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Buch

Was bedeutet es, seine Sexualität in einer Gesellschaft zu entdecken, in der Mädchen möglichst sexy, aber bloß nicht zu freizügig sein sollen? Väter und Mütter wissen oft nicht, wie ihre Teenager-Töchter sich in diesem Spannungsfeld bewegen. Peggy Orenstein hat gefragt, was viele Eltern sich nicht trauen. In Interviews mit über 70 Mädchen sammelte sie bedeutsame Erkenntnisse und zeichnet ein erschreckend deutliches Bild dessen, was das Leben in einer sexualisierten Gesellschaft für junge Frauen bedeutet.

Autorin

Peggy Orenstein ist Journalistin und Autorin mehrerer New-York-Times-Bestseller. Sie schreibt u.a. regelmäßig für das »New York Times Magazine«, »USA Today« und den »New Yorker«. Sie lebt mit Ehemann und Tochter in Nord-Kalifornien.

PEGGY ORENSTEIN

GIRLS & SEX

Was es bedeutet, in der Gesellschaft von heute erwachsen zu werden

Vorwort von pro familia München

Aus dem Amerikanischen

von Karin Wirth

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.

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1. Auflage

Deutsche Erstausgabe September 2017

Copyright © 2017 Wilhelm Goldmann, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

© 2016 der Originalausgabe: Peggy Orenstein

Originalhaupttitel: Girls & Sex

Originalverlag: HarperCollins

Umschlag: *zeichenpool, nach einem Entwurf von Helen Yentus

Redaktion: Dagmar Rosenberger

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

MZ ∙ Herstellung: IH

ISBN 978-3-641-20665-9
V001

www.mosaik-verlag.de

Für meine Tochter, meine acht Nichten, meine zwei Neffen, und alle Mädchen und Jungen, die mir auf meinem Weg begegnet sind.

Inhalt

Vorwort

Was Sie noch nie über Mädchen und Sex wissen wollten (aber unbedingt fragen sollten)

Matilda ist kein Sexobjekt – es sei denn, sie will es so

Macht es uns schon Spaß?

Like a Virgin – was immer das bedeuten mag

Sex ohne Liebe: die Aufreiß-Kultur

Geoutet – online und offline

Fließende Übergänge

Raus mit der Sprache!

Dank

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

viele Erwachsene blicken beim Thema Sex mit einer Mischung aus Überraschung und Befremden auf die »Jugend von heute«. Das Nachdenken über heutiges Aufwachsen mit seinen vielfältigen und komplizierten Herausforderungen bleibt oft beim Etikett »Generation Porno« stehen. Die wenigsten machen sich die Mühe, im Dialog mit jungen Menschen selbst zu ergründen, wie diese über sich denken, wie sie Sexualität erleben, wie sie die Dinge deuten.

Anders die US-amerikanische Autorin Peggy Orenstein. Sie wollte wissen, was in den Köpfen von Mädchen und jungen Frauen vorgeht. Sie hat sich Zeit genommen und mit vielen, sehr unterschiedlichen Mädchen gesprochen. Herausgekommen ist eine Bestandsaufnahme, die zeigt, welchem sozialen Druck sich junge Frauen ausgesetzt sehen, wie abwertend weibliche Sexualität nach wie vor verhandelt wird und wie schwer unter diesen Bedingungen sexuelle Selbstbestimmung gedeiht.

Trotz aller Unterschiede zwischen den USA und Deutschland – würde sich hierzulande jemand auf ein vergleichbares Gesprächsprojekt einlassen, die Erkenntnisse wären wohl ähnlich. Als Fachverband für Familienplanung, Sexualität und Sexualpädagogik sind uns von pro familia viele der von Peggy Orenstein beschriebenen Befunde aus der Praxis von Beratung und Aufklärungsarbeit bekannt. Der Einfluss sozialer Netzwerke, medialer Bilder und einer ökonomisierten Sexualität ist hier wie dort offenkundig. Kinder und Jugendliche wachsen selbstverständlich mit Smartphone, Tablet und Computer auf. Ob gewollt oder nicht haben sie dadurch, noch bevor sie selbst erste sexuelle Erfahrungen machen konnten, Zugang zu Bildern und Themen, die oft von fragwürdigem Inhalt sind und sie in ihrer sexuellen Sozialisation beeinflussen.

