Cover

Humanismus als reale Utopie.
Der Glaube an den Menschen

(On Being Human)

Erich Fromm
(1992b)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Rainer Funk.

Erstveröffentlichung 1992 in deutscher Übersetzung als Band 8 der „Schriften aus dem Nachlass“ unter dem Titel Humanismus als reale Utopie. Der Glaube an den Menschen beim Beltz Verlag, Weinheim. Reprint als Heyne Sachbuch 1995 beim Heyne Taschenbuchverlag in München. Überarbeitet fanden die Beiträge dieses Sammelbandes 1999 Aufnahme in die Bände XI und XII der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag). – Die Erstpublikation der Schriften dieses Bandes in der englischen Originalsprache erfolgte 1994 unter dem Titel On Being Human beim Verlag The Continuum Publishing Corporation in New York.

Die E-Book-Ausgabe der einzelnen Beiträge dieses Sammelbandes orientiert sich an den von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassungen in den Bänden XI und XII der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1992 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Der Autor

autor

Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten „Frankfurter Schule“ um Max Horkheimer.

1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch „Die Kunst des Liebens“ schrieb, sondern auch das Buch „Wege aus einer kranken Gesellschaft“. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung.

Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch „Haben oder Sein“. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.

Der Herausgeber

herausgeber

Rainer Funk (geb. 1943) promovierte über die Sozialpsychologie und Ethik Erich Fromms und war von 1974 an Fromms letzter Assistent. Fromm vererbte dem praktizierenden Psychoanalytiker Funk seine Bibliothek und seinen wissenschaftlichen Nachlass. Diese sind jetzt im Erich Fromm Institut Tübingen untergebracht, siehe www.erich-fromm.de.

Darüber hinaus bestimmte er Funk testamentarisch zu seinem Rechteverwalter. 1980/1981 gab Funk eine zehnbändige, 1999 eine zwölfbändige „Erich Fromm Gesamtausgabe“ heraus. Die Texte dieser Gesamtausgabe liegen auch der von Funk mit editorischen Hinweisen versehenen „Edition Erich Fromm“ als E-Book zugrunde.

Impressum

E-Book-Ausgabe 2015
Edition Erich Fromm erschienen bei Open Publishing Rights GmbH, München
© 1992 Erich Fromm;
für diese digitale Ausgabe © 2015 The Estate of Erich Fromm
für die Edition Erich Fromm © 2015 Rainer Funk
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Sarah Borchert, München
ISBN 978-3-95912-114-9

Ich glaube, dass niemand seinen Nächsten dadurch „retten“ kann
dass er für ihn eine Entscheidung trifft.
Die einzige Hilfe besteht darin,
dass er ihn in aller Aufrichtigkeit und Liebe
sowie ohne Sentimentalität und Illusionen
auf mögliche Alternativen hinweisen kann.

Die wichtigste aller falschen Alternativen
ist wohl die zwischen dem sogenanntem „Realismus“,
worunter man einen Automatismus versteht,
der keine Urteile auf Grund menschlicher Werte mehr kennt,
und einem Utopismus,
bei dem es keine realen und glaubwürdigen Ziele mehr gibt,
nur weil diese noch nicht realisiert sind.

Die echte Alternative zu Realismus und Utopismus
erwächst aus dem Syndrom von Denken,
Erkenntnis, Vorstellungsvermögen und Hoffnung.
Dieses befähigt den Menschen,
die realen Möglichkeiten zu sehen,
deren Keime bereits vorhanden sind.

Voraussetzungen für seelische Gesundheit
und das Überleben der Zivilisation
sind eine Wiederbelebung des Geistes der Aufklärung,
eines rücksichtslos kritischen und wirklichkeitsnahen,
jedoch von seinen überschwänglich optimistischen
und rationalistischen Vorurteilen befreiten Geistes,
und zugleich die Wiederbelebung humanistischer Werte,
die nicht gepredigt, sondern im persönlichen
und gesellschaftlichen Leben realisiert werden.

Ich glaube, dass der Einzelne so lange nicht
mit seiner Menschheit in sich in engen Kontakt kommen kann,
solange er sich nicht anschickt,
seine Gesellschaft zu transzendieren und zu erkennen,
in welcher Weise diese die Entwicklung
seiner menschlichen Potenziale fördert oder hemmt.
Kommen ihm die Tabus, Restriktionen, entstellten Werte
ganz „natürlich“ vor, dann ist dies ein deutlicher Hinweis darauf,
dass er keine wirkliche Kenntnis der menschlichen Natur hat.

Ich glaube, dass die Verwirklichung einer Welt möglich ist,
in der der Mensch viel „sein“ kann,
selbst wenn er wenig „hat“.

