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© eBook: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
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Projektleitung: Miriam Nüberlin
Lektorat: Silke Panten
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
eBook-Herstellung: Linda Wiederrecht
ISBN 978-3-8338-8161-9
1. Auflage 2021
Bildnachweis
Coverabbildung: Markus Tedeskino
Syndication: www.seasons.agency
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Am Abend meines Abfluges in den Big Apple, wo ich mich am Uta Hagen Institute im HB Studio bewerben wollte, war ich in München in einer Bar. Ich kam mit einem jungen Amerikaner ins Gespräch, der mir erzählte, dass er Schauspieler sei und in München wäre, um einen Film zu drehen. »Toll«, sagte ich und lud ihn auf einen Whiskey ein. »Schauspieler will ich auch werden. Morgen fliege ich nach New York! Ich möchte das HB Studio mit eigenen Augen sehen.« Er sah mich mit einem Lächeln an. »Wirklich? Und wo wirst du wohnen?« Ich zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich noch nicht. Es wird sich schon etwas ergeben. Weißt du zufällig, wie ich an einen Job komme?« Ein paar Gläser und zwei Stunden später bot er mir an, in seiner Wohnung unterzukommen, solange er in München beim Dreh war – denn unglaublicherweise lebte er selbst in der Stadt am Hudson River. Er fragte beim Barkeeper nach Zettel und Stift, schrieb mir seine Adresse auf und überreichte mir die Wohnungsschlüssel. Als Miete drückte ich ihm zweihundert Dollar in die Hand, die ich am Tag zuvor bei der Bank eingetauscht hatte, und fühlte mich wie der größte Glückspilz auf Erden.
N46°00'15.0" E8°57'25.6"
Lugano, Schweiz
Am 23. Januar 1968, genau neunzehn Tage nachdem in Südafrika die zweite erfolgreiche Herztransplantation der Welt vorgenommen worden war,1 kehrten zwei Israelis und vierhundertfünfundsechzig Ägypter in ihre Heimatländer zurück. Es waren die letzten Gefangenen des Sechstagekrieges, die von den Regierungen der beiden Länder ausgetauscht wurden.2
Am 12. März desselben Jahres entließ das Königreich Großbritannien den Inselstaat Mauritius in die Unabhängigkeit. Obwohl das Land zum damaligen Zeitpunkt zu den ärmsten Staaten der Erde gehörte, wurde die Loslösung von der Krone mit landesweiten Festlichkeiten gefeiert.
Acht Wochen später begannen die Friedensverhandlungen zwischen den USA und Nordvietnam, die einer mehr als dreizehn Jahre andauernden militärischen Auseinandersetzung ein Ende bereiten sollten.3
Vier Tage zuvor, am 9. Mai desselben Jahres, saß die vierundzwanzigjährige Francesca Marazzi, genannt Coca, in Lugano im Cinema Iride, dem Lichtspielhaus der Stadt, und sah sich In der Hitze der Nacht an. Kurz bevor Chief Gillespie den von Sidney Poitier gespielten Detective Tibbs vor dem Lynchmob rettete, spürte die hochgewachsene Blondine mit der markanten, etwas zu lang geratenen Nase, die ihrem Gesicht jedoch das bestimmte Etwas verlieh und sie von den vielen schönen jungen Frauen Norditaliens unterschied, ein eindeutiges Ziehen im Unterleib und wusste: Das Kind würde nicht warten, bis der Film zu Ende war. Ihr Baby hatte es eilig.
Sie atmete die nächste Wehe weg. Da sie trotz ihres jungen Alters vor zwei Jahren bereits ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, war ihr klar, dass die Zeit drängte. Kaum dass sie wieder zu Luft kam, stand sie auf, drängte sich, Entschuldigungen murmelnd, durch die Sitzreihe an den teilweise verärgert dreinblickenden Zuschauern vorbei und verließ das Kino in genau dem Moment, als die nächste Wehe kam und Francesca keuchend innehalten ließ. Mit zusammengebissenen Zähnen und nach Luft schnappend machte sie sich so schnell, wie sie konnte, auf den Heimweg.
Zu Hause angekommen, nahm sie die dreihundertzweiundsiebzig Stufen zum See hinunter, packte in aller Eile die nötigsten Dinge in eine Tasche und rief bei ihrer Mutter Jacqueline an, um ihr zu sagen, dass es losgehe. Das zweite Enkelkind war auf dem Weg – vier Wochen zu früh! Dann kletterte sie die dreihundertzweiundsiebzig Stufen zur Straße wieder hinauf, im Stillen den Mann verfluchend, der beschlossen hatte, ein Haus mit einem derart beschwerlichen Zugang zu bauen.
Als sie oben ankam, wartete ihre Mutter bereits im Wagen. Sie war eine Grande Dame, mit Stil und Temperament, sowohl beim Skifahren wie auch hinter dem Steuer eines Wagens. Und so drückte sie, kaum dass ihre Tochter, schwer keuchend ob des Aufstiegs und der mittlerweile im Minutentakt kommenden Wehen, die Autotür hinter sich geschlossen hatte, das Gaspedal durch und jagte die Serpentinenstraße entlang nach Lugano. In Rekordzeit erreichten Jacqueline und Francesca kurze Zeit später die Clinica Sant’Anna in Lugano – und keinen Augenblick zu früh. Denn das Baby machte gerade Anstalten, das Licht der Welt zu erblicken.
