Wir sind kurz
mal unterwegs
Ein amüsantes Reisetagebuch
25 Jahre Taraxtour
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2020 Rudolf Jakob Josef Wahnsiedler
Umschlaggestaltung © Rudolf Wahnsiedler
Lektorat: Katharina Pavlustyk
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN: 978-3-7497-8471-4 (Hardcover)
ISBN: 978-3-7497-8472-1 (e-Book)
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Vorwort
01. Deutsche Fehnroute |
15.09. - 17.09.1995 |
02. Scheemda |
28.09. - 29.09.1996 |
03. Emsland |
08.05. - 11.05.1997 |
04. Münsterland |
21.05. - 24.05.1998 |
05. Dollard-Route |
12.05. - 16.05.1999 |
05a. Österreich |
26.12. - 04.01.2000 |
06. Artland |
01.06. - 04.06.2000 |
07. Ammerland |
24.05. - 27.05.2001 |
08. Schneverdingen |
09.05. - 12.05.2002 |
09. Surwold |
29.05. - 01.06.2003 |
10. Ihlowerfehn |
20.05. - 22.05.2004 |
11. Messingen |
05.05. - 08.05.2005 |
12. Dötlingen |
25.05. - 28.05.2006 |
13. Messingen |
17.05. - 20.05.2007 |
14. Jaderberg |
01.05. - 04.05.2008 |
15. Nordhorn |
21.05. - 24.05.2009 |
16. Thülsfeld |
13.05. - 16.05.2010 |
17. Liebenau |
02.06. - 05.06.2011 |
18. Conneforde |
17.05. - 20.05.2012 |
19. Hattingen |
09.05. - 12.05.2013 |
20. Bramstedt |
29.05. - 01.06.2014 |
21. Sögel |
14.05. - 17.05.2015 |
22. Wilhelmshaven |
05.05. - 08.05.2016 |
23. Esterwegen |
25.05. - 28.05.2017 |
24. Löningen |
10.05. - 13.05.2018 |
25. Werlte |
30.05. - 02.06.2019 |
Über den Autor
Vorwort
Wir sind gut ein Dutzend Freunde, die sich schon lange kennen, und treffen uns seit Jahren regelmäßig am Freitagabend in der Kulturkneipe Taraxacum im ostfriesischen Leer. Der Gedanke, gemeinsam eine Fahrradtour zu unternehmen, wurde aus dieser Runde, der Taraxrunde, geboren.
1995 war es so weit: Prolog auf der Fehnroute. Die Erlebnisse während der Fahrradtouren basieren auf Rudis – also meinen – Tagebüchern (der Stern hatte kein Interesse) sowie Erzählungen und Aufzeichnungen der Beteiligten. Ein Sonderfall ist die Winterreise nach Österreich ohne Fahrräder.
Die Ereignisse werden mit einer Portion Humor erzählt, Heimatkunde inklusive, und erheben nicht den Anspruch auf die absolute Wahrheit.
Was ist Wahrheit? Eine spöttische Frage! Pilatus, der sie stellte, ging fort, ohne die Antwort abzuwarten. Er wusste, es gibt keine wahre und richtige Antwort.
Das Geheimnis der Touren: Die Beteiligung ist frei und offen für alle Interessierten. Erfahrene Teilnehmer beanspruchen keine Führungsaufgaben. Die Tagestouren werden gemeinschaftlich ausgesucht.
Das Taraxacum gibt es immer noch. Es hat in den vergangenen 25 Jahren mehrmals den Besitzer gewechselt. Nennt sich jetzt Tatort Taraxacum, die Krimi-Kathedrale im Mordwesten.
Die Öffnungszeiten haben sich nach einem Konzeptwechsel im September 2018 dramatisch geändert. An unserem geliebten Freitagabend hat das Taraxacum bereits ab 18 Uhr geschlossen. So sahen wir uns gezwungen, eine andere Lokalität zu suchen. Wir sitzen seitdem im Restaurant Schöne Aussichten zusammen, nennen uns aber weiterhin die Taraxrunde.
1Unsere erste gemeinsame Fahrradreise der Taraxrunde führt uns über die Fehnroute, die vor unserer Haustür liegt. Unter Reise wird die zeitweilige Aufgabe des ständigen Wohnorts unter Inkaufnahme eines notwendigen Ortswechsels verstanden, um früher oder später an den Ausgangsort zurückzukehren. Zwischen Hin- und Rückreise können Tage, wenn nicht Wochen vergehen. Ostfriesen verlassen ungern ihre Heimat und fühlen sich auf bekannten Wegen sicher und geborgen.
