Dr. med. Konrad Stauss
Selbstvergebung durch Schuldkompetenz
Copyright: © 2015 Konrad Stauss
Lektorat & Satz: Erik Kinting / www.buchlektorat.net Umschlaggestaltung: Erik Kinting
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
978-3-7323-4890-9 (Paperback)
978-3-7323-4891-6 (Hardcover)
978-3-7323-4892-3 (e-Book)
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
Kapitel I:
Schuld- und Vergebungskompetenz
Rationale Kompetenz
Emotional-soziale Kompetenz
Vergebungs- und Schuldkompetenz
Schuldlos schuldig
Sein als Beziehungssein
Zusammenfassung
Relevanz auf der Interventionsebene:
Kapitel II:
Anthropologische Grundannahmen zum Wesen des Menschen
Ist der Mensch in seinem innersten Wesen gut oder böse?
Ist der Mensch von Natur aus böse?
Ursache des Bösen
Menschenbilder des Bösen
Ist der Mensch von Natur aus gut?
Empirische Datenlage zu Entstehung von gewalttätigen Persönlichkeiten
Zusammenfassung
Relevanz auf der Interventionsebene
Kapitel III:
Moral und Ethik
Ethos
Definition von Moral und Ethik
Moral und die goldene Regel
Ethische Dimensionen
Drei Dimensionen der Ethik und das dreifache Liebesgebot
Universale Ethik
Ökonomie der Schuld
Zusammenfassung
Relevanz auf der Interventionsebene
Kapitel IV:
Ökonomie der Schuld im Alten und Neuen Testament
Vorchristliche Ursprünge des spirituellen Schulderlebens
Monetäre Ökonomie der Schuld
Zwischenmenschliche Ökonomie der Schuld
Innerseelische Ökonomie der Schuld
Spirituelle Ökonomie der Schuld
Spirituelle Ökonomie der Schuld im Alten Testament
Spirituelle Ökonomie der Schuld in der Schöpfungsgeschichte
Ökonomie der Schuld im Tun-Ergehen-Zusammenhang und der schicksalswirkenden Tatsphäre
Zusammenfassung
Relevanz auf der Interventionsebene
Die spirituelle Ökonomie der Schuld im priesterlichen Schuldverständnis
Spirituelle und soziale Ökonomie der Schuld
Priesterliche Bewältigung der Schuld durch Opfer
Spirituelle und innerseelische Ökonomie der Schuld im prophetischen Schuldverständnis
Persönliche Ethik des Göttlichen
Betonung der innerseelischen Ökonomie der Schuld
Schuld im Kontext der persönlichen Gottesbeziehung
Betonung der Vergebungsbereitschaft Gottes
Geburtsstunde des Gewissens
Schuldbewältigung als innerseelischer Wandlungsprozess
Zusammenfassung
Relevanz auf der Interventionsebene
Ökonomie der Schuld durch Aufrechnung von Soll und Haben
Jesuanische Ökonomie der Schuld im Neuen Testament
Ökonomie der Schuld durch Heilung
Sieben Thesen zur jesuanischen Ökonomie der Schuld
Spirituelle Ökonomie der Schuld nach dem Tod von Jesus
Zusammenfassung der Ökonomie der Schuld im Neuen Testament
Ökonomie des Neuen Testaments als enkulturalisierte Grundlage der westlichen Psychotherapie?
Zusammenfassung
Relevanz auf der Interventionsebene
Kapitel V:
Ökonomie der Schuld des normativ-juristischen Rechts
Schuldverständnis und Schuldbewältigung nach der Aufklärung
Normativ-positives Recht
Schuldverständnis im Zivil- und Strafrecht
Ungeklärter Schuldbegriff im positiven Recht
Statt freier Willensbestimmung Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit
Besserung des Straftäters durch Resozialisierung
Resozialisierung
Situation in Deutschland
Bewältigung der Schuld durch den Täter-Opfer-Ausgleich
Statt Logik der Strafe eine Logik des zwischenmenschlichen Friedens
Beitrag der christlichen Schuldbewältigung zur Resozialisierung
Zusammenfassung
Relevanz auf der Interventionsebene
Kapitel V:
Ökonomie der Schuld aus der Sicht der empirischen Forschung
Moralische Entwicklung aus der Sicht der Moralpsychologie
Moralische Reifungsstufen nach Kohlberg
Moralische Gewissensentscheidungen als emotionaler, intuitiver Prozess
Moralisches Empfinden: deterministisch bestimmt oder angeboren?
