Titel der Originalausgabe: Premeditated Myrtle

Erschienen bei Algonquin Young Readers, einem Imprint von

Algonquin Books of Chapel Hill, Post Office Box 2225, Chapel Hill,

North Carolina 27515-2225

A division of Workman Publishing, New York, New York 10014

Copyright © 2020 Stephanie Elizabeth Bunce

Published by arrangement with Erin Murphy Literary Agency

through Rights People, London

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2021 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG,

München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Projektleitung und Lektorat: Theresa Scholz, Knesebeck Verlag

Übersetzung: Nadine Mannchen, Helmbrechts

Umschlaggestaltung: Felicitas Horstschäfer, Berlin

Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

eISBN 978-3-95728-605-5

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

Elizabeth C. Bunce

Aus dem Amerikanischen
von Nadine Mannchen

Für Sophie:
Sieh nur, was du in Gang gesetzt hast
.

Inhalt

1 Corpus Delicti

2 Die Gräber von Redgraves

3 Geschworenengericht

4 Post Mortem

5 Actus reus

6 Hoher Giftgehalt und längere Exposition

7 Zeugenaussagen

8 Strafverstärkender Tatbestand

9 Verständigung im Strafverfahren

10 Erwerbstätigkeit

11 Res ipsa loquitur

12 Belastende Beweise

13 Begründete Zweifel

14 Lilium Febricula

15 Helfer nach der strafbaren Handlung

16 Unzulässige Beeinflussung

17 Interessenkonflikt

18 Motiv, Mittel und Gelegenheit

19 Der Anschein von ungebührlichem Verhalten

20 Ein Zeugnis von schlechtem Charakter

21 Aussage verweigert

22 Unmittelbarkeitsprinzip

23 Selektive Strafverfolgung

24 Urteil im Schnellverfahren

25 Forensische Schriftuntersuchung

26 Ausstehender Streit an anderer Stelle

27 In absentia

28 Selbstbezichtigung

29 Periculum in mora

30 Respondeat superior

31 Zusammenfassung und Schlussplädoyer

DANKSAGUNG

1

Corpus Delicti

Ein wahrer Ermittler ist ein Meister in der Kunst des Beobachtens und schenkt seiner Umgebung höchste Aufmerksamkeit. Selbst das unscheinbarste Indiz könnte sich als Schlüssel zum Aufdecken der Wahrheit erweisen.
H. M. Hardcastle: Die Grundlagen der Detektion — Ein Handbuch für Amateur- und Berufsermittler, 1893.

»Korrigiere mich, falls ich mich irre.« Die Stiefelabsätze meiner Gouvernanten, Miss Judson, klackerten laut wie ein Telegraf, als sie in den Unterrichtsraum lief. »Als ich deinen Vater dazu überredete, dieses Teleskop zu bestellen, hatten wir ihm ausdrücklich erklärt, du würdest damit den Nachthimmel beobachten.« Viel zu fröhlich zog sie an den Vorhängen und flutete das Zimmer mit Sonnenlicht.

Sobald ich das Teleskop einstellte, sah ich mein Ziel deutlicher vor mir. Früher Morgen: ausgezeichnet, schrieb ich neben meine vorigen Notizen. Leichter Regen über Nacht. »Ich beobachte Dinge aus der Ferne«, sagte ich. »Gemäß dem Zweck dieses Geräts.« Zielobjekt: Die Residenz (und deren Bewohner) im Gravesend Close 16, Swinburne. Gemeinhin bekannt als Redgraves-Anwesen.

Miss Judson lehnte sich neben mir auf den Fenstersims und stützte das Kinn in ihre hellbraune Hand. »Oh. Wie töricht von mir. Kam ich doch glatt auf die Idee, du würdest die Nachbarn ausspionieren.«

»Das auch. Sehen Sie!« Ich zeigte (mit meiner eigenen eher blässlichen Hand) über die Straße, wo sich ein zierlicher blauer Schmetterling auf einer Hecke niedergelassen hatte. »Celastrina argiolus

»Versuch nicht, das Thema zu wechseln. Moment …« Sie stellte sich aufrecht und auf ihrer Stirn erschien eine Falte. »Ist das der Polizeiwagen?« Die Falte wurde zu einem richtigen Runzeln. »Myrtle?«

Ich deckte das Teleskop mit dem eigens dafür vorgesehenen Tuch ab. »Warum sehen Sie mich so an? Ich habe nichts getan!« Ich biss mir auf die Lippe. »Nun ja, womöglich habe ich die Polizei gerufen.«

»Und zu Miss Wodehouse geschickt? Warum in Gottes Namen?« Miss Judson griff nach ihrem Umhang und eilte zur Tür.

»Gehen wir rüber?« Ich rutschte von der Fensterbank und holte rasch meine eigenen Sachen: Notizbuch, Tasche, meine Lupe, meine Handschuhe und das kleine Set zum Entnehmen von Proben mit der Pinzette, den Nadeln und den winzigen Probengläschen darin.

»Das halte ich für das Beste. Schnapp dir deinen Mantel. Unterwegs kannst du mir erklären – damit ich es deinem Vater begreiflich machen kann –, was in aller Welt dich dazu veranlasst hat, die Polizei zu der Lady von nebenan zu schicken!« Auf der Schwelle hielt sie inne und warf mir einen misstrauischen Blick zu. »Es ging doch nicht schon wieder um ihre Katze?«

»Natürlich nicht!« Ich beeilte mich, zu ihr aufzuschließen. Miss Judson in Eile glich einer Naturgewalt. »Also, zumindest nicht direkt. Mit ihr hat nur alles angefangen.«

Eine Hand auf das polierte Geländer gelegt, drehte sie sich auf der Treppe zu mir herum. »Ich höre.«

Im Erklären hatte ich ungeheuer viel Übung. »Ich habe sie heute Morgen nicht gesehen«, fing ich an.

»Miss Wodehouse?«

»Nein, Peony – nun, Miss Wodehouse ebenso wenig. Und dann ist auch Mr Hamm nicht wie üblich erschienen.« Mr Hamm war der Gärtner von Redgraves, dessen tägliche Routine für gewöhnlich damit begann, dass er um 6 Uhr 15 mit Katze Peony im Schlepptau die Brunnen und Vogelbäder überprüfte. Um spätestens 6 Uhr 40 kümmerte er sich um den südlichen Rasen. Oft wurde er dabei von Miss Wodehouse beaufsichtigt, erntete von der spröden alten Dame allerdings nichts als Geringschätzung und Kritik. Räumen Sie das Laub da weg. Ich will nicht, dass der Rittersporn die Margeriten berührt. Und halten Sie mir diese verwünschte Katze vom Leib!

Eventuell habe ich sie ein- oder zweimal observiert.

»Und dann ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen.«

Miss Judson sah mich mit verschränkten Armen erwartungsvoll an, während ihre Finger auf dem Ellbogen ihres ordentlichen Tweedgewands herumtrommelten. Dieser Teil war etwas kniffelig zu erklären. Ich hatte mit dem Teleskop an diesem Morgen nämlich etwas anvisiert, das streng verboten war, und das war mir durchaus bewusst. Dabei war nur die Katze schuld. Als von Mr Hamm nichts zu sehen war, tat ich, was jede gute Ermittlerin tun würde. Ich hielt nach Hinweisen Ausschau – und fand welche.

