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Als ich am nächsten Morgen mein Büro betrat, saß dort bereits ein junger Mann, der wirkte wie der Gitarrist einer obskuren Grunge-Band, den man gezwungen hatte, sich wie ein Bürohengst anzuziehen. Er trug eine schlecht sitzende, schwarze Hose und ein viel zu weites, weißes Hemd, und neben den dunklen Wurzeln seines stark blondierten Haars fielen mir unzählige feine Narben in seinem Gesicht auf. Er musste Ende 20 sein und lächelte verlegen, als hätte er sich unbefugt Zutritt zu diesem Raum verschafft.

»Ich bin Chris Steadman, einer der Computerleute hier. Sie hatten mir eine Nachricht hinterlassen.« Er sprach so leise, dass er kaum zu verstehen war.

»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich komme einfach nicht ins Internet.«

»Mit einem kaputten Modem kann das auch nicht gehen.« Als er den Kasten sachte schüttelte, konnte ich deutlich etwas darin rasseln hören. »Ich fürchte, dass die meisten unserer Geräte hoffnungslos veraltet sind. Ich bringe Ihnen gleich ein neues Modem, wenn Sie wollen.«

»Das wäre toll.«

»Ich habe gehört, dass Ihre Kiste gestern Abend nicht mehr angesprungen ist. Sind Sie trotzdem noch gut nach Hause gekommen?«

»Nachdem der Motor endlich wieder lief … Aber ich werde sicher eine Weile brauchen, um mich hier in Charndale einzuleben. Ein verschlafenes Nest, nicht wahr?«

Sein Gesicht entspannte sich zu einem Grinsen. »Es hat kaum noch Puls. Melden Sie sich einfach, falls, falls der Motor Ihres Wagens noch mal streikt, dann nehme ich Sie mit.«

Steadman sah mich eine Spur zu lange an, wirkte dabei allerdings nicht lüstern, sondern eher wie ein kleiner Junge auf dem Spielplatz, der sein Gegenüber musterte, um festzustellen, ob es stärker war als er. Die dunklen Ränder unter seinen Augen legten die Vermutung nahe, dass ein Partylöwe hinter seiner schüchternen Fassade steckte, der sich am Wochenende bis zum Morgengrauen in irgendwelchen Nachtclubs herumtrieb.

Mit einem zögerlichen Lächeln packte er das Modem ein und glitt lautlos aus dem Raum.

Um halb zehn besuchte ich den Kunstraum, der ein Stockwerk höher lag. Anfangs dachte ich, ich hätte mich im Raum geirrt, denn durch die offene Tür drang Klaviermusik von Erik Satie. Ich sah noch mal auf meinem Infozettel nach. Die Kunsttherapeutin hieß Pru Fielding und hielt heute Morgen eine Sitzung mit drei Insassen des Laurels ab.

Als ich durch die Tür trat, sah ich eine Frau mit einer Wolke blonder Locken, die ein Stückchen Ton aus einem Behälter nahm und vorsichtig auf den Tisch legte. Von der Seite aus betrachtet war sie wunderschön. Ungefähr so alt wie ich, mit einem fein gemeißelten Gesicht und einen Stirnrunzeln, das mir ihre Konzentration verriet. Sie glättete den Ton mit einem feuchten Tuch, bis sie mich entdeckte und in ihrer Arbeit innehielt.

Sie wandte sich mir zu, und ich sog erschrocken die Luft ein. Der Anblick ihrer anderen Gesichtshälfte traf mich so unerwartet, dass mir auch mein Lächeln kurzfristig entglitt. Erst dachte ich, dass es Verbrennungsnarben waren, aber auf den zweiten Blick erkannte ich, dass sich ein dunkelrotes Feuermal über die Hälfte ihrer Stirn, eine Wange und den halben Hals erstreckte, so, als hätte irgendwer mit einem Topf voll roter Farbe nach dem Kopf der Frau gezielt.

»Sind Sie die Wissenschaftlerin?«

Ich nickte zur Bestätigung. »Mein Name ist Alice. Danke, dass ich Sie besuchen darf.«

»Ich gebe Ihnen lieber nicht die Hand«, erklärte sie und hob die lehmverschmierten Finger zur Begrüßung einfach in die Luft. »Die Jungs müssten in zehn Minuten hier sein. Die Musik lasse ich laufen, weil sie sie beruhigt.« Sie sprach mit heller, atemloser Stimme und zog ihre blonde Lockenpracht über das Feuermal.