Moralische Entwicklung aus der Sicht der Bindungstheorie
Die neurobiologische Grundlage für Empathie und der universalen Ethik der goldenen Regel
Universale Ethik: die goldene Regel
Neurobiologische Vorstellungen über die moralischen Verarbeitungsebenen des Gehirns
Die drei Etappen der Evolution des menschlichen Gehirns
Stammhirn - Reptiliengehirn
Mesolimbisches Gehirn – emotionales Gehirn
Neokortex – das rationale und selbstreflexive Gehirn
Vier moralische Ebenen der Persönlichkeitsentwicklung
1. Vegetativ-affektive Ebene - Stammhirn/Reptiliengehirn
2. Ebene der emotionalen Konditionierung (Amygdala und mesolimbisches System)
3. Ebene des Sozialverhaltens und der Beurteilung durch das Gewissen
4. Ebene der kognitiv-kommunikativen Mitteilung
Selbstvergebung
Definition der Selbstvergebung
Schuld- und Schamgefühle – zwei moralische Emotionen
Moralische Verletzungen bei Kriegsveteranen
Echte Selbstvergebung und Pseudo-Selbstvergebung
Früchte der echten Selbstvergebung
Gemeinsame Schnittmenge zwischen den Vorstellungen der Schuldbewältigung des Alten und Neuen Testamentes und den empirisch gewonnenen Ergebnissen
Zusammenfassung:
Relevanz auf der Interventionsebene:
Kapitel VII:
Gewissen als innerer Ankläger
Verschiedene Perspektiven des Gewissensverständnisses
Perspektive des spirituellen Gewissensverständnisses
Christliche Perspektive des Gewissensverständisses
Unterschiede in der Auffassung des Gewissensverständnisses in der katholischen und evangelischen Kirche
Perspektive des ethischen Gewissensverständnisses
Perspektive des normativen-juristischen Gewissensver ständnisses
Perspektive des ideologischen Gewissensverständnisses
Perspektive des psychodynamischen Gewissenverständnisses
Über-Ich als Gewissen
Toxische Gewissen
Strukturelle Voraussetzung zur Gewissensbildung
Gewissensunabhängiges subjektives Schulderleben
Notwendigkeit der Differenzierung des Gewissens
Zusammenfassung:
Relevanz auf der Interventionsebene
Kapitel VIII:
I. Verhältnisbestimmung zwischen Psychotherapie und Spiritualität aus der Sicht der Psychotherapie
Sichtbare oder unsichtbare Religionen
Forschungsergebnisse zur Spiritualität von Psychotherapeuten und der allgemeinen Bevölkerung
Integration von spirituellen Interventionen in eine professionelle Psychotherapie?
Geschichtlicher Abriss über die Bezogenheit von Spiritualität/Religiosität und Psychotherapie
Einteilungsschema von Grom
Typ I: Spirituelle Anregungen, die der Patient von sich aus in den Therapieprozess einbringt
Typ II: Spirituelle Interventionen – integriert in eine professionelle Therapie
Typ III: Religiosität/Spiritualität mit der Tendenz, Basistherapie zu werden
Typ IV: Psychotherapeutische Behandlungsformen spirituellen Ursprungs
II. Verhältnisbestimmung zwischen Psychotherapie und Spiritualität aus der Sicht der christlichen Theologie
Kapitel IX:
Schuldabstinenz
Von Schuld sprechen
Klärung der Schuld
Schuldabstinenz
Der innere Ankläger
Der Großinquisitor
Kapitel X:
Die sieben Phasen der Bearbeitung des subjektiven Schulderlebens
Gemeinsamkeiten zwischen der Vergebungs- und Schuldarbeit
Arbeit am inneren Raum
Basale Beziehungsethik
Zwischenmenschliche Schuldarbeit
Innerseelische Schuldarbeit
Beschreibung der 7 Phasen des Vergebungs- und Schuldprozesses – eine Übersicht
Vorbereitung zur Bearbeitung des subjektiven Schulderlebens
1. Klärung der rechtlichen Grundlagen Schweigepflicht und Beichtgeheimnis
2. Indikation und Kontraindikation für die beschriebene Schuldbewältigungsarbeit
Diagnostik von klinisch relevanten seelischen Störungen
3. Klärung der weltanschaulichen Voraussetzungen und Aufklärung
4. Ziel des Klärungsprozesses
5. Informed Consent
Phase I: Bestimmung der moralischen Verletzung durch das emotionale Schema des Schulderlebens
1. Schuldthemen
Schuldthemen aus einer ambulanten psychotherapeutischen Praxis:
Schuldthemen aus einer stationären psychotherapeutischen Einrichtung:
Schuldthemen aus der Seelsorge
Schuldthemen aus der Palliativmedizin
2. Schulderleben in einen interpersonellen Kontext und nicht in den Kontext von Geboten oder Verboten stellen
Bestimmung des Schuldthemas
3. Exploration des subjektiven Schulderlebens des Klienten
Anatomie der moralischen Verwundung
Perspektivenwechsel zur Bestimmung der Angemessenheit des Schulderlebens
Emotionales Schema des Schulderlebens
4. Beeinträchtigung des Selbstwerterlebens durch das subjektive Erleben von Schamgefühlen
5. Toxisches Schuld- und Schamerleben
6. Bestimmung des Selbstumgangs im subjektiven Schulderleben
Phase II: Heilung der Ich-Beziehung
I. Schuldabwehr versus Schuldannahme
1. Ein erschüttertes Gewissen als Voraussetzung für die Heilung der Ich-Beziehung
Opfer-Täter-Lebenslinie
Schuldteppich
2. Aktualisierung des Konfliktes zwischen Schuldannahme und Schuldabwehr
Aufklärung
3. Vorgehensweise zur Aktivierung des Konfliktes zwischen Schuldabwehr versus Schuldannahme
1. Schritt: Erfahrungsbezogene Exploration der Modi der Schuldbewältigung
2. Schritt: Kosten-/Nutzenanalyse der verschiedenen Schuldbewältigungsmodi
3. Schritt: Entscheidung
4. Schritt: Differenzierung der Schuld mithilfe der Gewissensintuition