»Der Blumentopf auf Miss Wodehouses Balkon war umgekippt – dieser große, schwere Pflanzkübel – und Peony hat darin gebuddelt. Sie wissen ja, wie sehr Miss Wodehouse es hasst, wenn die Katze etwas durcheinanderbringt, vor allem ihre Blumen, also habe ich versucht, sie zu verscheuchen.«

»Bitte sag mir, dass dieser Versuch Rauchsignale oder vielleicht Telepathie beinhaltete.«

»Jetzt werden Sie aber lächerlich. Ich habe meine Schleuder genommen.«

Miss Judson schloss die Augen. »Diese Geschichte wird besser und besser.«

»Ich habe die Balkontür getroffen und eine Scheibe ist zerbrochen – nur eine kleine! Ich werde sie von meinem Taschengeld bezahlen – Mr Hamm hat immer welche als Ersatz auf Vorrat. Aber niemand kam heraus

Sie lehnte sich ans Treppengeländer und wirkte ein klein wenig erleichtert. Und fasziniert. »Das ist merkwürdig. Nicht einmal das Hausmädchen?«

»Erst nach einer Ewigkeit. Und dann hat sie nur den Kopf zur Tür herausgestreckt, überprüft, ob sie verschlossen ist, und die Vorhänge zugezogen. Sie wirkte nervös.« In meinen Notizen hatte ich den Begriff verstohlen verwendet, doch Miss Judson warf mir hin und wieder vor, zu Übertreibungen zu neigen.

»Und da hast du dann die Polizei verständigt?«

Ich scharrte verlegen mit dem Fuß im Teppich. »Nicht direkt. Ich dachte, es könnten alle krank sein – Sie erinnern sich an die Arsenvergiftung von Holyrood im letzten Jahr –, daher ging ich hinüber, um nach dem Rechten zu sehen.«

»Oh, großer Gott!«

»Das Hausmädchen hatte damals sechs Menschen ermordet.«

Miss Judson hockte sich neben mich auf die Stufe. »Myrtle. Das geht nun wirklich zu weit. Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, die kleine Trudy – oder sonst jemand auf Redgraves – könnte etwas so …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »… Unglaubliches getan haben.«

»Nein.« Obwohl Giftmord durch Arsen in letzter Zeit in Mode gekommen war. »Doch irgendetwas stimmte dort drüben nicht. Ich klopfte und klopfte, erhielt aber keine Antwort. Mr Hamm war auch nicht zu Hause.«

Miss Judson schürzte die Lippen und blickte an meinem Kopf vorbei ins Leere. Ich merkte ihr an, dass sie mögliche Reaktionen abwog. »Und dir kam nicht in den Sinn, es einfach jemandem zu sagen?«, fragte sie schließlich etwas schwach.

Sie wusste noch genauso gut wie ich, was die letzten Male geschehen war, wenn ich Erwachsenen von meinen Bedenken berichtet hatte, daher machte ich mir nicht einmal die Mühe, ihr zu antworten.

»Na schön.« Entschlossen stand sie auf. »Gehen wir. Sicher ist dein Vater bald auf den Beinen und es wäre wohl besser, wenn wir rechtzeitig zum Frühstück wieder im Haus sind, damit er mich auf direktem Weg zurück nach Französisch- Guayana schicken kann.«

Das Redgraves-Anwesen lag direkt nebenan, trotzdem mussten wir unseren Rasen und den kleinen Weg überqueren, um dahinter die Straße entlang bis zum Vordereingang des gewaltigen Hauses zu laufen, wo die Polizeikutsche parkte. Der Wachtmeister am Wagen, den ich nicht kannte, nahm zum Gruß den Helm vom Kopf, während er sein Pferd am Hals tätschelte. Davon abgesehen war es auf Redgraves gespenstisch still.

»Wo ist die Katze?«, zischte ich, doch Miss Judson brachte mich mit einem Psst zum Schweigen. Während sie sich den schicken kleinen Hut geraderückte, marschierte sie die gewaltige Vordertreppe aus Stein hinauf und läutete an der Haustür, was die Stille des ruhigen Morgens zerriss und im Säulenvorbau eine Gruppe Tauben aufschreckte. Als niemand reagierte, spazierte ich los, um nach Peony oder irgendeinem anderen Hinweis auf das, was letzte Nacht geschehen war, zu suchen. Ein geziegelter Weg, flankiert von nackter Erde, schlängelte sich durch die Blumen. Im Boden führten tiefe Fußabdrücke bis hinter das Haus.

»Wo willst du hin? Myrtle!«

Der Pfad endete an einem sorgfältig gepflegten Rasen und mit ihm die Spur, dafür entdeckte ich Matschflecken auf der Backsteinterrasse, welche die Orangerie1 umgab. Das Dach dieses Wintergartens war gleichzeitig Miss Wodehouses Balkon, den ich von den Fenstern des Unterrichtsraums aus sehen konnte. Ich musterte die verschmierten Abdrücke und versuchte, festzustellen, was hier passiert sein mochte.

»Myrtle! Warte auf mich!« Miss Judson hastete zu mir, wobei sie achtgab, die Matschspuren nicht zu verwischen. Oder sie wollte sich lediglich die Stiefel nicht besudeln. »Oh, gut gemacht. Fußspuren!«

»Diese gehören Mr Hamm.« Ich zeigte auf die größeren Abdrücke mit der Hufeisenform, die von den Metallabsätzen des Gärtners stammten. Doch das andere Paar …

»Und die hier sind von Peony!«, sagte sie triumphierend.

»Die gehören zu einem Eichhörnchen.« Ich sah sie schräg von der Seite an. »Sie sollen mir doch Biologie beibringen.«

»Ich habe mich hinreißen lassen. Tja, Miss Wodehouse oder Trudy gehören diese anderen Abdrücke jedenfalls nicht. Sie sind zu groß.« Zu Demonstrationszwecken raffte sie ihre Röcke in die Höhe und hielt ihren eigenen Fuß darüber. »Außerdem scheinen sie von Männerschuhen zu stammen.«

»Haben Sie ihr Skizzenbuch dabei?«

Sie blinzelte mich an. »Mir kam nicht in den Sinn, dass wir Beweise sammeln würden – ach, egal. Nein.«

Ich ging auf die Knie und holte mein Detektivset heraus. Mit einer winzigen Kelle nahm ich eine Bodenprobe von der Stelle direkt neben einem der Fußabdrücke. Miss Judson zauberte in der Zwischenzeit etwas Beeindruckendes hervor: Sie reichte mir ein ausrollbares Maßband, damit ich die Spur vermessen konnte. »Ich weiß, du hast auch so eines«, sagte sie mit einem Anflug von Selbstgefälligkeit in der Stimme. »Wenn diese Abdrücke von Mr Hamm stammen, dann war er hier. Irgendwann.«

»Letzte Nacht hat es geregnet«, sagte ich. »Doch inzwischen ist der Boden zu hart, um darin Spuren zu hinterlassen.« Ich stampfte fest in die Erde, verursachte aber nur eine undeutliche, kaum wahrnehmbare Delle. »Diese hier müssen vor etlichen Stunden entstanden sein. Ungefähr um Mitternacht, würde ich meinen.«