»Wie lange arbeiten Sie hier schon, Pru?«

»Seit zwei Jahren. Ich habe auf der Kunsthochschule Malerei studiert und kam direkt nach meinem Abschluss her.«

»Das ist eine ganz schön lange Zeit an einem solchen Ort.« Mir fiel Gorskis Urteil über die hier angestellten Frauen ein. Pru erschien mir viel zu eigenständig, um entweder auf die Gewaltverbrecher abzufahren oder Peitsche schwingend zu versuchen, sich Respekt bei den Gefangenen zu verschaffen, und mit einem Mal wurde mir klar, dass seine Bemerkung viel mehr über die Vorurteile dieses Mannes als über die Frauen, die hier tätig waren, aussagte.

»Es gefällt mir hier. Und außerdem gibt es für Profi-Künstler sonst kaum Jobs. Außer sie heißen Tracey Emin.«

Als ein Grinsen Prus Gesicht erhellte, ahnte ich, wie attraktiv sie wäre, hätte sie mehr Selbstvertrauen. Denn ihre Miene wurde von derselben tief verwurzelten Ängstlichkeit verdüstert, wie man sie bei Ex-Junkies und Missbrauchsopfern sah. Kaum aber tauchten die Gefangenen auf, wurde sie zu einer völlig anderen Person. Zusammen mit den Männern kamen eine Reihe Wachleute und Pfleger durch die Tür, und mit frisch erwachtem Selbstvertrauen wies sie den Patienten ihre Plätze an verschiedenen Tischen zu.

Für die Bearbeitung des Tons lagen nur ein paar stumpfe Plastikwerkzeuge bereit, und als ich einen Blick in meine Fallnotizen warf, wusste ich, warum es nirgends irgendwelche scharfen oder spitzen Gegenstände gab. Denn die Gewaltbereitschaft aller drei wurde durch Neuroleptika gedämpft. Einer hatte einen völlig Fremden an einer Bushaltestelle angesprochen, ein paar nette Sätze mit ihm ausgetauscht und ihm dann 27-mal ein Messer in den Bauch gerammt, und die anderen beiden hatten Familienangehörige umgebracht.

Ich setzte mich in eine Ecke und beobachtete den Gefangenen, der mir am nächsten saß. Er wirkte viel zu jung, um lebenslänglich eingesperrt zu sein, hatte jedoch eine völlig ausdruckslose Miene, so, als hätte er sämtliche Emotionen in der Tiefe seiner Seele eingesperrt. Doch nachdem er fünf Minuten lang an seinem Tonklumpen herumgeknetet hatte, summte er urplötzlich leise vor sich hin.

Auf einem Regal am Fenster waren einige der Kunstwerke der Männer ausgestellt. Besonders fiel mir dabei eine Männerbüste auf, die anatomisch ausnehmend gelungen war. Die Schädelknochen hinter seiner hohen Stirn waren deutlich zu erkennen, aber die Gesichtszüge erschreckten mich. Der Mund war weit geöffnet wie zu einem Schrei, und die Augenhöhlen waren leer.

Ich ging zu Pru, während die Männer bei der Arbeit waren.

»Eine sehr gelungene Büste, finden Sie nicht auch?«

Pru schien sich über dieses Lob zu freuen. »Sie ist von Louis Kinsella. Einen besseren Schüler hatte ich noch nie.«

Damit wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu, und ich sah mir die Büste noch mal genauer an. Obwohl sie wirklich realistisch war, hätte sie wahrscheinlich niemand freiwillig in sein Wohnzimmer gestellt. Weil der blinde Blick, der einem überallhin folgte, alles andere als beruhigend war.

Ich ging zurück in mein Büro, nahm hinter meinem Schreibtisch Platz, und schon klingelte das Telefon. Es war eine der Frauen vom Empfang, die mich eindringlich bat, sofort zu kommen. Und noch ehe ich sie fragen konnte, was sie von mir wollte, hatte sie schon wieder aufgelegt.

Wieder herrschte dichter Schneefall, als ich quer über den grauen Hof des Krankenhauses lief, aber ich vergaß die Kälte, kaum dass ich den Streifenwagen in der Einfahrt entdeckte.