Vorwort von Rainer Funk

Wer versucht, den „roten Faden“ im Frommschen Werk zu benennen, der sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen zieht, wird zuerst auf seinen sozialpsychologischen Denkansatz stoßen, mit dem er die gesellschaftlich geprägten leidenschaftlichen Strebungen des Menschen aufspürte. Doch spätestens Ende der Dreißiger Jahre wird im Zusammenhang mit seinem Ausscheiden aus dem Institut für Sozialforschung und den Auseinandersetzungen mit Horkheimer, Marcuse und Adorno noch etwas anderes, unverkennbar Frommsches sichtbar, das sich wie ein roter Faden durch sein Leben und Werk zieht: sein humanistisches Menschen- und Weltbild. Wann immer Fromm sein eigenes Denken kennzeichnen will, gebraucht er das Attribut „humanistisch“. Er spricht von einer humanistischen Wissenschaft vom Menschen, vom humanistischen Sozialismus, von der humanistischen Industriegesellschaft, vom humanistischen Gewissen, von der humanistischen Religion, vom humanistischen Management, von der humanistischen Weltanschauung, von der humanistischen Psychoanalyse, vom humanistischen Charakter, von der humanistischen Ethik und von der humanistischen Utopie.

Genau dieser humanistische Glaube an den Menschen führt bei der Beurteilung des Frommschen Denkens oft zur „Scheidung der Geister“: Wie kann Fromm, der ein Großteil seiner Verwandten in den Vernichtungslagern der Nazis verlor und die unheilvollen Auswirkungen der Selbstentfremdung des am Markt orientierten Menschen mit solcher Klarheit erkannt hat – und der gleichzeitig jede Erlösung von außerhalb nur als Ausdruck der Selbstentfremdung demaskiert –, wie kann Fromm da noch an den Menschen glauben?

Die Beiträge dieses letzten Bandes der Schriften aus dem Nachlass geben Antwort auf diese Frage, indem sie beides tun: Sie zeigen das ganze Ausmaß der destruktiven und heillosen Selbstentfremdung des Menschen von heute; gleichzeitig sprechen sie aber auch von den realen Möglichkeiten, die zum Glücken des Menschen führen können. Es gibt so lange eine „reale“ Utopie, solange der Mensch wenigstens noch ansatzweise einen Zugang zu seinen wachstumsfördernden Eigenkräften hat.

Ausgangspunkt des Frommschen Humanismus ist der durch die Einsichten der Psychoanalyse ermöglichte Glaube, dass das Unbewusste den ganzen Menschen und die ganze Menschheit repräsentiert. Das Unbewusste enthält das ganze Spektrum möglicher Antworten, und es kommt sehr darauf an, welche Möglichkeiten gefördert und welche gehemmt und verdrängt werden. Grundsätzlich aber hat

der Mensch in einer jeden Kultur alle Möglichkeiten: Er ist der archaische Mensch, das Raubtier, der Kannibale, der Götzendiener, und er ist zugleich das Wesen mit der Fähigkeit zu Vernunft, Liebe und Gerechtigkeit. (Humanismus und Psychoanalyse, 1963f, GA IX, S. 10.)

Da es den Menschen nicht anders denn als gesellschaftliches Wesen gibt, entscheidet die besondere Art von Gesellschaft, in der ein Mensch lebt, welche Möglichkeiten bevorzugt werden. Jede Gesellschaft formt die Energien der Menschen derart, dass sie das tun wollen, was sie zum Gelingen der Gesellschaft tun müssen. „So werden die Bedürfnisse der Gesellschaft in persönliche Bedürfnisse verwandelt, sie werden zum ‘Gesellschafts-Charakter’.“ (Humanismus und Psychoanalyse, 1963f, GA IX, S. 9.)

Jede Gesellschaft fördert aber nicht nur bestimmte Möglichkeiten, die im Unbewussten des Menschen zur Verfügung stehen, indem sie diese bewusst macht und sich der Einzelne mit ihnen identifiziert, es werden auch Möglichkeiten und Neigungen unterdrückt und verdrängt, die den gesellschaftlichen Verhaltensmustern – dem Gesellschafts-Charakter – widersprechen. So kommt es, dass

unser Bewusstsein hauptsächlich unsere eigene Gesellschaft und Kultur (widerspiegelt), während unser Unbewusstes den universalen Menschen in einem jeden von uns repräsentiert. (Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 223).

In seinem Unbewussten erlebt der Mensch die ganze Menschheit und sich

als Sünder und Heiligen, als Kind und als Erwachsenen, als geistig Gesunden und als Geistesgestörten, als Mensch der Vergangenheit und als Mensch der Zukunft (Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 223).

Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass der Humanismus seine Letztbegründung in der humanistischen Erfahrung, das heißt in der humanisierenden und produktiven Wirkung des Bewusstmachens des Unbewussten hat.

Diese humanistische Erfahrung besteht in dem Gefühl, dass mir nichts Menschliches fremd ist, dass „ich du bin“, dass ich ein anderes Wesen deshalb verstehen kann, weil beide die gleichen Elemente menschlicher Existenz gemeinsam haben. (...) Die Erweiterung der Selbst-Wahrnehmung, die Transzendierung des Bewusstseins und die Durchleuchtung der Sphäre des gesellschaftlichen Unbewussten wird dem Menschen die Möglichkeit geben, in sich die ganze Menschheit zu erleben. (Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 223.)