»Ist dem so, kleine Lady?«, donnerte hinter mir eine herzliche Stimme. Miss Judson und ich richteten uns auf und wirbelten herum. »Na, da schau einer an, wenn das nicht die junge Myrtle ist, das Töchterchen des Staatsanwalts!«

»Guten Morgen, Inspektor Hardy«, sagte ich. Inspektor Hardy war mein Lieblingspolizist aus der Polizeidirektion von Swinburne und arbeitete für die brandneue Ermittlungsabteilung, der ich hoffte, einmal beizutreten, wenn ich erst alt genug wäre. Zumindest solange ich nicht nach London ziehen und für Scotland Yard arbeiten würde. Ich machte einen kleinen Knicks. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.« Ich hatte zur Fernsprechzelle rennen müssen, um die Polizei zu verständigen, da Vater es nicht für notwendig hielt, im Haus ein Telefon installieren zu lassen. Es gab eine ganze Liste von modernen Dingen, die Vater für unnötig hielt, und Miss Judson ermahnte mich immer wieder dazu, dankbar zu sein, dass die »Ausbildung junger Damen aus gutem Hause« nicht dazu gehörte.

»Dann haben Sie uns also gerufen? Die vom Notruf meinten, es handele sich um einen Dumme-Jungen-Streich.«

Ich zupfte am Saum meines Kleids, das sich beharrlich weigerte, zu klein für mich zu werden. Bevor ich antworten konnte, ergriff Miss Judson das Wort.

»Ja, verzeihen Sie, Inspektor. Ich glaube, Myrtle hat etwas gesehen, was sie beunruhigte, und sich dann hinreißen lassen. Wir wollten keine Unannehmlichkeiten machen.«

»Oh, das haben Sie nicht, keine Sorge.« Inspektor Hardy nahm den Hut ab und kratzte sich am kahler werdenden Kopf. »Allerdings haben wir gewisse Scherereien mit den Angehörigen, wenn Sie verstehen.«

Ein junger Mann, etwa in Miss Judsons Alter, lungerte vor der Tür zur Orangerie herum und rauchte einen Zigarillo2.

Ich sah mich nach hingeworfenen Stummeln um. Die Füße des Mannes konnte ich nicht sehen, allerdings war es gut möglich, dass er die zweite Spur von Abdrücken hinterlassen hatte.

»Sie da! Sind Sie bald fertig?« Sein Tonfall war ordinär und ungeduldig. »Ich will die Sache über die Bühne gebracht haben, bevor die Gaffer aus der Nachbarschaft in Scharen anrücken. Ah, wie ich sehe, rotten sie sich schon zusammen.« Er machte auf seinem nicht sichtbaren Absatz kehrt und knallte die Tür hinter sich zu.

»Wer war das?«, fragte ich.

»Ach, irgendein Neffe oder so was in der Art …« Inspektor Hardy zögerte. »Warum haben Sie denn nun angerufen, Miss Myrtle?«

Neffe? Ich hatte gar nicht gewusst, dass Miss Wodehouse Verwandte hatte. Andererseits, hätte ich eine Tante wie Minerva Wodehouse, würde ich mich auch so selten wie möglich blicken lassen. Nachdem ich meine Aufmerksamkeit wieder Inspektor Hardy zugewandt hatte, erstattete ich meinen ersten offiziellen Bericht. »Heute Morgen gegen 6 Uhr 45 vermutete ich, dass auf Redgraves etwas nicht stimmt. Miss Wodehouse und ihr Gärtner, Mr Llewellyn Hamm, arbeiten sonst jeden Morgen im Garten, doch heute ließ sich keiner von beiden blicken.«

»Genauso wenig wie die Katze«, murmelte Miss Judson. Sie schaute unter ihrer Hutkrempe hervor Richtung Himmel, daher war es vollkommen unmöglich zu erraten, was ihr durch den Kopf ging.

»Hm? Katze?«, hakte Inspektor Hardy nach.

Miss Judson schüttelte knapp den Kopf und gab mir zu verstehen, dass ich fortfahren sollte. Ich wiederholte, was ich schon Miss Judson erzählt hatte (abgesehen von den Holyrood-Giftmorden, dafür betonte ich das ungewöhnliche Abweichen von der Routine auf Redgraves an diesem Morgen). »Und da beschloss ich dann, es wäre angebracht, Hilfe zu holen.«

»Ich möchte mich noch einmal für die Unannehmlichkeiten entschuldigen«, warf Miss Judson ein. »Würden Sie Miss Wodehouse ausrichten, dass es nie wieder vorkommt

Ich nickte bekräftigend. Ich gebe zu, bisher war es mir nicht in den Sinn gekommen, dass es Folgen haben könnte, Miss Wodehouse zu verärgern. »Es sei denn, es geht um Leben oder Tod«, schwor ich.

Inspektor Hardy sah mich ernst an. »Nun«, sagte er, »es war gut, dass Sie uns gerufen haben.« In diesem Moment öffneten sich die Türen der Orangerie erneut. Diesmal traten zwei Polizisten mit einer Trage heraus. Als wir sahen, was sich darauf befand, drückte Miss Judson meine Hand, und zwar fest. Es hatte verdächtige Ähnlichkeit mit einer Leiche, vollständig bedeckt von einem schwarzen Tuch.

»Aye«, sagte Inspektor Hardy. »Es ist die alte Lady, ruhe sie in Frieden. Sie ist in der Nacht verstorben.«

1eine modische Bezeichnung für eine Art verglaste Sonnenterrasse

2eine widerliche Sorte einer kleinen braunen Zigarette, von der die Autorin nichts Genaues zu berichten weiß

2

Die Gräber von Redgraves

Verdächtige Todesfälle erfordern zwingend eine gründliche Untersuchung des Tatorts, Befragung der Zeugen und schnellstmögliches Sicherstellen von Beweisstücken. Zeit ist von absoluter Bedeutung.
H. M. Hardcastle: Die Grundlagen der Detektion — Ein Handbuch für Amateur- und Berufsermittler, 1893.

Wir sollten zu spät zum Frühstück erscheinen, denn Inspektor Hardy hatte noch einige Fragen an uns, während er meinen gekonnt auswich. Jedoch informierte er uns darüber, dass Miss Gertrude Guildford, Hausmädchen auf Redgraves, die Leiche ihrer Herrin in der Badewanne aufgefunden hatte, als sie diese am Morgen wecken wollte. Ich antwortete ihm in aller Ausführlichkeit (Inspektor Hardy schien bereits einen langen Tag hinter sich zu haben – als ich mit meinem Bericht fertig war, wirkte er regelrecht erschöpft), während sich in meinem Kopf die Gedanken überschlugen. Wo steckte Mr Hamm? Was war aus Peony geworden? Wer hatte sich mitten in der Nacht auf Redgraves herumgetrieben? Woher war dieser »Neffe« aufgetaucht? Warum hatte Miss Wodehouse spätabends ein Bad genommen, wo doch alle Welt wusste, dass Trudy ihr jeden Vormittag um halb elf nach dem Gärtnern eines einließ?