Als Jacqueline Stunden später ihren zerknitterten, aber kerngesunden Enkel vorsichtig in das Neugeborenenbettchen legte, fühlte sie sich wie die glücklichste Nonna auf Erden. Nicht einmal das entsetzte Gesicht ihres Mannes konnte sie aus der Ruhe bringen. Als der nämlich von einer Schwester zu dem Raum geführt wurde, in dem die Säuglinge Seite an Seite hinter einer Glaswand schliefen, und ihm den jüngsten Familienzuwachs zeigte, hob er in der für seine Mentalität typischen Geste die Arme und zog die Augenbrauen hoch. Sein Blick wanderte zur Krankenschwester, dann wieder zurück zum Bettchen, in dem sein Enkelsohn schlummerte. »Eh, no!«, meinte er anklagend und gestikulierte in Richtung der Scheibe. »Non è possibile. Das ist nicht möglich. Sind Sie sicher, dass das der Richtige ist?«
Die Krankenschwester, eine Süditalienerin aus Kalabrien mit haselnussbraunen Augen, einer Schwäche für die Filme mit Gina Lollobrigida und mit dem zuweilen merkwürdig-distanzierten Verhalten der italienischsprachigen Schweizer nicht vertraut, zuckte nur die Schultern. Wenn Signor Marazzi der Anblick seines Enkels nicht gefiel, sollte er doch auf einen weiteren hoffen. Sie drehte sich um, schwebte gedankenverloren davon und überließ ihn sich selbst.
Attilio Marazzi indes starrte durch die Scheibe auf das winzige Neugeborene und fragte sich, wie dieses Baby, das wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen aussah, eines Tages seiner Familie ein Oberhaupt sein sollte. Der Architekt, der das Stadtbild Luganos über Jahrzehnte geprägt hatte, trank seinen Espresso jeden Morgen in derselben Bar unweit seines Büros, im Stehen am Tresen wie alle Italiener. Rein äußerlich hätte man ihn für eine Figur aus den Filmen Coppolas halten können: Zurückgekämmte grau melierte Haare, Rollkragenpullover, ein maßgeschneiderter Anzug und auf Hochglanz polierte Lederschuhe verliehen ihm das Aussehen eines Hollywoodganoven aus Little Italy. Er liebte den Wein und die Pasta, und sein Auge für Winkel und Formen war außerordentlich. Der Anblick des Enkels irritierte ihn deswegen zutiefst. Dieser Klops, rund wie eine Mozzarellakugel, war doch verwechselt worden! Das einzig Wohlproportionierte war der pirolino des Kleinen, wie Attilio bei einem heimlichen Blick in die Windel feststellen durfte.
O dio! Ganz untypisch für seine ansonsten eher aristokratische Haltung schüttelte Attilio den Kopf, seufzte, fluchte noch einmal leise auf Italienisch und ging dann davon, um ein Telex in die UdSSR zu schicken.
Dort, am Ende der Welt, inmitten der ewigen Schneewüsten, nahm Stunden später ein wodkatrunkener sowjetischer Bauer ein Schreiben auf der Poststation in Empfang. Iwan Schirjajew las den Inhalt, ernüchterte schlagartig und rannte zurück auf seinen Hof. Im Gegensatz zu ihm war sein Trecker noch nicht auf Betriebstemperatur, und so musste Schirjajew wertvolle Minuten verstreichen lassen, ehe der Motor ansprang und er zum Set fahren konnte, das die Filmproduktionsfirma ein paar Kilometer weiter irgendwo in der eisigen Tundra aufgebaut hatte. Doch endlich konnte es losgehen! Blind vor Aufregung übersah der Bauer beim Losfahren seinen Knecht Boris, welchen er versehentlich über den Haufen fuhr. Schirjajew sprang vom Trecker und fluchte. Was nun? Schimpfend wickelte er den leicht verletzten Mann in ein paar Decken und verfrachtete ihn in den Stall. Um Boris würde er sich später kümmern. Diese Nachricht konnte nicht warten.
Als er eine gute Stunde später am Set ankam, waren seine Wangen gerötet, und der Alkoholnebel hatte sich vollends gelichtet. Er wedelte mit dem Papier und rief: »Gospodin Kruger! Это мальчик! Ура! Es ist ein Junge, hurra!«
Gospodin Kruger, den meisten auf dieser Welt zu diesem Zeitpunkt besser bekannt als Hardy Krüger, konnte es fast nicht glauben. Seit Monaten fror er sich im russischen Winter, der offenbar niemals enden wollte, neben Sean Connery, Claudia Cardinale und Peter Finch die Zehen ab. Dass ein Film über die missglückte Luftschiff-Polarexpedition des italienischen Generals Umberto Nobile nicht in gemäßigten Breiten spielte, hätte klar sein müssen. Aber wie viel Kraft und vor allem Wodka es benötigte, in dieser kalten und trostlosen Umgebung eine Geschichte zu verfilmen, hatte er sich nicht vorstellen können, als man ihm das Drehbuch vorgelegt hatte. Umso erfreulicher, dass es nun einen Grund gab, die Zelte abzubrechen und so schnell in die Schweiz zu fahren, wie die damaligen Verhältnisse es ihm ermöglichten. Schon einen Tag später erreichte er seine junge Frau und den neugeborenen, knubbeligen Sohn, dessen Anblick ihn viel weniger schockierte als den Schwiegervater.
