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London in den Dreißigerjahren. Die ganze Stadt schwärmt von Christopher Banks und seinen Erfolgen. Es gibt nur einen Fall, den der Meisterdetektiv bisher nicht aufklären konnte: das mysteriöse Verschwinden seiner Eltern in Shanghai, der Stadt seiner Kindheit. Beide Eltern waren in den Opiumhandel verstrickt – der Vater als Profiteur, die Mutter als erklärte Gegnerin. Als Banks die Erinnerungen an diese Zeit immer mehr quälen, macht er sich noch einmal auf den Weg nach Shanghai. Bei seiner Rückkehr tobt dort der chinesisch-japanische Krieg. Seine Nachforschungen führen ihn in die glamourösen Kreise der Diplomaten und internationalen Unternehmer, in die Armenviertel und in die Ruinen des japanischen Gettos.

Aber der Wahrheit darüber, was mit seinen Eltern geschah, kommt er erst auf die Spur, als er seinen Onkel Philip wiedertrifft. Als wir Waisen waren ist eine spannende Spurensuche und das faszinierende Porträt einer ganzen Epoche.

»Will man beschreiben, warum die Romane des englischen Schriftstellers Kazuo Ishiguro eine so betörende Wirkung entfalten, könnte man sagen: Da ist ein Klang von Stille.« – Die Zeit

»Kazuo Ishiguro ist ein außergewöhnliches Genie.« – The New York Times

KAZUO

ISHIGURO

Als wir Waisen waren

Roman

Aus dem Englischen

von Sabine Herting

BLESSING

Titel der Originalausgabe:

WHEN WE WERE ORPHANS

Originalverlag:

Faber & Faber, London

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Neuausgabe 03/2021

Copyright © 2000 by Kazuo Ishiguro

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -illustration: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs von rtguest/Shutterstock

Herstellung: Gabriele Kutscha

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-28070-3
V001

www.blessing-verlag.de

Für Lorna und Naomi

ERSTER TEIL

London, 24. Juli 1930

1

Es war im Sommer 1923, kurz nach meinem Abschluss in Cambridge, als ich entschied, meine Zukunft liege in der Hauptstadt, auch wenn meine Tante wünschte, dass ich nach Shropshire zurückkehrte. Und so mietete ich eine kleine Wohnung in den Bedford Gardens 14 b in Kensington. Heute habe ich diese Zeit als meinen schönsten Sommer in Erinnerung. Nach Jahren, die ich umgeben von Kameraden verbracht hatte, in der Schule und in Cambridge, genoss ich es sehr, allein zu leben. Ich erfreute mich an den Londoner Parks, an der Stille des Leseraums im British Museum; ich gönnte mir das Vergnügen, ganze Nachmittage lang durch die Straßen von Kensington zu streifen und Zukunftspläne zu schmieden, wobei ich gelegentlich stehen blieb, voll Bewunderung, dass man hier in England, mitten in dieser großen Stadt, Kletterpflanzen und Efeu an den Fassaden eleganter Häuser emporranken sah.

Auf einem dieser gemächlichen Spaziergänge traf ich zufällig einen alten Schulfreund, James Osbourne, und als ich feststellte, dass wir nahe beieinanderwohnten, schlug ich ihm vor, er solle mich doch besuchen, wenn er das nächste Mal vorbeikomme. Obwohl ich bis dahin noch keinen einzigen Gast empfangen hatte, sprach ich diese Einladung in der Überzeugung aus, meine Wohnung mit Sorgfalt gewählt zu haben. Die Miete war nicht hoch, und meine Hauswirtin hatte die Räume geschmackvoll eingerichtet, sodass sie den Geist einer gemütlichen viktorianischen Vergangenheit wachriefen; im Salon, in den vormittags die Sonne hineinschien, standen ein altes Sofa sowie zwei behagliche Sessel, eine antike Anrichte und ein Bücherschrank aus Eichenholz, in dem sich zerlesene Enzyklopädien befanden – all dies, davon war ich überzeugt, würde die Anerkennung eines Besuchers finden. Außerdem hatte ich, kaum dass ich eingezogen war, in Knightsbridge ein Queen-Anne-Teeservice, verschiedene feine Teesorten und eine große Keksdose erstanden. Als mich dann Osbourne tatsächlich einige Tage später morgens besuchte, konnte ich ihm die kleinen Stärkungen mit einer solchen Selbstverständlichkeit servieren, dass er nie auf den Gedanken gekommen wäre, er sei mein erster Gast.

In der ersten Viertelstunde wanderte Osbourne ruhelos in meinem Salon hin und her, lobte meine Wohnung, betrachtete dieses und jenes und warf in regelmäßigen Abständen einen Blick aus dem Fenster, um alles, was sich unten abspielte, zu kommentieren. Schließlich ließ er sich aufs Sofa fallen, und wir erzählten uns die Neuigkeiten – unsere eigenen und die unserer alten Schulfreunde. Ich erinnere mich, dass wir eine Weile über die Aktivitäten der Gewerkschaften diskutierten, ehe wir eine lange Debatte über deutsche Philosophie führten, für uns eine willkommene Gelegenheit, einander unsere intellektuelle Gewandtheit vorzuführen, die wir auf unseren jeweiligen Universitäten erworben hatten. Dann stand Osbourne auf und ging wieder auf und ab, während er seine verschiedenen Zukunftspläne ausbreitete.

»Ich würde gerne im Verlagswesen arbeiten, weißt du. Zeitung, Zeitschrift, so etwas. Am liebsten würde ich eine eigene Kolumne schreiben. Über politische oder soziale Fragen. Dies für den Fall, wie gesagt, dass ich nicht doch noch beschließe, selbst in die Politik zu gehen. Sag, Banks, hast du wirklich keinerlei Vorstellung, was du machen möchtest? Sieh doch, da draußen, alles wartet auf uns.« Er deutete zum Fenster. »Bestimmt hast du irgendwelche Pläne.«

»Kann schon sein«, sagte ich lächelnd. »Ich habe ein, zwei Dinge im Kopf. Ich werde dir davon erzählen, wenn es so weit ist.«

»Was hast du in der Hinterhand? Komm schon, heraus damit! Ich finde es doch sowieso heraus!«

Doch ich verriet ihm nichts, und kurz darauf hatte ich ihn wieder so weit, dass wir über Philosophie, Poesie oder Ähnliches diskutierten. Gegen Mittag erinnerte sich Osbourne plötzlich an eine Verabredung zum Lunch am Piccadilly und suchte seine Sachen zusammen. Als er gerade gehen wollte, drehte er sich an der Tür noch einmal um und sagte: »Alter Freund, was ich dir noch sagen wollte. Ich gehe heute Abend auf eine Party. Ein Onkel von mir gibt sie, zu Ehren von Leonard Evershott. Der Tycoon, du weißt schon. Sehr kurzfristig, aber vielleicht möchtest du mitkommen. Das meine ich ganz ernst. Ich wollte schon vor einiger Zeit bei dir vorbeischauen, aber es hat nie geklappt. Das Fest findet im Charingworth statt.«