Fallbeispiel einer Schulddifferenzierung
Phase III: Heilung der Du-Beziehung bei zwischenmenschlicher Schuld
Zwischenmenschlicher imaginärer Täter-Opfer-Dialog in Form von Stuhlarbeit/Empathie und wechselseitiger Perspektivenübernahme
Optional: Reue-Briefe
Reue-Briefe aus der Perspektive des Opfers an den Täter
Phase IV/V: Heilung der Beziehung zum Ewigen Du
Das spirituelle Schuldritual
Briefe für das Schuldritual bei zwischenmenschlicher Schuld
Durchführung des Schuldrituals bei zwischenmenschlicher Schuld
Fallbeispiel der Bearbeitung von zwischenmenschlicher Schuld
Phase I: Bestimmung des Schuldthemas und Exploration des subjektiven Schulderlebens
Anatomie der moralischen Verletzung
Selbstumgang im Erleben der Schuld
Interpretation:
Phase II: Heilung der Ich-Beziehung
Opfer Täter Lebenslinie:
Schuldteppich
Aktualisierung des Konfliktes zwischen Schuldannahme und Schuldabwehr
Schuldabwehr im Modus Herz aus Stein
Schuldabwehr im Modus Judasfalle
Schuldannahme im Modus Herz aus Fleisch
Kosten-/Nutzenanalyse der Schuldbewältigung im Modus der Schuldabwehr
Kosten-/Nutzenanalyse der Schuldbewältigung im Modus der Schuldannahme
Phase III: Heilung der Du-Beziehung
Reue-Briefe aus der Perspektive des Opfers an den Täter
Phase IV/V: Heilung der Beziehung zum Ewigen Du
Heilung der Ich-und-Du-Beziehung bei innerseelischer Schuld
Hinweis für Psychotherapeuten zur Bearbeitung von toxischem Schuld- und Schamerleben beim Vorliegen von innerseelischer Schuld:
Prozessuale Aktivierung des toxischen Anklägers
Toxisches Schuld- und Schamerleben aus psychodynamischer Sicht
Toxisches Introjekt
Systematisierung der Schuldgefühle durch ein toxisches Introjekt
Kaskadentechnik zur Identifizierung von Basisschuldgefühlen
Toxisches Introjekt als toxisches Gewissen
Anmerkungen zur psychotherapeutischen Bearbeitung eines ekklesiogenen Introjektes als toxisches Gewissen:
Erfahrungsbezogene Differenzierung
Dynamik des toxischen Schulderlebens
Toxisches Schulderleben aus spiritueller Sicht
Dialogarbeit mit dem inneren Team zur Förderung der Selbst-Empathie
Spirituelle Bewältigung der innerseelischen Schuld
Durchführung des Schuldrituals bei innerseelischer Schuld
Fallbeispiel der Bearbeitung von innerseelischer Schuld
Phase VII: Versöhnung durch Täter-Opfer-Dialog
Proaktive und reaktive Vergebung
Kompetentes Schuld- und Krisenmanagement
Anhang
Literaturverzeichnis
Vorwort
Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern! So beten die Christen in ihrem zentralen gemeinsamen Gebet, dem Vaterunser. Das griechische Original dieser Vaterunser-Bitte wird in der Einheitsübersetzung, der von katholischer und evangelischer Kirche gemeinsam anerkannten Übersetzung ins Deutsche, so wiedergegeben: Erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben. (Mt 6,13)
Schuld gerät im Gebet, also vor dem Angesicht Gottes, ins Licht, näherhin angesichts der Vergebung durch Gott. Gerade so – von Gott her gesehen – ist Schuldbewältigung aber eine zwischenmenschliche Aufgabe: wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben. Durch die Vergebungsbitte wird deutlich, dass Schuld mit dem je Einzelnen, mit dem Miteinander von uns Menschen und mit Gott zu tun hat.
Bereits die erste Begegnung mit Konrad Stauss ließ mich aufhorchen: Ein Mediziner spricht über Themen, die auch meine sind. Ich bin Theologe und Seelsorger. Stauss kommt aus der therapeutischen Praxis. Wir treffen uns im Interesse für den Menschen. Sowohl in der Therapie wie in der Seelsorge begegnen wir Menschen, die heil werden wollen. Heil werden bezieht sich auf den Körper und auf die Seele und da kommen uns Fragen nach Schuld, Vergebung und Versöhnung entgegen.
Als Seelsorger ist es mir ein Anliegen, den Menschen die Befreiung zum vollen Leben mit Gott zu erschließen. Viele, die zu einem Seelsorgegespräch kommen, bringen ein Gespür für ihren seelischen Zustand mit. Die einen möchten Vergangenes aufarbeiten, andere wünschen geistliche Wegbegleitung, wieder andere suchen Klarheit für anstehende Entscheidungen. Es gibt Menschen, die eine vage Unruhe in sich wahrnehmen und so Lebensberatung suchen. Warum nicht auch bei einem Seelsorger? Da ich katholischer Priester bin, kommen Leute zu mir, denen es um persönliche Schuld geht, meist im Hinblick auf Vergebung durch Gott. Sie suchen nach Befreiung von ihrer Schuld in der Beichte. Doch kann es geschehen, dass sich jemand durch die Beichte ganz und gar nicht befreit fühlt, vielmehr bedrückt bleibt, von Ängsten verfolgt. Woher diese Ängste? Schuldgefühle müssen nicht unbedingt auf wirkliche Schuld verweisen. Vielleicht haben sie mit der gebeichteten Schuld gar nichts zu tun? Wie kommt der Mensch zu einem adäquaten Schuldbewusstsein? Es gibt Leute, die einen Therapieprozess durchlaufen, dabei ihren Eigenanteil an der Entstehung der Problemsituation und darin auch ihren Schuldanteil entdeckt haben. Sie möchten ihren Heilungsweg besiegeln durch Bekenntnis und Lossprechung in einer Beichte. Im einen und im anderen Fall hilft das Miteinander von therapeutischer und spiritueller Sichtweise.