Wir sind 11 Teilnehmer: |
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Gisela Kuhlmann |
Marike Flessner |
Waltraud Degen |
Hartmut Groenewold |
Ralph Schumann |
Waltraut Wiemer |
Heidi Wahnsiedler |
Peter Wessel |
Werner Wahnsiedler |
Karlheinz Petersitzke |
Rudi Wahnsiedler |
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Die Heimatorose, das krankhafte Heimweh, ist die Sehnsucht nach dem Zuhause in der Fremde. Heimat ist eine räumlich soziale Einheit mittlerer Reichweite, in welcher der Mensch Sicherheit und Vertrauen erfahren kann, sowie ein Ort tieferen Vertrauens. Im Sprachgebrauch wird Heimat auf den Ort angewendet, in den ein Mensch hineingeboren wurde und in dem die frühesten Sozialisierungserlebnisse stattfanden. 90 Prozent aller Infizierten treffen sich in Selbsthilfegruppen, den sogenannten Heimatvereinen, ziehen Trachten an und singen völkische Lieder. In diesem Zustand besteht eine geringe Heilungschance. Artverwandt mit der Heimatorose und sehr speziell ist die Osteorose, an der wir Ostfriesen leiden. Dabei verstärkt sich der Leidensdruck zusätzlich durch die Abwesenheit der plattdeutschen Sprache. Eine vielversprechende Therapie stellt es dar, die Heimat für eine gewisse Zeit zu verlassen. Man muss darauf achten, nicht zu lange abwesend zu sein, sonst brechen am neuen Ort die unerwünschten Symptome der Heimatorose aus. Sie äußern sich in einer Sehnsucht und melancholischen Gedanken an das Zuhause. Das Gefühl, nicht hierher zu gehören, und das Verlangen, alles hinter sich zu lassen und nach Leer in Ostfriesland heimzukehren. Wir sind darauf vorbereitet und bleiben zur Einübung lediglich zwei Nächte weg.
Ich höre das Lied Wochenend und Sonnenschein der Comedian Harmonists mit der Hoffnung, Petrus möge uns für die kommenden Tage schönes Wetter bescheren. Für die Übernachtungen habe ich Heuhotels ausgesucht, die rustikale Alternative zum Hotel. Ich informiere meine Mitreisenden, dass sie einen Schlafsack einpacken müssen, weil wir ohne Bettdecken auf Stroh oder Heu schlafen werden. Die Frage nach dem Unterschied kommt mit Sicherheit. Stroh ist ein Sammelbegriff für gedroschene und anschließend getrocknete Halme und Stängel, Heu ist die getrocknete oberirdische Biomasse von Grünlandpflanzen. Wir lassen uns überraschen, auf welcher Unterlage wir unsere Schlafsäcke ausbreiten werden.
Freitag, 15.09.1995
1. Etappe: Leer - Timmel
Ein Anruf von Kalle lässt mich erschrecken. Er muss mit Gisela zum Arzt. Ein Hund hat ihr in die Lippe gebissen. Die beiden werden versuchen nachzukommen.
Peter hat sich einen Kindheitstraum erfüllt und wohnt im Bahnhaus direkt am Bahnübergang Loager Weg. Das auf der anderen Seite der Gleisanlage gelegene Schrankenwärterhäuschen steht nicht mehr. Peter darf dennoch Bahnwärter spielen. Er hat die Aufgabe, die Schranken zu schließen, die Weichen zu stellen, Laternen für Beleuchtungszwecke anzuzünden und nach Tagesanbruch zu löschen.
Wir treffen uns nachmittags am Bahnübergang. Peter lässt die Schranken und nicht die Hosen runter, damit wir uns ungefährdet vor seinem Bahnhaus einfinden können.
Die Fehnroute ist ein als Rundfahrstrecke angelegter Radfernweg, der im nordwestlichen Teil von Niedersachsen durch Ostfriesland, das Emsland sowie den Landkreis Cloppenburg führt. Das Grundwort Fehn ist eine Nebenform des Wortes fenn oder fenne, das im Altdeutschen ein niedriges Wiesenland mit moorigem Untergrund bezeichnet. Eng damit verwandt ist das niederländische veen und das englische fen.
Auf der Fehnroute bei Siebenbergen überqueren wir die Autobahn 31 und fahren auf der Feldstraße weiter. Nach Passieren der Gemeindegrenze Moormerland heißt sie jetzt Logabirumer Straße. In Moormerland erzählt man sich, dass hinter Siebenbergen das wunderschöne Schneewittchen mit ihren sieben kleinwüchsigen Brüdern in einer Wohngemeinschaft gelebt haben soll. Unerfahrene Chronisten sprechen von drei Halbwüchsigen, die mit ihren Eltern und Schwester Gretel in Dreibergen als Untermieter bei Frau Holle im ersten Mehrgenerationenhaus der Geschichte gewohnt haben sollen.
Fest steht, dass Schneewittchen an Narkolepsie litt und von ihren sieben nahen Verwandten im Schichtdienst wachgehalten werden musste. Erst durch die Heirat mit einem vorbeiziehenden Adligen aus dem Hause Ukena wurde sie durch fortwährende Leibesübungen um den Schlaf gebracht.
Unser Tagesziel ist das Heuhotel Onneken in Timmelerfeld:
Wübke Onneken - Eichenstraße 2 - 26629 Timmel.
Wir rollen am Ortshinweisschild Jheringsfehn vorbei. Sebastian Eberhard Jhering und seine Nachfahren investierten erhebliche Teile ihres Vermögens in den Ort, der ab 1754 den Namen Jheringsfehn erhielt.
Unterwegs auf der Rudolfswieke machen wir an einem Toto-Lotto-Bus halt. Um Irrtümern vorzubeugen: Die Wieke ist nicht nach mir benannt, einer aus der Sippe der Ihering hieß Rudolf. Das Wort Wiek bedeutet Weiche, im Sinne von Abbiegung oder Abzweigung.
Der Tolobus ist ein rollender Einkaufsladen mit Dingen des täglichen Bedarfs. Wer möchte, kann jetzt einkaufen. Der Verkauf von Losen läuft nebenher. Peter kauft spontan einen Lottoschein und unterschreibt den Verlustzettel mit sechs Kreuzen. Ich weigere mich teilzunehmen. Meine Frau Heidi kündigt an, dass sie im Gewinnfall keinen Pfennig abgibt. Frechheit! Ich werde mich von ihr trennen müssen.