Als ich nicht sofort antwortete, machte er einen Schritt auf mich zu und sagte: »Ich dachte an dich, weil ich mich erinnert habe. Ich habe mich erinnert, wie du mich immer wegen meiner ›guten Verbindungen‹ aufgezogen hast. Ach, komm schon! Tu nicht so, als hättest du es vergessen! Du hast mich immer gnadenlos ausgefragt. ›Gute Verbindungen‹ – was heißt das genau? Nun ja, ich dachte, das wäre für den alten Banks eine gute Gelegenheit, sich einmal selbst die ›guten Verbindungen‹ anzusehen.« Dann schüttelte er den Kopf, als wäre er in der Erinnerung versunken, und sagte: »Mein Gott, zu Schulzeiten warst du wirklich ein merkwürdiger Vogel.«

Ich glaube, an diesem Punkt stimmte ich schließlich seinem Vorschlag für den Abend zu – einen Abend, der sich noch als bedeutungsvoller erweisen sollte, als ich es mir damals habe vorstellen können – und geleitete ihn hinaus, ohne ihm im Mindesten den Groll zu zeigen, den ich bei seinen letzten Worten empfand.

Mein Ärger wurde erst größer, als ich mich wieder hingesetzt hatte. Ich hatte sofort geahnt, worauf Osbourne anspielte. Tatsache war, dass ich während der Schulzeit wiederholt hatte sagen hören, Osbourne habe »gute Verbindungen«. Eine Formulierung, die unweigerlich benutzt wurde, wenn Leute über ihn sprachen, und ich glaube, auch ich wandte sie auf ihn an, wann immer sie mir angebracht schien. Tatsächlich faszinierte mich der Gedanke, er sei auf geheimnisvolle Weise mit Leuten der höheren Gesellschaftsschichten verbunden, auch wenn er nicht anders aussah und sich nicht anders verhielt als wir Übrigen. Wie auch immer, ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihn »gnadenlos ausgefragt« haben soll, wie er behauptet hatte. Richtig ist, dass ich viel über dieses Thema nachdachte, als ich vierzehn oder fünfzehn war, doch Osbourne und ich waren uns in der Schulzeit nicht besonders nahe, und ich habe ihn, soweit ich mich erinnere, nur ein einziges Mal persönlich darauf angesprochen.

Es war ein nebliger Morgen im Herbst, und wir beide saßen auf einem niedrigen Mäuerchen vor einem Landgasthaus. Damals besuchten wir, glaube ich, die fünfte Klasse. Wir waren als Streckenposten bei einem Querfeldeinlauf eingesetzt und warteten darauf, dass die Läufer aus dem Nebel auftauchten, der über einem nahe gelegenen Feld hing, sodass wir ihnen die richtige Route, einen matschigen Weg hinunter, weisen konnten. Da wir die Läufer nicht so rasch erwarteten, konnten wir in Ruhe miteinander plaudern. Ich bin sicher, dass ich Osbourne bei dieser Gelegenheit nach seinen »guten Verbindungen« fragte. Osbourne, der trotz seines Reichtums von Natur aus bescheiden war, versuchte, das Thema zu wechseln. Doch ich blieb beharrlich, bis er schließlich sagte:

»Ach, Banks, hör doch auf damit. Das ist doch alles Unsinn, da gibt es nichts zu analysieren. Man kennt ganz einfach Leute. Man hat Eltern, Onkel und Freunde der Familie. Ich weiß nicht, warum du dir darüber den Kopf zerbrichst.« Als ihm dann sehr schnell bewusst wurde, was er gesagt hatte, drehte er sich zu mir um und berührte meinen Arm. »Tut mir schrecklich leid, alter Kumpel. Das war sehr taktlos von mir.«

Dieser Fauxpas schien Osbourne viel mehr zu peinigen als mich. Es ist sehr gut möglich, dass er ihm all die Jahre auf der Seele lastete, sodass seine Frage, ob ich ihn an jenem Abend in den Charingworth Club begleiten wolle, in gewisser Weise der Versuch einer Wiedergutmachung war. Auf jeden Fall war ich an jenem nebligen Vormittag überhaupt nicht verstimmt über seine zugegebenermaßen gedankenlose Bemerkung. Was mich wahrhaftig irritiert hatte, war der Umstand, dass meine Schulfreunde, die sonst über jedes Unglück scherzen konnten, das anderen zustieß, tiefen Ernst bewahrten, als sie zum ersten Mal hörten, dass ich keine Eltern hatte. Auch wenn es merkwürdig klingen mag: Die Tatsache, dass ich ohne Eltern war – und abgesehen von meiner Tante in Shropshire auch ohne nahe Verwandte –, hatte für mich damals schon lange aufgehört, ein großes Problem zu sein. Wie ich meinen Kameraden häufig darlegte, hatten wir doch in einem Internat wie dem unsrigen alle lernen müssen, ohne Eltern auszukommen, und daher war meine Position keineswegs so einzigartig. Dennoch erscheint es mir, wenn ich heute zurückblicke, gut möglich, dass meine Faszination für Osbournes »gute Verbindungen« letztlich etwas mit dem zu tun hatte, was ich damals als das völlige Fehlen von Verbindungen zu der Welt außerhalb von St. Dunstan empfand. Dass ich, wenn es so weit wäre, solche Verbindungen knüpfen und meinen Weg machen würde, daran hatte ich keinen Zweifel. Doch möglicherweise glaubte ich, von Osbourne Grundlegendes über die Art und Weise lernen zu können, wie diese Dinge funktionieren.

Doch wenn ich eben sagte, dass Osbournes Worte, als er meine Wohnung verließ, mich in gewisser Weise verletzten, so will ich das nicht darauf bezogen wissen, dass er mich auf meine »Befragung« Jahre zuvor ansprach. Woran ich eher Anstoß nahm, war sein beiläufiges Urteil, ich sei »zu Schulzeiten so ein merkwürdiger Vogel« gewesen.