An der Herangehensweise von Konrad Stauss an das Phänomen Schuld schätze ich das differenzierte Wahrnehmen der verschiedenen Dimensionen von Schuld, das Aufspüren der oft komplexen Zusammenhänge von Schulderfahrung in der menschlichen Psyche, die konkreten Vorschläge für den Umgang mit der Schuld, die Ausrichtung auf das Heilwerden des ganzen Menschen.
Mit dem Stichwort Schuldkompetenz verbinden sich für mich die Fragen: Wie wird Schuld erfahren? Wie ist Schuld zu verstehen und ins Lebensganze einzuordnen? Wie können wir mit Schuld umgehen?
Wie kann ich Schuld wahrnehmen? Als ich vor Jahren mein erstes Büchlein zum Thema Beichten schrieb, gab mir mein Mitbruder, der Redemptorist und Moraltheologe Bernhard Häring Folgendes mit auf den Weg: Erst im Blick auf Vergebung kann ich das, was Schuld ist, richtig anschauen. Wenn ich zur Überzeugung komme, dass ich mit meiner Schuld angenommen bin, wage ich es, sie in den Blick zu nehmen. Wenn ich die Chance sehe, dass mir vergeben wird und ich neu anfangen kann, vielleicht auf ganz neue Weise anfangen kann, schreckt mich die Schuld nicht mehr davon ab, sie anzuschauen mich zu bekennen. Im Blick auf Vergebung kann ich Schuld in ihrer das volle Leben behindernden Bedeutung sehen: Schuld macht krank. Vergebung ersehnen und Vergebung zugesprochen bekommen, heilt.
Wie kann ich Schuld verstehen? In den ersten Kapiteln des ersten Buches der Bibel, dem Buch Genesis, sind Ursprungserzählungen gesammelt. Die Ursprungserzählungen der Bibel deuten den Menschen in seiner elementar-vorfindlichen Existenz. Der Mensch, repräsentiert im ersten Menschenpaar Adam und Eva, hat sich vor Gott versteckt. Da fragt Gott: Adam, wo bist du? (Genesis 3,9), also: Mensch, wo bist du? Und der Mensch antwortet: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht weil ich nackt bin, und versteckte mich (a. a. O. 3,10). Der in Schuld geratene Mensch ist nicht mehr offen im Da-sein, er schämt sich vor dem Partner beziehungsweise der Partnerin, er versteckt sich vor Gott. Schuld erweist sich als elementare Beziehungsstörung.
Wie können wir mit Schuld umgehen? Ich kann Schuld wegschieben, auf andere schieben, wie es Adam, der Mensch, macht: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie … (a. a. O. 3,12). Und die Frau? Die Schlange hat mich verführt … (a. a. O. 3,12). Ich kann Schuld auch in mich hineinschieben, verdrängen, doch sie gibt keine Ruhe, kann sich in seelischen und körperlichen Störungen melden. Oder noch schlimmer: sie stumpft den Menschen ab. Schuld kann sich im Gewissen melden: in der Unruhe des Gewissens oder in der Stimme des Gewissens. Die katholische Kirche hat im Zweiten Vatikanischen Konzil das Gewissen so beschrieben. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist (Gaudium et Spes Nr.16).
Was hilft, dass das Gewissen als die innerste Mitte des Menschen seine Aufgabe erfüllen kann? Wie kann der Mensch Schuld wahrnehmen, differenzieren, sie eingestehen und bekennen – und so heil werden? Das Werk von Konrad Stauss bietet reiche Hilfe an.
München im Juli 2015, Pater Hans Schalk
Einleitung
Im Netzwerk für Vergebung und Versöhnung1 wurden bis heute über 500 Vergebungsprozesse in verschiedenen Kontexten durchgeführt:
in der Seelsorge
in der Erwachsenenbildung
in der Weiterbildung für Seelsorger und Psychotherapeuten
in Exerzitien
im Mitleben im Kloster2
in der ambulanten Psychotherapie
in der Gefängnisseelsorge
in der Weiterbildung in Palliative Care und Betreuung von Demenzkranken3
Aus allen Bereichen wird einhellig berichtet, dass 90 – 95 Prozent der Klienten deutlich von dem Vergebungsprozess profitieren. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit den Ergebnissen der Vergebungsforschung.4 Zusammenfassend kann man feststellen, dass der siebenphasige Vergebungsprozess5 sich in der Breite bewährt hat.
Der Anlass, mich mit dem Thema Schuld und Schuldkompetenz zu beschäftigen, war folgende Bemerkung einer Teilnehmerin, die an einem von mir angebotenen Vergebungskurs teilnahm: Ich muss mir erst selbst vergeben können, bevor ich einem anderen vergeben kann. Wir alle verstanden intuitiv, was sie mit dieser Aussage meinte: Sie musste ihre Schuld, die sie im Verlauf ihres Lebens auf sich geladen hatte, so bewältigen, dass sie sich trotz ihrer Schuld selber annehmen und akzeptieren konnte.