Nach Ankunft in Timmelerfeld finden wir die Unterkunft nicht auf Anhieb, weil wir nach einem Bauernhof Ausschau halten. An der Adresse steht ein schlichtes Einfamilienhaus. So haben wir uns das Heutel nicht vorgestellt. Die Enttäuschung ist uns anzusehen. Über eine Bodentreppe mit Holzhandlauf gelangen wir auf den Dachboden einer Doppelgarage. Das Heu liegt ausgeschüttet zu beiden Seiten unter der Schräge, was einladend aussieht. Der Mittelgang ist mit einem komfortablen Teppich ausgelegt. Unsere Fahrräder können wir in der Garage unterstellen. Die Dusche macht einen guten Eindruck.
Timmel wurde erstmals am Ende des 9. Jahrhunderts als Timberlae, was Holz oder Baum bedeutet, erwähnt. Ein einheimischer Holzfäller ist in die Staaten ausgewandert und singt als Justin Timberlake popartige Popmusik.
Gisela und Kalle sind tatsächlich nachgekommen. Sie werden aber nicht mit uns übernachten, weil Giselas Lippe genäht wurde und sie auf ärztlichen Rat nicht im Heulager schlafen soll. Der hinterhältige Hund wird als Pekinese enttarnt und zum Verzehr beim Chinesen freigegeben.
Ralph reist direkt von Oldenburg an. Ich sehe ihn aus dem Nebel auftauchen. Er ist um 19 Uhr bei uns. Die Entfernung nach Timmel zurückzulegen war von Leer keine Herausforderung. Wir alle haben großen Hunger und begeben uns zum Restaurant Zum Preußischen Adler, seit 93 Jahren im Besitz der Familie Janssen. Liegt mitten im Ortskern von Timmel an der Leerer Landstraße, leichte vier Kilometer von unserem Heuhotel entfernt. Die Küche ist bekannt für ihre vielseitigen Fischgerichte. Anschließend suchen wir eine Kneipe auf und gönnen uns das eine oder andere Bier. Vor Ort einen letzten Hefetrunk.
Meine Haare zeigen erste graue Strähnen. Grau ist das neue Blond, James Blond mit der Lizenz zum Tönen. Wir haben unsere Schlafsäcke auf dem Heu ausgebreitet, schlüpfen hinein und sehen einer ruhigen Nacht entgegen.
Samstag, 16.09.1995
2. Etappe: Timmel - Tange
In der Nacht haben wir den Umständen entsprechend gut geschlafen. Die Nutzung der einzigen Dusche und Toilette bedarf einer gewissen Disziplin. Auf der Terrasse mit Campingmöbeln werden wir mit einem außerordentlich guten Frühstück verwöhnt. Der Preis für die Übernachtung inklusive des üppigen Frühstücks beträgt 20 Mark. Wir verabschieden uns von der freundlichen Gastgeberin und fahren auf der Fehnroute weiter. Wir erreichen kurze Zeit später Großefehn. Das Wetter meint es gut mit uns, die Sonne scheint.
Geld ist ein allgemein anerkanntes Tausch- und Zahlungsmittel. Geld kann man aus dem Nichts erschaffen, man muss wissen wie. Ralph entlockt einem Automaten mit einer simplen Plastikkarte die begehrten Scheine. Der erste Geldautomat wurde 1968 von der Kreissparkasse Tübingen aufgestellt.
Unser Tagesziel ist das Heuhotel Oltmanns in Tange:
Erika Oltmanns - Hauptstraße 85 - 26689 Apen/Tange.
Waltraud und Hartmut reisen heute an. Ich telefoniere mit ihnen und vereinbare, dass wir uns in Brückenfehn treffen. In Wiesmoor machen wir in einem Eiscafé eine ausgedehnte Pause. Die Blumenhalle gilt als Wahrzeichen des Ortes. Sie wurde 1969 für wechselnde Gartenausstellungen errichtet. Wir gehören nicht zu den Touristen, die im Durchschnitt 2,9 Tage in der Stadt verbleiben.
Die Streusiedlung Remels mit ihren 3400 Einwohnern liegt im Zentrum der Gemeinde Uplengen. Bei Gellermann gibt es legendäre Frikadellen. Die Kampfbrötchen bestehen aus Semmelkrümeln der vergangenen Tage, gemischt mit zerhacktem Rind und Schwein. Sie werden unter den Achselhöhlen zu aromatischen Bällchen geformt und in siedendes Fett geworfen. Wer in Berlin Heißhunger auf die Klopse hat, bekommt sie nur, wenn er nach Buletten fragt.
Uns interessiert, dass Remels auf Podsolboden gegründet wurde. Werner weist darauf hin, dass das Wort Podsol aus dem Russischen kommt und frei übersetzt Ascheboden bedeutet. Unsere Bodenkundler in der Gruppe sind sich sicher, hier waren in der Frühzeit eine stattliche Anzahl Raucher unterwegs. Eine bescheuerte Erklärung. Dass im Norden ein Bereich mit Plaggenesch grenzt, unterlagert von Pseudogley-Braunerde, und im Südwesten ein Gleygrund vorkommt, kann uns nicht begeistern.
Waltraud und Hartmut warten auf uns in Brückenfehn. Der Ortsname bezeichnet die Lage der Siedlung, die einst an einer Brücke über die Hollener Ehe angelegt wurde. Wir legen auf einer Bank eine kleine Pause ein und radeln anschließend ohne Zwischenstopp nach Augustfehn. Um den an der Gründung beteiligten Großherzog Paul Friedrich August zu ehren, äußerten die Kolonisten im Dezember 1850 den Wunsch, die neue Siedlung Augustfehn zu nennen.