Es ist mir immer ein Rätsel geblieben, wie Osbourne an jenem Morgen so etwas über mich sagen konnte, da ich mich meines Wissens doch perfekt in das englische Schulleben einfügte. Selbst in meinen ersten Wochen in St. Dunstan habe ich nichts getan, was mich in Verlegenheit hätte bringen können. Ich erinnere mich zum Beispiel, an meinem allerersten Tag bei vielen Jungen, wenn sie herumstanden und redeten, eine gekünstelte, unnatürliche Verhaltensweise beobachtet zu haben: Sie steckten die rechte Hand in die Westentasche und hoben und senkten die linke Schulter mit einer Art Achselzucken, um gewisse Äußerungen zu unterstreichen. Ich weiß mit Bestimmtheit, dass ich schon an jenem ersten Tag diese manierierte Gewohnheit mit ausreichender Sachkenntnis nachahmte, sodass nicht einem einzigen meiner Kameraden etwas Merkwürdiges auffiel oder auch nur einer daran dachte, sich über mich lustig zu machen.

Und mit ähnlichem Elan verinnerlichte ich die anderen Gesten, Redewendungen, die unter meinesgleichen üblichen Ausrufe ebenso wie die ungeschriebenen Gebräuche und Anstandsregeln, die in dieser Umgebung herrschten. Ich habe sicherlich recht schnell begriffen, dass es nicht zu meinem Vorteil wäre, meinen Ansichten über Verbrechen und ihre Aufklärung freien Lauf zu lassen, wie ich es in Shanghai immer getan hatte. Als sich während meines dritten Schuljahrs eine Reihe von Diebstählen ereignete und die gesamte Schule voller Eifer Detektiv spielte, übte ich mich daher in Zurückhaltung und ließ mich nur pro forma darauf ein. Und zweifellos war ein Überbleibsel ebendieser Strategie der Grund, an jenem Morgen, als Osbourne mich besuchte, nur wenig von meinen »Plänen« preiszugeben.

Trotz all meiner Vorsicht kann ich mir dennoch wenigstens zwei Vorfälle aus der Schulzeit in Erinnerung rufen, die darauf hindeuten, dass ich zumindest ab und zu meine Deckung vernachlässigt haben muss und eine Ahnung über meine wahren Ambitionen durchschimmern ließ. Damals war ich nicht in der Lage, mir diese Vorkommnisse zu erklären, und auch heute will es mir nicht besser gelingen.

Der erste Vorfall ereignete sich an meinem vierzehnten Geburtstag. Meine beiden damaligen guten Freunde, Robert Thornton-Browne und Russell Stanton, nahmen mich mit in eine Teestube im Dorf, und wir freuten uns über Teegebäck und Buttercremetorte. Es war ein regnerischer Samstagnachmittag, und alle anderen Tische waren besetzt. Dies bedeutete, dass jede Minute mehr triefnasse Dorfbewohner hereinkamen, sich umschauten und missbilligende Blicke in unsere Richtung warfen, als sollten wir augenblicklich unseren Tisch für sie frei machen. Doch Mrs Jordan, die Besitzerin, war immer sehr freundlich mit uns, und an diesem Nachmittag meines Geburtstags fühlten wir uns ganz und gar im Recht, am besten Tisch neben dem großen Fenster mit Blick auf den Dorfplatz zu sitzen. Ich erinnere mich nur vage, worüber wir an jenem Tag sprachen; doch als wir unsere Teller leer gegessen hatten, schauten sich meine beiden Begleiter an, dann griff Thornton-Browne nach unten in seine Schultasche und überreichte mir ein in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen.

Als ich mich daranmachte, es zu öffnen, bemerkte ich rasch, dass das Päckchen in zahlreiche Bögen gehüllt war, und meine Freunde lachten jedes Mal laut auf, wenn ich eine Schicht erfolgreich entfernt hatte, nur um mich gleich mit der nächsten konfrontiert zu sehen. Alles deutete darauf hin, dass ich am Ende einen Scherzartikel finden würde. Was ich dann schließlich auspackte, war ein altes Lederkästchen, und als ich den kleinen Haken öffnete und den Deckel hob, eine Lupe.

Ich habe sie hier vor mir. Ihr Aussehen hat sich im Laufe der Jahre kaum verändert; schon an jenem Nachmittag sah sie sehr gebraucht aus. Ich erinnere mich, das auch deutlich wahrgenommen zu haben, ebenso wie die Tatsache, dass die Lupe sehr stark vergrößerte und überraschend schwer war. Ihr elfenbeinerner Griff war an einer Seite ganz abgeschabt. Erst später bemerkte ich – man braucht eine zweite Lupe, um die Gravur lesen zu können –, dass sie 1887 in Zürich angefertigt worden war.

Meine erste Reaktion auf dieses Geschenk war ungeheure Begeisterung. Ich griff rasch danach, schob die Fetzen des Geschenkpapiers, das den Tisch bedeckte, beiseite – ich vermute, in meinem Überschwang ließ ich einige Papierstücke auf den Boden flattern – und begann auf der Stelle, die Lupe an einigen Butterflöckchen, die auf der Tischdecke klebten, auszuprobieren. Ich war so sehr in diese Übung vertieft, dass mir kaum bewusst wurde, wie übertrieben laut meine Freunde lachten, die wohl auf meine Kosten Witze machten. Als ich endlich befangen aufschaute, waren sie beide in ein unsicheres Schweigen verfallen. Da gab Thornton-Browne ein halbherziges Kichern von sich und sagte:

»Wir dachten, da du ja Detektiv werden willst, könntest du so ein Ding gut gebrauchen.«

Ich war geistesgegenwärtig genug, so zu tun, als wäre die Sache nur ein amüsanter Spaß gewesen. Doch vermutlich waren sich meine beiden Freunde damals selbst im Unklaren über ihre Absichten, und in der verbleibenden Zeit in der Teestube haben wir nicht mehr ganz zu der anfänglichen angenehmen Unbeschwertheit zurückgefunden.

Wie schon gesagt, liegt die Lupe nun hier vor mir. Ich machte von ihr Gebrauch, als ich den Mannering-Fall untersuchte; erst kürzlich, im Verlauf der Trevor-Richardson-Affäre, habe ich sie wieder benutzt. Eine Lupe mag zwar nicht der entscheidende Ausrüstungsgegenstand einer populären mythischen Figur sein, aber sie ist ein nützliches Instrument, um verschiedene Arten von Beweismitteln zusammenzutragen, und ich werde dieses Geburtstagsgeschenk von Robert Thornton-Browne und Russell Stanton wohl noch einige Zeit mit mir herumtragen. Wenn ich das Vergrößerungsglas so betrachte, kommt mir folgender Gedanke: Falls meine Freunde wirklich die Absicht hegten, mich zu hänseln, dann geht der Spaß nun ganz auf ihre Kosten. Doch leider habe ich heute weder die Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, was sie damals vorhatten, noch, wie sie trotz all meiner Vorsichtsmaßnahmen meine geheimen Ambitionen herausfinden konnten. Stanton, der sogar ein falsches Alter angegeben hatte, um als Freiwilliger in den Krieg zu ziehen, wurde in der dritten Schlacht bei Ypern getötet. Thornton-Browne ist, wie ich hörte, vor zwei Jahren an Tuberkulose gestorben. Jedenfalls verließen beide Jungen St. Dunstan im fünften Jahr, und ich hatte schon seit Langem den Kontakt zu ihnen verloren, als ich von ihrem Tod erfuhr. Ich erinnere mich dennoch gut, wie enttäuscht ich war, als Thornton-Browne die Schule verließ; er war der Einzige, mit dem ich richtig Freundschaft geschlossen hatte, seitdem ich in England angekommen war, und in den späteren Jahren meiner Schullaufbahn in St. Dunstan vermisste ich ihn sehr.