Die begangene Schuld ist nicht mehr rückgängig zu machen, aber durch eine kompetente Schuldbewältigung kann man erreichen, dass man in Würde seine Schuld tragen kann.
Die Konsequenzen einer nicht bewältigten Schuld ist die Beeinträchtigung der Beziehung zu sich selber und zu dem Geschädigten. Das bedeutet, dass Schuld immer in einen Beziehungskontext eingebunden ist. Dieser Beziehungskontext beinhaltet drei Dimensionen: Schuld gegenüber dem eigenen Selbst (innerseelische Schuld), Schuld gegenüber einem anderen (zwischenmenschliche Schuld). Aus theologischer Sicht kommt noch eine dritte Dimension hinzu: die Schuld vor Gott (spirituelle Schuld). Diese Schuld vor Gott beinhaltet aus spiritueller Sicht auch die Schuld, die wir Menschen im Umgang mit der Schöpfung auf uns laden. Die Zerstörung unserer natürlichen Mitwelt zeigt sich in sich abzeichnenden ökologischen Katastrophen, wie Klimaerwärmung, Luftverschmutzung und Verknappung von trinkbarem Wasser etc. Wir Menschen zerstören unsere natürlichen Ressourcen, die wir zum Leben benötigen. Unsere Beziehung zu der natürlichen Mitwelt ist durch gedankenlose Ausbeutung gekennzeichnet. So wie wir mit der Mitwelt umgehen, so gehen wir auch mit uns selber und den Mitmenschen um. Die Beziehung zur Ökologie lässt sich nicht von den sozialen Beziehungen trennen. Alles ist mit allem verbunden. Aus diesem Grund darf die ökologische Schuld nicht ausgeklammert werden, obwohl sie nicht Gegenstand der direkten Reflexion in diesem Buch sein wird.6 In der Regulation des Zusammenlebens müssen ethische Regeln formuliert werden, die die Interessen des Individuums und die Interessen des anderen, der Natur und der Gemeinschaft berücksichtigen. Sowohl die individuellen Interessen als auch die Interessen der anderen bilden eine Polarität, die so gehandhabt werden sollte, dass die Befriedigung der Interessen des Individuums nicht einseitig auf Kosten der Gemeinschaft und die Befriedigung der Interessen der Gemeinschaft nicht einseitig auf Kosten des Einzelnen erfolgen soll.
Auf der persönlichen Ebene muss die Polarität Autonomie versus Bindung gemanagt werden. Nur die flexible Handhabung dieser Polarität garantiert eine sichere und verlässliche Bindung an den anderen. Aus diesem Grund muss die Beziehung so reguliert werden, dass ein zu betontes Autonomiestreben die Bindung nicht gefährdet beziehungsweise ein zu betontes Bindungsstreben die Autonomie des anderen nicht über Gebühr einschränkt.
Auf der soziologischen Ebene sollten die Polarität Freiheit des Einzelnen und die Solidarität zur Gemeinschaft so gehandhabt werden, dass ein gemeinschaftsbezogenes Zusammenleben möglich ist. Die soziokulturelle Wertestruktur bestimmt die Werte, die die Freiheit der einzelnen Person gegenüber der Gemeinschaft und die notwendige Solidarität des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft definieren. So wird garantiert, dass die Würde und Freiheit des Einzelnen mit der Sorge um das Gemeinwohl in Einklang gebracht werden.
Werte sind nicht allein deterministisch durch kulturelle Einflüsse bestimmt, sondern es gibt auch angeborene Grundwerte. Das Empfinden von Werten ist zwar angeboren, aber kulturell formbar. Grundwerte wie Fürsorge, Bindung, Fairness, Loyalität und Kooperation sind angeboren. Deshalb gibt es eine Vielzahl von Werten, die aber nicht beliebig austauschbar sind.7 In fast allen Kulturen findet man die Ethik der goldenen Regel. Diese Regel wird im Matthäusevangelium folgendermaßen beschrieben:
Alles nur, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten. (Matthäus 1,12).8
Das innere Organ, das die Schuldgefühle erzeugt, ist das Gewissen. Das Gewissen soll als eine innerseelische Repräsentanz verstanden werden, die unser Denken, Fühlen, Motivationen und Verhalten beurteilt. Die Grundlage dieser Beurteilung ist unsere innere Wertestruktur, die in unserem Gewissen repräsentiert ist. Diese Wertestruktur repräsentiert autonomiebezogene und bindungsbezogene Werte, um eine sichere Bindung im Rahmen von Freundschaften, Partnerschaften, Familie oder dem gesellschaftlichen Zusammenleben zu ermöglichen.