Ich wäre ja geblieben, um die Ermittlungen zu unterstützen, doch Miss Judson warf immer wieder vielsagende Blicke auf ihre Armbanduhr. Vater war nicht so streng wie manch andere Eltern, doch gewiss würde auch er erwarten, dass seine Tochter und ihre Gouvernante zum Frühstück zu Hause waren und nicht unterwegs, um die Polizei zu beraten. Abgesehen davon wollte ich selbst dringend nach Hause, und zwar nicht nur um Vater die Neuigkeit von Miss Wodehouses mysteriösem und plötzlichem Ableben zu überbringen, sondern auch weil das Frühstück für mich eine ganz entscheidende Bedeutung hatte. Genau einmal am Tag konnte ich mich darauf verlassen, dass Vater, Miss Judson und ich gemeinsame Zeit mit ganz gewöhnlichen, häuslichen Dingen verbrachten. Damit war es meine einzige Gelegenheit, Vater uns drei als das zu präsentieren, was ich längst in uns sah: eine Familie.

Doch – wie üblich – war Vater abgelenkt und bemerkte nicht einmal, dass Miss Judson und ich uns verspätet hatten, erst recht nicht, dass wir bereits außer Haus gewesen waren. Mit einem halb vergessenen Stück Toast in den Fingern kauerte er am Tisch über einem Teller, der von einem Meer an Papieren umgeben war.

»Heute fängt der neue Prozess an, nicht wahr, Vater?« Es handelte sich um meine Lieblingssorte von Fällen, einen Mord, obwohl dieser gar nicht so interessant war – nur einige Straßenschläger, die in eine Kneipenprügelei verwickelt waren.

»Und endet auch, wenn alles gut läuft«, antwortete er und fing im letzten Moment seinen Toast auf, kurz bevor die Marmelade auf sein Affidavit3 tropfen konnte. »Warum stattet ihr mir keinen Besuch ab? Danach gehen wir gemeinsam Mittagessen. Macht doch einen Tagesausflug daraus.« Er schenkte mir ein warmes Lächeln.

»Darf ich von der Galerie aus zuschauen?« Vater erlaubte mir äußerst selten, ihn im Gericht zu besuchen, weil die meisten Richter und anderen Anwälte der Meinung waren, dass Kinder nur störten. Dafür hatte ich bisher jedes Wort über seine Fälle gelesen, das je im Swinburne Boten erschienen war, und mir natürlich im Selbststudium seine Rechtsbücher vorgenommen, damit ich die Feinheiten der Rechtslehre mit ihm diskutieren konnte. Zwar hatte sich die Gelegenheit dazu noch nicht ergeben, doch ich war bereit.

»Myrtle hätte gewiss ihre Freude daran«, warf Miss Judson ein. Mit geübter und effizienter Hand trug sie gerade Butter auf ihren Toast auf, sodass auch nicht der kleinste Klecks Gefahr lief, zu entkommen.

»Hmm?« Während er Miss Judson zusah, schien Vater das Gespräch von eben bereits vergessen zu haben. »Dann ist es also abgemacht.« Er stand auf, sammelte seine Papiere zusammen und drückte mir einen schnellen Kuss auf den Kopf. »Deine Haare sind nass. Warst du etwa im Regen?«

Ich warf Miss Judson einen Blick zu, doch Vater war schon verschwunden, bevor eine von uns antworten konnte. Sollte Miss Judson erleichtert aufgeatmet haben, dann kaum wahrnehmbar.

Lieber Leser, wenn ich es mir erlauben darf, möchte ich an dieser Stelle gern eine der Hauptfiguren dieser Geschichte vorstellen, meine Gouvernante und Vertraute Miss Ada Eugénie Judson. Gewiss haben Sie bereits feststellen können, verehrter Leser, dass Miss Judson eine bemerkenswert beherrschte Person war, die in Krisen4 einen kühlen Kopf bewahrte – Qualitäten, die für die Gouvernante einer angehenden Ermittlerin äußerst nützlich sind. Als Tochter einer französisch-guayanischen Krankenschwester und eines schottischen Pastors war sie überdurchschnittlich groß, kleidete sich ordentlich und praktisch und hatte die dunkle Haarfarbe ihrer karibischen Herkunft. Aus Angst, ihre Tochter könnte einer schrecklichen tropischen Krankheit zum Opfer fallen, hatten ihre Eltern die junge Ada auf ein Internat in England geschickt. (Vermutlich hatte niemand Mr und Mrs Judson je von Typhus, Pocken, Tuberkulose oder Cholera erzählt, die hier um sich griffen. Ganz abgesehen von gelegentlichen Ausbrüchen der Pest und nicht zu sprechen von gewissen, ebenso unaussprechlichen Gebrechen, von denen ich eigentlich nichts wissen sollte. Als »junge Dame aus gutem Hause«.)

Sobald Vater in seine Kanzlei aufgebrochen war, blieben uns fast zwei Stunden, um uns an die Arbeit zu machen, bevor wir im Gericht erscheinen mussten. Während Miss Judson noch immer mit ihrem extrem präzise bestrichenen Toast beschäftigt war, sprang ich bereits von meinem Platz auf und räumte meinen Teller ab. Obwohl ich schon jahrelang versuchte, Miss Judson nachzuahmen, schlug ich leider ganz nach Vater. Auf meinem Platz herrschte ein Chaos aus Krümeln und irgendwie war es mir sogar gelungen, Spiegelei in meine Socken zu befördern.

»Wohin so eilig?«, fragte Miss Judson. »So viel Begeisterung für Geografie hast du ja noch nie an den Tag gelegt.«

»Wir müssen Peony finden«, sagte ich. »Sie hat gesehen, was letzte Nacht passiert ist.«

»Aha.« Miss Judson stand auf, obwohl ihre Hand nahe ihrer Teetasse verweilte, als würde sie in Erwägung ziehen, sich noch einmal nachzuschenken. Ich sah sie ungeduldig an. »Ich kann es nicht erwarten zu erfahren, welche Methode du erfunden hast, um an die Zeugenaussage einer Katze zu gelangen.«

»Machen Sie sich nicht über mich lustig.«

»Würde mir im Traum nicht einfallen«, sagte sie. »Trotzdem musst du zugeben, Myrtle, dass eine Katze als Zeugin heranzuziehen, selbst für dich etwas unrealistisch ist.«

Ich zögerte. Erwachsene nannten mich vieles, als Nettestes »frühreif«, »neugierig« und »unbändig« (wobei ich ja den Verdacht hegte, dass nichts davon wirklich als Kompliment gemeint war, auch wenn sie so taten als ob), doch im Vergleich zu anderen Kindern in meinem Alter galt ich im Allgemeinen nicht als »unrealistisch«. Miss Judson verfügte jedoch über exzellente Menschenkenntnis, wenn sie also der Meinung war, ich wäre etwas anderes als durch und durch vernünftig, dann machte es mich stutzig.

»Nun gut«, sagte ich vorsichtig. »Vielleicht sollten wir zuerst mit Mr Hamm reden. Wir müssen ohnehin fragen, wie es nun mit meinem Botanikunterricht weitergeht.« Der Gärtner von Redgraves hatte mir seit zwei Jahren Stunden gegeben. Er kannte sich extrem gut aus und Vater hatte es abgesegnet, da er fand, es »täte mir gut, hin und wieder an der frischen Luft zu spielen«.