Der zweite dieser beiden Vorfälle ereignete sich wenige Jahre später – zu Beginn der sechsten Klasse –, doch meine Erinnerung daran ist nicht so detailliert. Vor allem entsinne ich mich überhaupt nicht mehr, was unmittelbar vor und nach diesem besonderen Moment geschah. Ich weiß noch, dass ich in das Klassenzimmer trat – Raum 15 in der Alten Propstei –, wo die Sonne in gebündelten Strahlen durch die schmalen Klosterfenster fiel und den in der Luft schwebenden Staub sichtbar machte. Der Lehrer war noch nicht da, und ich musste mich etwas verspätet haben, denn ich erinnere mich, meine Klassenkameraden bereits in Grüppchen auf den Pultdeckeln, Bänken und Fensterbänken sitzen gesehen zu haben. Als ich auf eine dieser Gruppen von fünf oder sechs Jungen zugehen wollte, drehten sie sich alle zu mir um, und ich spürte sofort, dass sie über mich gesprochen hatten. Ehe ich irgendetwas sagen konnte, zeigte einer von ihnen, Roger Brenthurst, auf mich und sagte: »Aber klar doch, er ist einfach zu klein für einen Sherlock.«

Einige lachten, nicht besonders unfreundlich, und das war, soweit ich mich erinnere, auch schon alles. Nie habe ich ein weiteres Gespräch gehört, in dem es um meine Bestrebungen gegangen wäre, ein »Sherlock« zu werden; dennoch quälte mich noch einige Zeit danach die gewiss pedantische Sorge, dass mein Geheimnis gelüftet und hinter meinem Rücken zu einem Gesprächsthema geworden sein könnte.

Nebenbei bemerkt, die Notwendigkeit, hinsichtlich meiner Berufswünsche Vorsicht walten zu lassen, wurde mir eingeschärft, bevor ich überhaupt nach St. Dunstan kam. Denn ich hatte die ersten Wochen in England hauptsächlich damit zugebracht, über die Gemeindewiesen in der Nähe des Cottage meiner Tante in Shropshire zu streifen und mitten im feuchten Farn die verschiedenen Detektivszenarios durchzuspielen, die Akira und ich uns gemeinsam in Shanghai ausgedacht hatten. Da ich nun alleine war, sah ich mich natürlich gezwungen, auch seine Rollen zu übernehmen; da mir außerdem bewusst war, dass man mich vom Cottage aus sehen konnte, war ich klug genug, diese Stücke nur mit angedeuteten Bewegungen und geflüsterten Texten aufzuführen – in deutlichem Unterschied zu der ungestümen Art, in der Akira und ich es gewohnt waren, sie zu spielen.

Doch erwiesen sich solche Vorsichtsmaßnahmen als unzulänglich. Von dem kleinen Dachzimmer aus, das meine Tante mir zugeteilt hatte, hörte ich eines Morgens zufällig, wie sie unten im Salon mit Freunden sprach. Das plötzliche Leiserwerden ihrer Stimmen hatte meine Neugier geweckt, und schon bald kroch ich auf den Flur und lehnte über dem Geländer.

»Stundenlang ist er weg«, konnte ich sie sagen hören. »Es ist doch nicht gesund, dass ein Junge in seinem Alter so in seiner eigenen Welt versunken ist. Er muss nach vorne schauen.«

»Aber das war doch nur zu erwarten«, sagte jemand. »Nach alldem, was ihm zugestoßen ist.«

»Es wird nicht besser, wenn er ständig darüber brütet«, sagte meine Tante. »Er ist gut abgesichert, in dieser Hinsicht hat er Glück. Es wird Zeit, dass er nach vorne schaut. Ich meine, es muss jetzt mal Schluss sein mit dieser Innenschau.«

Von diesem Tag an ging ich nicht mehr zur Gemeindewiese und hütete mich auch sonst vor jeder von außen erkennbaren »Innenschau«. Aber damals war ich noch sehr jung, und nachts, wenn ich in dem Dachzimmer lag und hörte, wie die Holzdielen knarzten, weil meine Tante im Haus umherging und ihre Uhren aufzog und nach ihren Katzen sah, spielte ich in meiner Fantasie unsere alten Detektivgeschichten durch, genau so, wie Akira und ich sie immer gemeinsam gespielt hatten.

Aber ich sollte noch einmal auf diesen Sommertag zu sprechen kommen, als Osbourne mir in meiner Kensingtoner Wohnung einen Besuch abstattete. Ich möchte nicht den Eindruck hervorrufen, dass seine Bemerkung, ich sei »ein merkwürdiger Vogel« gewesen, mich mehr als nur einen kurzen Augenblick beschäftigte. Tatsächlich ging ich schon kurze Zeit nachdem Osbourne sich verabschiedet hatte, recht gut gelaunt aus dem Haus. Es dauerte nicht lange, und ich spazierte zwischen den Blumenbeeten im St. James’s Park umher und wurde immer gespannter auf den bevorstehenden Abend.

Wenn ich an diesen Nachmittag zurückdenke, kommt es mir so vor, als hätte ich allen Grund gehabt, ein wenig nervös zu sein, und dass ich es nicht war, ist durchaus typisch für die lächerliche Arroganz meiner frühen Londoner Tage. Ich war mir natürlich darüber im Klaren, dass dieser besondere Abend ein ganz anderes Niveau haben würde als alle Geselligkeiten, an denen ich während meiner Universitätszeit teilgenommen hatte; dass ich überdies auf Verhaltensweisen treffen würde, die mir bis dahin nicht vertraut waren. Doch ich war sicher, mit meiner gewohnten Wachsamkeit jede dieser Schwierigkeiten überwinden zu können und insgesamt meine Aufgabe gut zu meistern. Es waren daher ganz andere Dinge, die mich beschäftigten, als ich durch den Park spazierte. Als Osbourne von Gästen mit »guten Verbindungen« sprach, hatte ich sofort angenommen, dass sich unter ihnen zumindest einige der führenden Detektive befänden. Ich schätze, dass ich an jenem Nachmittag eine Menge Zeit damit verbrachte, mir zurechtzulegen, was ich sagen würde, sollte ich Matlock Stevenson oder vielleicht sogar Professor Charleville vorgestellt werden. Ich spielte immer wieder durch, wie ich – zurückhaltend, aber mit gewissem Stolz – meine Ziele in groben Zügen darstellen würde; und ich malte mir aus, wie der eine oder andere ein väterliches Interesse für mich zeigte, mir Ratschläge erteilte und darauf bestand, ich müsste für zukunftsweisende Beratungen zu ihm kommen.