Mit der Erkenntnis, dass das Unbewusste unabhängig vom gesellschaftlich Bewussten und Verdrängten den ganzen Menschen mit all seinen Möglichkeiten repräsentiert, begründet Fromm also nicht nur theoretisch den humanistischen Glauben an die Einheit der Menschen; sobald ein Mensch sich auf sein Unbewusstes einlässt, sich seines Unbewussten bewusst wird und also seine anderen Möglichkeiten in Erfahrung bringt, entfaltet er sich, wächst er und macht er die paradoxe und produktive – oder wie Fromm gerne auch sagt: die humanistische – Erfahrung, dass er vernünftig und liebend zur Welt und zum Menschen bezogen sein kann, weil ihm nichts Fremdes mehr wirklich fremd ist. Nur im Sich-Einlassen auf das Unbewusste, auf den ganzen Menschen in mir, in der Verwirklichung meiner Individualität, komme ich zum Erleben des universalen Menschen, denn „nur das ganz entwickelte individuelle Selbst kann das Ego aufgeben“ (Jenseits der Illusionen, 1962a, GA IX, S. 154).

Das, was Fromm am meisten am Humanismus interessiert, was ihn dazu veranlasst, so häufig das Attribut „humanistisch“ zu gebrauchen und warum er eine Renaissance des Humanismus fordert, hat mit dieser humanistischen Erfahrung zu tun. Ihm geht es um das Humanistische im Sinne der Entfaltung der liebenden und vernünftigen Eigenkräfte des Menschen, um eine humanistische Orientierung und Haltung, wie er sie innerhalb seiner Charakterologie mit dem Begriff der Produktivität und der produktiven Orientierung, der Biophilie und Orientierung am Sein verdeutlicht hat. Je mehr der Mensch sich selbst als Autor, Akteur, Subjekt seines Lebens erfährt und also er selbst es ist mit seinen eigenen Kräften, der denkt, fühlt und handelt, entwickelt er auch seine Kräfte der Vernunft und der Liebe, mit denen er ganz bei der Welt und beim anderen Menschen sein kann, ohne sich selbst zu verlieren.

Die einzelnen Beiträge dieses Bandes entstanden in den letzten zwanzig Lebensjahren Erich Fromms. In ihnen erkannte Fromm das ganze Ausmaß der Selbstentfremdung des Menschen, ohne dadurch in seinem Glauben an den Menschen erschüttert zu werden.[1] Den Beiträgen liegen Vorträge (vor allem im 1. Kapitel) und Manuskripte zugrunde, die Fromm zu speziellen Anlässen formuliert hat (vor allem im 2. Kapitel, das humanistische Initiativen und Bekenntnisse enthält) oder als Buchmanuskripte verfasst hat (wie im abschließenden 3. Kapitel zur realen Utopie der Orientierung am Sein nach Meister Eckhart und Karl Marx). – Die Zusammenstellung der Beiträge, ihre Zuordnung und Gliederung sowie die meisten Überschriften stammen von mir als Herausgeber. Anmerkungen des Herausgebers zur Entstehung der jeweiligen Manuskripte finden sich jeweils bei den einzelnen Beiträgen. Auslassungen und Hinzufügungen sind in allen Nachlassschriften durch eckige Klammern kenntlich gemacht.

Die psychischen Folgen des Industrialismus

(The Psychological Problem of Man in Modern Society)

(1992i [1964])[4]

[XI-285]Es gibt einen weitverbreiteten Glauben auf dieser Erde, dass alle wichtigen menschlichen Bedürfnisse befriedigt würden, wenn sich die industrielle Produktionsweise noch verbessern ließe – zuerst in den Vereinigten Staaten und in Europa, dann schließlich auch in Lateinamerika, Asien und in Afrika.[5] Man nimmt an, wenn der Mensch nur ausreichend zu essen und genügend Freizeit hat und seine Möglichkeiten zu konsumieren sich steigern, dass er dann glücklich und psychisch gesund wäre.

Gegen einen solchen naiven Optimismus erheben sich heute immer mehr Stimmen. Warum, so fragen einige Beobachter, haben dann gerade die am meisten entwickelten und wohlhabendsten Länder wie Schweden und die Schweiz eine der höchsten Suizidraten und so viele Alkoholiker? Warum belegt gerade das reichste Land der Welt, die Vereinigten Staaten, am eindrücklichsten die Tatsache, dass wir in einem „Zeitalter der Angst“ leben? Warum bedrohen sich gerade die wirtschaftlich fortschrittlichsten Staaten der Welt gegenseitig mit völliger Auslöschung und sich selbst mit Selbstmord? Liegt der Grund nur darin, dass der Industrialismus eben noch nicht alle seine Zielsetzungen realisiert hat? Das Beispiel Schweden scheint einer solchen Annahme zu widersprechen. Oder muss man nicht annehmen, dass mit dem Industrialismus, wie er sich sowohl in den Vereinigten Staaten wie in der Sowjetunion entwickelt hat, etwas grundsätzlich falsch läuft?