»Das wiederum«, sagte Miss Judson, »ist eine hervorragende Idee.«

Fünfzehn Minuten später waren wir wieder auf Redgraves, diesmal passend gekleidet für einen Spaziergang im Garten. Redgraves’ Außenanlagen einen »Garten« zu nennen, tut ihnen allerdings großes Unrecht. Sie waren größer als das Gravesend-Grün, der öffentliche Park im Herzen unserer Nachbarschaft. Bevor man all die Wohnhäuser errichtet hatte, war er ein Friedhof gewesen5 und hatte mitsamt dem anderen Land einmal zum Privatbesitz der Familie Wodehouse gehört. Redgraves, der Familiensitz der Wodehouses, war ein düsterer roter Backsteinbau, dessen Schieferdach mit Giebeln, Türmen und Schornsteinen versehen war und vor dessen Haupteingang eine Treppe stand, die einem mürrischen Mund ähnelte und zum Eingang führte. Verglichen mit berühmten Schlössern wie Windsor oder Highclere, war Redgraves nur ein Landhaus – lächerliche vier Stockwerke hoch, mit nur dreiundzwanzig Zimmern, einschließlich einer landesweit berühmten Bibliothek und einem regional berühmten Badezimmer. Doch nach Swinburne-Maßstäben war es ein Palast.

Diesmal näherten wir uns Redgraves auf die übliche Art, nämlich durch die Hecke, die zwischen unseren Grundstücken verlief. Doch schon konnten wir sehen, oder vielmehr riechen, dass etwas nicht stimmte.

»Brennt da etwas?«, fragte Miss Judson. »Hoffentlich ist es nicht das Haus!«

Diese Vorstellung warf ein noch dramatischeres und düstereres Licht auf die Ereignisse des Morgens, allerdings stellte sich heraus, dass es nur Mr Hamm war, der sich endlich an die Arbeit gemacht hatte. Obwohl Redgraves’ Garten so enorm groß und so angesehen war, war er der einzige Gärtner. Mit ihrer exzentrischen Art hatte Miss Wodehouse im Laufe der Jahre die Anzahl ihrer Bediensteten reduziert, bis außer ihm und Trudy keiner mehr übrig geblieben war. Gerade schürte Mr Hamm außerhalb der Gartenmauern ein Feuer. Was genau dabei verbrannt wurde, ließ sich nicht sagen, da die Flammen ihr Futter bereits zu Asche verkohlt hatten.

»Hallo, Mr Hamm«, begrüßte ich ihn, da mir »Guten Morgen« wenig angemessen erschien, hatte er doch gerade seine Arbeitgeberin und damit womöglich seinen Lebensunterhalt verloren.

Er lupfte vor uns seinen Schlapphut, wobei ein rot verschwitztes Gesicht und feuchte schwarze Haare zum Vorschein kamen. »Aye, meine Kleine, Miss Ada. Se haben’s schon gehört?«

»Ja, schreckliche Sache.« Ich merkte Miss Judson an, dass sie meine Antwort guthieß, weil ich den Mann nicht einfach so ausfragte, sondern höfliche Etikette wahrte.

»Nich’ mehr lang bis zur Blumenschau«, sagte er mit knarrender Stimme. »Wir wollten ihre Schwarzer-Tiger-Kreuzung zeigen, ’ne wahre Schönheit. Hat sie vier Jahre gekostet, die zu züchten.«

Ich nickte mitfühlend, obwohl ich die Blume nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Miss Wodehouse hatte verboten, dass unsere Unterrichtsstunden in ihrem Liliengarten stattfanden, und ich hatte lediglich einmal im Vorbeihasten einen kurzen Blick darauf erhascht. Doch Mr Hamm redete oft davon und diese Lilien waren vielleicht das Einzige auf ganz Redgraves gewesen, das Miss Wodehouse tatsächlich liebevoll behandelt hatte. Etwas anderes hat sie bestimmt nicht geliebt.

»Aber sicherlich können Sie das doch noch immer, oder?«, schlug Miss Judson vor. »Posthum, gewissermaßen ihr zu Ehren?« Bei jeder Blumenschau gab es ein Preisgeld zu gewinnen, und sollten Miss Wodehouses Lilien als Sieger hervorgehen, könnte es Mr Hamm zustehen.

Mr Hamm zuckte nur mit den Schultern. Er trug eine weite braune Jacke und einen gewachsten Arbeitsoverall. Ich erkannte seine Stiefel – die mit den hufeisenförmigen Beschlägen auf dem Absatz, womit man gut über rutschige, schlammige Erde laufen konnte. »Kommt mir irgendwie nich’ richtig vor, ohne sie.« Trübsinnig stocherte er im Feuer und schürte die abkühlende Asche an.

»Was verbrennen Sie da eigentlich?«, fragte ich und versuchte, durch den Rauch zu spähen. Im August Laub zu verbrennen, war eher unüblich.

Mr Hamm war daran gewöhnt, dass ich ihn über seine Arbeit ausfragte, doch an diesem Morgen war er nicht so auskunftsfreudig wie sonst. »Abfall«, war alles, was er sagte.

»Hat das Gewitter letzte Nacht viel abgebrochen?«, hakte ich nach, obwohl es nur ganz leicht geregnet hatte.

Noch einmal zuckte er mit den Schultern und wedelte die Schwaden mit dem Hut beiseite.

Ich verdeckte meine Augen mit der Hand, um mein Stirnrunzeln zu verbergen, und spähte zu Miss Judson. »Wissen Sie, was mit Miss Wodehouse geschehen ist?«, fragte ich schließlich, nach einer Pause, die mir respektvoll erschien.

»Irgendwas mit der Wanne, heißt es. Hab die Neuigkeit erfahren, als ich heut Morgen zur Arbeit gekommen bin.«

»Heute Morgen? Aber ich habe Sie gar nicht gesehen.«

»Hab an den Beeten auf der Nordseite gearbeitet.«

Diese Beete hatte ich vom Unterrichtsraum aus bestens im Blick – Mr Hamm war nicht dort gewesen. Nicht an diesem Morgen. »Und letzte Nacht?«

»Myrtle«, mischte Miss Judson sich mit strengem Tonfall ein. »Mr Hamm, Myrtle macht sich Sorgen um die Katze.«

Sein Gesichtsausdruck wurde augenblicklich sanfter. »Heut hab ich sie noch nich’ gesehen«, sagte er. »Armes kleines Ding. Wird die Herrin sicher vermissen, aye?«

Ich kaute auf meinem Finger herum, um nichts Unverschämtes zu sagen. »Darf ich nach ihr suchen?«

Sein Gesicht verknitterte zu so etwas wie einem Lächeln. »Versuchen Se’s beim Goldregen – Sie wissen ja, wie sehr sie die Schmetterlinge da mag. Aber passen Se auf den jungen Burschen auf, den Neffen der Herrin. Falls der Ihnen dumm kommt, dann sagen Se ihm, wer Sie sind und wer Ihr Pa is. Und dass ich Ihnen erlaubt hab, im Garten zu sein. Und basta.« Energisch stach er mit dem Rechen in den Haufen, sodass Funken in die Luft stoben.

»Das werden wir gewiss tun. Danke für die Warnung, Mr Hamm.« Bevor ich weitere Fragen stellen konnte, schubste Miss Judson mich Richtung Garten, vorbei an dem Feuer und durch die Hecke.

»Au! Wozu die Eile?«, beschwerte ich mich.