Natürlich erwies sich der Abend als eine große Enttäuschung – selbst wenn er sich, wie man gleich sehen wird, aus ganz anderen Gründen als besonders bedeutsam herausstellte. Aber zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass in diesem Land Detektive in der Regel nicht an solchen gesellschaftlichen Zusammenkünften teilnehmen. Das liegt keinesfalls an mangelnden Einladungen; meine eigene jüngste Erfahrung beweist, dass mondäne Kreise sehr wohl berühmte Detektive immer wieder zu sich bitten. Aber diese sind doch eher ernsthafte, zurückgezogene Menschen, die in ihrer Arbeit aufgehen und wenig Lust haben, sich unter andere zu mischen: Im Großen und Ganzen können Detektive mit der »Gesellschaft« wenig anfangen.

Wie gesagt, dies war etwas, was ich nicht richtig einschätzte, als ich an jenem Abend im Charingworth Club eintraf und, Osbournes Beispiel folgend, den vornehm livrierten Portier freudig grüßte. Doch ich wurde rasch, Minuten nach unserer Ankunft in dem übervölkerten Saal im ersten Stock, eines Besseren belehrt. Ich weiß nicht genau, wie es geschah – denn ich hatte nicht die Zeit gehabt, die Namen der Anwesenden in Erfahrung zu bringen –, doch es überkam mich so etwas wie eine intuitive Offenbarung, die mir meine Anspannung zuvor äußerst lächerlich erscheinen ließ. Mit einem Mal erschien es mir unglaublich, dass ich je erwartet hatte, Matlock Stevenson oder Professor Charleville im freundschaftlichen Gespräch mit Finanziers und Staatsministern zu finden, von denen ich wusste, dass sie zugegen waren. Ich war tatsächlich so niedergeschmettert durch diese Diskrepanz zwischen der Abendgesellschaft, bei der ich zu Gast war, und der, über die ich den ganzen Nachmittag nachgedacht hatte, dass mir meine Gelassenheit zumindest zeitweise abhandenkam und ich zu meinem großen Ärger über eine halbe Stunde lang nicht die Kraft aufbringen konnte, von Osbournes Seite zu weichen.

Sicherlich trägt dieselbe aufgewühlte Gemütsverfassung dazu bei, dass mir, denke ich heute an jenen Abend zurück, viele Aspekte irgendwie übertrieben oder unnatürlich erscheinen. Versuche ich zum Beispiel heute, mir den Raum vorzustellen, so ist er ungewöhnlich dunkel; und dies trotz der Wandlampen, der Kerzen auf den Tischen und der Lüster über uns – nichts scheint die vorherrschende Dunkelheit beeindrucken zu können. Der Teppich ist sehr dick, sodass man, geht man durch den Raum, deutlich die Füße heben muss, und rundherum tun ergraute Herren in schwarzen Jacketts genau dies, einige drücken sogar die Schultern nach vorn, als liefen sie gegen einen Sturm an. Auch die Ober mit ihren Silbertabletts beugen sich in einem sonderbaren Winkel den Gesprächsgruppen entgegen. Nur wenige Damen sind anwesend, und die, die man erblickt, scheinen sich merkwürdigerweise selbst aufzulösen, indem sie beinahe sofort aus dem Blickfeld hinter einem Wald schwarzer Abendanzüge verschwinden.

Wie gesagt, diese Eindrücke sind sicherlich nicht akkurat, aber so habe ich den Abend in Erinnerung. Ich entsinne mich, wie ich steif vor Unbeholfenheit herumstand und immer wieder an meinem Glas nippte, während Osbourne liebenswürdig mit verschiedenen Gästen plauderte, von denen die meisten gut dreißig Jahre älter waren als wir. Zwei-, dreimal unternahm ich den Versuch, mich am Gespräch zu beteiligen, aber ich hatte das Gefühl, dass meine Stimme auffallend kindlich klang, und die meisten Unterhaltungen drehten sich um Leute oder Themen, von denen ich nichts wusste.

Nach einer Weile wurde ich wütend – auf mich selbst, auf Osbourne, auf alles. Ich meinte, ich hätte alles Recht, die Menschen um mich herum zu verachten; dass sie größtenteils habsüchtig und selbstsüchtig seien, dass ihnen jeder Idealismus und der Sinn für soziale Pflichten fehle. Angetrieben von dieser Wut, war ich endlich in der Lage, mich von Osbourne zu lösen und durch die Dunkelheit in einen anderen Teil des Saals zu gehen. Ich kam in eine Ecke, die von dem matten Lichtkegel einer kleinen Wandleuchte erhellt war. Hier war es nicht so dicht gedrängt, und ich bemerkte einen etwa siebzigjährigen silberhaarigen Mann, der rauchte und dem Raum den Rücken zukehrte. Ich brauchte einen Moment, um festzustellen, dass er in einen Spiegel schaute, und währenddessen war auch ihm aufgefallen, dass ich ihn ansah. Ich wollte schon weitergehen, als er, ohne sich umzudrehen, zu mir sagte: »Gefällt es Ihnen?«

»O ja«, sagte ich und lachte leise. »Danke. Ja, ein wunderbarer Abend.«

»Aber ein bisschen verloren, oder?«

Ich zögerte, dann lachte ich wieder. »Vielleicht ein wenig. Ja, Sir.«

Der silberhaarige Mann drehte sich um und musterte mich aufmerksam. Dann sagte er: »Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen, wer einige dieser Leute sind. Falls jemand dabei ist, mit dem Sie sprechen möchten, begleite ich Sie und stelle Sie dieser Person vor. Was halten Sie davon?«

»Das wäre äußerst freundlich. Wirklich sehr freundlich.«

»Gut.«

Er trat einen Schritt näher und ließ einen suchenden Blick durch den vor uns liegenden Teil des Saals kreisen. Dann beugte er sich zu mir und deutete auf diese oder jene Persönlichkeit. Selbst wenn es ein bekannter Name war, dachte er daran, mir zuliebe »der Finanzier«, »der Komponist« oder Ähnliches hinzuzufügen. Bei einem weniger bekannten Namen fasste er detailliert die Karriere der Person und den Grund für ihre Wichtigkeit zusammen. Ich glaube, er sprach gerade über einen Kleriker, der in unserer Nähe stand, als er plötzlich innehielt und meinte:

»Ach, ich sehe, Ihre Aufmerksamkeit hat eine andere Richtung genommen.«

»Es tut mir furchtbar leid …«

»Ist schon recht. Schließlich sehr natürlich. Ein junger Mann wie Sie.«

»Sir, ich bitte Sie um …«

»Keine Entschuldigung nötig.« Er lachte auf und knuffte meinen Arm. »Sie finden sie hübsch, eh?«

Ich wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte. Ich konnte kaum leugnen, dass die junge Frau, die einige Meter links von uns stand und mit zwei Herren mittleren Alters im Gespräch war, mich abgelenkt hatte. Doch als ich sie dieses erste Mal sah, fand ich sie überhaupt nicht hübsch. Es ist sogar möglich, dass ich schon auf den ersten Blick jene Eigenschaften erahnte, die ich später als so typisch für sie erkennen sollte. Ich sah eine zierliche, eher elfenähnliche junge Frau mit dunklem, schulterlangem Haar. Obwohl sie in diesem Moment die Männer, mit denen sie sprach, bezaubern wollte, entdeckte ich etwas in ihrem Lächeln, das sich innerhalb eines Augenblicks in ein höhnisches Grinsen verwandeln konnte. Ein leichtes Geducktsein um die Schultern herum, wie das eines Raubvogels, gab ihrer Haltung einen Hauch von Arglist. Vor allem bemerkte ich eine bestimmte Eigenschaft um ihre Augen herum – eine Art Härte, etwas kleinlich Strenges –, von der ich heute, in der Rückschau, weiß, dass sie mich mehr als irgendetwas anderes dazu bewegte, sie an jenem Abend mit einer solchen Faszination anzustarren.

Während wir beide sie noch anschauten, blickte sie in unsere Richtung, und da sie meinen Begleiter erkannte, warf sie ihm ein kurzes kühles Lächeln zu. Der silberhaarige Mann grüßte und neigte respektvoll den Kopf.

»Eine charmante junge Dame«, murmelte er, als er mich wegführte. »Aber es ist sinnlos, dass ein junger Mann wie Sie seine Zeit damit verliert, sie erobern zu wollen. Ich möchte nicht beleidigend sein, Sie scheinen ein recht anständiger junger Mann zu sein. Aber verstehen Sie, das ist Miss Hemmings. Miss Sarah Hemmings.«

Der Name sagte mir nichts. Während mir mein Gesprächspartner bis dahin gewissenhaft den Hintergrund aller Gäste geschildert hatte, die er mir gezeigt hatte, sprach er den Namen dieser Frau in der offenkundigen Erwartung aus, dass er mir bereits vertraut sei. Daher nickte ich und sagte:

»Ach ja. Das also ist Miss Hemmings.«

Der Gentleman schwieg wieder und spähte von unserem neuen Standort durch den Saal.

»Lassen Sie mich sehen. Ich nehme an, Sie halten Ausschau nach jemandem, der Ihnen für Ihre Zukunft unter die Arme greifen kann. Ich habe es genauso gemacht, als ich jung war. Lassen Sie mich sehen. Wen haben wir denn da?« Dann drehte er sich plötzlich wieder zu mir und fragte: »Was haben Sie noch gesagt, was Sie werden wollen?«

Natürlich hatte ich ihm bis dahin gar nichts erzählt. Aber nun, nach einem kurzen Zögern, antwortete ich schlicht: »Detektiv, Sir.«

»Detektiv? Hmm.« Er schaute weiter im Saal herum. »Sie meinen … Polizist?«

»Eher Privatdetektiv.«

Er nickte. »Selbstverständlich. Selbstverständlich.« Tief in Gedanken zog er wieder an seiner Zigarre. Dann sagte er: »Nicht zufällig an Museen interessiert? Den Mann da drüben kenne ich seit Jahren. Museen. Totenschädel, Relikte, Dinge dieser Art. Nicht interessiert? Hätte ich nicht gedacht.« Und immer noch blickte er durch den Saal und reckte hin und wieder den Hals, um jemanden besser sehen zu können. »Natürlich«, sagte er schließlich, »viele junge Männer träumen davon, Detektiv zu werden. Ich glaube wohl, auch ich wollte es früher in meinen eher wirklichkeitsfremden Zeiten. Man ist so idealistisch in Ihrem Alter. Man möchte der beste Detektiv seiner Zeit werden. Ganz allein das ganze Übel der Welt an der Wurzel herausreißen. Lobenswert. Aber wirklich, mein Junge, Sie sollten, sagen wir mal, noch einige andere Pfeile in Ihrem Köcher haben. Denn in einem Jahr oder zwei – ich möchte Sie nicht beleidigen –, aber schon recht bald werden Sie völlig anders über die Dinge denken. Interessieren Sie sich für Möbel? Ich frage, weil dort drüben niemand anders als Hamish Robertson persönlich steht.«

»Mit allem Respekt, Sir, der Berufswunsch, den ich Ihnen gerade anvertraut habe, ist kaum eine Grille des Augenblicks. Es ist eine Berufung, die ich schon mein ganzes Leben lang fühle.«

»Ihr ganzes Leben lang? Aber wie alt sind Sie denn? Einundzwanzig? Zweiundzwanzig? Nun, ich sollte Sie wohl nicht entmutigen. Würden schließlich unsere jungen Männer keine idealistischen Vorstellungen dieser Art mehr hegen, wer dann? Und bestimmt glauben Sie, mein Junge, dass die Welt von heute ein weitaus üblerer Ort ist als vor dreißig Jahren, nicht wahr? Dass unsere Kultur am Abgrund steht und so weiter?«

»In der Tat, Sir«, sagte ich knapp. »Davon bin ich überzeugt.«

»Ich weiß noch, wie ich selber so dachte.« Sein Sarkasmus wich plötzlich einem freundlicheren Ton, und ich meinte sogar Tränen in seinen Augen zu sehen. »Warum ist das so, mein Junge, was vermuten Sie? Wird die Welt wirklich immer schlechter? Degeneriert die Spezies des Homo sapiens

»Darüber weiß ich nichts, Sir«, entgegnete ich ihm diesmal milder. »Alles, was ich sagen kann, ist: Für den objektiven Beobachter wird der moderne Kriminelle zunehmend cleverer. Er ist zielstrebiger geworden, er wagt mehr, und die Wissenschaft stellt ihm ein ganzes Arsenal neuer, hoch entwickelter Instrumente zur Verfügung.«

»Ich verstehe. Und ohne talentierte Männer wie Sie auf unserer Seite sieht die Zukunft finster aus, nicht wahr?« Traurig schüttelte er den Kopf. »Vielleicht ist da was dran. Ein alter Mann wie ich kann leicht spotten. Vielleicht haben Sie recht, mein Junge. Vielleicht haben wir die Dinge zu lange schleifen lassen. Ah.«

Der silberhaarige Mann neigte wieder den Kopf, als Sarah Hemmings an uns vorüberschritt. Sie bewegte sich mit überheblicher Anmut durch die Menge, ihr Blick schweifte von links nach rechts auf der Suche – so schien es mir – nach jemandem, den sie ihrer Gegenwart für wert befand. Als sie meinen Begleiter bemerkte, warf sie ihm das gleiche flüchtige Lächeln zu wie zuvor, ohne jedoch stehen zu bleiben. Für etwa eine Sekunde fiel ihr Blick auf mich, doch geradezu auf der Stelle – ehe ich überhaupt lächeln konnte – hatte sie mich aus ihrem Kopf gestrichen und bahnte sich den Weg zu jemandem, den sie am anderen Ende des Saals entdeckt hatte.

