Rainer Moritz

Fräulein Schneider und das Weihnachtsturnier

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Orlando Hoetzel, Berlin

Covergestaltung: Anja Haß, Leipzig

Satz: makena plangrafik, Leipzig

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96038-255-3 // eISBN (PDF) 978-3-96038-268-3

eISBN (EPUB) 978-3-96038-269-0

www.eva-leipzig.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1

Selten, dass ihm seine Mutter schrieb. Zu Ostern oder zu seinem Geburtstag vielleicht, wenn er nicht auf Besuch kam. Als er an einem Januarmorgen den Brief zwischen dem Prospekt eines Pizza-Lieferdienstes und einer Mitteilung der Hausverwaltung herausfischte, erkannte er ihre Handschrift gleich. Die runden, zierlichen Bögen, die sich auf dem quadratischen Umschlag zu verstecken schienen, das Hellblau des Kugelschreibers, der auf dem Sekretär seiner Mutter seit Jahr und Tag an derselben Stelle lag, die schräg aufgeklebte Briefmarke und das „Dipl.-Ing.“ vor seinem Namen … unnötig, nach einem Absender zu suchen. Und zwecklos wäre das zudem gewesen, denn seine Mutter empfand es als unnötige Zeitverschwendung, ihre Adresse auf Umschlägen zu hinterlassen. Auf ihren gefütterten Umschlägen selbstverständlich, eine andere Sorte verwendete sie nicht, als ob die Briefe im kalten Briefkasten gewärmt werden müssten. Niemanden gehe es etwas an, dass sie jemandem einen Brief schreibe, und den Postboten zweimal nicht. Auf den Absender grundsätzlich zu verzichten brachte den Vorteil mit sich, dass keiner ihr vorwerfen könne, die Angabe vergessen zu haben.

Sie vergaß viel, was nichts mit ihrem fortgeschrittenen Alter zu tun hatte. Nein, Mutter, bei dir ist das kein Anzeichen von ersten Demenzerscheinungen, schusselig warst du schon als junge Frau und als Mädchen vermutlich auch. Sie schüttelte unwirsch den Kopf, wenn ihre Kinder so mit ihr sprachen. Ich hab halt immer viel zu tun, fix muss es gehen, da kann man nicht an alles denken, und die wichtigen Sachen vergesse ich nicht, keine Sorge.

Es hatte keinen Zweck, ihr zu widersprechen. Seine Schwester und er sahen sich an, und jedem fiel etwas anderes ein: die Badesachen, die im Urlaubskoffer fehlten, die Hefe, die es zum Kuchenbacken gebraucht hätte, oder die nicht abgelösten Preisschilder auf den Weihnachts- und Geburtstagspäckchen.

Er blieb im Hausflur stehen, ärgerte sich über die trübe Deckenleuchte, die seit Wochen flackerte, und riss den Umschlag mit einem Ruck auf. Ein Zeitungsausschnitt fiel zu Boden, die Karte mit dem in altmodischer Kursivschrift eingedruckten Namen seiner Mutter bekam er gerade noch zu fassen: „Lieber Konrad! Heute stand diese Todesanzeige in der Zeitung. Vielleicht interessiert sie dich. An Fräulein Schneider erinnerst du dich, oder? An Weihnachten hast du sie immer besucht. Und dann wurde sie sogar berühmt. Melde dich mal wieder. Mutti.“

Fräulein Schneider … ja, Fräulein Schneider aus der Mörikestraße, natürlich! Er hob das Stück Zeitung auf, eine Anzeige im kleinstmöglichen Format, aufgegeben von der Firma für Industrie- und Baubedarf, für die sein Vater ein halbes Leben gearbeitet hatte. Man betrauere den Tod von Fräulein Elfriede Schneider, die bis zu ihrem Ruhestand siebenundzwanzig Jahre in der Buchhaltung des Unternehmens gearbeitet habe, und werde ihr ein ehrenvolles Andenken bewahren. Am 23. Dezember war sie verstorben, im Alter von achtundneunzig Jahren, wie Konrad ausrechnete. Ein pflichtbewusstes Erinnern ihres alten Arbeitgebers. Anzeigen von Verwandten oder Freunden schien es nicht gegeben zu haben, die hätte ihm seine Mutter mitgeschickt. Die Beerdigung musste schon stattgefunden haben. Ob sie auf dem Hauptfriedhof begraben worden war?