Die nun vierköpfige Familie zog in das unmögliche, wunderschöne Haus am See. Dreihundertzweiundsiebzig Stufen. Selbst für den sportlichsten Menschen waren die eine Herausforderung. Gäste der Krügers überlegten sich immer zweimal, ob sie nicht lieber zu sich einladen sollten, und wehe dem, der, oben an der kleinen Serpentinenstraße angekommen, die nach Süden in Richtung Italien führt und sich entlang des Lago di Lugano schlängelt, feststellte, dass er unten etwas vergessen hatte! Zum Glück gewöhnt sich der Mensch an alles. Und spätestens, wenn man über das wunderschöne Anwesen unten am Ufer flanierte und die großzügige Aussicht auf den See genoss, war der unweigerlich folgende Anstieg vergessen. Das Haus im Tessiner Baustil war in den Hang gebaut und von der Straße aus nicht zu sehen. Einzig eine winzige Parkbucht oben am Weg ließ vermuten, dass sich am Fuße des Berges, dem Wasser zugewandt, ein Grundstück befinden musste. Eine bessere Sicht auf das dreistöckige Anwesen, das bis heute von herrlichen Gärten flankiert wird, hat man nur vom Wasser aus. Wie viele Häuser, die einen eigenen Seezugang haben, verfügte auch dieses über eine Wassergarage, in der ein Holzboot parkte.
Dieses Haus, so einmalig und großartig, wie es war, hatte schon einige Menschen den letzten Nerv gekostet. Nicht nur, dass es für die Baumaschinen eine Meisterleistung gewesen sein musste, das Material zur Baustelle zu liefern. Für die Arbeiter war es eine wahre Qual. Wollten sie die Baustelle verlassen, mussten sie entweder dreihundertzweiundsiebzig Stufen den Berg hochlaufen – oder schwimmen gehen, was die wenigsten damals konnten, nicht mal diejenigen, die in der Nähe eines Gewässers aufgewachsen waren.
Als Kind liebte ich es, wenn Nonno Attilio, Zio Christian oder Mama Francesca meiner Schwester Malaika und mir diese und andere Geschichten erzählten. Und wir liebten das Anwesen, in dem wir in den ersten Jahren unseres gemeinsamen Lebens wohnten. Mein Vater war zu dieser Zeit schon ein richtiger Star, nicht nur in Deutschland, auch in Amerika. In den 1950er-Jahren war er zum Sonnyboy des deutschen Spielfilms geworden und in kürzester Zeit zum gefeierten Filmstar avanciert. Deshalb waren Malaika und ich die meiste Zeit allein mit unserer Mutter, dem Kindermädchen Anne und natürlich den Nonnas und Nonnos, die uns genauso verwöhnten, wie es sich für Großeltern eben gehört. Die Sommer und einen Großteil des Winters verbrachten wir mit ihnen. Ich sehe Nonna Jacqueline noch heute vor mir, wie sie in einem Sessel sitzt, tief in die Lektüre eines Buches versunken. Sie war sehr belesen, liebte das Kino und die Kultur. Und kochen konnte sie! Eine echte italienische Großmutter, wie man sie sich denken kann.
Von Nonno Attilio lernte ich alles über Stil und Benehmen. Wie sich ein Mann kleidet, wie er sich pflegt und wie er seinen Espresso trinkt. Ich glaube, ich bin nie einem eleganteren Menschen begegnet als ihm. Selbst wenn er Pasta zubereitete, wirkte er wie ein Gentleman.
Die Marazzis, also meine Großeltern, aber auch mein Onkel Christian und meine Tante Giovanna, prägten mich als Kind, genau wie das Leben in dem wunderschönen rosafarbenen Haus mit den türkisfarbenen Fensterläden, das am Fuße des Luganer Sees liegt.
Lugano, die Perle am Lago di Lugano zwischen Palmen und Gipfeln, eingerahmt von sanften Hügeln und einem beeindruckenden Bergpanorama, verbindet das alpine Lebensgefühl mit dem, was die Deutschen sehnsuchtsvoll »La Dolce Vita« nennen. Die Altstadt ist pittoresk, verwinkelt, mit zahllosen Treppen, die bergauf, bergab durch enge Gassen hindurchführen, über denen die frische Wäsche auf den Leinen hängt. Lugano, das bedeutet für mich das Meer der Farben. Turmalinblaues, beinahe karibisch anmutendes Wasser, saftiges dunkles Smaragd auf den umliegenden Bergen und der Himmel in Aquamarin darüber. Pistaziengrüne, zitronengelbe und roséfarbene Gebäude ringsum der piazze. Hier, am südlichsten Zipfel der Schweiz, ist Italien so nah, dass man es an jeder Ecke riechen, schmecken und hören kann.