»Der Rauch roch übel«, erklärte sie. »Irgendwie toxisch.«

»Rauch ist toxisch.« Stirnrunzelnd schaute ich noch einmal zurück. »Glauben Sie, er verbrennt etwas Giftiges?«

Miss Judson scheuchte mich weiter. »Oh nein, Myrtle Hardcastle! Ich lasse nicht zu, dass du gegen diesen armen Mann irgendwelche Verdächtigungen zusammenfantasierst.«

»Er hat gelogen, als er uns erzählt hat, wo er heute Morgen war«, sagte ich.

Sie zog ein düsteres Gesicht. »Das ist mir aufgefallen.«

»Aber«, räumte ich ein, »natürlich macht ihn das nicht automatisch verdächtig. Er könnte schon lange vorgehabt haben, diesen Abfall zu verbrennen.«

»Jedenfalls waren es keine abgeknickten Äste. Was das angeht, hat er ebenfalls gelogen.«

Ich rümpfte die Nase. »Das stimmt so nicht. Ich war diejenige, die ein Gewitter und abgebrochene Pflanzen ins Spiel gebracht hat. Er hat mich nur nicht korrigiert.« Erwachsene machten sich oft nicht die Mühe, mich zu verbessern, wegen der hohen Wahrscheinlichkeit, dass ich eine Diskussion anfangen würde. Was allerdings nur passierte, wenn ich wusste, dass sie sich irrten! Nicht etwa weil ich Spaß am Streiten hatte.

Miss Judson glättete ihre Röcke und richtete den Sitz ihrer Handschuhe. Sie sah immer gefasst, ordentlich und klug aus – und bereit, als ginge sie jederzeit davon aus, gleich in Aktion treten zu müssen, etwa Rad zu fahren, Tennis zu spielen oder einen davonrollenden Kinderwagen zu retten.

Oder Katzen zu bändigen!

»Da ist sie!«, rief ich, als ich den verräterischen Fleck schwarz-weißes Fell entdeckte, der sich durch das hohe Gras an der Westhecke schob.

»Bist du sicher?« Miss Judson war dicht hinter mir, wobei ihre Stiefel über den Rasen huschten, als wären sie zum Rennen gemacht, nicht nur, um im Unterrichtsraum Autorität zu verströmen. Meine Stiefel quatschten lustig, als ich über eine Stelle lief, die vom Regen noch nass war. Als wir um die Hecke wirbelten, landeten wir geradewegs auf verbotenem Terrain. Miss Judson packte mich am Arm, obwohl ich längst selbst abbremste, wenn auch wenig elegant. Es gab kein Tor, keinen prächtigen Durchgang oder irgendeinen Hinweis darauf, dass man heiligen Boden betrat, dennoch spürte ich Miss Judsons Fingernägel, die sich in meine Ärmel gruben und mich zurückhielten. Diesen Ort hatte ich immer nur aus respektvoller Entfernung gesehen, selbst mein Teleskop wagte ich kaum darauf auszurichten, so sehr hatte man uns eingeschärft, ihn mit Ehrfurcht zu behandeln.

Dies war Miss Wodehouses Liliengarten.

Zumindest war er es gewesen. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Obwohl mir wohl bewusst war, dass ich in diesem Teil des Gartens nichts zu suchen hatte, schüttelte ich Miss Judsons Hand ab und machte einen Schritt hinein, und noch einen, dorthin wo die weltberühmten Lilien wachsen sollten. Doch die Beete rings um mich herum waren leer, so karg wie im Winter.

Die Lilien waren fort.

3ein wichtiges gerichtliches Dokument, das man keinesfalls mit Frühstück bekleckern sollte

4Die alarmierende Schneckenaffäre von 1890 war ein hervorragendes Beispiel und würde eines Tages den Stoff für ein faszinierendes Einzelwerk hergeben, da es eine Reihe von bislang verkannten wissenschaftlichen Prinzipien demonstrierte. Jedoch hat es keinerlei direkten Zusammenhang mit diesem Fall, weshalb an dieser Stelle kein weiteres Wort darüber fallen soll.

5Ich war sicher, dass man zuerst sämtliche Gräber entfernt hatte. Vater meinte, es gab damals eine gerichtliche Anweisung und ungeheuer viel Papierkram. In einem kleinen Museum, das man in einem umgebauten Mausoleum untergebracht hatte, waren Fotografien der Exhumierungen ausgestellt. Doch Caroline Munjal, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, beharrte darauf, dass einige der Leichen noch immer dort vergraben lagen und ihre Geister nun in den neuen Häusern spukten. So viel zu »unrealistisch« (s. o.).

3

Geschworenengericht

Das Leben eines Detektivs ist kein leichtes. Man muss sich auf hinderliche Ermittlerkollegen, widerwillige Zeugen, alle Arten von kriminellen Individuen und fantasielose Familienmitglieder gefasst machen.
H. M. Hardcastle: Die Grundlagen der Detektion — Ein Handbuch für Amateur- und Berufsermittler, 1893.

»Was ist denn hier geschehen?« Miss Judson klang atemlos, als sie zu mir aufholte. »Moment, ich glaube, wir dürfen gar nicht hier sein.«

»Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?« Miss Wodehouse war tot und ihre geliebten Lilien ebenso. Dennoch hatte Miss Judson nicht unrecht. Dies hier konnte ein Tatort sein und wir sollten darauf achtgeben, nichts zu verändern. Ich legte meine Werkzeuge (Lupe, Notizbuch, Detektivset) bereit und ging auf Zehenspitzen behutsam durch den Liliengarten – ehemaligen Liliengarten, meine ich. Es sah aus, als wäre Napoleons Armee hindurchgefegt, hätte die Beete bis an die Erde abrasiert, alles niedergebrannt, was nicht abgemäht war, und den Rest verscharrt.

Ich näherte mich einem der schlichten, mit Holz eingefassten Beete. Anders als die verschiedenen Teile des Hauptgartens mit ihren Schmuckurnen und hübschen Zäunen aus gedrehten Weidenzweigen, war der Liliengarten einfach und praktisch angelegt – ein Raum zum Experimentieren, nicht zum Dekorieren. Mir fiel eine aufgewühlte Rinne im Kies auf. »Sehen Sie!«, rief ich Miss Judson zu, die wie vom Blitz getroffen am Rand verharrte. »Hier sind Spuren, als hätte jemand einen Karren hindurchgeschoben.«

»Vielleicht eine Schubkarre?« Sie schüttelte ihre Starre ab und durchquerte den Garten, wobei sie einen Weg über die andere Seite wählte.

»Und Fußabdrücke.« Eine aufgescharrte Stelle auf dem Weg offenbarte mehrere schmutzige Spuren, unter denen ich undeutlich das vertraute Muster von Mr Hamms Stiefeln ausmachen konnte. Und auf der Holzeinfassung des Blumenbeets prangte, deutlich wie ein Blutfleck, ein einzelner schlammiger Abdruck vom Schuh einer zweiten Person. »Da ist schon wieder diese andere Fußspur«, sagte ich. »Genau wie die in der Nähe der Terrasse.«

»Zigarillos?«, erkundigte sich Miss Judson und schlug ihr Skizzenbuch auf, um das Beweisstück zu dokumentieren.