Er lehnte sich an die grünweißen Fliesen des Hausflurs und begann zu lächeln. Wann hatte er zum letzten Mal an Fräulein Schneider gedacht? Fräulein, ja, Fräulein, komisch, dass man selbst in der Todesanzeige nicht auf diese ganz aus der Mode gekommene Anrede verzichtet hatte. Als ob die Firma es selbst nach so vielen Jahren nicht wagte, von einer Frau Elfriede Schneider zu reden, als fürchtete man ihren Zorn noch aus dem Jenseits. Es gefiel ihm, an sie zu denken, er brauchte sich nicht anzustrengen, um ihr Gesicht vor sich zu sehen. Sein Körper straffte sich, er fühlte sich ein Vierteljahrhundert jünger, er meinte, kurze Hosen an seinen Beinen zu spüren, obwohl Fräulein Schneider ihn nie in kurzen Hosen zu Gesicht bekommen hatte. Wie einfach es war, seine Erinnerung anzuknipsen, selbst bei dem flackernden Licht im wie immer zugigen Hauseingang …

Fräulein Schneider, eine ungewöhnliche Frau, nicht zu vergleichen mit denen aus der Nachbarschaft. Das Fräulein Schneider, wie die Eltern sagten. Als wäre sie ein Neutrum oder zumindest ein Unikum gewesen. Das Fräulein Schneider freut sich, wenn du kommst. Und bedank dich schön …

2

Vater erzählte wenig von seiner Arbeit, und wenn er seinen Ärger beim Abendessen loswerden musste, hörte ihm Konrad nicht zu und achtete lieber darauf, dass ihm seine Schwester nicht das letzte Stück Fleischwurst vor der Nase wegschnappte. Was kümmerten ihn Vaters Auseinandersetzungen mit Kunden, die mit den gelieferten Heizungen oder Sanitäranlagen unzufrieden waren und reklamierten. Oder sich über das Nichtfunktionieren der frisch eingebauten Sicherheitstechnik beschwerten, bei Vater, der eine Art Vorgesetzter war für die im Außendienst Beschäftigten. Auf komplizierte Schließsysteme und Alarmanlagen hatte sich Vaters Firma neuerdings spezialisiert, was Konrad neugierig machte, denn von Einbruch und Diebstahl handelten die Fernsehkrimis im Vorabendprogramm, die er manchmal sehen durfte.

Weil Vater so etwas wie ein Abteilungsleiter war, hatte er eine Sekretärin, die allerdings auch für andere Vorgesetzte oder Abteilungsleiter arbeitete. Frau Brenninger hieß sie und zählte zu den wenigen Kolleginnen und Kollegen, von denen Vater zu Hause erzählte. Wenn er die Herren Sieloff, Hägele oder Sawitzki erwähnte, dann meistens in ungehaltenem Ton. Als wären das samt und sonders Unfähige, die den Erfolg der Firma beeinträchtigten und die Zeichen der Zeit nicht erkannten. Ganz zu schweigen von Doktor Förster, einem Akademiker, einem Theoretiker, der von der Praxis keine Ahnung hatte und Vater jede Woche Optimierungsideen unterbreitete. Ein Doktor, der kein Mediziner war, das zählte in Vaters Augen nichts.

Mit den Sieloffs, Hägeles oder Sawitzkis wollten Vater und Mutter privat nichts zu tun haben. Allenfalls die Küblers kamen drei-, viermal im Jahr zum Abendessen, wahrscheinlich weil Herr Kübler in einem ganz anderen Bereich arbeitete und mit Vater in der Firma kaum etwas zu schaffen hatte.

Und Fräulein Schneider aus der Buchhaltung. Sie musste Jahre vor Konrads Vater in die Firma eingetreten sein und genoss einen legendären Ruf. Eine Frau, die sich offenkundig nie darum bemüht hatte, einen leitenden Posten zu übernehmen und als stellvertretende Buchhaltungsleiterin zusah, wie diejenigen, die an ihr vorbeigezogen oder von auswärts gekommen waren, alsbald resignierten und die Firma wieder verließen. Männer allesamt, denn es war selbstverständlich, dass ein gestandener Mann der Buchhaltung eines so bedeutenden Unternehmens vorzustehen hat. So zumindest pflegte Fräulein Schneider sich zu erklären, wenn die Geschäftsführer ihr die Leitungsstelle antrugen. Nein, das traue sie sich nicht zu, sie arbeite gern im Windschatten. Zudem sei sie eine alleinstehende Frau mit vielerlei Interessen, die sich von der Berufstätigkeit nicht auffressen lassen wolle. Keiner wusste freilich, ob Fräulein Schneiders treuherzigem Augenaufschlag zu trauen sei.

