Omnia TEMPUS habent
et suis SPATIIS transeunt universa sub cælo
Liber Ecclesiastes III,1
Jedes hat bemessene Zeit
und mit befristeter Dauer
geht vorüber alles unter dem Himmel
Für Linda Maria Koldau
in Dankbarkeit
Johann Sebastian Bach
komponiert
Zeit
Tempo und Dauer in seiner Musik
Band 1
Grundlegung und Goldberg-Variationen
www.tredition.de
© 2014 Ulrich Siegele
Autor: Ulrich Siegele
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN:
978-3-7323-0226-0 (Paperback)
978-3-7323-0227-7 (Hardcover)
978-3-7323-0228-4 (e-Book)
Umschlagabbildung: Wilhei
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Inhalt
Vorwort
GRUNDLEGUNG
Ein anderes Zeitverständnis
Satztypus und Tempo
Tempostufen und Bewegungsgrade
Dauer und Richtwert
GOLDBERG-VARIATIONEN
Die Aria
Auf der Suche nach dem Thema
Das Bassgerüst und seine Struktur
Zwei Ebenen der variativen Arbeit
Drei Schichten der Aria
Das leere Schema
Die virtuose Reihe
Die dreidimensionale Gliederung der Reihe
Der Sonderfall und die erste Dreiergruppe
Die zweite Dreiergruppe
Die dritte Dreiergruppe
Die Modifikationen des Bassgerüsts
Die kanonische Reihe
Systematik der Satztypen
Formale und kompositorische Gliederung
Kanon und Bassgerüst
Das Quodlibet — der Schlüssel zum Werk
Die charakteristische Reihe
Eine einzige Ebene der Gliederung
Eine in sich geschlossene Dreiergruppe
Zwei parallele Dreiergruppen
Das tänzerische Paar
Das imitatorische Paar
Das ariose Paar
Ein Einzelsatz
Der Zusammentritt der Reihen
Das gegliederte Schema
Die Dauern
Strittiges
Das Bassgerüst
Die Frage einer Frühfassung
Tempo giusto und Fermaten
Proportionen und Proportionisten
Die Bedeutung der Satztypen
Begründung der Tempowahl
Die Disposition
Der Entwurf
Eigenschaften und Funktion
Das Repertoire
Ein Wort an die Leserschaft
Hermann Carl von Keyserlingk
Die Legende
Deutung und Bedeutung
Der Lebensstil
Der Mäzen
Der Diplomat
Ein kritisches Jahr
Abendmusiken
Verzeichnisse
Zitierte Literatur, Quellen und Webseiten
Zur Musik und zu den Goldberg-Variationen
Zu Hermann Carl von Keyserlingk und seiner Familie
Kompositionen von Johann Sebastian Bach
Personen
Vorwort
In Johann Sebastian Bachs Musik sind Tempo und Dauer kein Problem der Aufführungspraxis, sondern ein unveräußerlicher Bestandteil der Komposition. Deshalb ist die Komposition, nämlich der schriftlich überlieferte Notentext, daraufhin zu befragen, was er über Tempo und Dauer aussagt. Wer sich durch dieses Konzept nicht von vornherein abgeschreckt fühlt, ist eingeladen, mit mir auf Entdeckungsreise zu gehen. Das Ziel ist, zu erfahren, wie Bach Zeit komponiert. Die Ergebnisse tragen in erster Linie zum Verständnis der inneren Verfassung der Bachschen Musik bei. Sie sind aber zugleich ein Angebot an die Aufführungspraxis. Ob diese davon, wie von den anderen im Notentext niedergelegten Parametern, Gebrauch macht, liegt allerdings außerhalb meiner Zuständigkeit.