Das Erleben von Schuld- und Schamgefühlen hat eine Signalfunktion, vergleichbar mit dem Erleben von Schmerz. Schuld- und Schamgefühle signalisieren die Verletzung von verinnerlichten moralischen Werten, deshalb werden sie als moralische Emotionen bezeichnet.9 Stellen wir uns vor, wir Menschen könnten keine Schuldgefühle erleben, dann wären wir alle Soziopathen. Das Zusammenleben wäre durch das Recht des Stärkeren bestimmt. Ein ziviles Zusammenleben, bestimmt durch Empathie, Fairness, Kooperation, Mitgefühl und Gerechtigkeit wäre nicht möglich.10
Allerdings braucht das Erleben von Schuldgefühlen nicht zwingend auf eine Verletzung von verinnerlichten Werten hinweisen. Schuldgefühle können eine Stellvertreterfunktion haben. Damit ist gemeint, dass sie stellvertretend für andere Motive oder Gefühle stehen können. Zum Beispiel können Schuldgefühle bei nicht bewältigter Trauer eine Bindungsfunktion haben. Durch die Konstruktion von Schuldzusammenhängen ist man durch die Schuldgefühle wie an einem unsichtbaren Band innerseelisch an entsprechende Person gebunden.11 Bei sogenannten neurotischen Schuldgefühlen sind die Schuldgefühle oft Ausdruck einer Aggression, die einem anderen gelten, die aber nicht gegen diesen ausgedrückt werden, sondern in Form von Selbstbeschuldigungen und Selbstvorwürfen gegen die eigene Person gerichtet werden.
Werden beschämende und abwertende Beziehungserfahrungen verinnerlicht, dann können toxische Scham- und Schuldgefühle entstehen. Diese beschämenden und abwertenden Beziehungserfahrungen schlagen sich als verinnerlichtes Introjekt innerseelisch nieder. Diese toxischen Introjekte machen sich durch generalisierende negative Selbstzuschreibungen, wie zum Beispiel ich bin nicht gut genug, ich bin nicht liebenswert, ich habe kein Recht zu leben etc. bemerkbar. Jede Korrektur dieser toxischen Introjekte kann mit Schuldgefühlen beantwortet werden.
Obwohl Schuld ein Grundthema des menschlichen Lebens ist, erstaunt es um so mehr, dass eine Einigung auf ein gemeinsames Verständnis des Begriffes Schuld scheinbar nicht möglich ist. Selbst im Strafrecht, das auf dem sogenannten Schuldprinzip beruht, gibt es keine positive Definition von Schuld. Schuld wird negativ bestimmt: Verzichtet jemand auf die Erfüllung der im Strafgesetzbuch (StGB) aufgelisteten Straftatbestände, dann handelt er ohne Schuld. In der Strafrechtsliteratur und Strafrechtphilosophie gibt es viele verschiedene Auffassungen über das Schuldverständnis. Seit über einem Jahrhundert ist man sich allerdings einig, dass Schuld nicht definiert werden kann.12
Die Unklarheit über eine verbindliche Auffassung von Schuld findet man nicht nur im Strafrecht, sondern auch in der philosophischen, soziologischen und psychotherapeutischen Literatur. In der philosophischen Literatur findet man eine verwirrende Vielzahl von Schuldbegriffen, zum Beispiel existenzielle, religiöse, spirituelle, ethische, ideologische, moralische, normative Schuld, Daseinsschuld, Existenzialschuld, Allschuld etc.
In der Literatur der psychodynamischen Psychotherapie beschäftigt man sich fast ausschließlich mit neurotischen oder sogenannten irrealen Schuldgefühlen. In kaum einem modernen Lehrbuch der psychodynamischen Psychotherapie findet man einen Eintrag über den Umgang mit realer Schuld. Die psychodynamische Psychotherapie widmet sich ausschließlich dem subjektiven Erleben von pathologischen Schuldgefühlen in Form von unangemessen hohen oder fehlenden Schuldgefühlen. Auch die humanistische Psychotherapie und die kognitive Verhaltenstherapie legen ihren Schwerpunkt auf die Behandlung von irrealen Schuldgefühlen.
Andere psychotherapeutische Richtungen wie die Logotherapie von V. Frankl, die analytische Psychotherapie von C.G, Jung, Erich Fromm, die Daseinsanalyse und die systemische Psychotherapie beschäftigen sich allerdings mit dem Phänomen der realen Schuld. Fast allen psychotherapeutischen Methoden ist weitgehendst gemeinsam, dass die Bildung des Gewissens und die Schulung der Gewissenswahrnehmung nicht auf ihrer therapeutischen Agenda stehen.
Nur in der Theologie gibt es von allen Theologen gemeinsam geteilte Auffassungen über das Schuldverständnis. Schuld ist aus theologischer Perspektive primär eine Beziehungsschuld gegenüber Gott. Das Gewissen ist aus theologischer Sicht in Form der Gottesebenbildlichkeit von Anfang an als Personenzentrum in den Menschen hineingelegt worden. Im Gewissen spricht Gott quasi zum Menschen. Die Werte des Gewissens sind aus theologischer Sicht nicht nur sekundäre, durch Verinnerlichung von äußeren Werten erworbene Werte, sondern auch Werte, die in der Natur des Menschen liegen.
Heute kann man in einer Psychotherapie sexuelle oder andere intime Probleme ohne große Scheu thematisieren. Macht man allerdings eigene Schuldprobleme zum Thema, dann kann man eine fast reflektorisch anmutende Antwort beobachten. Das Schuldproblem wird weg psychologisiert und mit den traumatischen Beziehungserfahrungen aus der eigenen Lebensgeschichte erklärt. So, als ob es Schuld nicht gäbe, entsprechend dem Bonmot: Nach einer Psychotherapie machen die Leute dasselbe wie vorher – nur ohne schlechtes Gewissen.13
Man sollte zwischen begangener und erlittener Schuld14 unterscheiden. Viele Psychotherapiepatienten sind Opfer begangener Schuld und haben die Schuld der Täter erlitten. Wird die Beziehungserfahrung der erlittenen Schuld verinnerlicht, dann besteht die Gefahr, dass diese Beziehungserfahrung unbewusst in aktuelle Beziehungen eingebracht wird und so die früher erlittene Schuld unbewusst zu einer begangenen Schuld in der Gegenwart wird. Diesen Kreislauf von erlittener und begangener Schuld hat Freud als Wiederholungszwang beschrieben. Eine gute Psychotherapie sollte den Patienten dazu verhelfen, sich mit seiner erlittenen und begangenen Schuld auseinanderzusetzen.