Es ging bestimmt um meinen Bruder. Will hatte seit Wochen schon auf keinen meiner Anrufe mehr reagiert. Vielleicht war er ja in seinem abgetragenen Mantel irgendwo auf einer Parkbank eingeschlafen und erfroren.

Die Frau, die mich erwartete, war wie dafür geschaffen, schlechte Botschaften zu überbringen. Sie war ungefähr so alt wie ich und trug einen leuchtend roten Lippenstift, verzog aber keine Miene, als sie sich von ihrem Stuhl erhob. Ich hatte noch nicht oft mit derart schick frisierten Polizistinnen zu tun gehabt. Ihre Stirn wurde von ihrem wie mit dem Lineal gezogenen Pony in eine pechschwarze und in eine fleischfarbene Hälfte unterteilt. Genau wie gestern Abend, als sie neben Burns gestanden hatte, als der mit den Journalisten sprach.

Ich atmete erleichtert auf. Denn es ging sicher nicht um Will.

»DI Tania Goddard«, stellte sie sich vor und schüttelte mir kurz die Hand. »Können wir uns irgendwo hier unterhalten?«

Ihr Akzent war das genaue Gegenteil von ihrem äußeren Erscheinungsbild. Sie klang, als wäre sie im Osten Londons, entweder in Tower Hamlet oder Poplar, aufgewachsen, und wenn sie Karriere machen wollte, bräuchte sie wahrscheinlich doppelt so viel Ellbogen und Biss wie andere Frauen. Doch so wie sie auf mich wirkte, würde sie im Notfall sicher über Leichen gehen. Ihre hochhackigen Schuhe klapperten auf dem Linoleumboden, als sie neben mir zu einem leeren Konferenzraum lief, und sie runzelte die Stirn, als uns die abgestandene Luft vermischt mit einem beißenden Uringeruch entgegenschlug.

»Sie sind Don Burns’ Partnerin, nicht wahr?«, erkundigte ich mich.

»Womit man mich für alle Sünden, die ich je begangen habe, büßen lässt.«

»Und was ist aus Ihrem Vorgänger geworden?«

»Der hat seinen Dienst quittiert und ist jetzt für eine private Sicherheitsfirma in Saudi-Arabien.«

Unweigerlich musste ich grinsen. Denn für Taylor, diese Schlange, war ein so heißes Land ideal. Er war dort wahrscheinlich glücklich, und Don Burns war sicher begeistert, seinen Widersacher endlich los zu sein.

Als Goddard eine Hand in ihre Aktentasche schob, bemerkte ich, dass ihre frisch lackierten Fingernägel farblich zu den Lippen passten, und schob meine Hände in die Hosentaschen, weil ich selbst nur alle Jubeljahre mal zur Maniküre ging.

»Was hat Sie hierhergeführt, Tania?«

»Von den vermissten Mädchen haben Sie doch sicher schon gehört?«

Ich nickte stumm und wartete gespannt darauf, zu hören, was der Grund ihres Besuches war.

»Burns denkt, Sie könnten uns bei den Ermittlungen behilflich sein.« Ihre Stimme klang auch weiter vollkommen neutral.

»Aber Sie sind anderer Meinung?«

»Das ist nicht persönlich gegen Sie gerichtet. Aber in meinem ersten großen Fall – Green Lanes – wurden 43 Frauen vergewaltigt und acht umgebracht. Eins der Opfer wurde so verstümmelt, dass sogar der Fotograf sich übergeben musste, weil er so was nie zuvor gesehen hat. Wir hätten den Killer bereits Jahre früher festgenagelt, hätte uns der Seelenklempner, der uns helfen sollte, nicht auf die falsche Spur gebracht.«

Ich versuchte nicht, die Ehre unseres Berufsstands zu verteidigen, denn Goddard hatte recht. Ich wusste, dass dem Psychologen, der sie in dem Fall beraten hatte, in der Zwischenzeit aufgrund diverser Kunstfehler die Zulassung entzogen worden war. Doch das Auftreten der Polizistin faszinierte mich. Sie strahlte eine ungeheure Ruhe, doch nicht die Spur von Wärme aus. Weswegen ich mich fragte, was für eine Frau sich hinter ihrer glänzenden Fassade wohl verbarg. Vielleicht standen ja Dutzende von leeren Weingläsern bei ihr im Wohnzimmer herum, und hinter ihrem Sofa schimmelten Kartons mit Pizzaresten vor sich hin. Ihrem durchdringenden Blick nach hatte sie eine Mission, und nichts und niemand konnte sie bei der Verfolgung dieses Ziels aufhalten. Ich konzentrierte mich so sehr darauf, sie zu studieren, dass ich gegen ihre nächsten Worte nicht gewappnet war.