Unser nächstes Ziel ist der historische Bahnhof Augustfehn. Hier wurde Anfang Mai 1992 die Deutsche Fehnroute offiziell eröffnet. Das Bauwerk wurde von der Bahn aufgegeben. Der Bahnsteig blieb als Haltestelle für den Nahverkehr erhalten. Das gesamte Gebäude wurde 1994 mit großem Aufwand restauriert und beherbergt heute das Hotel-Restaurant Fehntreff. Im Biergarten müssen wir zwingend einkehren. Damit gehen wir sicher, nicht zu früh im Heuhotel anzukommen.
Um 18 Uhr sind wir in Tange. Die liebenswürdige Stallbesitzerin Erika Oltmanns zeigt uns die Räumlichkeiten, in denen wir im Stroh übernachten werden. Die Schlafstätte ist durch eine flexible Kunststoffwand vom Stellplatz unserer Fahrräder getrennt. Kurz zuvor standen hier Milchkühe, die nichts ahnend ihre Unterkunft verlassen mussten. Der Tierschutzverein ist informiert und stellt die Bedingung, den Kühen Frischmilch abzukaufen und sie auf keinen Fall auf Laktose anzusprechen. Die Milchbauern protestierten vor Kurzem bundesweit gegen Laktoseintoleranz. In Deutschland sind annähernd 15 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung dermaßen laktoseintolerant, dass sie nichts Besseres zu tun haben, als mit heftigen Darmwinden, Übelkeit und Magendrücken bis hin zu Durchfall und Erbrechen ihren Mitmenschen auf den Geist zu gehen, wenn sie von Milch oder Milchprodukten lesen oder hören.
Das findet Frau Oltmanns bedauerlich und demonstriert für mehr Toleranz gegenüber Milchkühen. Der Verband deutscher Milchviehhalter fordert, anstößige Äußerungen wie Milchmädchenrechnung, blöde Kuh und Milchbubi unter Strafe zu stellen. Ich erkläre mich solidarisch und trinke einen Liter Frischmilch auf ex.
Heuhotels verfügen allgemein über eine Dusche und Toilette. Um uns nicht in die Quere zu kommen, arbeiten wir einen genauen Benutzungsplan aus. Nur was für studierte Leute der Betriebswirtschaft. Wir zippeln, wer als Erster dran ist. Nachdem alle frisch geduscht sind, fahren wir nach Barßel ins griechische Restaurant Zorbas in der Industriestraße. Wir sind von dem guten Essen mehr als begeistert und ziehen einen Vergleich mit dem Griechen in unserer Heimatstadt zu dessen Nachteil.
Auf der Rückfahrt machen wir einen Abstecher in die berüchtigte Diskothek in Tange. Sie besteht seit mehr als zehn Jahren. Am Pfingstsonntag beginnt ab 8 Uhr auf dem Gelände der Frühtanz. Der ultimative Megaevent im Norden. Jeden Freitag und Samstag wird hier bis zum Umfallen gefeiert. Die Lautstärke ist ohrenbetäubend. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir für diese Veranstaltung zu alt sind, und darauf warten, als Eltern enttarnt zu werden, die nach ihrem Nachwuchs Ausschau halten, um ihn nach Hause zu holen.
Im Strohtel sitzen wir auf der Terrasse und spülen Bier hinunter. Die Ruhe auf dem Bauernhof ist wohltuend. Die Lottozahlen wurden von einer grinsenden Blondine, wie nicht anders zu erwarten, falsch gezogen. Heidi und ich sind wieder zusammen. Dann geht‘s ab ins Schlaflager. Wir atmen den frischen würzigen Strohduft ein. Einpennen ist schwierig. Ein nicht auszumachendes Aggregat erzeugt ein permanentes nerviges Tacktack-Geräusch. Ich stopfe mir Stöpsel in die Ohren und gleite langsam in den Schlaf.
Sonntag, 17.09.1995
3. Etappe: Tange - Leer
Das Frühstück wird von übermüdeten Verwandten des Hauses serviert, die erst heute Morgen um 5 Uhr von einer Hochzeit ins Bett gekommen sind. Wir klopfen das Stroh aus den Schlafsäcken und packen unsere Besitztümer in die Fahrradtaschen. Die Rindviecher kehren in ihre Unterkunft zurück und freuen sich auf das vorgewärmte Futter. Wir sind startklar und formieren uns zur Abfahrt. Die Vorhersage sagt fahrradfreundliches Wetter voraus. In Barßel verabschiedet sich Ralph. Er fährt nach Oldenburg zurück. Die Alleinstellungsmerkmale von Barßel in der Umgebung sind der Hafen und die Geschichte als Schifffahrtsort.
In Ostrhauderfehn bei Plünnen Rudi, so nennen die Einheimischen das Kaufhaus Wreesmann, kehren wir in ein Restaurant ein und bestellen ein Getränk. Der Name hat nichts mit mir zu tun und beschreibt nicht mein Äußeres. Plünnen steht für Kleidung von Karl Feldlager und Rudi ist die Verhöhnung meines althochdeutschen Rufnamens.
Auf dem Restaurantschiff am Gasthof Zur Alten Schleuse halten wir uns als Nächstes auf. Heidi und Peter machen sich in einem Strandkorb breit. In gemütlicher Position kommt Peter die Idee, weil er nächstes Jahr 50 Jahre alt wird und Heidi 40, gemeinsam zum 90. Geburtstag eine Fete auszurichten.