Es scheint so, als ob wir das Gespür für das Bewusstsein der eigenen Schuld verloren haben. Allerdings ist die projektive Abwehr der Schuld wie eine Panepidemie verbreitet: Schuld sind immer die anderen. Jeden Abend kann man im Fernsehen Kriminalfilme konsumieren, man erfreut sich an den Schuldthemen der anderen und ist erleichtert, wenn der Täter überführt und seine Schuld aufgedeckt wird. Möhring15 bezeichnet dieses Verhalten als kriminalpornografisches Befriedigungserlebnis.
Durch diese projektiven Schuldzuweisungen verstricken wir uns in die sogenannte Opferfalle. In der Opferfalle baut man sich eine Opferidentität durch Selbstidealisierung, Fremdbeschuldigungen und Selbstmitleid auf, mit dem Glauben verbunden, man könnte sein Leben fehler- und schuldfrei gestalten. Die Opferfalle führt dazu, dass man aus seinen Fehlern nicht mehr lernen kann, zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit sich selber ist man dann kaum noch fähig.16
Nietzsche hat diesen Sachverhalt folgendermaßen beschrieben: Unsere Mängel sind unsere besten Lehrmeister, aber gegen unsere Lehrmeister sind wir meistens undankbar.
Die Psychotherapie läuft Gefahr, Schulderleben zu verpsychologisieren. Dies ist mit der Gefahr verbunden, reale Schuld zu exkulpieren. Gläubige Klienten befürchten in einer säkularen Psychotherapie, sich nicht mit ihrer realen Schuld auseinandersetzen zu können. Für sie gehört zur Würde ihres Menschseins das Schuldigwerden dazu.
Das Verständnis der Schuld und deren Bewältigung ist eingebettet in die vorherrschenden Weltanschauungen. Deshalb muss man sich, um ein vertieftes Verständnis der verschiedenen Schuldformen zu erlangen, mit den im Verlauf der abendländischen Geistesgeschichte bestimmenden Weltanschauungen auseinandersetzen:
Bis zum Mittelalter war in der abendländischen Geistesgeschichte die jüdisch-christliche Weltanschauung bestimmend. Diese jüdisch-christliche Weltanschauung hat sich intensiv mit der Frage nach der Schuld des Menschen beschäftigt, weshalb man die abendländische jüdisch-christliche geprägte Kultur als Schuldkultur bezeichnen kann.
Im Zuge der Aufklärung kam es zu einer Entmetaphysierung des Schuldverständnisses. Diese Entmetaphysierung bestimmt das Schuldverständnis der Moderne und Postmoderne, die auch ihren Niederschlag im positiven Recht und in der Psychotherapie findet.
Philosophie und Theologie sind geistige Disziplinen, die helfen können, unser Leben nach Werten auszurichten, die ein gutes Leben ermöglichen. Zusätzlich stellen sie Bewältigungsmöglichkeiten für unser menschliches Dasein zur Verfügung.17
Da dieses Buch nicht nur für Psychotherapeuten sondern auch für Seelsorger gedacht ist, wird gleich am Anfang das Schuldverständnis und seine Bewältigung im Alten Testament, im Neuen Testament und im modernen positiven Recht beschrieben. Aus dem jeweiligen Schuldverständnis leitet sich die Ökonomie der Schuld ab. Im Finanzbereich müssen Schulden mit der jeweils passenden Währung beglichen werden. Was ist die Währung, mit der im Judentum, im Christentum oder im positiven Recht Schuld beglichen werden muss? Ist die Währung Rache, Vergeltung, Strafe, Ausschluss aus der Gemeinschaft oder Vergebung, Versöhnung, Wiedereingliederung in die Gemeinschaft und inneres Wachstum, angeregt durch die innerseelische und zwischenmenschliche Auseinandersetzung mit der Schuld?
Aber nicht nur das Offenbarungswissen der jüdisch-christlichen Religionen hat einen großen Beitrag zu dem kulturhistorischen Hintergrund eines vertieften Verständnisses des Schulderlebens und der Schuldbewältigung geleistet. Auch die moderne empirische Forschung der Moralpsychologie, die Erforschung der neurobiologischen, der bindungstheoretischen Grundlagen zur Moralentwicklung und die Ergebnisse Selbstvergebungsforschung tragen dazu bei, die moralische Entwicklung und das Schulderleben besser zu verstehen. Für mich überraschend war festzustellen, wie groß die gemeinsame Schnittmenge des Offenbarungswissens und des empirischen Wissens ist.
Am Beginn der Ausführungen versuche ich, die Schuldkompetenz in eine Reihe mit der rationalen Kompetenz, der sozialemotionalen Kompetenz und der Vergebungskompetenz zu stellen. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser verschiedenen Kompetenzen werden dargestellt. Vergebungs- und Schuldkompetenz sind die Voraussetzungen für eine gelungene Versöhnung. Den Erwerb der Vergebungskompetenz habe ich in dem siebenphasigen Vergebungsprozess dargestellt.18 Der Schuldprozess verläuft in vergleichbaren Prozessschritten. Die Beschreibung des Prozesses einer kompetenten Schuldbewältigung führt dann zur Darstellung der Anwendung und Methodik dieses Prozesses.