Der vorliegende Band widmet sich hauptsächlich den Goldberg-Variationen. Aufgrund ihrer besonderen kompositorischen Voraussetzungen sind sie das Schlüsselwerk, sozusagen der Stein von Rosette, um Tempo und Dauer in Bachs Musik in den Griff zu bekommen. Deshalb stehen sie am Anfang. Hier ist zwar manches zu finden, was nicht unmittelbar mit Tempo und Dauer zu tun zu haben scheint; ja, fast ist ein Buch zu den Goldberg-Variationen überhaupt entstanden. Jedoch lag mir daran, Tempo und Dauer nicht isoliert zu sehen, sondern beide in den Zusammenhang eines vielschichtigen Ordnungssystems formaler Strategien zu stellen. Nicht methodische Einlinigkeit, sondern Vielfalt der Gesichtspunkte ist der Weg, um der historischen Wirklichkeit näherzukommen.
Allerdings birgt das Streben nach Vielfalt der Gesichtspunkte die Gefahr, dass es in unverbindliche Beliebigkeit abgleitet und die Sachbezogenheit, nämlich die Beziehung auf das betrachtete Musikstück, verliert. Um dem vorzubeugen, zielte ich darauf ab, kompromisslos den Standpunkt des Komponisten einzunehmen und zu ergründen, vor welchen Problemen er jeweils stand (sei es, dass er selbst sie sich stellte oder sie ihm gestellt wurden) und welche Strategien der Lösung er entwickelte. Ich versuche also, nicht meine Fragen an das Musikstück heranzutragen, sondern mir die Fragen vom Musikstück selbst stellen zu lassen. Dabei kann es sich zeigen, dass eine Anzahl von Musikstücken verschiedene Lösungen ein und desselben Problems abhandelt; ebenso gut aber kann eine Reihe sich Stück für Stück verschiedenen Problemen zuwenden. Nicht alle Stücke werden unterschiedslos einem einzigen Zugang und einer einzigen Darstellungsform unterworfen; vielmehr wechseln die Zugänge und Darstellungsformen entsprechend den Forderungen jedes einzelnen Stücks.
Diesem methodischen Ansatz könnte vorgeworfen werden, er hebe allein auf die Individualität des einzelnen Stücks ab und verliere darüber übergeordnete Zusammenhänge zwischen den Stücken aus den Augen. Dem tritt ein Modell der kompositorischen Arbeit bei Bach entgegen, das sich mir im Lauf der Zeit erschlossen hat. Am Beginn steht eine begrenzte Anzahl von Werkblöcken, die infolge ihres hohen Allgemeinheitsgrads uncharakteristisch sind und deshalb der individualisierenden Bearbeitung bedürfen. Von diesen Werkblöcken wird einer als Ausgangspunkt gewählt. Seine Bearbeitung erfolgt in distinkten Schritten nach bestimmten Verfahren. Die Besonderheit individueller Charakteristik ist demnach nicht als frei gesetzt zu denken; vielmehr wird sie aus dem Allgemeinen Schritt für Schritt herausgearbeitet. Folglich geht es darum, die fertige Struktur in die Stufen ihrer inneren Genese auseinanderzulegen und so diese Stufen der kompositionstechnischen Betrachtung, aber auch der ästhetischen Wahrnehmung zugänglich zu machen. Im Sinne dieser Offenlegung von strukturellen Ebenen sind die reduzierten Versionen zu verstehen, die manchen der Variationen beigegeben sind.
Ich behaupte nicht und verwahre mich dagegen, dass Bach diese Stufen jemals niedergeschrieben hat. Wohl aber sind sie als Ebenen der Struktur in der ausgearbeiteten Komposition enthalten und können daraus erhoben werden. Die Entscheidung für den Standpunkt des Komponisten und für das Modell der schrittweisen Individualisierung allgemeiner Werkblöcke sind die beiden grundsätzlichen methodischen Voraussetzungen für die hier vorgelegten Analysen. Ich hoffe, die Ergebnisse vermögen die methodischen Entscheidungen zu rechtfertigen.