»Wir haben gestern Abend die Leiche von Sarah Robinson gefunden.«

Sie hielt mir ein Foto hin. Ich sah ein Paar schmaler Schultern, ein Gesicht mit blau gefrorenen Lippen sowie blondes Haar mit Eispartikeln. Die Prinzessin, die mich tagelang von allen Titelseiten herab angelächelt hatte, war zu einem Geist geworden. Nachdem der Babyspeck geschmolzen war, stachen jetzt die spitzen Schlüsselbeine durch die dünne, blasse Haut.

»Es ist derselbe Täter wie bei Kylie Walsh und Emma Lawrence«, klärte mich die Polizistin auf.

»Sind Sie sicher? Denn normalerweise legen Serienkiller zwischen ihren Taten keine langen Pausen ein.«

»Ja, wir sind uns sicher – weil es jede Menge Übereinstimmungen gibt. Die beiden ersten Opfer wurden in Camden entführt. Kylies Leichnam wurde irgendwo in einer dunklen Gasse abgelegt und der von Emma auf einem Stück Brachland dort in der Nähe. Beide Mädchen sind verhungert, und danach hat er die Leichen in einer Gefriertruhe verwahrt und sie später erst an den Ort gebracht, wo man sie finden sollte.«

Ich brauchte einen Augenblick, um zu verdauen, dass der Mörder ihre Leichen erst noch aufgehoben hatte. Weil die Vorbedingung dafür ein extremes Selbstbewusstsein und die ausgeprägte Fähigkeit vorauszuschauen waren.

»Wer hat die Ermittlungen geleitet, als die ersten beiden Mädchen aufgefunden wurden?«

Tania verzog das Gesicht. »Der Mann ist inzwischen pensioniert. Die Mordermittler waren damals die Chefs und haben von überallher Spezialisten engagiert. Wobei sehr viele Dinge übersehen worden sind.«

»Sie sind also nicht weit gekommen?«

»Das ist noch sehr milde ausgedrückt. Ein Vierteljahr nach Auffinden der zweiten Leiche hat der Mann sich krankgemeldet und kam bis zu seiner Pensionierung nicht noch mal zurück.«

Mein Mitgefühl mit Burns nahm zu. Es klang, als hätte er einen der schlimmsten ungelösten Fälle, die es momentan in London gab, geerbt.

Ich zwang mich, mir noch mal die Aufnahmen der toten Sarah anzusehen. Sie trug ein langes, weißes Nachthemd, und der Pappkarton, in dem sie lag, umschloss sie wie ein Sarg. Ihre dürren Beine waren ausgestreckt und ihre Arme über ihrer Brust gekreuzt, wie es bei den Statuen auf den Gräbern aus dem Mittelalter üblich war. Auf einem anderen Foto sah ich ihre nackten Füße. Ihre Zehen waren erfroren, und an ihrem rechten Knöchel hing ein Schild, auf dem in schwarzer Tinte eine Zahl geschrieben war, als wäre sie ein Exponat.

»Wissen Sie, was diese 12 bedeuten soll? Waren an den beiden anderen Opfern auch Schilder mit Zahlen festgemacht?«

Sie nickte. »Und sie hatten auch die gleichen Kleider an.«

Ich schloss kurz die Augen. Als ich selbst so alt wie dieses Kind gewesen war, hatte ich mich mehr als einmal in den Schrank unter der Treppe, hinter unsere Kohlevorräte im Keller, hinter jeden Schrank und unter jedes Bett in unserem Haus gequetscht und zitternd abgewartet, bis die Wutanfälle meines Vaters abgeklungen waren. Aber das war nichts verglichen mit dem Leid, das diesem Mädchen widerfahren war.