Es sind diese besonderen Orte auf der Welt, in denen die Landesgrenzen verschwimmen, in denen eine Nation fließend in die andere übergeht, in denen Länder, Sprachen und Kulturen so eng miteinander verflochten sind, dass man sie kaum mehr auseinanderhalten kann. Die Straßen und Wohnungen Luganos sind erfüllt vom melodischen Singsang des Italienischen, auf den Plätzen wird mit vollem Körpereinsatz und großen Gesten gesprochen; chiacchierare, das italienische Wort fürs Tratschen, man sieht und lebt es in Lugano, in dem es doch so viel ordentlicher zugeht als im südlichen Nachbarland. Eidgenössische Disziplin trifft auf italienisches dolce far niente, das süße Nichtstun, das nördlich der Alpen belächelt, beneidet und zugleich bewundert wird. Lugano ist das Kind dieser unterschiedlichen Eltern – verführerisch, gediegen und gegensätzlich.
Hier lernten sich Francesca »Coca« Marazzi und Eberhard »Hardy« August Franz Ewald Krüger 1964 kennen. Ihre Beziehung stand zunächst unter keinem guten Stern, denn er war noch verheiratet und hatte bereits eine Tochter. Coca war eine Freundin von ihr, im selben Jahr geboren und gerade volljährig, doch die Anziehung zwischen den beiden Menschen war zu groß, als dass siebzehn Jahre oder damalige Konventionen eine Rolle gespielt hätten – geschweige denn eine andere Ehe. Hardy trennte sich von seiner Frau Reni, mit der er sich vor Jahren am See niedergelassen hatte, und heiratete 1965 die junge Tessinerin vom Fleck weg. Die Presse stürzte sich auf die beiden, schon damals war es eine verdammt gute Story: der charismatische Weltstar und die schöne Unbekannte. Francesca folgte ihrem Mann auf Galas, zu Presseterminen und an die Drehorte seiner Filme. Sie zogen in das Haus am See und führten ein Leben im Glamour. Lugano war in den 1960er-Jahren das Saint-Tropez der Schweiz, alles, was Rang und Namen hatte, traf sich dort, und die Krügers waren der schillernde Mittelpunkt. Mit dem Riva-Holzboot fuhren sie zum Einkaufen oder in die besten Restaurants am Platz, und wenn ihr Ziel keinen eigenen Anleger hatte oder über den Wasserweg nicht zu erreichen war, stiegen sie in das Mercedes-Cabrio meines Vaters und brausten die Serpentinen um den See entlang.
Francesca Marazzi war, bis ihr Leben von einem Weltstar durcheinandergewirbelt wurde, ein zartes Ding, das der Malerei und der Kunst verfallen war. Gemeinsam mit ihren Geschwistern Christian und Giovanna erlebte sie eine grundsolide italienische Kindheit und Jugend, geprägt von Mamas Pasta, Treffen auf der piazza und Ausfahrten auf den motorini an den Lido, den ihr Großvater entworfen hatte: ein wunderschönes Gebäude aus rot lackiertem Holz mit dunkelgrün eingefassten Fenstern und Türen. Über dem Eingang steht bis heute in großen weißen Lettern LIDO. Grün, Weiß, Rot, die Farben Italiens als Portal zum Strand, mitten in den Alpen.
Das Leben meiner Mutter änderte sich von einem Tag auf den anderen, von dem gemächlichen Treiben des südschweizerischen Städtchens wurde sie fast über Nacht in die große weite Welt und den Familienalltag mit zwei Kindern hineingeworfen. Sie hatte noch nicht viele Erfahrungen mit Männern gemacht, als sie mehr oder weniger in meinen Vater hineinstolperte, den Hollywoodstar, bekannt aus Der Flug des Phönix oder Sonntage mit Sybill. 1967 kam Malaika auf die Welt, im Jahr darauf konnte ich selbst das Ende von In der Hitze der Nacht nicht abwarten.
Da mein Vater häufig auf Drehs war, begleiteten wir ihn manchmal. Alle kamen mit, wie bei einer Karawane zogen wir von Ort zu Ort, von Land zu Land, es war ein unstetes, rastloses Leben, erfüllt von Aufregung und Abwechslung.
Die meiste Zeit blieb meine Mutter aber allein mit uns in Lugano. Beinahe selbst noch ein Kind, musste sie Verantwortung für Malaika und mich übernehmen – und trotz aller familiärer Unterstützung fiel das nicht immer leicht. Ich erinnere mich an viele Momente, in denen meine Mutter unter schrecklichen Migräneattacken litt und Anne, das Kindermädchen, das wir heiß und innig liebten, mit uns zum Spielen nach draußen ging, damit wir Mama nicht störten. Obwohl ich zugeben muss, dass ich die meiste Zeit des Tages sowieso mit mir selbst beschäftigt war.