Wo stehen wir heute? Die Gefahr eines Krieges, der alles vernichtet, bedroht die Menschheit. Diese Gefahr lässt sich keineswegs durch die zögerlichen Versuche der Regierungen, einen solchen Krieg zu vermeiden, als überwunden betrachten. Und selbst wenn bei den Politikern noch so viel geistige Gesundheit da ist, dass sich ein Krieg vermeiden lässt, so ist die Lage des Menschen heute weit davon entfernt, dass die Hoffnungen des Sechzehnten, Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhunderts erfüllt würden.

Der Charakter des Menschen wurde von den Erfordernissen eben jener Welt geprägt, die er mit seinen eigenen Händen erschaffen hat. Der Gesellschafts-Charakter des Bürgertums des Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhunderts zeigte ausgeprägte ausbeuterische und hortende Züge. Der Wunsch, andere auszubeuten und den Verdienst anzusparen, um mit ihm noch mehr Profit machen zu können, bestimmte den bürgerlichen Charakter. Im Zwanzigsten Jahrhundert zeigt die Charakterorientierung ein beträchtliches Maß an Passivität [XI-286] und eine Identifikation mit den Werten des Marktes. Ohne Zweifel ist der gegenwärtige Mensch während seiner Freizeit meistens passiv. Er ist ein ewiger Konsument: Er „nimmt zu sich“: Drinks, Essen, Zigaretten, Lektüre, Besichtigungen, Bücher, Filme. Alles wird konsumiert, verschlungen. Die Welt ist ein großes Feld für seinen Appetit: eine Riesenflasche, ein Riesenapfel, eine Riesenbrust. Der Mensch ist zum Säugling geworden, zu dem, der ewig nur erwartet – und immer nur enttäuscht wird.

Wenn der moderne Mensch nicht mit Konsumieren beschäftigt ist, betreibt er Handel. In unserem wirtschaftlichen System dreht sich alles um die Funktion des Marktes. Dieser bestimmt den Wert aller Waren und reguliert den Anteil, den jeder am Bruttosozialprodukt hat. Die wirtschaftlichen Unternehmungen des Menschen von heute werden nicht mehr wie in früheren Epochen von Gewalt oder Tradition und auch nicht von Betrügereien oder Tricks gesteuert. Jeder ist frei zu produzieren und zu verkaufen. Der Markttag ist der Gerichtstag, an dem über den Erfolg der eigenen Bemühungen gerichtet wird. Auf dem Markt werden nicht nur Waren angeboten und verkauft. Die Arbeit selbst wurde zu einer Ware; sie wird unter den gleichen Bedingungen des fairen Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt verkauft. Die Marktwirtschaft reicht inzwischen jedoch weit über den wirtschaftlichen Bereich von Waren und Arbeit hinaus. Der Mensch selbst hat sich in eine Ware verwandelt; er erlebt sein Leben als Kapital, das es profitabel zu investieren gilt. Gelingt ihm dies, dann ist er erfolgreich und sein Leben ist sinnvoll. Gelingt ihm dies nicht, dann ist er ein Versager. Sein Wert liegt in seiner Verkäuflichkeit begründet, und nicht in seinen menschlichen Fähigkeiten zu Vernunft und Liebe, und auch nicht in seinen künstlerischen Qualitäten. Sein Selbstwerterleben hängt deshalb von äußeren Faktoren ab: von seinem Erfolg, vom Urteil der anderen. Darum ist er von diesen anderen abhängig und kann er sich nur sicher fühlen, wenn er mit den anderen konform geht und sich nie weiter als einen halben Meter von der Herde entfernt.

Es ist aber nicht nur der Markt, der den Charakter des gegenwärtigen Menschen bestimmt. Eng mit der Marktfunktion verknüpft, ist die Art der industriellen Produktion ein weiterer Faktor. Die Unternehmen werden immer größer; die Zahl der Angestellten und Arbeiter eines Betriebes wächst unablässig. Die Besitzer der Unternehmen und die Manager der Unternehmensleitung sind verschiedene Personen. Die riesigen Industrieunternehmen werden von leitenden Angestellten gesteuert, die hauptsächlich daran interessiert sind, dass das Unternehmen reibungslos läuft und expandiert, und die sich nicht in erster Linie persönlich bereichern wollen.