So blieb sie die ewige Stellvertreterin und erfuhr stillschweigend Wertschätzung von allen Seiten. Ja, manche fürchteten sie, wenn ihr Adlerblick fehlerhafte Rechnungen zurückgehen ließ und sie von der weiteren Zusammenarbeit mit Firmen ohne Zahlungsmoral abriet. Fräulein Schneider offen zu widersprechen wäre niemandem in den Sinn gekommen.

Zu Konrads Vater schien Fräulein Schneider Zutrauen gewonnen zu haben. Vielleicht weil er wie sie von der Schwäbischen Alb stammte, genauer vom Fuße der Schwäbischen Alb. Uns kann man nichts vormachen, betonte sie, wenn einer wie Doktor Förster versuchte, ihnen die Welt zu erklären. Dann lachte sie laut auf, ein dröhnendes, schepperndes Lachen, das so schnell abklang, wie es losgebrochen war, und in einem japsenden Schlucken endete. Wenn Fräulein Schneiders Lachen durch die Kantine oder das Treppenhaus zog, sahen die meisten beiseite und scheuten sich danach zu fragen, wem dieser leicht grollend-hämische Ausbruch galt. Die Gefahr, dass man selbst gemeint sein könnte, war nicht gering.

Fräulein Schneider galt nicht nur als Expertin in Buchhaltungsfragen. Sie verstand auch etwas von Automobilen und wurde von den Chefs um Rat gefragt, wenn es um die Anschaffung neuer Dienstwagen ging. Welchem Mercedes-Modell solle man den Zuschlag geben und in welcher Ausstattung? Fräulein Schneider fuhr einen himmelblauen Käfer Cabrio 1303 mit Weißwandreifen, der, wie Konrads Vater erzählte, jedes Mal Aufsehen erregte, wenn sie ihn in vorderster Reihe auf dem Firmenparkplatz abstellte und betont langsam ausstieg. Im Sommer trug sie eine aus der Zeit gefallene dunkelbraune Lederkappe, die unter dem Kinn festgeschnallt wurde. Sie sah damit aus wie eine Figur aus einem Heinz-Rühmann-Film, Bruchpilotin Schneider, wie einige sie hinter vorgehaltener Hand nannten.

Und nicht zuletzt hatte sie sich einen exzellenten Ruf als Fachfrau für Fußballfragen erworben. Dass die sich dafür interessiert, hatte Konrads Mutter kopfschüttelnd angemerkt, als sie hörte, wie die Männer in der Firma sich montags mit der Buchhalterin über die aktuellen Bundesligaergebnisse und die Höhepunkte der unteren Ligen unterhielten. Dem Fräulein Schneider kann man nichts vormachen, hieß es, sie hatte alle Tabellen und Aufstellungen selbst der niedersten Klassen parat und wusste genau, was von diesem Spieler und jenem Trainer zu halten war. Und vor allem ging sie bei jedem Wind und Wetter zu den Heimspielen ihres Clubs, des Vereins für Rasenspiele. Einen Regenschirm in der Hand, einen Fanschal um den Hals, stieg sie um die Mittagszeit in den Bus, um rechtzeitig ihren Platz im Kassenhäuschen einnehmen zu können.

Fräulein Schneider verkaufte Eintrittskarten. Mitglieder, Rentner und Schüler ermäßigt, sie achtete sorgfältig darauf, dass keiner sie beim Wechselgeld über den Tisch zog. Ihre Kasse stimmte immer, und wenn um 15 Uhr das Spiel angepfiffen wurde, faltete sie das Rollo herunter und stürmte zu ihrem Stammplatz in der Ostkurve, wo sie von einer Handvoll Männer, die sie nur auf dem Sportplatz sah, mit lautem Hallo begrüßt wurde. Längst hatte die eingeschworene Truppe Fräulein Schneider in ihren Kreis aufgenommen. Wer am Anfang über die korpulente Frau mit Schal gelächelt hatte, gab das spätestens auf, wenn sie eine knifflige Abseitsentscheidung fachkundig erklärte und so die Besserwisser zum Schweigen brachte. Allzu viele waren es nicht mehr, die die Spiele des Vereins sehen wollten. Die Übriggebliebenen verloren sich im Rund des inzwischen viel zu großen Stadions, zu lange, über zehn Jahre, lag die glanzvolle Ära des Vereins zurück. Damals, als man fast in der höchsten Spielklasse antrat und im Pokal zum Schrecken der Großkopfeten, der Spitzenclubs aus der Bundesliga, geworden war. Natürlich besaß Fräulein Schneider schon zu diesen seligen Zeiten eine Dauerkarte und hätte eher alle Wein- und Volksfeste ausgelassen als eine Partie ihrer Rasenspieler.