Das Fest findet tatsächlich am 10. August 1996 statt. Ort der Fete ist Peters Garten hinter dem Bahnhäuschen. Vom Wetter werden wir nicht verwöhnt. Im Laufe des Abends geht ein stürmischer Schauer nieder, der uns zusetzt. Peter hat in weiser Voraussicht ein Vorzelt konstruiert, das den heftigen Regen größtenteils abwehrt.
Alle Gäste aufzuführen wäre aussichtslos. Unsere komplette Taraxrunde nimmt an der Feier teil. Von Peters und Heidis Seite sind Familie, Freunde und Arbeitskollegen dabei. Weiter konnten wir unsere Tochter Neele für die Feier gewinnen. Berauschender Hanfgeruch überzieht das Gelände.
Der Höhepunkt des Abends ist die Aufführung der legendären Parodie Der 90. Geburtstag oder Dinner for One. Jeder kennt diesen 18-minütigen Sketch des englischen Komikers Freddie Frinton mit seiner Partnerin May Warden. Im deutschen Fernsehen lief der Sketch das erste Mal am 9. Dezember 1961 in der Livesendung Lassen Sie sich unterhalten, die von der Sängerin Evelyn Künneke moderiert wurde. 1968 war eine Farbaufzeichnung des Sketches geplant, die aufgrund des plötzlichen Todes Frintons nicht mehr realisiert wurde. Kaum zu glauben, dass die Briten bis Silvester 2018 warten müssen, bevor die Parodie im Fernsehen gezeigt wird.
Unsere Mannschaft hat ein Stück Garten zur Tribüne umgestaltet. Die Spielleitung bittet Heidi und Peter auf die Bühne. Ohne Vorahnung wird Heidi zur Miss Sophie und Peter zum Butler James. Cornelia und Alfred lesen den Text zum Ablauf der Ereignisse. Ich bin mit der Schlussszene unter der Bedingung einverstanden, dass Peter die Aufforderung »Well, I’ll do my very best« nicht wörtlich nimmt und so versteht, das angekündigte Lagerfeuer zu entfachen. Heidi und Peter sind für den Oscar nominiert.
Am Klostermoor halten wir für ein Fotoshooting an. Neben dem Fotografen müssen andere Personen und Mittel eingebunden sein. Zum Posing bitte ich Herrn Wessel vor die Kamera. Wir platzieren ihn neben der Wegbezeichnung Weihnachtsmannweg, um nachzuweisen, dass es den Nikolaus tatsächlich gibt. Peter ist der vollkommene Kandidat, weil er wie sein Vorbild über eine gesichtumrundende Körperbehaarung verfügt, dazu im vorbildlichen Grau. Ich überreiche Peter heimlich eine Visitenkarte von James Blond.
Wir sind in Papenburg. Der Ort ist Deutschlands älteste und längste Fehnkolonie. Das Forum Alte Werft veranstaltet eine Art Oktoberfest. Da kommen Weißwürstchen wie gerufen. Die einst verlassenen Fabrikhallen der ehemaligen Meyer Werft wurden seit dem Jahr 1992 zu neuem Leben erweckt. Das Gebäude ist heute in verschiedene Versammlungsräume unterteilt. Neben der Stadthalle mit 900 Sitzplätzen existiert noch das Theater auf der Werft mit 240 Plätzen. Außerdem ist hier die städtische Galerie untergebracht.
Über Mitling-Mark, Grotegaste, Driever und Esklum fahren wir am Deich entlang und müssen in diesem Abschnitt gegen spürbaren Wind anfahren. Um den Abschluss der Tour zu würdigen, fahren wir in die Fußgängerzone, um in der Eisdiele Venezia gemeinsam Eis zu essen.
Die Fahrradreise ist gut angekommen und wir beabsichtigen, sie im nächsten Jahr zu wiederholen. Auf der Fehnroute wurden circa 180 Kilometer zurückgelegt, keine Ausfälle. Selbst das Wetter hat mitgespielt und war für September mehr als gut.
Wir haben uns alle gut vertragen, was in einer Gruppe nicht als selbstverständlich gilt. Konflikte rund um persönliche Wünsche, Infragestellung der Ziele und Regeln, Misstrauen untereinander, Spaltung in zwei Subgruppen, Machtkampf und sonstige Störungen sind uns fremd. Uns bereitet eher Sorge, dass einzelne Teilnehmer an der arglistigen Osteorose gelitten haben.
2Hartmut und Waltraud haben die Tour geplant. Zwei Tage sind wieder vorgesehen, damit der hinterhältigen Osteorose wenig Zeit bleibt, sich auszubreiten. Mich tangiert sie überhaupt nicht, weil ich kein Ostfriese bin. Das Planungsteam verschickt eine Einladung zur Reise mit der Aufforderung: »Überwinde deinen inneren Schweinehund, nimm ein Tourenfahrrad o. ä. mit, nimm Holländische Gulden o. ä. mit, nimm einen Jugendherbergsschlafsack o. ä. mit, nimm dir ein gutes Wochenende Zeit und triff dich mit ein paar netten Leuten auf dem Parkplatz Große Bleiche (Gallimarktplatz) gegenüber der Bäckerei Bruns.«
Der Schweinehund ist in der Studentensprache des 19. Jahrhunderts als grobes Schimpfwort bekannt und geht auf den zur Wildschweinjagd eingesetzten Sauhund zurück. Man verwendete kleine feinnasige Jagdhunde, die Saufinder, jagdtriebige Hunde von mittlerer Größe, die Saurüden, sowie große schwere Jagdhunde, die Saupacker. Die an der Sauhatz beteiligten Jäger waren waschechte Saukerle, ein weiteres Schimpfwort für Halunke, Lump, Scheusal, Schuft, Schwein oder Unhold.
