www.tredition.de
Der Autor
Robert Hock wurde 1961 in Aschaffenburg geboren. Er studierte Biologie und ist habilitierter Zell- und Entwicklungsbiologe. Robert Hock lebt heute in Eisingen und arbeitet an der Universität Würzburg.
Die Handlung und die Personen des vorliegenden Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Verwendung von Namen bestehender Institutionen, Einrichtungen oder Unternehmen ist schöpferisches Stilmittel. Der Autor hat zahlreiche Quellen für die Recherche genutzt und beabsichtigt keine persönlichen Ansprüche verletzen zu wollen.
Ohne
Filter
Robert Hock
Thriller
www.tredition.de
© 2014 Robert Hock
Umschlaggestaltung, Illustration:
Robert Hock
Lektorat, Korrektorat:
Maria-Elisabeth Rudolf, Lektorat Schusterjunge
(www.lektorat-schusterjunge.de)
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
978-3-8495-8746-8 (Paperback)
978-3-8495-8747-5 (Hardcover)
978-3-8495-8748-2 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Ungewöhnliche Ereignisse
1
Als Florian Bohn vor der Kühltheke im Supermarkt stand, überkam ihn wie aus dem Nichts ein beängstigendes, fremdartiges Gefühl. Als ob Wasser über ihn gegossen würde, durchlief ihn eine heiße Welle vom Kopf ausgehend bis in die Füße. Sein Blick war starr nach vorne gerichtet und seine Hände krallten sich an seinem halb gefüllten Einkaufswagen fest. Das Letzte, das er gezielt wahrnahm, war eine echohafte Stimme – »Sie wünschen?« – und aus dem Augenwinkel das beharrliche Flackern einer Neonröhre. Wie ferngesteuert drehte er seinen Kopf zu dem flackernden Licht. Kurzzeitig war alles, was er eben noch sah, hörte, roch oder fühlte nicht mehr da. Als sich nach wenigen Sekunden der Nebel lichtete, war es ihm unmöglich, einzelne Geräusche zu unterscheiden. Das Gerede anderer Menschen, der Tumult im Supermarkt, die Fragen der Verkäuferin, die mittlerweile drängender wurden, das Öffnen von Regaltüren, schreiende Kinder, das Brummen des Kühlregals.
Erschrocken und verwirrt hielt er sich beide Ohren zu und schrie so laut er konnte, um all die Geräusche durch nur eines zu ersetzen. Seine Augen waren vor Entsetzen aufgerissen, als er realisierte, dass es keinen Augenwinkel und keinen Blickfokus mehr gab. Er sah alles gleichzeitig. Ohne Filter. Die Verkäuferin, die jetzt einen eher ängstlichen Ausdruck bekam, die Blicke anderer Menschen, die er mittlerweile alle auf sich zog, jede Kleinigkeit, die sich in seinem und in den Einkaufswagen der anderen befand, Schilder, Farben, Werbeschriften, Wurst und eine Theke voller Fleisch. Und alles war gepaart und vermischt mit tausenden Gerüchen nach Schweiß, Angst, Parfüms, Cremes, Blut, Öl, Fisch, Käse, Leder, Obst.
Florian Bohn wusste nicht mehr, dass er Florian Bohn war. Seine Sinne lieferten ihm zu viele Informationen und sein Gehirn schien zu bersten. Für alles, was er je gewusst hatte, war plötzlich kein Raum mehr. Schreiend und mit zugehaltenen Ohren ließ er seinen Blick auf der Suche nach Halt hin und her huschen. Die Menschen um ihn herum wichen ängstlich zurück, doch sein Gehirn konnte es nicht mehr wahrnehmen. Sein Körper signalisierte ihm nur eines: Flucht.
Dieses Gefühl stammte nicht aus seinem Kopf, es war ein uralter Instinkt, der immer dann einsetzt, wenn das Gehirn nicht mehr in der Lage ist zu denken. Seine Nebenniere schüttete riesige Mengen Adrenalin aus, das über den Blutkreislauf seinen ganzen Körper überschwemmte. Aus den Leberzellen wurden daraufhin Zuckermoleküle ins Blut entlassen. Genug Energie für eine lange und schnelle Flucht. Sein Herzschlag beschleunigte sich und seine gesamte Muskulatur war bis zum Äußersten angespannt.