Welche Art von Mensch benötigt unsere Gesellschaft, um reibungslos zu funktionieren? Sie braucht Menschen, die zur Kooperation in großen Gruppen fähig sind, die immer mehr konsumieren wollen und deren Geschmack standardisiert ist und leicht vorausberechnet und beeinflusst werden kann. Sie braucht Menschen, die sich frei und unabhängig fühlen, keiner Autorität, keinen Prinzipien und keinem Gewissen unterworfen, und die dennoch bereit sind, geführt zu werden, das zu tun, was von ihnen erwartet wird, und die reibungslos in die soziale Maschinerie hineinpassen. Sie braucht Menschen, die sich ohne Gewalt führen lassen, sich ohne Führer lenken lassen, die sich bewegen lassen, ohne ein Ziel vor Augen zu haben außer dem, in Bewegung zu sein, zu funktionieren und vorwärtszukommen. [XI-287]

Dem modernen Industrialismus ist es gelungen, einen solchen Menschen hervorzubringen: den automatenhaften, entfremdeten Menschen. Er ist in dem Sinne entfremdet, dass ihm seine Handlungen und seine Eigenkräfte selbst fremd geworden sind. Sie stehen ihm gegenüber und sind gegen ihn gerichtet; sie beherrschen, statt dass er sie beherrscht. Seine Lebenskräfte haben sich in Dinge und Institutionen verwandelt, die ihrerseits zu Idolen geworden sind. Sie werden nicht als das Ergebnis der eigenen Bemühungen des Menschen erlebt, sondern als etwas von ihm Getrenntes, das er anbetet und dem er sich unterwirft. Der entfremdete Mensch kniet sich vor die Werke seiner eigenen Hände nieder. Seine Götzen sind der entfremdete Ausdruck seiner eigenen Lebenskräfte. Der Mensch erlebt sich selbst nicht als den tätigen Urheber seiner Eigenkräfte und Reichtümer, sondern als ein verarmtes „Ding“, das von anderen Dingen außerhalb seiner selbst abhängig ist, weil er seine lebendige Substanz auf diese projiziert hat.

Die sozialen Gefühle werden auf den Staat projiziert. Als Staatsbürger ist er sogar bereit, sein Leben für den Nächsten einzusetzen, während er als Privatperson nur egoistisch auf sich selbst bedacht ist. Weil er den Staat zur Verkörperung seiner eigenen sozialen Gefühle gemacht hat, verehrt er ihn und seine Symbole. Sein eigenes Spüren von Macht, Weisheit und Mut projiziert er auf seine politischen Führer und verehrt sie dann als seine Idole.

Ob Arbeiter, Angestellter oder Manager: der heutige Mensch ist von seiner Arbeit entfremdet. Der Arbeiter ist zu einem atomaren Teilchen der Ökonomie geworden, das nach der Pfeife eines automatisierten Managements tanzt. Er hat keinen Einfluss auf den Produktionsprozess und auf das, was dabei herauskommt; nur selten hat er einen Bezug zum fertigen Produkt. Der leitende Angestellte auf der anderen Seite hat zwar einen Bezug zum fertigen Produkt, doch ist er diesem als einem konkreten und nützlichen Gegenstand entfremdet. Er verfolgt nur das Ziel, das von anderen investierte Kapital nutzbringend arbeiten zu lassen. Die Ware ist bloß die Verkörperung des Kapitals und nichts, was ihn als konkreten Gegenstand berührt. Der Manager ist zu einem Funktionär geworden, für den Gegenstände, Figuren und menschliche Wesen nur noch Objekte seiner Aktivität sind. Sein Umgang mit ihnen wird zwar Beschäftigung mit „menschlichen Beziehungen“ genannt, doch der Manager hat es mit höchst unmenschlichen Beziehungen zu tun, weil es um Beziehungen von Automaten geht, die zu Abstraktionen geworden sind.

Unser Konsumverhalten ist ebenfalls entfremdet. Es wird von Werbesprüchen bestimmt statt von unseren wirklichen Bedürfnissen und von dem, was wir schmecken, sehen oder hören wollen.

Die Bedeutungslosigkeit und Entfremdung unserer Arbeit führt zu dem Verlangen, ganz und gar faul zu sein. Der Mensch hasst sein Arbeitsleben, denn es bringt ihn dazu, sich als Gefangener und Schwindler zu fühlen. Sein höchstes Ideal ist eine absolute Faulheit, bei der er keine Bewegung mehr auszuführen hat und alles nach dem Werbespruch von Kodak läuft: „Sie drücken den Knopf, den Rest erledigen wir!“ Diese Tendenz wird noch durch jene Art von Konsumieren verstärkt, die zur Ausdehnung des Binnenmarktes vonnöten ist und die zu einem Grundsatz führt, den Aldous Huxley in Schöne neue Welt (1946) treffend zum Ausdruck gebracht hat: „Schiebe nie [XI-288] das Vergnügen, das Du heute haben kannst, auf morgen auf.“ Dies ist einer jener Sprüche, mit dem jeder von uns von Kindheit an vertraut gemacht wird. Wenn ich die Befriedigung meines Verlangens nicht verschiebe (und ich bin schon so konditioniert, dass ich nur noch danach Verlangen habe, was ich auch bekommen kann), dann gibt es keinen Konflikt, keine Zweifel; es müssen auch keine Entscheidungen getroffen werden. Und ich bin auch nie mir selbst überlassen, denn ich bin immer beschäftigt – entweder ich arbeite oder ich habe meinen Spass. Es gibt gar keine Notwendigkeit, mir meiner selbst bewusst zu sein, weil ich ständig mit Konsumieren beschäftigt bin. Ich bin ein System von Wünschen und deren Befriedigungen. Ich muss arbeiten, um meine Wünsche zu befriedigen; diese Wünsche aber werden durch die Wirtschaft ständig neu hervorgerufen und gelenkt.