Den Schweinehund zu besiegen, ist die Fähigkeit, sich zu motivieren, um innere Hemmnisse zu überwinden. Ist das geschafft, lässt man den Sauhund raus, um sich seiner momentanen Stimmung hinzugeben. Da jedem ein Schweinehund innewohnt, erfordert es Selbstdisziplin, ihn zu besiegen. Somit sagen wir unwiderruflich unsere Teilnahme zu.
Wir sind 16 Teilnehmer: |
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Hartmut Groenewold |
Karlheinz Petersitzke |
Ralph Schumann |
Heda Anders |
Maria Dunker |
Rudi Wahnsiedler |
Heidi Wahnsiedler |
Marike Flessner |
Waltraud Degen |
Hela Lautner |
Michael Marks |
Waltraut Wiemer |
Ida Vehrs |
Peter Wessel |
Werner Wahnsiedler |
Joachim Franzke |
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Die Große Bleiche ist ein großer zentraler Platz in der Altstadt. Zur Zeit der Leinenweberei wurden Tücher zum Bleichen in die Sonne gelegt. Seit 1905 findet hier der Gallimarkt statt, das größte ostfriesische Volksfest.
Samstag, 28.09.1996
1. Etappe: Leer - Scheemda
Der Wecker ist eine arglistige Erfindung des Menschen, um ihm zu einer zuvor eingestellten Uhrzeit den Schlaf zu rauben. Dies geschieht durch ein drastisches Geräusch.
Befänden wir uns im Rom der Kaiserzeit, wäre es die Aufgabe von Sklaven gewesen, den Schlafenden vereinbarungsgemäß wachzurütteln. Ein gefährlicher Job, weil nach dem Aufwachen in einer kurzen Phase von Verwirrung oder Desorientiertheit Gewaltanwendungen drohen. Viele Wecker landen heutzutage in dieser kritischen Situation irreparabel an der Schlafzimmerwand.
Ich habe den Wecker auf 8 Uhr gestellt. Er funktioniert, und mit einem unüberhörbaren Weckton werde ich wie vorgesehen unsanft aus dem Schlaf gerissen.
Heidi, Maria und ich haben unsere Sachen beieinander und freuen uns auf die anstehende Tour. Neele ist nett und leiht Maria ihr Fahrrad für die Tour.
Wir treffen uns um 9.30 Uhr auf der Großen Bleiche, wie in der Einladung gebeten. Auf einer weiß getünchten Wand lesen wir die Ermahnung »Kein Zirkus auf Kosten der Tiere«. Was will uns der Verfasser damit sagen? Geht es darum, dass seit den 1990er Jahren die Zirkuswelt mit Kritik von Tierschutzverbänden und Tierrechtlern konfrontiert wird, dass die Zirkusbetreiber exotische Tiere nicht artgerecht halten?
Unser Tagesziel ist das Hostel Esbörg in Scheemda:
Esbörgstraat 16 - 9679 BT Scheemda - Niederlande.
Wir fahren nach Weener und kaufen bei Aldi ein, manche fahren zum Combi-Markt, der mit dem Slogan »Gut einkaufen, prima sparen« wirbt. Keine informative Aussage. Als Kaufen bezeichnet man den Vorgang, durch Tausch gegen Papier- oder Metallstücke Dinge zu erwerben, um sie zu benutzen oder wegzuwerfen.
Aldi ist im Übrigen eine Abkürzung von Aladin, der im frühen 1. Jahrhundert im Vorderen Orient damit anfing, preisgünstig Öllampen zu verkaufen. Im Mannheimer Stadtteil Waldhof erprobte Aldi Süd 2005 ein neues Marktkonzept mit dem Titel Tausendundeine Gelegenheit. Im Laden wurden nicht abgesetzte Schnäppchenprodukte zu nochmals stark ermäßigten Preisen verkauft. Da sich das Konzept nicht bewährte, wurde der Laden 2007 geschlossen.
Erster technischer Halt. An Marias, nein, an Neeles Fahrrad verabschiedet sich der Vorderreifen. Habe ich das Fahrrad vorher nicht richtig geprüft? Was für eine Nachlässigkeit.
In einem Fahrradladen bedient mich ein unwissender Verkäufer, der nicht erkennt, welchen Mantel er mir verkaufen soll. Er müsste sehen, dass unsere Fahrräder mit 28-Zoll-Reifen ausgestattet sind und der Mantel mit Sicherheit ein 622er sein muss, was den Durchmesser der Felge bezeichnet. Über die Breite des Reifens hätten wir streiten können. Was er nicht wissen muss, ist, dass der Schotte Robert William Thomson den vulkanisierten Gummireifen 1850 zum Patent angemeldet hat. Er fand keine Abnehmer für seine Idee, obwohl der Reifen erfolgreich getestet worden war. Ich übernehme die Suche nach der passenden Fahrradbereifung und finde glücklicherweise noch ein Exemplar in der benötigten Größe. Ich erhalte das Angebot, als Teilhaber in das Geschäft einzusteigen. Weil ich kein Plattdeutsch spreche, lehne ich höflich ab.