Wild um sich blickend und schreiend sprang Florian Bohn, vom metallischen Geruch des Blutes angezogen, über die Fleischtheke, ergriff das Schlachtermesser und hieb mit einer flüssigen Bewegung der Verkäuferin den Kopf vom Rumpf, der auf dem Rinderhack zu liegen kam und mit noch immer aufgerissenen Augen in die Weiten des Supermarktes starrte. Nach kurzem Zittern und Unmengen an ausgepumptem Blut sackte der Rumpf in sich zusammen. Fast gleichzeitig drehte sich Florian Bohn zum heraneilenden Metzgermeister, den er in einer ebenso flüssigen Bewegung von unten bis oben aufschlitzte und der mit herausquellenden Därmen zu Boden sank. Ein irrsinniger Gestank nach Eingeweiden, Blut, Panik und Angst legte sich auf die wie angewurzelt herumstehenden und schreienden Kunden des Supermarktes, als diese sahen, wie Florian Bohn fast beiläufig einen riesigen Fleischerhaken nahm und sich diesen durch die Nase bis in sein pochendes Gehirn stieß.
2
Kurz hinter Aachen, noch in Deutschland, machte Sascha Krubb gerne noch einmal eine Pause. Die Container seines Zweiachsers waren dieses Mal mit Maschinenteilen für England schwer beladen. Er wollte nur kurz an der Raststätte anhalten, um sich etwas zu essen und einen Kaffee zu holen. Es war schon relativ spät und der Verkehr in Belgien würde allenfalls in der Nähe von Brüssel etwas heftiger werden. Er hatte vor, den Fährhafen in Calais in spätestens fünf Stunden zu erreichen. Normalerweise kein Problem. Die Straßen in Belgien waren zwar schlecht, dafür aber zumindest nachts zuverlässig frei. Er fragte sich, ob die für Belgien typische Beleuchtung der Autobahnen mit Straßenlaternen dazu diente, die schlechten Straßenverhältnisse und Schlaglöcher auch nachts erkennbar zu machen.
Sascha kaufte sich zwei Bockwürste mit Brötchen und zwei große Becher Kaffee, die er sich größtenteils in seine Thermoskanne umfüllte und sich einen Schluck zusammen mit einer Zigarette sofort genehmigte. Danach stieg er wie so oft in seinen Brummi, atmete einmal tief durch und bereitete sich mental auf die langweilige, beleuchtete Ruckelfahrt durch Belgien vor. Dem Schengenabkommen sei Dank, würde es keine lästigen Grenzkontrollen mehr geben. Sicherheitshalber hatte Sascha allerdings immer einen Stopp durch mobile Zollbeamte in seiner Fahrzeitberechnung eingeplant. Ein Zeitpuffer musste sein, um nicht durch irgendetwas Unvorhersehbares die Fähre zu verpassen. Meist war er deshalb früher in Calais als nötig. Er wusste, dass er selbst mit langen Fahrzeiten und einer weit im Voraus gebuchten Fähre billiger transportieren konnte als der Containerzug durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal. Sascha war es egal, was er geladen hatte und wohin er es transportierte. In Calais würden die Container auf seinem Aufleger ausgetauscht werden und er würde für die Rückfahrt etwas anderes hinter sich herziehen. Er wusste noch nicht was und es interessierte ihn auch nicht. Sascha war nur der Fahrer bis Calais.
Das langweiligste Stück lag zwischen Brüssel und Brügge. Lauwarmer Kaffee, kalte Bockwurstbrötchen, Zigaretten und die Schlaglöcher hielten ihn wach. Mittlerweile hatten die Belgier nur jede zweite Straßenlaterne angeschaltet. Wahrscheinlich, um Strom zu sparen.