In der Methodik wird das gegenseitige Verhältnis zwischen Psychotherapie und Theologie reflektiert. Es wird ein Vorschlag gemacht, wie spirituelle Interventionen, wie zum Beispiel die Vergebungs- und Schuldarbeit, in eine professionelle Psychotherapie integriert werden können.19
Ein wichtiger Aspekt bei der Bearbeitung des subjektiven Schulderlebens von Klienten ist die Einhaltung der sogenannten Schuldabstinenz. Damit ist gemeint, dass der Therapeut oder Seelsorger nicht für den Klienten dessen Schuld oder Unschuld definieren sollte, denn nur das Gewissen des Klienten hat die Deutungshoheit über seine Schuld oder Unschuld. Beim Vorliegen einer juristisch relevanten Schuld allerdings, wird die Schuld oder Unschuld von außen durch einen Richter zugesprochen. Die Aufgabe des Therapeuten oder Seelsorgers ist die Moderation eines Schuldklärungsprozesses, damit der Klient im Verlauf dieser Klärung seine Schuld oder Unschuld mithilfe seines Gewissens selber bestimmen kann. Dieses Vorgehen soll dazu dienen, die Gefahr der künstlichen Induktion von Schuldgefühlen zu vermeiden. Danach wird ein siebenphasiges Prozessmodell zur Bearbeitung des subjektiven Schulderlebens mit Fallbeispielen dargestellt.
Mit diesen beiden Büchern, in denen der Vergebungsprozess20 und Schuldbewältigungsprozess dargestellt wurde, möchte ich einen Beitrag dazu leisten, welche Voraussetzungen aus meiner Sicht erfüllt werden sollten, um Versöhnung zu ermöglichen. Das Ziel der Vergebungs- und Schuldarbeit ist die Versöhnung, denn nur die Versöhnung kann beschädigte Beziehungen heilen.
1 Fragebogenerhebung der Mitglieder des Netzwerkes für Vergebung und Versöhnung; Vorgetragen von K. Stauss auf dem 3. Netzwerktreffen vom 6. bis 8.02.2015 im Bildungshaus St. Rapahel in Kempten
2 Siehe Mitleben im Kloster; www.kloster-stuehlingen.de
3 Siehe: www.rosmariemaier.de; www.petramayer.net. Siehe auch: Tagung: Schuld- und Vergebungsarbeit im palliativen und hospizlichen Kontext – Kompetenzen als Begleiter entwickeln.28. Januar 2015 im Hörsaal der Naturheilklinik in Harlaching, München.
4 Siehe in Hrsg. Everett L. Worthington, Jr.: Handbook of Forgiveness Routledge, Taylor & Francs Group, New York. Siehe auch: Vortrag von K. Stauss auf dem Netzwerktreffen 2015 im Bildungshaus St. Rapahel in Kempten
5 Stauss, K. (2014): Die heilende Kraft der Vergebung, 3. Auflage. München: Kösel Verlag
6 Siehe: Enzylklika Laudato Si von Papst Franziskus, in der er ausführlich die ökologischen Schuld des Menschen beschreibt.
7 Haidt, J. (2012) The Righteous Mind. Why Good People Are Divided by Politics and Religion, Vintages Books. A Division of Random House, Inc. New York
8 Keysers, C. (2011): Unser Empathisches Gehirn. Warum wir verstehen, was andere fühlen, S.272 f. C. Bertelsmann
9 Lewis, H. B. (1971): Shame and guilt in neurosis, New York: International University Press
10 Bauer, J. (2011): Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Karl Blessing Verlag
11 Paul, C. (2010): Schuld, Macht, Sinn, Arbeitsbuch für die Begleitung von Schuldfragen im Trauerprozess, S. 37. Güterloher Verlagshaus
12 Mayer, M.E. (1901): Die schuldhafte Handlung und ihre Arten im Strafrecht, Leipzig
13 Bonelli, M. (2013): Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen. Pattloch
14 Lütze, M. (2011): So ist Versöhnung (…) eine Aufgabe, die noch mehr vor als hinter uns liegt Zum Umgang mit Schuld im Gottesdienst, Pastoralpsychologie 100 Jg., S. 316-331. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht
15 Möhring, P. (2014): Verbrecher, Bürger und das Unbewusste. Kriminologie mit psychoanalytischem Blick. S. 209. Gießen: Psychosozial-Verlag
16 Bonelli, M. (2013): Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen. Pattloch
17 Rudolf, G. (2015): Wie Menschen sind. Eine Anthropologie aus psychotherapeutischer Sicht, S. 325. Schattauer Verlag
18 Stauss, K. (2014): Die heilende Kraft der Vergebung, 3. Auflage. München: Kösel Verlag
19 Grom, R. (2012): Religiosität/Spiritualität – eine Ressource für Menschen mit psychischen Problemen? Psychotherapeutenjournal 3/2012, S. 194-201
20 Stauss, K. (2010): Die heilende Kraft der Vergebung. Die sieben Phasen spirituell-therapeutischer Vergebungs- und Versöhnungsarbeit, Kösel Verlag