Wenn ich mir heute Bilder von dem weißblonden Jungen mit dem abwesenden Blick ansehe, muss ich oft schmunzeln. Ich war ein Traumtänzer, mit dem Kopf in den Wolken, der das Leben aus neugierigen, zuweilen sehr eigenen Augen betrachtete. Man sagte mir, dass ich ein richtiger »Marazzi« sei, denn die Familie meiner Mutter hat seit jeher ein Talent für die schönen Künste, eine Schwäche für Ästhetik und einen Hang zur Melancholie.
Meine Tante Giovanna, die Schwester meiner Mutter, war in diesem Sinne eine wunderbare Seele von Mensch. Als Kind kannte ich niemanden, der so lustig und fröhlich war wie sie. Sie hatte Modedesign studiert und konnte fantastisch zeichnen. Wie meine Mutter war sie ein feingliedriges, zerbrechliches Geschöpf, hing oft ihren Gedanken nach und wirkte auf mich manchmal, als käme sie nicht von dieser Welt. Irgendwann wurde mir gesagt, dass Giovanna krank sei und gut auf sich aufpassen müsse. Ich verstand als Elfjähriger natürlich nicht, was Magersucht ist – und ich hätte es vermutlich auch nicht begriffen, wenn man es mir noch genauer erklärt hätte. Ich wusste nur: Giovanna ist krank, und wir müssen besonders lieb zu ihr sein. Als sie kurze Zeit später mit vierunddreißig Jahren an multiplem Organversagen starb, verursacht durch die jahrelange Krankheit, die sie nicht hatte bezwingen können, tröstete ich mich trotz meiner Trauer mit dem Gedanken, dass die lustige Giovanna irgendwo im Himmel auf einer Wolke saß und darauf wartete, bald wieder ihre Scherze mit uns treiben zu können. Vielleicht malte sie auch gerade ein Bild für mich? Obwohl noch so jung, verstand ich intuitiv, dass das Sterben zum Leben dazugehört und keineswegs das Ende darstellt. In meiner kindlichen, naiven Zwischenwelt, in der ich zeit meiner ersten Lebensjahre wandelte, stellte ich mir vor, dass Giovanna uns nur kurz verlassen hätte, ich sie aber bald wiedersehen würde.
Im Laufe meines Lebens ist mir der Tod nicht nur einmal begegnet. Das Bild von der großen Wolke, auf der all die Menschen, die bereits gegangen sind, auf mich warten, beruhigt mich bis heute. Einige Seelen haben meiner Tante Giovanna bereits einen Besuch abgestattet, und mit etwas Glück sind sie dort geblieben. Eines Tages wird auch meine Seele auf dieser großen Wolke sitzen. Aber keine Angst, ich habe vor, mir bis dahin noch jede Menge Zeit zu lassen, viele Abenteuer zu erleben und euch meine Geschichten zu erzählen.
Für meine Kinder
Leon Daniel
Noah Ben
Vinas Zoe
Layla Katharina
Paul-Luca
Antonia
Danke, Alice, für deine Geduld.
LU
Wer nur zurückschaut, kann nicht sehen, was auf ihn zukommt.
Konfuzius
S3°03'32.7" E37°22'27.4"
Momella, Tansania
Ich bin ein Naturmensch. Am liebsten würde ich den ganzen Tag an der frischen Luft und im Freien verbringen, irgendwo da, wo Wiesen, Wälder oder Wüsten sind. Deswegen habe ich mich in Afrika auch immer wohlgefühlt. Bis heute ist es so, dass mich ein beruhigendes Gefühl des Ankommens ergreift, sobald mein Fuß das erste Mal nach langer Zeit wieder afrikanischen Boden berührt.
Afrika lässt einen nicht kalt – man liebt es oder man hasst es. Dazwischen ist nicht viel. Mich fasziniert dieser Kontinent voller Widersprüche. Schön und hässlich, laut und leise, ablehnend und willkommen heißend. Nirgendwo sonst klingt die Stille so wie in Afrika. Es ist niemals wirklich leise, selbst wenn nichts zu hören ist. Irgendwo rollt eben doch ein Mistkäfer seine Kugel zusammen, knackt ein Zweig, ruft ein Vogel, bricht ein Elefant durchs Unterholz oder zerreißt der Ruf einer Wildkatze die Nacht. Afrika spricht alle Sinne an. Es stinkt, blendet, kreischt, aber duftet auch, erfüllt und begeistert.
Sieben Jahre vor meiner Geburt, im Sommer 1961, übernahm mein Vater die männliche Hauptrolle in Zwei unter Millionen, einem deutschen Film, der die Geschichte von Karl und Christine erzählt. Der junge Mann aus dem Westen verliebt sich in Berlin in eine Ostdeutsche und hilft ihr, das Land zu verlassen. Mein Vater wollte in diesem Film seiner Heimatstadt ein Denkmal setzen – nur leider kam ihm der Mauerbau dazwischen. Denn mitten in den Dreharbeiten beschloss die sozialistische Führung, das Land abzuriegeln, allen »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten«-Dementis zum Trotz.