»Prima«, dachte Sascha, als es heftig zu regnen begann. Das Licht der Straßenlaternen wurde jetzt vom nassen Asphalt reflektiert und Sascha musste immer wieder die Augen zukneifen, um nicht geblendet zu werden. Unter diesen Bedingungen zu fahren war anstrengend, aber als Brummifahrer hatte er die nötige Routine. Dennoch wurde er seltsam unruhig und begann zu schwitzen. Immer wieder musste er sich die Augen und die Schläfen reiben. Irgendetwas begann in seinem Kopf zu brummen und ihm wurde seltsam warm. Bei dem Versuch, sich etwas Kaffee in den Becher zu schütten, zitterte er so stark, dass er beschloss, die nächste Raststätte anzufahren. Er war bereits kurz hinter Gent. Sascha verspürte jetzt Angst und hatte das Gefühl, fliehen zu müssen, ohne zu wissen wovor. Die Beleuchtung der Raststätte war schon zu sehen.
Als er sich gerade noch eine Zigarette anzünden wollte, löschte die Flamme des Feuerzeugs scheinbar alles, was er je wusste, aus seinem Gehirn. Dabei fiel ihm die brennende Zigarette auf den Boden. Seine weit aufgerissenen Augen sahen nur noch das sich spiegelnde Licht auf den regennassen Straßen. Gleichzeitig hörte er das Quietschen der Wischblätter, das Prasseln des Regens, den brummenden Motor, das Fahrgeräusch auf der nassen Autobahn, das Radio und die kleine Engelsfigur, die er neben sich aufgehängt hatte und die beständig an die Windschutzscheibe klopfte. Es roch nach Zigaretten, Kaffee, Schweiß, Öl, Metall und Diesel. Seine Augen waren jetzt starr auf die Beleuchtung der Raststätte gerichtet und sein Kopf bewegte sich seltsam zuckend. Sein stumpfer Blick fixierte gerade noch die Ausfahrt zum Rasthof. Dies war das letzte einigermaßen willentliche Erkennen irgendeines Details. Mit aufgerissenen Augen und den Kopf hilflos suchend hin und her werfend, hielt Sascha mit beiden Händen krampfhaft das Lenkrad fest und raste auf die Zapfsäulen der Tankstelle zu.
Da sich Benzin kaum entzündet, wäre es kein größeres Problem gewesen, dass Sascha mit seinem Brummi die Zapfsäulen förmlich abrasierte und das Benzin in Massen ausfloss. Vor Kurzem hatte sich die Rastanlage jedoch Gaszapfstellen zugelegt. Sascha rasierte natürlich auch diese Säulen ab und wäre sicherlich so lange starr geradeaus weitergefahren, wie der Treibstoff im Tank seines Lastwagens gereicht hätte. Das entzündliche Gas explodierte augenblicklich, als es mit Saschas brennender Zigarette in Kontakt kam, die die ganze Zeit auf dem Boden unter seinem Sitz vor sich hin geglimmt hatte.
Die Explosion war gewaltig und noch in großer Entfernung zu spüren. Belgien war jetzt vom Flugzeug aus nicht mehr nur durch die Beleuchtung seiner Autobahnen deutlich zu erkennen. Das explodierende Gas setzte genügend Hitze und Energie frei, um auch noch die Benzintanks zu zünden. Dutzende Menschen verbrannten, wurden in Stücke gerissen oder von Teilen der Maschinen, die Sascha geladen hatte, regelrecht erschossen. Kurz bevor Sascha in die Gaszapfsäulen gerast war, hatte er die Hände vom Lenkrad gerissen, seine Ohren zugehalten und war schreiend dem Inferno entgegengefahren. Das Letzte, das Sascha hätte wahrnehmen können, wenn sein Gehirn nicht schon vorher ausgestiegen wäre, wäre ohnehin nur eine große weiße Fläche gewesen – das Nichts.
3
Martha Löbel machte alles für ihren Sohn. Seit seiner Geburt stand Sven immer im Mittelpunkt, wurde verhätschelt und verwöhnt. Sven entwickelte sich zwangsläufig zu dem, was man mit Fug und Recht als Muttersöhnchen bezeichnen konnte. Er wusste, egal was er tun würde, jede seiner vier Mütter würde zu ihm stehen und ihn aus jeder Schwierigkeit herausholen. Sven wusste, dass er seine Geburt dem berechnenden Verhalten seiner Mütter zu verdanken hatte, die unbedingt ein Kind, aber keinen Mann wollten.
