Zitternd vor Kälte steht Ella auf der Treppe vor der Schule. Der Schulhof ist fast menschenleer, und zwei Mädchen aus der sechsten Klasse rennen achtlos an ihr vorbei. Nicht mal ihre Glitzerschuhe fallen ihnen auf. Ihr Opa hat sie Sonnabend für sie gekauft, und sie kann einfach nicht aufhören, sie anzusehen – sie sind rot wie Kirschen und so blank, dass man sich in ihnen spiegeln kann. Am schönsten aber sind die Schnallen. Rund und glänzend wie neue Pennystücke. Am liebsten würde sie in ihren neuen Schuhen auf dem Schulhof tanzen, kräftig mit den leuchtend roten Schuhen auf den Boden stampfen, auf den frisch gefallenen Schnee. Ein Junge verlässt jetzt das Schulgebäude, schleift den Ranzen Richtung Tor, und dann ist sie allein.
Sie wartet schon so lange, dass ihr Lächeln eingefroren ist. Suchend sieht sie in die Richtung, aus der Opa mit dem Wagen kommen muss. Wahrscheinlich ist das Auto wieder mal kaputt. Zum ersten Mal wird sie allein nach Hause laufen müssen, aber das macht ihr nichts aus. Dann wird er endlich merken, dass sie schon ein großes Mädchen ist. Mit zehn ist sie auf alle Fälle alt genug, um den Kilometer bis nach Hause ohne ihn zu gehen.
Auf dem Weg sieht sie all die bunten Lichter, die hinter den Fenstern leuchten. Nur noch ein paar Tage, dann ist endlich Weihnachten. In ihrem Wohnzimmer steht schon der Baum, den sie heute Abend mit Suzanne mit silbernem Lametta und mit roten Kugeln schmücken wird. Der Gehweg ist vereist, und sie muss vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen, denn sonst rutscht sie vielleicht aus. Auf der Straße ist es ruhig. Abgesehen von einem Mann, der seine Einkäufe in einen Lieferwagen lädt. Seine Tüten sind zu voll, und eine reißt, als sie gerade an ihm vorbeikommt. Das Obst verteilt sich auf dem Bürgersteig, und als eine Orange dicht an ihr vorüberkullert, stößt er einen Seufzer aus.
»Wärst du wohl so lieb, sie für mich aufzuheben?«, fragt er sie.
Über seine Schulter entdeckte Ella, dass der Wagen ihres Opas vor dem Schultor hält. Im selben Augenblick jedoch schlingt der Mann den Arm um ihren Bauch und presst eine Hand auf ihren Mund. Sie ist zu schockiert, um laut zu schreien, als er sie in den Lieferwagen stößt. Dann fällt mit einem lauten Knall die Tür hinter ihr zu, und sie hört hinter sich ein kratzendes Geräusch. Als sie sich eilig umdreht, sieht sie in der Dunkelheit einen Geist kauern. Oder eher ein Mädchen, das ein weißes Kleid und sein Haar in hoffnungslos verfilzten Rattenschwänzen trägt. Es ist klapperdürr, hat die Knie an die Brust gezogen und den Oberkörper vorgebeugt. Ihr toter Blick ist furchteinflößend, und mit einem Mal fängt Ella laut zu schreien an und trommelt mit den Fäusten gegen die geschlossene Tür. Durch das Rauchglasfenster sieht sie, dass ihr Opa Richtung Schule läuft und einen ihrer Schuhe, der zwischen den Äpfeln und Orangen auf der Erde liegt. Als der Lieferwagen anfährt, stößt sie sich den Kopf an einem harten Gegenstand, und der stechende Schmerz, der sie durchzuckt, löscht ihr Bewusstsein aus.