Dieser entfremdete, isolierte Mensch hat Angst, und zwar nicht nur, weil Isolation und Entfremdung als solche angst machen, sondern noch aus einem speziellen Grund. Das bürokratische industrielle System, insbesondere wie es sich in den Großunternehmen herausentwickelt hat, macht in erster Linie angst wegen der Diskrepanz zwischen der Größe der Einrichtung (des Unternehmens, des Verwaltungsapparats, der Militärmaschinerie) und der Kleinheit des Einzelnen. Darüber hinaus macht die allgemeine Unsicherheit angst, die dieses System in fast jedem Menschen hervorruft. Die meisten Menschen sind angestellt und also abhängig von ihren Vorgesetzten der Bürokratie. Sie haben nicht nur ihre Arbeitskraft verkauft, sondern auch im Ausverkauf ihre Persönlichkeit (ihr Lächeln, ihren eigenen Geschmack, ja sogar ihre Freundschaften). Sie haben ihre Integrität verraten, und doch können sie nie sicher sein, ob sie steigen oder fallen, ob sie auf der sozialen Leiter aufsteigen oder, wenn nicht Armut, so doch Scham und Verlegenheit ausgeliefert sind. Trotz allen Wohlstands: die industrielle bürokratische Gesellschaft ist eine Gesellschaft von ängstlichen und sich fürchtenden Menschen. Die Angst um Erfolg oder Misserfolg ist in Wirklichkeit heute bei den Menschen so übermächtig, dass die Angst im Bereich ihres persönlichen Lebens die Angst vor der Möglichkeit einer totalen Zerstörung auf Grund eines Atomkriegs überdeckt.

Schließlich zeigt sich der Mensch in den hochindustrialisierten Gesellschaften mehr und mehr von technischen Apparaten fasziniert, als dass er von lebendigen Wesen und Lebensprozessen angezogen wird. Für viele Menschen ist ein neuer Sportwagen attraktiver als eine Frau. Das Interesse am Leben und am Organischen wird durch das Interesse am Technischen und Anorganischen ersetzt. Dies führt dazu, dass der Mensch dem Leben gegenüber gleichgültig wird. Er spürt sogar mehr den Stolz, Raketen und Atomwaffen erfunden zu haben, als dass ihn die Tatsache, die Zerstörung allen Lebens in Betracht ziehen zu müssen, erschrecken und traurig machen würde.

Für den Psychotherapeuten stechen bestimmte Folgen dieser Situation ins Auge: Der zum Ding verwandelte Mensch ist ängstlich, hat keinen Glauben und keine Überzeugung mehr und vermag kaum noch zu lieben. Er flieht statt dessen in ein leeres Geschäftig-Sein, in Alkoholismus, starke sexuelle Promiskuität und in alle möglichen Arten psychosomatischer Symptome, die sich bestens mit der Stresstheorie erklären lassen. Wir kommen zu dem paradoxen Ergebnis, dass die reichsten Gesellschaften dabei sind, die kränksten zu werden und dass der Fortschritt der Medizin durch ein [XI-289] starkes Anwachsen von allen möglichen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen zunichtegemacht wird.

Diese Überlegungen bedeuten nicht, dass die Industrialisierung als solche nicht wünschenswert sei. Ohne sie könnte sich der Mensch im Gegenteil nicht einmal die materielle Basis für ein menschenwürdiges und sinnvolles Leben schaffen. Die Frage ist allerdings, welche Form das industrielle System hat: Geht es um einen bürokratischen Industrialismus, in dem der Einzelne zu einem kleinen, bedeutungslosen Zahnrädchen in einer sozialen Maschinerie wird, oder geht es um einen humanistischen Industrialismus, in dem die Entfremdung und das Ohnmachtsgefühl dadurch überwunden werden, dass der Einzelne aktiv und verantwortlich an den ökonomischen und sozialen Prozessen teilhat? Freilich hat ein solcher humanistischer Industrialismus eine Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, die hier nicht erörtert werden können. Eines muss jedoch festgehalten werden: Eine humanistische Industriegesellschaft zielt nie auf einen maximalen Profit für wenige und noch weniger auf den maximalen Konsum für viele. In ihr darf die wirtschaftliche Produktion nie zum Selbstzweck werden, sondern muss immer ein Mittel für ein menschlich reicheres Leben bleiben. In der humanistischen Industriegesellschaft ist der Mensch, statt dass er viel hat oder viel gebraucht. Sie muss die Bedingungen für den produktiven Menschen schaffen, und nicht jene für den homo consumens oder den homo technicus, den Apparate-Fan.