Damals, vor etwas mehr als 24 Jahren, lebte Martha zusammen mit drei anderen Frauen in einer WG im Würzburger Stadtteil Grombühl. Alle WG-Mitglieder hatten zwar gelegentlich Beziehungen zu Männern, aber nur der Abwechslung und des Spaßes wegen. Sie waren der Überzeugung, dass es sich am besten ohne Mann lebte. Da Martha gewillt war, ihre Gene weiterzugeben, beschlossen sie nach langen Gesprächen in der WG, Martha schwängern zu lassen.
Nach mehrmonatigem Suchen hatten sie endlich den geeigneten Befruchter ausgewählt. Ein stattlicher, erfolgreicher, gut aussehender und intelligenter Mann, der zwangsläufig willenlos wurde, als er von vier Frauen gleichzeitig verführt wurde. Der Plan ging auf und Martha wurde schwanger. Der Befruchter wurde kurz nach dem Orgasmus etwas ratlos zurückgelassen und hörte nie wieder etwas von den Frauen.
Die vier beschlossen, das Ereignis mit gebührendem Respekt zu feiern. Da sie wussten, dass ein Kind in naher Zukunft ihre volle Konzentration fordern würde, planten sie eine letzte große Sause und buchten einen mehrwöchigen Urlaub in Kenia. Sie wollten sich dort mit Männern für den Rest ihres Lebens sättigen und diesem Geschlecht dann ein für alle Mal Adieu sagen. Als Sven geboren wurde, strahlten Martha und drei weitere Frauen ein Kind an, das in Zukunft von vier Müttern erzogen werden würde.
Seit zwei Jahren hatte Sven so etwas wie eine Arbeit. Er war Paketfahrer. Seine Mütter hatten ihn gedrängt, doch endlich mal einer Beschäftigung nachzugehen. Die WG als solche existierte zwar nicht mehr und er lebte mittlerweile mit Martha alleine, aber seine Mütter sah er öfter als ihm lieb war.
An diesem Morgen hatte Martha wie immer schon die Brote für Sven fertig, hatte ihm seinen Kaffee in die Thermoskanne gefüllt und den Frühstückstisch gedeckt. Zum Beladen seines Fahrzeugs musste Sven sehr früh aufbrechen. Es war gerade 4.30 Uhr. Martha war bereits die ganze Nacht wach, weil sie eine seltsame innere Unruhe verspürte. Außerdem wurden momentan auf der Straße neben ihrer Wohnung die Straßenbahnschienen saniert. Das pfeifende Geräusch der Schienenschleifmaschine hatte Martha am Einschlafen gehindert.
»Müde siehst du aus, Mutter«, sagte Sven und drückte Martha einen Kuss auf die Stirn.
Fast automatisch antwortete sie: »Heute Abend sind Sara, Christine und Maria da. Sei pünktlich zuhause.«
Unbemerkt blies Sven die Backen auf, zog die Augenbrauen hoch, zuckte dann mit den Schultern und verließ die Wohnung.
Es war Herbst und relativ kühl. Die Schleifarbeiten an den Straßenbahnschienen waren gerade beendet und die orangefarbenen Baufahrzeuge standen am Straßenrand. In wenigen Minuten würde wieder die erste Straßenbahn um die Kurve am Wagnerplatz kommen. Der Wind blies das noch verbliebene Laub von den Bäumen der benachbarten Parkanlage, und die Schienenarbeiter waren froh, die Nachtschicht beenden zu können. Sven bemerkte, wie in ihrer Wohnung im vierten Stock die Jalousien hochgezogen wurden und ihm seine Mutter, wie jeden Morgen, hinter dem Fenster zuwinkte. Eigentlich fand sich Sven mit 24 Jahren etwas zu alt für dieses Verabschiedungsritual und wegen der Bauarbeiter war es ihm dieses Mal ein wenig peinlich.
Als sich die Baufahrzeuge in Bewegung setzten, bekam Sven ein seltsames Gefühl und starrte wie magnetisiert auf das orangefarbene Warnblinklicht, das wieder angeschaltet worden war und die Umgebung rhythmisch in gelbes Licht tauchte.