Bei Oudeschans überqueren wir die niederländische Grenze, ohne aufgehalten zu werden. Das haben wir dem Schengener Übereinkommen vom 14. Juni 1985 zu verdanken, mit dem die Grenzkontrollen aufgehoben wurden.
Über Bellingwolde, Wedderheide und Wedde nach Oude Pekela. Wir kehren im Café Lunchroom Mullers´s Hörntje in der Straße de Helling in der Gemeinde Oude Pekela ein. Ein typisches niederländisches Pannenkoekenhuis. Pekela trägt seinen Namen seit 1599, nachdem Siedler aus dem Westen der Niederlande Land entlang des Flusses Pekel erworben hatten. Man brauchte den dort vorkommenden Moorboden zur Torfgewinnung. Da es ein Altes (Oude) Pekela gibt, muss es auch ein Neues (Nieuwe) Pekela geben, das wir allerdings links liegen lassen.
Der zweite technische Halt – und erneut Neeles Fahrrad. Das darf jetzt nicht wahr sein, diesmal ein Platten am Hinterrad! Gut, dass ich einen Ersatzschlauch dabeihabe.
Wir kommen durch Winschoten und reservieren vorsorgend für den Abend einen Tisch beim Chinesen. Der Ort ist bekannt als Mühlen- und Rosenstadt. Populär ist Mitte Juli die jährliche Braderienacht, die Horden kauflustiger Besucher in die Stadt lockt. Braderie bedeutet so viel wie Straßen- oder Trödelmarkt. Die Braderie läutet am Freitag die Nacht von Winschoten ein, beginnt um 20 Uhr und endet am nächsten Morgen um 4 Uhr. Im gesamten Zentrum finden bis Sonntag Auftritte statt. Die LiveBühne steht auf dem Marktplein und das DiscjockeyPodium auf dem Schönfeldplein. Am Deutschen Treff gibt es deutsches Bier und typisch deutsche Bratwurst und Sauerkraut.
Um 17 Uhr erreichen wir entspannt Scheemda. 1990 wurden Midwolda und Nieuwolda mit Scheemda zusammengelegt. Das Dorf hat einen Kleinbahnhof an der Eisenbahnlinie. Der Kanal Winschoterdiep ermöglicht es der Binnenschifffahrt, den kleinen Hafen von Scheemda anzulaufen. Noch weitere Kanäle durchqueren die ehemalige Gemeinde. Diese sind für Kanus und kleine Jachten befahrbar. Dem Wassersporttouristen zuliebe wurden zahlreiche kleine Campingplätze angelegt.
Über die Hauptstraße, durch das freundliche Dörfchen Scheemda gelangen wir zum historischen Hostel. Dieses Groningen-Gut aus dem 18. Jahrhundert war einmal das Wohnhaus einer wohlhabenden Familie. Auf dem Treppenabsatz spürt man noch die jahrhundertealte Atmosphäre. In den Stilzimmern wähnt man sich in vergangenen Zeiten.
Wir übernachten in einem großen Raum, wie es sich für eine Jugendherberge gehört. Ein großer Waschraum für alle, wie zu Schulzeiten. Nachdem unsere geschundenen Körper auf Hochglanz gebracht wurden, fahren wir nach Winschoten, acht Kilometer entfernt, zum vorbestellten Chinesen. Das Essen ist kein Brüller. Im Dunkeln zurück nach Scheemda.
Der Hostelwirt lässt uns noch ein paar Biere herunterspülen, bis wir die nötige Bettschwere haben. Die Bezeichnung Hostel hat sich heute in Deutschland wie international für Unterkünfte etabliert, die sich speziell an Rucksacktouristen richten. Individuell Reisende mit niedrigem Budget.
Wir wundern uns, wie schnell das Karlchen ins Bett verschwunden ist. Der Bengel legt sich ohne Bedenken mit seiner Tagesgarderobe auf die Herbergsmatratze. Matratzen sollen in Verbindung mit den geeigneten Lattenrosten die Regeneration des Körpers unterstützen. Ob diese Liegematten zur Erholung beitragen, wage ich zu bezweifeln.
Sonntag, 29.09.1996
2. Etappe: Scheemda - Leer
Michael und Werner finden kein Ende. Als sie weit nach Mitternacht ihre Betten ansteuern, begegnen sie Kalle, der sich auf dem Weg zur Toilette befindet. Sie sind angesichts seiner Tageskleidung erstaunt, dass er früh auf den Beinen ist. Wir schlafen unruhig. Mit vielen Menschen in einem Raum zu übernachten sind wir nicht gewohnt.
Das Karlchen hat es gut. Kommt am frühen Morgen aus dem Bett und ist angezogen. Wir müssen uns erst noch aus unserer Nachtgarderobe schälen und den Tagesdress überwerfen.
Ziel der Wettervorhersage ist die Prognose eines Zustandes der Atmosphäre zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Gebiet. Eher nutzlos, weil man das Wetter nicht ändern kann, selbst dann nicht, wenn man weiß, wo es stattfinden wird.
Bis zu einem gewissen Maß kann ein Laie eine Prognose für seine Umgebung erstellen. Man braucht dazu eine gute Beobachtungsgabe. Ich sehe in die Wolken und sage Regen voraus – und tatsächlich, es regnet! Wir hatten vor, unter wolkenfreiem Himmel mit Sonnenschein unsere Tagestour zu bestreiten. Doch daraus wird nichts.
Kalle will nicht mehr weiterradeln und ab Winschoten mit dem Zug nach Hause fahren. Wir überreden ihn, nicht aufzugeben. Er ist davon überzeugt, dass man bekloppt sein muss, bei diesem Wetter Fahrrad zu fahren.