»Leider nein.« Ich ging tief in die Hocke und begutachtete die Spuren von Mr Hamms Stiefeln sowie den fremden Abdruck auf dem Holzbrett. »Was ist mit den Blumen passiert? Wer könnte das getan haben – und warum?«

»Käme nicht Miss Wodehouse selbst infrage?«, überlegte sie. »Um die Beete für einen anderen Zweck freizumachen?«

Ich spähte zu den verwüsteten Parzellen und versuchte, mir das auszumalen. Diese Blumen waren mehrere Hundert Pfund wert gewesen. »Finden Sie, dass sähe der geizigen alten Miss Wodehouse ähnlich?« Die jahrelangen Forschungen, all ihre Experimente und Züchtungen, ganz abgesehen von den Zwiebeln …

»Sehen Sie sich um«, sagte ich mit neuem Eifer. »Haben die Täter alles ausgegraben oder nur die Triebe vernichtet?«

Miss Judson hatte sofort begriffen. Sie zog ihre Handschuhe aus (warum trug sie die dann überhaupt? Mode war mir nun wirklich ein Rätsel …) und griff mit den nackten Händen in die frisch umgegrabene Erde. »Nichts zu spüren«, sagte sie, »aber es würde den ganzen Tag dauern, den kompletten Garten abzusuchen.«

Ich stocherte im lockeren Boden meiner eigenen Ecke, wobei ich mir Mühe gab, keine der Fußspuren zu verwischen. Meine Finger stießen nicht auf die fleischige, knollige Zwiebel einer Lilie, sondern auf kaltes Metall. Ich zog es heraus und schüttelte die Erde ab. »Was ist das?« Mein Fund bestand aus geprägtem Silber, ungefähr so lang wie mein Daumen, mit einem runden Ende wie von einem Löffelstiel und einer Art eingebautem Federhebel. Als ich ihn hochhielt, bemerkte ich auf einer Seite einen schwachen roten Fleck.

»Oh, gut für dich«, sagte Miss Judson »Weil du es nicht kennst, meine ich. Das ist ein Zigarrenschneider. Ist das darauf etwa Blut?«

Ich betrachtete den Fleck nachdenklich. »Lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Doch es sieht ganz danach aus.« Ich verlagerte mein Gewicht auf die Fersen und inspizierte den Tatort. Die Katze war wieder verschwunden. »Mr Hamm raucht keine Zigarren, und ich bezweifle, dass Miss Wodehouse es getan hat.«

»Und falls doch, dann bestimmt nicht bei der Arbeit. Und dieser Wodehouse-Neffe braucht für seine Zigarillos keinen Zigarrenschneider.«

»Würde man beides rauchen?«

Einen Augenblick schien sie hin- und hergerissen. Diesen Gesichtsausdruck kannte ich – sie wog die Vorteile davon ab, mir etwas zu meinem eigenen Wohl zu verschweigen, gegenüber denen, die es mit sich brachte, meinen Wissensdurst zu stillen. »Nein«, sagte sie schließlich. »Wohl eher nicht.«

»Also war letzte Nacht noch ein zweiter Mann hier.« Ich stand auf und zog ein Taschentuch aus der Tasche meines Schürzenkleids, denn für meine Probengläschen war der Zigarrenschneider zu groß. Ich war einigermaßen sicher, dass der »Blutfleck« nicht verwischen würde, solange ich ihn nur vorsichtig genug einwickelte.

»Wie kannst du sicher sein, dass es ausgerechnet letzte Nacht war?«

Nachdem der Zigarrenschneider sicher in meiner Tasche verstaut war, ging ich die Hinweise durch. »Die Fußspur des Fremden wurde hinterlassen, nachdem es aufgehört hatte zu regnen, sonst hätte es sie weggespült. Am Morgen wiederum war es zu trocken für deutliche Abdrücke.«

»Du weißt aber nicht, ob der Zigarrenschneider zum selben Zeitpunkt fallen gelassen wurde oder ob er überhaupt diesem ›Fremden‹ gehörte«, forderte sie mich heraus.

»Hier ist eindeutig etwas vorgefallen.« Ich deutete auf die zerstörten Beete und den aufgewühlten Pfad. »Es kann nur vergangene Nacht gewesen sein, weil die Pflanzen gestern während meines Unterrichts bei Mr Hamm noch unversehrt waren.« Soviel hatte ich durch das Tor erkennen können, um nun sicher zu sein. »Wir wissen, dass der Zigarrenschneider nicht ihm gehört, weil er keine Zigarren raucht, und er war der Einzige, den Miss Wodehouse überhaupt hier hineingelassen hat.«

»Vielleicht handelt es sich um ein Familienerbstück«, konterte sie. »Hat eventuell seinem Vater gehört.«

Ich schüttelte den Kopf. »Er ist neu – Sie haben selbst gesehen, wie sehr er noch glänzt, und die Klinge war kaum abgenutzt.«

Deshalb verstanden wir uns und deshalb mochte ich Miss Judson als Lehrerin so sehr. Sie ließ mich die Dinge selbst herausfinden und stellte mir herausfordernde Fragen, um mich auf den richtigen Weg zu bringen.6

»Nun gut«, sagte sie. »Letzte Nacht hat also jemand diesen Zigarrenschneider in Miss Wodehouses Liliengarten fallen lassen. Was sagt uns das?«

Auf diese Frage hatte ich keine Antwort. Noch nicht.

Ich wollte weiter nach Spuren suchen, doch Miss Judson wischte sich die Hände an ihrer Schürze sauber. »Ich glaube, für einen Morgen haben wir durchaus genug getan. Wir wollen ja nicht zu spät im Gericht erscheinen.«

»Wenn wir jetzt gehen, haben sie Zeit, alle anderen Beweise verschwinden zu lassen.« Wer immer »sie« auch sein mochten.

Miss Judson wirkte deswegen bei Weitem nicht so betrübt, wie man hätte annehmen können. »Dieses Risiko müssen wir wohl eingehen. Ab nach Hause.«

Wir fuhren mit dem Rad zum Gericht. Dabei handelte es sich um absolut herrliche, moderne Beförderungsmittel, unfassbar effizient, genau wie die passende Bekleidung, die man dazu tragen durfte. Miss Judson hatte einen Anzug mit weiten Pluderhosen, sogenannte Bloomers7, an, ich leider nur einen schlichten schwarzen Hosenrock. Durch den Verkehr von Swinburne zu radeln (zumindest, was es dort an Verkehr gab), fühlte sich herrlich dringlich und wagemutig an.

Wir sausten über die Pflasterstraßen der Stadt, hinaus aus Gravesend mit seinen neuen Ziegelhäusern und winzigen Gemüsegärtchen, vorbei am Schulhaus, das ich nie besucht hatte, über die Schienen der Pferdetram bis in die Innenstadt. Beim Fahren stellte ich mir vor, wir wären die Helden meiner Lieblingsgroschenromane, Billy Garrett, ein Junge und Detektiv, und sein »Sidekick« Franz, die im Wilden Westen Verdächtige jagten. Mir war klar, dass diese Geschichten absurd waren (Billy löste seine Fälle dank glücklicher Zufälle und Geistesblitzen, die absolut nichts mit Logik zu tun hatten), trotzdem fand ich sie mächtig inspirierend. Ein- oder zweimal hatte ich sogar Vater dabei erwischt, wie er sie las, als er sich eigentlich mit seinen Mandaten hätte beschäftigen sollen.