Später an diesem Abend, als Osbourne und ich gemeinsam in einem Taxi saßen, das uns zurück nach Kensington brachte, versuchte ich, etwas mehr über Sarah Hemmings herauszufinden. Trotz seiner Beteuerung, er habe den Abend langweilig gefunden, war Osbourne sehr zufrieden mit sich und darauf erpicht, mir detailliert von den vielen Gesprächen zu erzählen, die er mit einflussreichen Leuten geführt hatte. Es war daher nicht leicht, ihn auf das Thema Miss Hemmings zu bringen, ohne übermäßig neugierig zu wirken. Schließlich hatte ich ihn so weit, dass er sagte:

»Miss Hemmings? O ja, die. Sie war lange mit Herriot-Lewis verlobt. Du weißt schon, der Dirigent. Dann gab er im Herbst dieses Schubert-Konzert in der Albert Hall. Erinnerst du dich an dieses Debakel?«

Als ich meine Unwissenheit gestand, fuhr Osbourne fort:

»Sie haben zwar nicht gerade mit den Stühlen geworfen, aber ich möchte sagen, sie hätten es getan, wenn die Dinger nicht fest im Boden verschraubt gewesen wären. Der Typ von The Times beschrieb die Vorstellung als eine ›komplette Karikatur‹. Oder sagte er, ›eine Vergewaltigung‹? Wie auch immer, es hat ihm nicht gefallen.«

»Und Miss Hemmings?«

»Ließ ihn fallen wie eine heiße Kartoffel. Warf ihm offenbar den Verlobungsring vor die Füße. Und seitdem hält sie von dem Kerl mächtig Abstand.«

»Alles wegen dieses einen Konzerts?«

»Ja, es war wirklich grässlich, nach allem, was man hört. Hat ziemliches Aufsehen erregt. Dass sie die Verlobung aufgelöst hat, meine ich. Aber, Banks, was waren da eine Menge Langweiler heute Abend. Meinst du, wir werden auch so wie die, wenn wir so alt sind?«

Während dieses ersten Jahres nach Cambridge war ich, im Wesentlichen aufgrund meiner Freundschaft mit Osbourne, ziemlich regelmäßig bei anderen eleganten gesellschaftlichen Ereignissen zugegen. Denke ich heute an diese Lebensphase zurück, so erscheint sie mir seltsam frivol. Da gab es Einladungen zum Abendessen, zum Lunch und zu Cocktailpartys, die für gewöhnlich in Wohnungen in Bloomsbury und Holborn stattfanden. Ich war entschlossen, die Unbeholfenheit abzulegen, die ich an jenem Abend im Charingworth zur Schau getragen hatte. Mein Auftreten bei diesen Ereignissen wurde auch bald selbstsicherer. Tatsächlich hatte ich eine Zeit lang, so darf man es wohl ausdrücken, einen festen Platz innerhalb dieser vornehmen Londoner »Kreise«.

Miss Hemmings gehörte nicht zu meinem Kreis, doch wann immer ich mit Freunden über sie sprach, stellte ich fest, dass man sie kannte. Außerdem sah ich sie von Zeit zu Zeit flüchtig bei offiziellen Anlässen oder in den Teesalons der Grandhotels. Jedenfalls hatte ich schließlich auf die eine oder andere Weise eine stattliche Menge an Informationen über ihren Werdegang in der Londoner Gesellschaft zusammengetragen.

Wie merkwürdig, sich eine Zeit in Erinnerung zu rufen, als solche vagen Eindrücke aus zweiter Hand alles waren, was ich von ihr wusste! Es dauerte nicht lange, bis ich feststellte, dass viele nicht mit Anerkennung von ihr sprachen. Schon vor der Geschichte des aufgekündigten Verlöbnisses mit Herriot-Lewis hatte sie sich anscheinend Feinde gemacht, was oftmals ihrer »offenen und ehrlichen Art« zugeschrieben wurde. Freunde von Herriot-Lewis – mit deren Objektivität in diesem Punkt, um fair zu sein, kaum gerechnet werden konnte – beschrieben, wie rücksichtslos sie den Dirigenten verfolgt habe. Andere warfen ihr vor, Herriot-Lewis’ Freunde beeinflusst zu haben, um in seine Nähe vorzudringen. Dass sie später, nach all ihren energischen Anstrengungen, den Dirigenten fallen ließ, fanden manche rätselhaft, andere sahen darin ganz einfach den schlüssigen Beweis ihrer zynischen Beweggründe. Zwar traf ich viele Menschen, die recht gut von Miss Hemmings sprachen; oft wurde sie als »schlau«, »faszinierend« und »kompliziert« beschrieben; besonders Frauen verteidigten ihr Recht, eine Verlobung aufzulösen, egal, aus welchen Gründen. Doch selbst ihre Fürsprecher stimmten darin überein, dass sie ein »fürchterlicher Snob der neuen Art« sei; dass sie einen Menschen erst dann des Respekts für würdig befinde, wenn er oder sie einen berühmten Namen habe. Und ich muss sagen, in dem Jahr, in dem ich sie aus der Ferne beobachtete, stieß ich auf wenige, die solchen Behauptungen widersprachen. Ja, ich selbst hatte schon gelegentlich den Eindruck gewonnen, sie könne eigentlich nichts anderes einatmen als die Luft, die vornehmste Menschen umgab. Eine Zeit lang hatte sie sich mit Henry Quinn, dem Rechtsanwalt, angefreundet, nur um sich nach seiner Niederlage im Fall Charles Browning wieder von ihm zu distanzieren. Dann kamen Gerüchte auf über ihre sich vertiefende Freundschaft mit James Beacon, der damals ein aufsteigender junger Minister war. An dem Punkt wurde mir jedenfalls sonnenklar, was der silberhaarige Herr gemeint hatte, als er mir erklärte, dass ein »junger Mann wie ich« wenig Chancen habe, Miss Hemmings zu erobern. Natürlich hatte ich damals seine Worte noch nicht richtig verstanden. Nun, da ich sie verstand, verfolgte ich Miss Hemmings Unternehmungen mit besonderem Interesse. Dennoch habe ich eigentlich nicht mit ihr gesprochen bis zu jenem Nachmittag, beinahe zwei Jahre nachdem ich sie das erste Mal im Charingworth Club gesehen hatte.