Fräulein Schneider und der Fußball, das war eine lang anhaltende Liebesbeziehung. Am Kartenschalter lernte Konrad sie kennen, als er mit acht oder neun Jahren erstmals allein ins Stadion ging. Schau, ob du das Fräulein Schneider siehst. Und sie war leicht zu erkennen, denn in den anderen Häuschen saßen ausschließlich Männer, Rentner meistens. Fräulein Schneider lachte auf, wenn sie Konrad erkannte, winkte ihm durch die Plexiglasscheibe zu, schob ihm augenzwinkernd eine Eintrittskarte hin und dazu ein Zwei-Mark-Stück. Fußball ohne Bratwurst, das geht nicht, sagte sie, viel Spaß, Junge, auf dass wir heute die Punkte einfahren. Seinen Eintritt bezahlte sie offenbar aus eigener Tasche. Wahrscheinlich verstand sie das als Nachwuchsförderung. Und dass er der Sohn eines Arbeitskollegen war, der widerspruchslos ihre buchhalterischen Anmerkungen akzeptierte und zudem vom Fuße der Schwäbischen Alb stammte, war für sie ein gutes Omen – und auch für ihren Verein. Überdies galt es zu verhindern, dass der Junge zum Lokalrivalen überlief, unbedingt.

3

Fünf Minuten Fußweg waren es bis zu dem dreistöckigen Haus, in dem Fräulein Schneider unter dem Dach wohnte. Seit Urzeiten, wie es schien. Konrads Eltern konnten sich nicht erinnern, dass sie je woanders als hier im ruhigen Osten der Stadt gelebt hätte. Gegenseitige Besuche hatte man sich nie abgestattet, hin und wieder eine Begegnung beim Metzger oder Bäcker, ein Plaudern über dies und jenes, ein Einander-einen-guten-Tag-Wünschen.

Wenn Konrads Vater gute Laune hatte, erzählte er beim Abendessen, wie Fräulein Schneider am Kaffeeautomaten unliebsame Kollegen zur Schnecke machte, mit ausladenden Gesten erläuterte, wie sie das Skontoverlangen eines ihr rundum unsympathischen Kunden abgewehrt und am Wochenende endlich mal wieder einen Ausflug auf die Schwäbische Alb unternommen habe. Mit ihrem frisch polierten Käfer sei sie in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen und dann mit einem leichten Rucksack losmarschiert. Zwiefalten, Upflamör, Burladingen, St. Johann … herrliche Stille habe geherrscht, allenfalls ein Traktor, ein anschlagender Hund und Vögel, die über den Feldern kreisten. Einen Reiterhof habe sie passiert und dann in einer Dorfwirtschaft Rast gemacht, wo sie mit zwei Rentnern am Stammtisch ins Gespräch gekommen sei, über den SSV Reutlingen, der auch schon bessere Tage gesehen habe. Der Ochsenmaulsalat, den man ihr aufgetischt habe, sei ordentlich gewesen, mit einer Spur zu viel Essig vielleicht.

Eine Woche nach ihrem fünfundsechzigsten Geburtstag wurde sie offiziell in den Ruhestand verabschiedet. Alle Versuche der Geschäftsleitung, sie umzustimmen, hatten nicht gefruchtet. Keinen Tag würde sie dranhängen, und obwohl sie betonte, dass sie das Feld bestellt habe und man sie notfalls – nicht zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr! – anrufen könne, breitete sich unverhohlener Schrecken auf dem Gesicht des Buchhaltungsleiters aus. Wie, so schien er zu denken, sollte er ohne seine Stellvertreterin auskommen. Fräulein Schneiders Posten würde man erst einmal nicht besetzen, allen in der Firma wäre es wie Anmaßung vorgekommen, jemanden zum stellvertretenden Buchhaltungsleiter zu machen, der nicht Fräulein Schneider hieß.