Miss Judson hielt neben dem Gerichtsgebäude, einem tristen Steinbau mit hohen Fenstern, eisernen Geländern und Statuen davor. Man konnte die Räder nirgends abstellen, daher gab sie einem Mann am Kutschenstand ein Sixpencestück, damit er für uns darauf aufpasste.

»Halten Sie das für klug?«, fragte ich, als wir die Straße überquerten. »Diese Räder kosten zwölf Guinee das Stück.«

»Wer würde schon direkt vor dem Gericht ein Rad stehlen?«

»Hier wimmelt es von Kriminellen«, gab ich zu bedenken.

Auf der Herfahrt hatten wir keine Gelegenheit für eine Unterhaltung gehabt, daher bombardierte ich Miss Judson nun mit Fragen, während wir die monströse Haupttreppe hinaufhasteten. »Was meinen Sie, wie Miss Wodehouse ums Leben kam?«

Fast schon rechnete ich damit, sie würde mir zu verstehen geben, dass uns das nichts angehe. Stattdessen lief Miss Judson etwas langsamer und drehte sich zu mir um. »Nun, sie war alt«, antwortete sie. »Denkbar, dass ihre Zeit einfach gekommen war.«

»An irgendetwas muss sie gestorben sein«, ließ ich nicht locker. »Es gibt immer einen Grund.«

»Hmm«, machte sie. »Nur muss es kein unnatürlicher Grund sein.«

»Finden Sie es nicht merkwürdig, dass sie mitten in der Nacht gebadet hat?«

»Vielleicht war ihr kalt«, schlug Miss Judson vor. »Vergangene Nacht hat es geregnet. Womöglich haben ihre Knochen geschmerzt.«

Das war logisch, vor allem wenn sie zuvor ihre eigenen Lilien ausgerissen hätte. »Dann ist sie ertrunken? In der Wanne eingeschlafen und untergegangen?« Wäre sie nicht aufgewacht, sobald ihr Gesicht im Wasser war und sie versucht hätte, zu atmen? Husten, Prusten und lautes Planschen hätte jemanden alarmieren müssen, vor allem Trudy, das Hausmädchen, das vermutlich direkt im Zimmer neben ihrer Herrin untergebracht war – damit sie rund um die Uhr die seltsamsten Aufträge erfüllen konnte, wie etwa um Mitternacht ein Bad einzulassen. »Denken Sie, der Leichenbeschauer hatte schon Gelegenheit, die Tote zu untersuchen?«

»Myrtle!«

»Im Falle eines verdächtigen Todes hat jeder Bürger das Recht darauf, zu verlangen, dass der Leichenbeschauer eine erste Einschätzung vornimmt.«

Aus Miss Judsons Gesicht verschwand alle Heiterkeit. »Das wirst du schön bleiben lassen!«, sagte sie streng. »Ich kann verstehen, dass du neugierig bist und wissen willst, was passiert ist, und ich weiß auch, es steckt mehr dahinter als eine makabre Faszination für den Tod. Aber haben wir diese arme Familie nicht schon genug belästigt? Sie ist gerade erst gestorben. Warum kannst du nicht auf die Todesanzeige warten wie jeder andere auch?«

Ich war unsicher, wie ich es ihr erklären sollte, wenn sie es noch nicht verstanden hatte. Dabei sollte sie – immerhin war sie Miss Judson. Niemand auf der Welt kannte mich besser als sie. »Ich muss einfach wissen, was passiert ist«, murmelte ich. »Wir kommen zu spät.« Damit schob ich mich an ihr vorbei ins Gericht und versuchte, mich mit einem netten Mordprozess zu begnügen.

Die Verhandlung hatte bereits begonnen, doch der Gerichtsdiener erkannte uns und ließ uns leise auf die öffentliche Galerie schlüpfen, von der aus man auf den Gerichtssaal blicken konnte. Vater sah in seiner schwarzen Robe und der weißen Perücke famos aus, wie er so forsch vor der Richterbank auf- und abschritt. Ich linste zu Miss Judson, um zu sehen, ob es ihr ebenfalls aufgefallen war, doch sie hatte bereits Platz genommen und sich über ihr Skizzenbuch gebeugt. Was sie zeichnete, konnte ich allerdings nicht erkennen.

Die Beschuldigten saßen auf der Anklagebank, einem kleinen abgeschlossenen Kasten, dessen einzige Tür direkt zu den Gefängniszellen führte. Sie war so positioniert, dass jeder im Saal einen guten Blick auf die Insassen hatte. Der erste Mann, dessen Name Cobb lautete, machte einen mürrischen, wütenden Eindruck, hatte dichte Augenbrauen und eine schiefe Nase, die vermutlich bereits mindestens einmal gebrochen worden war.8 Der Zweite, mit Namen Smythe, war jünger. Er war blass, schwitzte und zog sich immer wieder am Kragen. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie sie einen anderen Mann zu Tode prügelten, doch ohne Erfolg.

Wir waren rechtzeitig zum besten Teil angekommen: Gerade begann der Leichenbeschauer mit seiner Aussage. Als der Beamte, der für jeden zuständig war, der in Swinburne sein Leben ließ, wurde er regelmäßig als Zeuge zu Vaters Fällen hinzugerufen. Die Obduktion von Mordopfern führte er allerdings nicht durch – diese Aufgabe kam dem Gerichtsmediziner zu –, doch davon abgesehen kannte er sich mit den wissenschaftlichen Aspekten des Todes extrem gut aus.

»Ich betrat die Gaststätte Bells Taverne am Abend des achten Juli«, sagte der Leichenbeschauer gerade. »Dort fand ich die Leiche des Opfers vor. Todesursache waren offensichtlich mehrere Hiebe auf Kopf und Gesicht. Neben dem Toten lag eine zerbrochene Whiskyflasche.«

»Und wie lautet Ihre Einschätzung, Sir, hinsichtlich der Umstände dieses Todes?«

»Vorsätzlicher Mord.«

Mit dem Notizbuch in der Hand hörte ich den restlichen Vormittag über selig zu und vergaß vorübergehend sogar die Meinungsverschiedenheit mit Miss Judson. Ich hatte gar nicht wirklich vorgehabt, eine Untersuchung von Miss Wodehouses Tod zu verlangen, ich dachte nur, es würde den Leichenbeschauer interessieren, was an den Ereignissen der vergangenen Nacht alles nicht zusammenpasste. Davon, dass Inspektor Hardy meine Bedenken in seinem Bericht erwähnen würde, war ich nämlich nicht überzeugt – noch dazu hatte er vom Liliengarten noch gar nichts erfahren. Sollte Miss Wodehouse Opfer eines Verbrechens geworden sein, sollte es doch gewiss jemand aufdecken, oder nicht?

Endlich veränderte Miss Judson ihre Position ein wenig, sodass ich einen Blick in ihr Skizzenbuch werfen konnte. Sie hatte ein kleines Porträt von Vater mit seiner Perücke in ihre Darstellung des Prozesses gezwängt. Er sah hinreißend aus, zudem hatte sie fabelhaft sein ausgeprägtes Kinn und die Entschlossenheit in seinem Blick eingefangen, mit dem er feurig in den Saal schaute. Mir ging das Herz auf.9