Sven riss die Augen auf, blickte ruhelos und zitternd umher und schaute fast automatisch und Hilfe suchend zu seiner Mutter hoch. Marthas Herz pochte und ihre Gesichtszüge waren wie gelähmt, als sie Svens ungewöhnliches Verhalten beobachtete. Während Sven zu Martha starrte, verschwand allmählich das Gesicht seiner Mutter und löste sich auf im Haus, in Gebäuden, Fahrzeugen, Himmel und Erde. Sven sah alles und nichts. Er roch die Abgase der Baufahrzeuge, die nassen Straßen, das feuchte Laub und den modrigen Geruch des Herbstes. Neben dem pfeifenden Geräusch des Windes, den brummenden Motoren und seiner schreienden Mutter hörte Sven das Rumpeln der nahenden Straßenbahn, das sich in seinem Kopf zu einem unerträglichen Grollen aufschwang. Die Erschütterungen, verursacht durch die holpernden Wagen, kamen ihm wie ein Erdbeben vor. Voller Entsetzen hielt sich Sven seine Hände an die Ohren. Das Gleiche tat seine Mutter.
Als die Straßenbahn um die Kurve kam, hatte Sven nur noch das Bedürfnis, dieses ratternde Monster aufzuhalten. Mit ausgestreckten Armen rannte er auf die Straßenbahn zu, wurde frontal von ihr erfasst, erschlagen, mitgeschleift und halbiert.
Seine Mutter, die kreidebleich, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund alles beobachtet hatte, nahm ihre gesamte Energie zusammen und sprang durch die Scheibe des noch geschlossenen Fensters vom vierten Stock nach unten. Marthas Schmerzen des durch die Glasscherben aufgeschnittenen Gesichts waren nur kurz und wurden von dem harten Aufschlag auf dem Asphalt beendet. Inzwischen konnte die Straßenbahn anhalten. Die Bauarbeiter, die alles mit ungläubigen Blicken beobachteten, stellten sich auf eine Verlängerung ihrer Nachtschicht ein.
Die Beerdigung
Obschon November, so war es doch ein goldener Herbsttag, an dem Sven und Martha Löbel beerdigt wurden. Auf dem Würzburger Waldfriedhof zwitscherten die Vögel auf den Bäumen, die nur noch wenige bunte Blätter besaßen. Es war eine einsame Beerdigung, bei der sich die drei verbliebenen, ganz in Schwarz gehüllten Familienangehörigen Sara, Christine und Maria gegenseitig stützten, um die schwerste Stunde ihres bisherigen Lebens gemeinsam ertragen zu können.
Alle drei waren zusammengebrochen, als sie vom Tod ihrer beiden Geliebten erfuhren und sich im Pathologischen Institut der Universitätsklinik in der Versbacher Straße in Würzburg einfinden mussten, um Sven und Martha zu identifizieren. Das zerschmetterte und vom Glas zerschnittene Gesicht von Martha war nur notdürftig wieder hergestellt und Svens Teile zu einem Körper zusammengeflickt worden. Der Anblick und die anschließende Gewissheit, dass es tatsächlich Sven und Martha waren, die dort auf den Seziertischen lagen, ließen Maria in Ohnmacht fallen. Als es ihnen etwas besser ging, schleppten sich die drei Frauen in Marthas Wohnung und weinten sich mit Hilfe mehrerer Flaschen Martini in einen unruhigen Schlaf.
Als sie am nächsten Tag im Bestattungsunternehmen die Beerdigung organisierten, wich zumindest bei Sara und Christine die übergroße Trauer einem Gefühl von Ratlosigkeit und Wut. Diese Gefühle wurden noch stärker, als sie im Polizeibericht die Zeugenaussagen der Stadtarbeiter lasen, die die Szene beobachtet hatten. Wie konnte von der einen Sekunde auf die andere ihr gesamtes Leben zerstört werden? Was hatte ihren geliebten Sven dazu gebracht, sich vor die Straßenbahn zu werfen? Immer wieder schüttelten sie ungläubig ihre Köpfe und verfielen in gemeinsame Weinkrämpfe. Dieser Zustand hielt bis zur Beerdigung an.
Maria dagegen schien sich nicht mehr zu erholen.