Wir rödeln auf und ziehen gleich die Regenklamotten an. Damit wir gleich wissen, wo der Hammer hängt, weht uns kräftiger Wind bedrohlich um die Ohren. Zuerst werden wir mit Rückenwind gelockt, um dann in stürmischen Gegenwind hineinzugeraten.
Auf der geraden Strecke in Richtung Oostwold wird es richtig ungemütlich. Werner und ich fahren zeitweise an der Spitze, um der Gruppe Windschutz zu bieten. Meine Fresse, ist das anstrengend. Auf einem Plattenweg mit zwei Reihen fahren wir an einem kleinen See vorbei. Da sieht Peter voller Begeisterung ein Entenpaar am Ufer vorbeiziehen, eine wahrhaftig ornithologische Sensation, und geht voll in die Bremsen. Geht‘s noch? Wir können im letzten Moment ausweichen.
Weil die Familie der Entenvögel die artenreichste aus der Ordnung der Gänsevögel ist – sie umfasst 47 Gattungen und 150 Arten –, kann uns Peter nicht sagen, für welche Enten er blitzschnell gebremst hat. Wir tippen auf die Schnatterente, die vereinzelt in Friesland, in Nord-Holland und auf den niederländischen Inseln wie zum Beispiel Ameland brütet. Die Amsterdamente (Anas marecula) kann es nicht gewesen sein, die ist ausgestorben.
Wir radeln weiter und ich frage mich, was sich die Konstrukteure dabei gedacht haben, so viele Teile am Fahrrad zu verbauen. Aus wie vielen Teilen ein Fahrrad besteht, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Nehmen wir nur die Kette, die aus rund 500 Teilen besteht und angeblich ein Drittel der Gesamtteile ausmachen soll. Demnach hätte das Fahrrad circa 1500 Teile. Kalles Fahrrad besitzt in der Grundausstattung nicht die hochgerechnete Anzahl und beweist kurze Zeit später, dass er mit noch weniger auskommt. Überflüssiges Zubehör löst sich von seinem Fahrrad und bleibt den Niederländern überlassen.
In Oostwold befindet sich ein Café, das wir förmlich erstürmen, weil wir alle freien Plätze belegen. Wir ziehen unsere Regenklamotten aus. Sämtliche Fensterscheiben beschlagen blitzartig. Die Wirtin hat unsere Bedürfnisse augenblicklich erkannt und stellt eine Kanne Kaffee auf den Tisch. Wir schießen Fotos, die beweisen, dass wir total fertig sind. Feste Nahrung hilft uns, um nicht auf der restlichen Strecke abzuschmieren.
Weiter über Finsterwolde nach Nieuweschans. Um 1970 wurde hier eine unterirdische Quelle mit heilkräftigem Wasser entdeckt. Ein Thermalbad wurde errichtet und Nieuweschans wurde auf diese Weise zu einem für die Niederlande einzigartigen Kurort.
Eine technische Pause, Joachims Reifen hat einen Platten. Er kommt ohne unsere Hilfe zurecht. Wir radeln bei unwirklichem Wetter über Bunde nach Weener.
Der Ort Weener ist weit über 1000 Jahre alt. Es waren Mönche aus dem Kloster Werden, die um das Jahr 900 eine erste hölzerne Kirche auf dem heutigen Alten Friedhof bauten. In den Heberegistern des Klosters Werden wurde der Ort im 10. Jahrhundert Uuianheri genannt. Seit 1460 ist der heutige Name üblich.
Es ist Michaelismarkt in Weener. Abgekämpft schleifen wir über die Wiesen. Unsere Körper sind so was von durchgefroren. Warum machen wir das?
Auf dem Fuß- und Radweg neben der Bahnstrecke Leer-Groningen überqueren wir die Friesenbrücke, eine der größten Eisenbahnbrücken in Deutschland, um auf die besser windgeschützte Seite der Ems zu gelangen. Mit ihren 335 Metern Länge, einem Schiffsdurchlass von 25 Metern, einer Schienenhöhe von 7,3 Meter über Normalnull sowie einem Klappteil von 29,1 Metern eine technische Sehenswürdigkeit.
Bei Kloster Muhde verlassen wir den Deichverteidigungsweg und gelangen auf der Esklumer Straße nach Heerenborg. An der Eisenbahnbrücke über die Leda beginnt sich unsere Truppe aufzulösen, um den Heimweg anzutreten.
Die Brücke wurde 1854 eingleisig für den Schienenverkehr freigegeben. Für die Fußgänger und Radfahrer führt parallel ein Seitenweg mit Gitterrosten über den Fluss. Durch die durchgehenden Öffnungen kann man gut die Strömung der Leda verfolgen, nichts für Leute mit Akrophobie, der Höhenangst. Um die Angst auszulösen, ist nicht zwingend eine große Höhe notwendig. Wenige Meter reichen aus. Wir stellen uns der Herausforderung und überqueren wagemutig die Brücke.
Ein Teil der Gruppe fährt über das Leda-Sperrwerk nach Hause. Der Bau begann im September 1950 und dient dem Hochwasserschutz des hinter dem Sperrwerk liegenden Einzugsbereichs der Flüsse Leda und Jümme sowie deren Nebenflüsse.
Obwohl das Wetter absolut fahrraduntauglich war, hat uns die Tour gefallen, nicht zu glauben. Und es freut uns ungemein, dass nicht ein Mitglied der Gruppe ein Wort über Heimweh verloren hat.