»Wurde sie missbraucht?«

»Das werden wir erst wissen, wenn die Untersuchung ihrer Leiche abgeschlossen ist. Aber er wird immer aggressiver. Anders als die ersten beiden Mädchen ist sie regelrecht mit blauen Flecken übersät.«

»Wie ist sie gestorben?«

»Wir schätzen, dass sie entweder erfroren oder verhungert ist. Sie glauben nicht, dass sie in der Gefriertruhe gelegen hat. Es sieht so aus, als hätte er sie draußen aufbewahrt.«

Ich legte die Fotos auf den Tisch. »Sie haben mir noch immer nicht gesagt, weswegen Sie hierhergekommen sind.«

Goddard sah mich reglos an. »Wir möchten, dass Sie mit Louis Kinsella sprechen.«

»Und warum?« Bereits die bloße Vorstellung verursachte mir eine Gänsehaut.

»Der Killer macht genau dort weiter, wo Kinsella aufgehört hat. Kylie wurde in derselben Straße und am selben Tag wie vor 17 Jahren sein letztes Opfer entführt. Vor seiner Ergreifung hat der Mann neun Mädchen umgebracht, weshalb die Zahlen auf den Schildern ebenfalls ein Hinweis auf ihn sind. Und die Presse hat bereits eine Verbindung zwischen Ella Williams und Kinsella ausfindig gemacht. Sie geht in die Grundschule St. Augustine, an der er Rektor war.«

Ich lenkte meinen Blick zurück auf Sarahs Bild, und der Druck auf meine Brust nahm zu. Ich wagte nicht, mir vorzustellen, wie sehr das Kind gelitten und wie oft es den Entführer angebettelt hatte, sie endlich auf freien Fuß zu setzen statt sie noch länger zu quälen.

Wenn ich nicht bereit wäre, der Polizei zu helfen, prägte sich ihr Bild meinem Gewissen sicherlich für alle Zeiten ein.

»Wo wurde sie gefunden?«

»Auf der Treppe des Findlingsmuseums, heute Morgen gegen drei.«

Ich hatte das Museum auf dem Weg zur Wache von King’s Cross bereits des Öfteren passiert, es bisher aber nie besucht. Es lag alles andere als abgelegen, also war der Mörder entweder total verrückt oder völlig furchtlos, wenn er mit einem Pappsarg durch die Innenstadt gelaufen war. Wieder sah ich das Gesicht des Mädchens an. Den stummen Schrei, den ihre blauen Lippen formten, konnte ich unmöglich ignorieren.

»Wir sind uns so sicher, dass der Kerl ein Trittbrettfahrer ist, dass ich Kinsellas Post abfangen lasse, falls der Typ versucht, ihn hier zu kontaktieren«, zwang mich Tanjas kalte Stimme in die Gegenwart zurück.

»Ihnen ist bewusst, dass er nicht mit mir sprechen wird, nicht wahr? Weil er nur alle Jubeljahre mal den Mund aufmacht.«

Goddards Lippen zuckten, doch ihr war nicht anzusehen, ob sie eher ungläubig oder belustigt war. »Burns behauptet, dass Sie Wunder wirken können. Also finden Sie ganz sicher einen Weg.«

»Sie bräuchten die Erlaubnis des Direktors.«

»Keine Angst, die habe ich bereits.«

Was nicht wirklich überraschend für mich war. Denn wahrscheinlich war sie einfach schnurstracks über ihn hinwegmarschiert und hatte ihm dabei mit ihren hochhackigen Schuhen jede Menge blauer Flecken zugefügt.

Sie zog einen Vertrag aus ihrer Aktentasche und erklärte mir in knappen Sätzen meine Aufgabe in diesem Fall. Ich sollte dem Forensik-Spezialisten, der die Polizei bereits beriet, zur Seite stehen, vor allem aber hier versuchen, alles aus Kinsella rauszuholen, was bezüglich dieser Kidnappings und Morde aus ihm rauszuholen war.

Kaum hatte ich die Übereinkunft unterschrieben, sammelte Goddard die Fotos wortlos wieder ein.

Als sie sie in eine Plastikhülle schob, erhaschte ich noch einen letzten Blick auf Sarah Robinsons Gesicht. Auf der Nahaufnahme waren die beiden Reihen kerzengerader Milchzähne sowie der kleine Schmutzfleck auf der Wange ebenso gut zu erkennen wie der Schleier, der vor ihren Augen lag, als schaue sie durch eine dünne Frostschicht auf die Welt.