Die Beerdigung hatte schließlich Sara organisiert, die von allen dreien noch am besten mit der Situation zurechtkam. »Wir trauern um unsere Geliebten«, hatte sie in einer ganzseitigen Anzeige schreiben lassen. Sara wusste, dass sie seit mehr als 25 Jahren eine nahezu verschworene Gemeinschaft waren. Sie, Christine, Maria, Martha und Sven, ihr gemeinsamer Sohn. Sie hatten kaum jemanden in ihr Leben eindringen lassen und daher erwarteten sie nicht, dass viele Menschen zu der Beerdigung ihrer zwei Familienmitglieder erscheinen würden. Sara engagierte deshalb Trauergäste von einem Bestattungsunternehmen. Lediglich die Mitglieder des kleinen Chors, in dem Martha und Sven gelegentlich gesungen hatten, wären auch uneingeladen gekommen. Sie sangen »Why Worry« von den Dire Straits, »Trouble« von Cat Stevens und »Boulevard of broken dreams« von Green Day – alles Stücke, die Sven und Martha gemocht hatten.
Sara spürte, dass Maria am schlechtesten mit der Situation fertigwerden würde. Seit dem Besuch in der Pathologie und ihrer anschließenden Ohnmacht war sie wie in Trance und musste mit starken Antidepressiva und Beruhigungsmitteln behandelt werden. Sara und Christine mussten sie fast tragen, als sie auf dem Weg von der Aussegnungshalle bis zum offenen Grab hinter den Särgen hergingen. Große Sonnenbrillen und schwarze Kopftücher verbargen ihre blassen, verweinten und wütenden Gesichter. Es war in der Tat eine einsame Beerdigung.
Vielleicht hatten sie sich seit Svens Geburt doch zu sehr abgeschottet? Zumindest Sara gab es zu denken, dass bei der Beerdigung eines 24-Jährigen keine Freunde anwesend waren. Außer einigen Verwandten von Martha, die keine Eltern mehr hatte, waren tatsächlich nur die Chormitglieder, die Sargträger und die bezahlten Trauergäste anwesend, die in respektvollem Abstand warteten, bis Sara, Christine und Maria ihre Blumen und etwas Erde auf die Särge geworfen hatten, um sich damit ein letztes Mal und endgültig zu verabschieden. Als sich die drei weggeschleppt hatten, begann das Bestattungsunternehmen sofort, seine Arbeit zu vollenden und beide Särge wurden vollständig mit Erde bedeckt.
Nur drei Tage nach der Beerdigung nahm sich Maria mit einer Überdosis Tabletten das Leben. Für Sara und Christine war dies allerdings nur ein Nadelstich im Vergleich zu dem, was sie vor knapp zwei Wochen durchmachen mussten. Mit Sven und Martha war ihre Gemeinschaft gestorben. Dass Maria den beiden nachfolgen würde, war eine Möglichkeit, die immer wieder ihre Gedanken gekreuzt hatte. Und irgendwie konnten sie die Gefühle Marias nachvollziehen, die offensichtlich jegliche Kraft verloren hatte.
Sie hatten mit sich selbst zu kämpfen gehabt und konnten Maria in den letzten Tagen wenig Hilfe in ihrem Kummer bieten. Das war der einzige Vorwurf, den sie sich machten. Doch sie kannten Maria auch gut genug, um zu wissen, dass sie nicht wieder aus ihrem Loch herausgefunden hätte. Daher akzeptierten sie den Schlussstrich, den sie gezogen hatte.
Doch die Umstände von Svens Tod nagten auch Tage nachdem sie ihn zu Grabe getragen hatten an ihnen. Allmählich setzte sich die Erkenntnis fest, dass Sven das niemals getan hätte, wenn er nicht von irgendetwas dazu gezwungen worden wäre. Er hätte sich nicht freiwillig das Leben genommen und seinen Müttern solchen Kummer bereitet. Dennoch bedurfte es langer Diskussionen und schlafloser Nächte, bis sie schließlich davon überzeugt waren, dass es Mord war.
Schließlich hielt Christine Sara eine große Anzeige unter die Nase, die sie in der Zeitung gelesen hatte: »Privatdetektiv Alexander Farwick – für die ungewöhnlichen Fälle.«