Aus alldem ergibt sich eine Lektion für jene Länder, die im Übergang von der feudalen zur industriellen Gesellschaft stehen. Natürlich müssen sie Industriegesellschaften werden und die materiellen Bedürfnisse von all ihren Einwohnern befriedigen. Sie sollten aber den in den entwickelteren Industriegesellschaften vorherrschenden Werten sehr skeptisch gegenüber sein und nicht versuchen, diese zu imitieren. Sie sollten sich vielmehr das Ziel einer neuen Gesellschaftsform setzen, die weder feudalistisch noch industriell-bürokratisch ist. In einem humanistischen Industrialismus sollten bestimmte menschliche Werte aus der Vergangenheit tatsächlich verwirklicht werden, statt dass sie Leerformeln sind oder vom Konsumrausch weggefegt werden. Die Voraussetzungen für seelische Gesundheit und das Überleben der Zivilisation sind eine Wiederbelebung des Geistes der Aufklärung, eines rücksichtslos kritischen und wirklichkeitsnahen, jedoch von seinen überschwänglich optimistischen und rationalistischen Vorurteilen befreiten Geistes, und zugleich die Wiederbelebung humanistischer Werte, die nicht gepredigt, sondern im persönlichen und gesellschaftlichen Leben realisiert werden.

Meine Kritik an der Industriegesellschaft

(What I Do not Like in Contemporary Society)

(1992j [1972])[6]

Es gibt viele Dinge, die mir an der gegenwärtigen Gesellschaft missfallen, so dass die Entscheidung, womit ich beginnen soll, nicht einfach ist.[7] In Wirklichkeit freilich spielt dies keine Rolle, denn es ist offensichtlich so, dass alles, was mir missfällt, nur verschiedene Facetten der Struktur der heutigen Industriegesellschaft sind. Diese bilden ein Syndrom und gehen alle auf die gleiche Wurzel zurück: auf die Struktur der Industriegesellschaft in ihrer kapitalistischen wie in ihrer sowjetischen Ausprägung.

Ein erster Punkt, der erwähnt werden soll, ist die Tatsache, dass alles und beinahe auch jeder Mensch sich zum Kauf anbietet. Nicht nur Waren und Dienstleistungen werden verkauft; auch Ideen, Kunst, Bücher, Persönlichkeiten, Überzeugungen, ein Gefühl, ein Lächeln – alles ist inzwischen zur Ware geworden. Dies trifft auch für den ganzen Menschen mit all seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu.

Eine Folge davon ist die Tatsache, dass man immer weniger Menschen trauen kann. Damit meine ich nicht unbedingt eine direkte Unehrlichkeit im Geschäftsbereich oder eine Hinterhältigkeit im Umgang mit anderen Menschen, sondern etwas, das viel tiefer geht. Wie kann man jemandem, der sich zum Kauf anbietet, trauen, dass er morgen noch derselbe ist wie heute? Wie kann ich wissen, wer er wirklich ist? Auf wen soll ich denn vertrauen? Ich kann höchstens sicher sein, dass er kein Mörder ist oder mich ausraubt, aber damit wird noch kein Vertrauen geschaffen.

Dass es immer weniger Menschen mit Überzeugungen gibt, ist nur ein weiterer Aspekt des gleichen Problems. Mit Überzeugung meine ich etwas, das im Charakter eines Menschen, in seiner gesamten Persönlichkeit wurzelt und deshalb sein Handeln motiviert. Es geht also nicht nur um eine Idee, die sich, so zentral sie auch sein mag, auch leicht ändern lässt.

Der folgende Punkt hat eine enge Beziehung zum vorgenannten: Die ältere Generation hat noch einen Charakter, der sehr stark von überbrachten Verhaltensmustern und von der Notwendigkeit, sich erfolgreich anzupassen, geprägt ist. Viele Menschen der jüngeren Generation neigen dazu, überhaupt keinen Charakter mehr zu haben. Damit meine ich nicht, dass sie unehrlich sind; im Gegenteil, eine der wenigen erfreulichen Dinge in der heutigen Welt ist die Ehrlichkeit eines großen Teils der jüngeren Generation. Wenn ich sage, dass sie keinen Charakter mehr haben, dann meine ich, [XI-302] dass sie emotional und intellektuell gesehen von der Hand in den Mund leben. Sie befriedigen jedes Bedürfnis sofort, haben beim Lernen wenig Geduld, tun sich schwer, Frustrationen auszuhalten und haben kein Zentrum in sich selbst und kein Identitätserleben. Sie leiden am fehlenden Selbsterleben, stellen sich selbst, ihre Identität, den Sinn ihres Lebens in Frage. Manche Psychologen haben aus der Not dieses Identitätsmangels eine Tugend gemacht und sprechen davon, dass diese jungen Menschen einen „proteischen“, amöbenartigen Charakter hätten, wenn sie nach jedem und allem verlangten und an nichts gebunden seien. Damit wird freilich nur in einer etwas poetischeren Sprache vom Mangel am Selbst gesprochen, so wie es Skinner tut, wenn dieser von der „menschlichen Technik“ spricht, derzufolge der Mensch das ist, wozu er konditioniert wurde.

