand, der in meinen Bettbezug geraten war, um den ersten Band der kürzlich erschienenen Proust-Übersetzung Remembrance of Things Past von Kilmartin-Moncrieff handelte. Möglicherweise hat der Umstand meines Krankseins diesem Werk einen besonderen Rahmen gegeben (ich war damals kein bedingungsloser Proust-Anhänger und bin es auch heute nicht: Ich finde weite Strecken seines Schreibens schrecklich langweilig), aber die »Overture« und »Combray« fesselten mich. Immer wieder las ich sie. Ganz abgesehen von der sublimen Schönheit dieser Passagen begeisterte mich das, was ich damals in Gedanken (und später in meinen Aufzeichnungen) die Proust’schen »Methoden der Bewegung« nannte – die Mittel, mit denen er die Übergänge von einer Episode zur nächsten gestaltete. Die Anordnung der Ereignisse und Szenen folgte nicht den Anforderungen der Chronologie und ebenso wenig denen einer sich linear entfaltenden Handlung. Stattdessen schienen sprunghafte Gedankenassoziationen oder die Launen der Erinnerung den Roman von einem Teil zum nächsten voranzutreiben. Manches Mal führte allein schon die Tatsache, dass die gegenwärtige Episode durch die vorherige ausgelöst wurde, zu der Frage: »Warum?« Aus welchem Grund standen diese scheinbar unverbundenen Momente im Kopf des Erzählers nebeneinander? Ich entdeckte nun eine aufregende, freiere Möglichkeit, meinen Roman zu komponieren; eine, mit der ich Fülle auf jede Seite bringen und innere Bewegungen zeigen könnte, die auf einem Bildschirm oder einer Leinwand unmöglich darzustellen wären. Würde ich also mit Gedankenassoziationen und schweifenden Erinnerungen des Erzählers von einer Passage zur anderen übergehen, so könnte ich nahezu auf die Weise komponieren, wie ein abstrakter Maler Formen und Farben auf einer Leinwand anordnet. Ich könnte eine Szene von zwei Tagen zuvor direkt neben eine von vor zwanzig Jahren stellen und den Leser auffordern, über die Beziehung zwischen beiden nachzusinnen. Oft würde nicht einmal der Erzähler die tieferen Gründe für eine bestimmte Reihung wissen müssen. Ich sah eine Art des Schreibens vor mir, welche die vielen Schichten der Selbsttäuschung und Verleugnung andeutete, den Schleier, durch den jeder Mensch sich selbst und seine Vergangenheit wahrnimmt. Bahnbrechende Momente für einen Romanautor sind oft: schludrige kleine Ereignisse. Wenn ich nun zurückblicke, erkenne ich, dass diese drei Tage Rekonvaleszenz von einem Virus in einem Schlafzimmer in Sydenham und das Wieder- und Wiederlesen derselben zwanzig Proust’schen Seiten ein entscheidender Wendepunkt in meinem Schriftstellerleben waren – sehr viel bedeutender, als etwa einen großen Preis zu bekommen oder bei Filmpremieren über den roten Teppich zu gehen. Alles, was ich anschließend geschrieben habe, war von den Erkenntnissen bestimmt, die sich mir in jenen Tagen offenbart hatten.

Ich sollte hier etwas zum japanischen Aspekt von Der Maler anmerken. Er ist im wahren Sinne des Wortes der japanischste meiner Romane, da er in Gänze in Japan spielt und ausschließlich japanische Figuren agieren. Die Sprache im Roman – die Erzählung in der ersten Person und der Dialog – ist als Japanisch aufzufassen, auch wenn der Roman auf Englisch geschrieben ist. Mit anderen Worten, Sie sollten sich vorstellen, dass dieses Buch so etwas wie eine Übersetzung ist: dass hinter den englischen Sätzen japanische stehen. Diese Strategie hatte Auswirkungen auf jedes einzelne Wort, das ich niederschrieb. Ich wollte, dass die Sprache fließt und natürlich wirkt, und doch sollte sie nicht zu vertraut – zu »englisch« – sein. Manchmal überraschte ich mich dabei, dass ich japanische Wendungen und Scherze recht wörtlich übersetzte. Doch meist ging es darum, ein elegantes und doch leicht gestelztes Register zu finden, das auf die Rhythmen und die stilisierte Förmlichkeit der japanischen Sprache hinweist, die immer hinter dem Englischen mitklingt.

Lassen Sie mich als Letztes hier noch etwas anfügen, das den größeren sozialen Kontext betrifft, in dem der Roman entstanden ist. Der Maler wurde zwischen 1981 und 1985 geschrieben, in den Jahren des entscheidenden, oft fragwürdigen und bitteren Umbruchs in Großbritannien. Mit Margret Thatchers Regierungsjahren endete der politische Konsens der Nachkriegszeit über den Sozialstaat und der Erwünschtheit einer »gemischten« Wirtschaft (in der sich Schlüsselindustrien und Wirtschaftsgüter sowohl in öffentlicher als auch in privater Hand befinden). Es gab ein offen angekündigtes, hartes Programm mit dem Ziel, das Land, das auf Fertigungs- und Schwerindustrie mit großen gewerkschaftlich organisierten Arbeitskräften beruhte, in eine überwiegend auf Dienstleistung beruhende Wirtschaft mit einer fragmentierten, flexiblen, nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft zu verwandeln. Es war die Zeit der Bergarbeiterstreiks, des Kampfs der Druckergewerkschaft, der Protestmärsche für nukleare Abrüstung, des Falkland-Kriegs, des IRA-Terrorismus, die Zeit einer Wirtschaftstheorie – des »Monetarismus« –, die tiefe Einschnitte in die öffentlichen Dienste als notwendige Medizin definierte, um eine kranke Wirtschaft zu heilen. Ich erinnere mich, dass ich mich bei einem Abendessen mit einem meiner ältesten und engsten Freunde heftig zerstritt, da wir gegensätzliche Ansichten zum Bergarbeiterstreik vertraten. Dieser Roman spielt in Japan zur Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, doch er ist sehr von dem mich damals umgebenden Großbritannien geprägt: von dem Druck auf Menschen aller gesellschaftlichen Schichten, politisch Stellung zu beziehen; den unbeugsamen, zu Selbstgerechtigkeit und finsterer Aggression neigenden Überzeugungen begeisterter, oft jugendlicher Gruppierungen; dem Ringen mit der »Rolle des Künstlers« in einer Zeit der politischen Veränderung. Und für mich persönlich: geprägt von dem nagenden Gefühl, wie schwierig es ist, über den dogmatischen Eifer einer Zeit hinweg klar zu sehen; und von der Angst, Zeit und Geschichte könnten erweisen, dass man sich trotz aller guten Absichten für eine falsche, anstößige, sogar böse Sache eingesetzt und seine besten Jahre und Talente dafür vergeudet hatte.

Kazuo Ishiguro