Am Anfang der Goldberg-Variationen steht die Frage nach der Bedeutung der Aria für das Werk. Danach folgt eine Betrachtung der dreißig Variationen. Und zwar habe ich mich dafür entschieden, dieser Betrachtung weder die numerische Reihenfolge der Variationen noch ihre Gliederung in Dreiergruppen zugrunde zu legen, sondern jede der drei Zehnerreihen, die ich die charakteristische, die virtuose und die kanonische nenne, für sich in den Blick zu nehmen und zunächst in jeder die Besonderheit des Aufbaus und die spezifischen Bedingungen und Kennzeichen der variativen Arbeit zu beschreiben, erst anschließend zu prüfen, welches Ergebnis der Zusammentritt der drei Reihen zum Werk hervorbringt. Diese Entscheidung resultiert aus der Anlage des Werks; sie ist nicht vorausgesetzt, sondern in der Sache begründet. Mit anderer Absicht haben Ingrid und Helmut Kaußler (Die Goldberg-Variationen von J. S. Bach, Stuttgart 1985, Kapitel X) die Dreiheit der Reihen thematisiert und sie den menschlichen Sphären des Denkens, Fühlens und Wollens zugeordnet. Im Hinblick auf die kompositorische Beschaffenheit des Werks jedoch wurde der Zugang, soweit ich sehe, bisher nicht mit Entschiedenheit beschritten; er führt indessen zu Einsichten, die nur mit seiner Hilfe zu gewinnen sind.
Nach dieser Erkundung werden abweichende und unterstützende Forschungsmeinungen diskutiert. Das Kapitel bildet die Brücke zu einem Perspektivenwechsel. Zuvor wurde das Werk daraufhin untersucht, was es, von außen betrachtet, zu erkennen gibt. Nun dringt der Blick ins Innere und stellt sich den Fragen: Wie ist die Disposition zustande gekommen? Was sind ihre Eigenschaften, was ihre Funktion? Und weiter noch: Wie ist das Repertoire, aus dem die Disposition errichtet wurde, organisiert?
Den Beschluss bildet der Versuch, mögliche Facetten der Beziehung der Goldberg-Variationen zum Grafen Hermann Carl von Keyserlingk zu ergründen, insbesondere seine Persönlichkeit und seinen Charakter, seinen Lebensstil und sein diplomatisches Wirken plastischer hervortreten zu lassen, als das bislang in der Bachforschung geschehen ist; das schließt die politische und berufliche Situation ein, in der er sich befand, als die Variationen entstanden. Licht fällt auf den Vater stellvertretend von seinem Sohn Heinrich Christian und dessen zweiter Frau Caroline Charlotte Amalie, aus deren Königsberger Palais eine berührende Szene über das Verhältnis Hermann Carls zur Musik überliefert ist. Der politische und soziale Rang des Grafen findet seine Entsprechung im ästhetischen und kompositorischen Rang des Werks.
Dieser Betrachtung der Goldberg-Variationen steht eine kurzgefasste Grundlegung des Konzepts voran. Das Konzept basiert auf der Gliederung der Stücke des Bachschen Werkbestands in Satztypen; sie sind durch zeitliche Merkmale bestimmt und stehen häufig zueinander in kompositorisch realisierten Beziehungen. Diese Beziehungen erlauben es, den Satztypen die begrenzte Anzahl von sechs Tempostufen zuzuordnen, deren proportionale Skala schließlich absolut fixiert werden kann. Als Unterteilung des Bezugswerts der jeweiligen Tempostufe ergeben die kleinsten durchlaufenden Notenwerte den Bewegungsgrad eines Stücks.
Die fixierten Tempostufen ermöglichen es, in Verbindung mit der Art und Zahl der Takte die komponierte Dauer eines jeden Stücks und eines jeden aus verschiedenen Stücken zusammengesetzten Werks zu ermitteln. Dabei zeigt sich, dass sowohl einzelne Sätze wie ganze Werke sich an bestimmten Dauern orientieren, die zwar in verschiedener Weise modifiziert werden können, aber dennoch als Zielvorstellungen und Richtwerte wirksam bleiben. Gemäß dem anderen Zeitverständnis ist anzunehmen, dass gegenüber dem Tempo die Dauer eine bevorzugte Stellung besaß, dass also nicht die Dauer als eine Folge des Tempos betrachtet, sondern eine anvisierte Dauer mithilfe einer Tempostufe und Taktart verwirklicht wurde.