Aber wie heißt es so schön? Ein Dementi ist der verzweifelte Versuch, die Zahnpasta zurück in die Tube zu bekommen. Es begann mit einem Stacheldrahtzaun, nur wenige Tage später folgten die ersten Mauersteine. Für meinen Vater war dies ein einschneidendes Erlebnis und derart traumatisierend, dass er Berlin nach Ende der Dreharbeiten für Jahrzehnte nicht mehr besuchte. Er verließ jedoch nicht nur die Stadt – er verließ auch Deutschland. Stattdessen ließ er sich in der Schweiz nieder, reiste durch die Welt, stürzte sich in die Arbeit und drehte in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und in Afrika.
Im selben Jahr, in dem Zwei unter Millionen gefilmt wurde, übernahm mein Vater eine Rolle in einer internationalen Produktion mit Stars wie John Wayne und Elsa Martinelli im ostafrikanischen Tanganjika, dem heutigen Tansania. Mein Vater verliebte sich Knall auf Fall in die Region Momella am Rande des Arusha-Nationalparks. Dicht bewaldete, sanft geschwungene Hügel erheben sich dort über die weitläufige Ebene. Alle Schattierungen von Grün und Blau sind in diesem Bild wie in einem Ölgemälde da Vincis komponiert: Im Hintergrund, kaffeebohnenbraun, fast schwarz, erheben sich die Konturen der Hochebene, davor breitet sich ein fruchtbarer, satter Teppich aus unterschiedlichsten Blattwerken aus. Wenn die in Ostafrika allgegenwärtige Wolkendecke am Himmel wie ein Bühnenvorhang aufreißt, verwandeln sich die Sonnenstrahlen in riesige Filmscheinwerfer und bringen die Farben im Tal zum Leuchten. Auftritt für den eigentlichen Hauptdarsteller: Gegenüber den Hängen ragt das Kilimandscharo-Massiv in den Himmel, gekrönt vom höchsten Gipfel Afrikas, dem Kibo, auf dem das ganze Jahr über Schnee liegt.
Das Momella-Tal hat schon viele in seinen Bann gezogen. 1906 entdeckte die deutsch-britische Margarete Trappe aus Schlesien das Gebiet östlich des Kilimandscharo für sich und beschloss, hier eine neue Heimat zu finden. Sie gründete eine Farm und wechselte nach dem Ersten Weltkrieg sogar die Staatsbürgerschaft, um in Tansania bleiben zu dürfen. Weil sie sich, im Gegensatz zu den meisten anderen Weißen, die Afrika kolonisierten, der einheimischen Bevölkerung gegenüber sehr gerecht verhielt, wurde sie im Land bekannt. Bald nannte man sie die »Mutter der Massai«.4
Ihre Farm war es, die Paramount Pictures 1961 für die Produktion von Hatari! kaufte. Hier spielt sich im Film das Leben der harten Männer ab, die tagsüber auf der Jagd nach Elefanten, Nashörnern, Löwen und Giraffen sind, um sie in amerikanische Zoos zu bringen, und sich nach Feierabend vorrangig von Whiskey und filterlosen Zigaretten ernähren und über junge Damen philosophieren, die langsam zur Frau heranwachsen. Das Rangerleben, das der Film proklamierte, war hart, es roch nach Schweiß, Draufgängertum und Gefahr. Hatari eben, was auf Suaheli nichts anderes als »Achtung, Gefahr!« heißt (wobei ich mich zeit meines Lebens gefragt habe, ob die Gefahr von der Wildnis, dem Whiskey oder den harten Kerlen ausging).
Noch während der Dreharbeiten erwarb mein Vater die Momella Game Lodge. Er wollte sichergehen, immer wieder an diesen bezaubernden Flecken Erde zurückkehren zu können. Gemeinsam mit seinem Freund, dem Briten Jim Mallory, baute er die Lodge zu einem Hotel um, indem sie acht weiße Rundhütten mit Bananenblattdächern rund um das große Farmhaus errichten ließen. Auch für das leibliche Wohl war dank Hühner- und Schweineställen sowie eigener Schlachterei gesorgt. Da kurze Zeit später ein Flughafen in unmittelbarer Nähe eröffnete, kamen die Urlauber aus Deutschland in Scharen. Die Lodge war berühmt, denn Hatari! war Kult geworden, und jeder, der es sich leisten konnte, flog nach Afrika. Die fremde Kultur lockte, noch dazu hoffte ein mancher, den Eigentümer der Lodge nach einem aufregenden Tag voller Safari, Staub und Sonnenschein an der Bar anzutreffen und seine Trinkfestigkeit herauszufordern.
Oberhalb der Momella Lodge lagen die Privathäuser von Mallory, seiner Frau Ulla und Tochter Tanja sowie der Familie Krüger. Wir waren in meiner frühesten Kindheit häufig in Tansania, meist für mehrere Wochen oder gar Monate. Ich erinnere mich an vieles, obwohl ich noch so jung war, gebe jedoch zu, dass es auch der Bildberichterstattung der damaligen Zeit und den Erzählungen meiner Eltern geschuldet sein kann, die sich mit meinen tatsächlichen Erinnerungen vermischen.