Mir missfallen an dieser Gesellschaft die verbreitete Langeweile und die Freudlosigkeit. Die meisten Menschen langweilen sich, weil sie für das, was sie tun, kein wirkliches Interesse haben und weil unser industrielles System auch kein Interesse daran hat, sie für ihre Arbeit zu interessieren. Das Hoffen auf mehr Unterhaltung wird als der einzige Anreiz angesehen, den es braucht, um die langweilige Arbeit zu kompensieren. Die Freizeit ist allerdings genauso langweilig, denn sie wird von der Unterhaltungsindustrie in gleicher Weise verwaltet wie die Arbeitszeit vom Industriebetrieb. Die Menschen sehnen sich nach Vergnügungen und Anregungen statt nach Freude; sie streben nach Macht und Besitz statt nach Wachstum; sie möchten viel haben und viel gebrauchen, statt viel zu sein.

Die Menschen werden heute mehr vom Toten und vom Mechanischen angezogen als vom Leben und von lebendigen Prozessen. Ich habe dieses Angezogenwerden vom Leblosen – ein Wort Unamunos gebrauchend – „Nekrophilie“ genannt, und das Angezogensein von allem Lebendigen „Biophilie“. Trotz der Tatsache, dass heute alle Betonung auf dem Vergnügen liegt, bringt unsere Gesellschaft immer mehr Nekrophilie hervor und immer weniger Liebe zum Leben. All dies führt zu einer tödlichen Langeweile, die nur oberflächlich durch ständig wechselnde Reize kompensiert wird. Je weniger diese Stimuli ein wahrhaft lebendiges und aktives Interesse erlauben, desto häufiger müssen sie geändert werden, weil es eine biologisch gegebene Tatsache ist, dass wiederholte „flaue“ Stimuli bald monoton werden.

Was mir am meisten missfällt, ist in der griechischen Mythologie in der Beschreibung des Eisernen Zeitalters, wie es Hesiod (in den Erga, Zeile 132-142) heraufkommen sah, zusammengefasst. In ihm werden die Menschen die Macht anbeten, sich nicht mehr über Untaten aufregen und keine Scham mehr haben:

War es [das Eiserne Zeitalter] dann aber gereift und zur Jugendfülle gekommen,
Währte nur kurz noch die Zeit ihres Lebens, eigene Torheit
Brachte das Weh; denn sie hatten nicht Kraft, maßlose Gewalttat
Untereinander zu bannen, und ewige Götter verehren
Mochten sie nicht und am hehren Altar den Seligen opfern,
Wie sich’s für Menschen geziemt, je nach Wohnstatt. Diese hat schließlich
Zeus der Kronide verborgen im Grimm, weil gebührende Ehre
Nie sie gegeben den Göttern, den Seligen oben im Himmel.
Aber nachdem nun auch dieses Geschlecht die Erde umfangen,
Nennt man diese mit Namen die sterblichen Seligen drunten,
Minderen Rangs, aber dennoch erweist man Ehre auch ihnen.

Ich kann nicht schließen, ohne zu betonen, dass ich trotz allem, was mir an dieser Gesellschaft missfällt, nicht ohne Hoffnung bin. Wir sind mitten in einem Prozess, bei dem viele Menschen damit anfangen, ihre Illusionen aufzugeben. „Die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben“, ist nach Karl Marx aber „die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf.“ [K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I, 1, 1, S. 607°f.]

Inhalt

Der moderne Mensch und seine Zukunft

(Modern Man and the Future)

(1992d [1961])[2]

Heute [im Jahr 1961] über das Thema „Der moderne Mensch und seine Zukunft“ zu sprechen[3], heißt nicht nur, danach zu fragen, was die Zukunft des Menschen sein wird, sondern auch, ob der Mensch überhaupt eine Zukunft haben wird. Zugleich bezieht sich diese Zukunftsfrage nicht nur auf den modernen Menschen und seine Zivilisation; angesichts der wachsenden Zerstörungskraft der Atomwaffen geht es um das Leben des Menschen auf dieser Erde überhaupt. Dass man eine solche Frage stellen muss, geschieht in der Geschichte des Menschen sicher zum ersten Mal. Die Atombombe ist das schwerste Krankheitssymptom der modernen Gesellschaft.

Was meine ich mit dem „modernen“ Menschen? Damit kann entweder der Mensch von heute – also alle Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts – gemeint sein, oder der Mensch in den westlichen Industrieländern im Unterschied zu den Menschen in Asien, Afrika und in den nicht-industrialisierten Teilen der Welt. Bei der Nachfrage, was ich unter dem „modernen“ Menschen verstehe, wird deutlich, dass sich auch hier zum ersten Mal etwas in der historischen Situation geändert hat: Die Menschen der nicht-industrialisierten Länder gleichen sich mit zunehmender Schnelligkeit dem Menschen des Westens an. Der westliche Mensch hat seine Technik und bestimmte Ideen in die noch nicht industrialisierten Länder exportiert. Weil aber der Westen seine Macht über die Welt, die er für Jahrhunderte innehatte, zu verlieren scheint oder schon verloren hat, ist er dabei, die ganze Welt im Sinne seiner eigenen westlichen Entwicklung zu verwandeln.