Ich habe den Band mit der Zahl 1 versehen auf die Gefahr hin, dass ihr später der Zusatz „mehr nicht erschienen“ beigefügt werden muss, hoffe aber doch, mit der Zeit weitere Bände folgen lassen zu können. Dabei stehe ich vor der Frage, ob ich, für die Bildung der Gruppen von Werken, der Besetzung oder der Gattung den Vorzug geben soll. Zwar sehe ich, dass der Gesichtspunkt der Besetzung den Bedürfnissen der Leserschaft eher entgegenkommen könnte, entscheide mich aber aus sachlichen Gründen für den Gesichtspunkt der Gattung. Denn es spielt beispielsweise für die Tempostufe eines Tanzes keine Rolle, ob er für ein Tasteninstrument, für ein solistisches Melodieinstrument oder für ein instrumentales Ensemble bestimmt ist; allerdings lasse ich seine Übertragung für ein vokal-instrumental gemischtes Ensemble vorerst außer Betracht.
Denkbare Gruppen sind die Suiten und ihre Tänze, die Sonaten und die Konzerte, die Präludien und Fugen, die Bearbeitungen von Kirchenliedern für Tasteninstrumente, die großen vokal-instrumentalen Werke. Vielleicht wird es künftig auch einmal möglich sein, die Kantaten oder wenigstens den einen oder anderen ihrer Jahrgänge einzubeziehen. Um das Nachschlagen einzelner Stücke und Sammlungen zu erleichtern, ist jedes Kapitel in sich abgeschlossen, auch wenn das zu gelegentlichen Überschneidungen und Wiederholungen führt. Von den drei Verzeichnissen der Literatur, der Kompositionen Bachs und der Personen am Schluss des Bands ist das Verzeichnis der Literatur angesichts der Verschiedenartigkeit der Bereiche untergliedert in Titel einerseits zur Musik und zu den Goldberg-Variationen, andererseits zu Hermann Carl von Keyserlingk und seiner Familie.
Außer in den täglichen Gesprächen mit meiner langjährigen Partnerin, der Musikwissenschaftlerin und Kulturhistorikerin Linda Maria Koldau, ist mir in jüngster Zeit Unterstützung für das Projekt in Dresden und Leipzig zuteil geworden. In Dresden danke ich Ekkehard Klemm, dem Rektor der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“, und meinem Kollegen Michael Heinemann; er hat mich eingeladen, 2012 über das Tempo in den Goldberg-Variationen und 2013 in seinem Doktoranden-Kolloquium über das Tempo im Wohltemperierten Klavier I zu sprechen. Mit Eckart Haupt habe ich mich über das Tempo der Sonaten für Querflöte ausgetauscht.
Jörg Herchet verdanke ich so manchen anregenden Zuspruch. Seit Jahrzehnten macht er seine Schülerinnen und Schüler mit meinen analytischen Arbeiten, zu denen auch die vorliegenden Untersuchungen zu rechnen sind, bekannt; hier nenne ich besonders Lydia Weißgerber mit ihrem Mann Reimund Böhmig sowie Reiko Füting, der in den Vereinigten Staaten meine Überlegungen an die nächste Generation weitergibt. Zu diesem Dresdner Kreis gehört Christfried Brödel, der frühere Rektor der Hochschule für Kirchenmusik; er steht für das Tempo der Matthäus-Passion.
Mein Kollege Helmut Loos hat mich 2013 zur Riemann-Vorlesung nach Leipzig eingeladen, wo ich über die Grundlegung des Konzepts mit Beispielen aus den Suiten und Tänzen für Tasteninstrumente gesprochen habe. Ihnen allen danke ich für den Beistand, den sie mir gewähren, desgleichen meinem früheren Schüler Ralph Alexander Kohler (Stellenbosch University, Südafrika), der Teile des Manuskripts kommentiert hat, und Siegbert Rampe für die Diskussion zahlreicher Einzelfragen. Die Verantwortung für das Konzept jedoch liegt ausschließlich bei mir; ich trage diese Verantwortung mit Überzeugung.
Dank der Veröffentlichung bei tredition® ist dem Buch die Kontrolle und Normierung durch peer-reviewing erspart geblieben. Ich wünsche ihm eine unvoreingenommene und verständige Leserschaft.
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