Vieles aus meiner Kindheit wurde dokumentiert, gefilmt und in Wort, Bild und Ton in die weite Welt hinausgetragen. Das meiste aus meinem Leben war bekannt, bevor ich es selbst verstehen konnte – ein tragisch-komischer Nebeneffekt des Berühmtseins, in das ein junger Mensch erst hineinwachsen muss. Man begegnet nicht nur Leuten, die einen schon kennen, seitdem man laufen kann, sondern kommt auch an Orte, die dich nie vergessen. An manchen Tagen fühlte es sich für mich an, als wenn ich in mein eigenes Leben hineingestolpert wäre, das ein anderer bereits für mich gelebt hatte. Ein verwirrendes Spiel, besonders wenn man jung ist und die eigene Identität sucht. Andauernd feiert man ein Wiedersehen mit Menschen oder Orten, die sich schon mit dir verbunden fühlen und als Teil deines Lebens betrachten, bevor dein Verstand begreifen kann, was gerade passiert. Jeder meint, dich zu kennen, doch in Wahrheit kennt dich kaum jemand.
Was ich noch ganz genau weiß: Wenn wir in Afrika waren, hatten wir stets Spielkameraden aus dem Volk der Massai. Wir vergnügten uns, unabhängig von Sprachbarrieren oder kulturellen Unterschieden, stunden-, ja tagelang an einem großen Baum auf dem Gelände nahe den Gemüse- und Kräutergärten, kletterten auf ihm herum, fesselten uns an seinen Stamm beim Räuber-und-Gendarm-Spiel und dösten im Schatten seiner ausladenden Äste. Zwei weißblonde Kinder unter vielen dunklen mit krausem Haar. Wir waren den ganzen Tag an der frischen Luft, jedoch stets in Rufweite zum Farmhaus, denn Afrika ist gefährlich. Überall lauern wilde Tiere, giftige Insekten, angriffslustige Schlangen, Gefahren eben, Hatari! Auch um den Geparden Sonya, der nach Beendigung der Dreharbeiten auf der Lodge geblieben war, machten wir immer einen großen Bogen. So zahm Sonya auch war und sosehr ihr geflecktes Fell in der Sonne glänzte: Unsere Eltern hatten uns eingeimpft, dass der Gepard immer noch ein Raubtier war und kleine Kinder in seiner Nähe nichts zu suchen hatten. Immerhin eine Sache, an die wir uns hielten – wohl auch aus Furcht und dem unbestimmten Gefühl, dass Mutter und Vater mit ihrer Warnung ausnahmsweise einmal recht haben könnten.
Ein einheimischer Junge wuchs mir in Momella besonders ans Herz. Er hieß Saidu, was so viel wie »der Glückliche« heißt. Und tatsächlich, ich habe nie einen glücklicheren Menschen als Saidu gesehen. Eines Tages nahmen wir ihn für ein paar Wochen mit nach Brixen in Südtirol. Dort hatte mein Vater ein paar Jahre zuvor eine kleine Skihütte gebaut, in der wir häufig mehrere Wochen im Winter verbrachten. In den norditalienischen Alpen gab es oft so viel Schnee, dass nur noch das Dach und der Schornstein unter den zentnerschweren Massen hervorragten.
In Brixen hatten wir Skifahren gelernt. Zuerst zwischen den Beinen meines Vaters, später im Kurs. Jeder Kurs endete mit einem kleinen Rennen, und natürlich gab es bereits unter den Kindern Konkurrenz. Alle wollten den ersten Platz belegen. Das gefiel meinem Vater, denn ich glaube, er hatte vor, einen Siegertypen aus mir zu machen. Doch ich war eher ein Schöngeist – und vermutlich das einzige Kind im Skikurs, das sich nicht für das Rennen interessierte. So kam es, dass ich bei einem Wettbewerb zwar von der Starthütte oben auf dem Berg vielversprechend startete, unten aber nie ankam. Die Sorge meiner Eltern war groß. War ihrem kleinen Jungen etwas passiert? Hatte er einen Unfall gehabt? Man machte sich auf die Suche nach mir und fand mich schließlich unter einem Baum liegend. Die Skier hatte ich abgeschnallt und in den Boden gesteckt, das Gesicht in Richtung Himmel gerichtet. Die Wolken faszinierten mich mehr als der Wettkampf mit den anfeuernden Eltern seitlich der Skipiste. Ich bekam an diesem Tag einen unglaublichen Ärger. Einerseits, weil sich meine Eltern solche Sorgen gemacht hatten, andererseits vielleicht auch, weil ich meinen Vater mit meinem mangelnden Ehrgeiz enttäuscht hatte.
Einmal begleitete uns wie gesagt Saidu nach Brixen. Obwohl er am Fuße des Kilimandscharo aufgewachsen war, hatte er noch nie in seinem Leben Schnee berührt. Als wir nun am Morgen nach der langen Reise von Tansania bis nach Norditalien vor die Haustür traten und Malaika und ich uns in den zentimeterhohen Neuschnee warfen, der über Nacht gefallen war, um Schneeengel zu machen, blieb der kleine Massai wie angewurzelt stehen und starrte auf die weiße Pracht. Später schrieb er seiner Mutter in einem Brief: Mama, du wirst es nicht glauben, aber sie haben mich in eine Zuckerfabrik gebracht!