Ich hatte im Waldorf Hotel mit einem Bekannten, den dringende Angelegenheiten plötzlich wegriefen, Tee getrunken. So saß ich allein im Palmengarten und tat mich gütlich an Teegebäck und Marmelade, als ich Miss Hemmings, ebenfalls allein, oben an einem der Tische auf der Galerie bemerkte. Wie ich schon gesagt habe, war es nicht das erste Mal, dass ich sie an einem solchen Ort sah, doch an diesem Nachmittag lagen die Dinge anders. Denn es war kaum ein Monat vergangen, seit ich den Mannering-Fall abgeschlossen hatte, und ich schwebte immer noch auf einer Wolke. Gewiss, diese Zeit nach meinem ersten öffentlichen Triumph war berauschend: Viele neue Türen standen mir plötzlich offen; Einladungen, mit denen ich nie gerechnet hätte, strömten auf mich ein; Menschen, die mir bis dahin nur unverbindlich Freundlichkeit erwiesen hatten, begrüßten mich mit großer Begeisterung, wenn ich den Raum betrat. Kein Wunder, dass ich ein wenig die Orientierung verlor.

Auf jeden Fall erhob ich mich plötzlich an jenem Nachmittag im Waldorf und ging zur Galerie hinauf. Ich weiß nicht genau, was ich erwartete. Es war wieder einmal typisch für meine Selbstgefälligkeit zu jener Zeit, dass ich nicht innehielt und überlegte, ob Miss Hemmings wirklich so erfreut wäre, meine Bekanntschaft zu machen. Vielleicht ging mir der Anflug eines Zweifels durch den Kopf, als ich langsam am Pianisten vorbeischritt und mich dem Tisch näherte, an dem sie saß und ein Buch las. Doch ich erinnere mich, dass ich recht zufrieden darüber war, wie meine Stimme klang, gewandt und heiter, als ich sagte:

»Entschuldigen Sie, aber ich dachte, es wäre an der Zeit, mich Ihnen vorzustellen. Wir haben so viele gemeinsame Freunde. Ich bin Christopher Banks.«

Es gelang mir, meinen Namen schwungvoll auszusprechen, doch bereits in diesem Moment begann meine Selbstsicherheit zu schwinden. Denn Miss Hemmings schaute mit kaltem, suchendem Blick zu mir auf. Und während des folgenden Schweigens blickte sie rasch noch einmal in ihr Buch, als hätte dieses einen Klagelaut ausgestoßen. Schließlich sagte sie spöttisch:

»Ach ja? Guten Tag.«

»Der Mannering-Fall«, sagte ich töricht. »Sie haben vielleicht darüber gelesen.«

»Ja. Sie haben ermittelt.«

Es war diese so nüchtern ausgesprochene Bemerkung, die mich beinahe aus dem Gleichgewicht warf; es schwang keinerlei Anerkennung darin mit; es war nichts anderes als eine sachliche Feststellung, die darauf schließen ließ, dass Miss Hemmings die ganze Zeit sehr wohl wusste, wer ich war, und dass sie immer noch weit davon entfernt war zu verstehen, warum ich an ihrem Tisch stand. Plötzlich spürte ich, wie sich die schwindelerregende Hochstimmung der vergangenen Wochen auflöste. Und ich glaube, als ich ein nervöses Lachen ausstieß, kam mir der Gedanke, dass der Mannering-Fall, trotz all des offensichtlichen Scharfsinns meiner Ermittlungen, trotz all des Lobs meiner Freunde, nicht von so großer Bedeutung für die weite Welt war, wie ich angenommen hatte.

Es ist schon möglich, dass wir noch ein absolut höfliches Gespräch führten, ehe ich mich wieder nach unten an meinen Tisch zurückzog. Und heute erscheint es mir völlig gerechtfertigt, dass Miss Hemmings so reagierte; wie absurd, sich vorgestellt zu haben, so etwas wie der Mannering-Fall könnte ausgereicht haben, um sie zu beeindrucken! Doch ich erinnere mich, dass ich, als ich wieder auf meinem Platz saß, Ärger und Niedergeschlagenheit verspürte. Mir kam der Gedanke, dass ich mich nicht nur gerade vor Miss Hemmings lächerlich gemacht hatte, sondern dass ich es womöglich schon während des ganzen vergangenen Monats getan hatte; dass meine Freunde, trotz all ihrer Glückwünsche, über mich gelacht hatten.

Am Tag darauf hatte ich bereits eingesehen, dass ich den Schlag, den ich erhalten hatte, voll und ganz verdiente. Doch diese Episode im Waldorf weckte möglicherweise in mir einen Groll gegen Miss Hemmings, den ich nie ganz abschütteln konnte – und der zweifellos zu den unglücklichen Ereignissen des gestrigen Abends beigetragen hat. Damals versuchte ich, den ganzen Vorfall schicksalhaft zu sehen. Er hatte mir schließlich klargemacht, wie leicht man sich von hochgeschätzten Zielen ablenken lässt. Meine Absicht war es, das Böse zu bekämpfen – besonders das heimtückische, verstohlene Böse –, und das Buhlen um Beliebtheit in den feinen gesellschaftlichen Kreisen hatte eigentlich nichts mit dieser selbst gesetzten Aufgabe gemein.

In der Folge ging ich weit weniger häufig aus und begann, mich mehr in meine Arbeit zu vertiefen. Ich studierte wichtige Fälle der Vergangenheit und beschäftigte mich mit neuen Wissensgebieten, was sich eines Tages als nützlich erweisen könnte. Ebenfalls in dieser Zeit erforschte ich die Karrieren verschiedener überaus renommierter Detektive und fand heraus, dass man einen Trennstrich ziehen konnte zwischen dem guten Ruf, der auf soliden Leistungen beruhte, und dem Nimbus, der hauptsächlich auf eine einflussreiche gesellschaftliche Position zurückzuführen war; es gab, wie ich erkannte, einen richtigen und einen falschen Weg für einen Detektiv, Berühmtheit zu erlangen. Kurz gesagt, sosehr mich auch die Freundschaftsangebote begeisterten, die mir nach dem Mannering-Fall entgegengebracht wurden, sosehr erinnerte ich mich nach dieser Begegnung im Grandhotel wieder an das Beispiel, das mir meine Eltern gegeben hatten, und ich beschloss, mich von nun an durch oberflächliche Beschäftigungen nicht mehr ablenken zu lassen.