Ich weiß noch, wie sehr wir alle lachen mussten, als Saidu uns von seinem Brief erzählte. Und ich erinnere mich daran, wie laut er selbst lachte, als er eines Tages der Berichterstattung eines Triathlons im Fernsehen beiwohnte. Das Fernsehen war für Saidu sowieso eine ziemliche Sensation, so etwas gab es nicht in seinem Dorf. Als er nun also in Brixen vor der Flimmerkiste hockte und wie hypnotisiert auf die Sportler starrte, brach er urplötzlich in schallendes Gelächter aus.
»Was ist los?«, wollte mein Vater von ihm wissen. »Was ist denn so komisch?«
Saidu konnte kaum an sich halten. Er hielt sich den Bauch und kicherte weiter. Dann zeigte er auf einen der Triathleten, der gerade sein Rad geschultert hatte und eine kleine Anhöhe hinaufrannte. »Wieso hat ihm niemand gesagt, dass man auf Fahrrädern fahren kann?« Er schüttelte den Kopf. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er die weißen Menschen manchmal sehr merkwürdig fand.
Saidu war mir als Kind ein wahrer Freund. Manchmal werde ich heute gefragt, ob es mir schwerfiel, die Kameraden, die ich in jungen Jahren hatte, immer wieder zu verlassen, weil sich die Krüger-Karawane, wie meine Eltern unsere kleine Reisegesellschaft nannten, in Bewegung setzte, auf einen anderen Kontinent reiste, in einem anderen Land ihre Zelte aufschlug, in einen anderen Alltag eintauchte.
Tatsächlich war es für mich keine besondere Sache. Ich war es gewohnt, immer wieder den Ort zu wechseln und neue Menschen kennenzulernen. Vermutlich war ich deshalb auch früh selbstständig und darin geübt, auf eigenen Beinen zu stehen. Mir fiel der Abschied nicht schwer, denn ich hatte ja immer mich selbst dabei – und so gern ich andere Kinder mochte, war ich doch sehr gern allein mit mir und meinen Gedanken. Ich hatte nie, in meinem ganzen Leben nicht, den Wunsch, an einem Platz heimisch zu werden und Wurzeln zu schlagen. Selbst wenn ich heute mit meiner Frau Alice in einem Haus lebe, sind wir stets unterwegs und auf der Suche nach neuen Begegnungen und Inspirationen. Neben all den Marazzi-Genen gibt es eben doch eine ordentliche Portion Krüger-Unrast in mir.
Mein Vater bewirtschaftete gemeinsam mit seinem Freund Mallory die Momella Lodge für viele Jahre. Im Jahr 1967 jedoch wurde in Tansania, das seit April 1964 zusammen mit Sansibar eine unabhängige Republik bildete, die sogenannte Arusha-Deklaration5 beschlossen, was im Grunde nichts anderes bedeutete, als dass das Land innerhalb der kommenden Jahre sukzessive in ein sozialistisches System überführt werden sollte. Ujamaa bezeichnet den afrikanischen Sozialismus,6 welcher, genau wie die Erlangung der Eigenständigkeit, Ziel des politischen Richtungswechsels war. Damit wurde auch die Bewirtschaftung der Farm immer schwieriger, denn mit einem Mal legte der Staat fest, wie teuer eine Übernachtung in der Lodge oder der Verkauf von Schweinefleisch war – und kassierte natürlich ordentlich mit. Ausländische Grundbesitzer waren darüber hinaus nicht mehr gern gesehen, und große Teile der freien Wirtschaft wurden zwangsenteignet. 1973 wurde die Lage schließlich unerträglich, und mein Vater beschloss schweren Herzens, dem Drängen der dortigen Politik nachzugeben und das Land zu verlassen. Es war bereits das zweite Mal innerhalb von zehn Jahren, dass er einen Ort hinter sich lassen musste, den er als Heimat bezeichnet hatte: erst Berlin, dann Momella. Beide Male, weil der Sozialismus den Staat von rechts auf links krempelte. Ich weiß, wie sehr meinen Vater der Verlust der Momella Lodge schmerzte. Hier war er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich zur Ruhe gekommen. Hier hatte er die Langsamkeit entdeckt – und eine alte Schreibmaschine, auf der er seine ersten Bücher verfasste und seine Vergangenheit sowie die Erlebnisse in Afrika verarbeitete.
Heute ist Tansania, dieses wunderschöne Land, nach unzähligen politischen Desastern, diversen Kolonisten und modernen Krankheiten zu einer Nation geworden, die sich gerade so um die wesentlichen Dinge des Überlebens kümmern kann. Wie ein Sinnbild dafür steht die Momella Lodge, die nach dem Weggang der Krügers, dem Abzug der Karawane, durch viele Hände ging. Doch niemand hatte den Traum meines Vaters, und für eine lange Zeit hatte auch niemand Mittel, Möglichkeit und Muße, die Farm wieder zu alter Größe zu führen.