In unseren sexualpädagogischen Jugendgruppen treffen wir Mädchen, die unsicher sind, was ihre sexuellen Wünsche betrifft, sich nicht trauen, klar ja oder nein zu sagen, die ihren eigenen Körper eklig finden. Mädchen, die zwar reflektieren, dass Jungensexualität anders bewertet wird als Mädchensexualität, dem aber keine Strategien entgegensetzen können. Deren neugieriger, lustvoller Umgang mit Sexualität sie Demütigung und Beschämung fürchten lässt – die die Erfüllung sexueller Wünsche ihrer Partner mit Liebe verwechseln und so viele Appelle hören, dass ihre eigenen Vorstellungen damit zugeschüttet werden.

Dabei schien eine geschlechtergerechte Erziehung in unserer Gesellschaft doch angekommen zu sein. In pädagogischen Einrichtungen ist man sensibler geworden, man unterstützt Mädchen dabei »stark zu sein« und Selbstvertrauen zu haben. Für Eltern ist es heute kein Problem mehr, ihre Tochter im Fußballverein anzumelden oder zum Kampfsport zu schicken. Mädchen dürfen sich schon seit einigen Jahrzehnten mit »Pippi Langstrumpf« und »Ronja Räubertochter« identifizieren und müssen nicht mehr nur brav, angepasst und hübsch sein. Man sieht sie gern mutig, frech, wild und aktiv. Sie sollen sich nicht unterkriegen lassen und können selbstbewusst all das in Anspruch nehmen, was Jungs auch zugestanden wird.

Aber das gilt plötzlich nicht mehr, wenn Mädchen in ein Alter kommen, in dem Sexualität eine Rolle spielt. Dann müssen sie vorsichtig werden, plötzlich auf ihren »Ruf« achten und sehen sich mit den widersprüchlichsten Botschaften konfrontiert. Wirklich richtig machen kann es keine. Auch wenn sich in Sachen Gleichberechtigung in den letzten Jahrzehnten schon viel getan hat, gilt das nicht für den Bereich der Sexualität. Längst überholt geglaubte Moralvorstellungen scheinen wieder Aufwind zu bekommen.

Besonders deutlich wird dies in den sozialen Netzwerken. Die speziellen Codes, auf die Mädchen achten müssen, um sich nicht angreifbar zu machen, sind international vergleichbar. Es wird erwartet, sich möglichst attraktiv und freizügig zu präsentieren, sich zwar »sexy«, aber auf keinen Fall »nuttig« zu inszenieren. Jugendliche müssen heute vor, aber auch während ihrer ersten sexuellen Erfahrungen ständig abwägen, was sie mitteilen und teilen. Das ist anstrengend und kann schnell zu Überforderung führen. Mehr denn je ist die jugendliche Unbekümmertheit und Unerfahrenheit davon bedroht, ausgenutzt zu werden. Das ist an sich nicht neu. Neu ist, dass Fehler nun auch öffentlich sind und noch Jahre später irgendwo im Netz wieder auftauchen können.

Es gibt sie zwar, die selbstbewussten, souverän agierenden jungen Frauen, die zielstrebig ihren Weg gehen. Die Mehrheit aber stellen sie kaum. Und gerade in sexuellen Beziehungen verlässt selbst die bisweilen der Mut, den sie in anderen Lebensbereichen an den Tag legen. Wenn junge Frauen ihre Sexualität lustvoll leben, sehen sie sich immer noch mit Repressalien konfrontiert. Die Vorstellung, Mädchen seien immer an einer Beziehung interessiert, haben die meisten mehr oder weniger verinnerlicht. Lebt ein Mädchen Sex ohne Beziehung, haftet ihr der Makel an, ausgenutzt worden zu sein. Mit dieser Doppelmoral urteilen nicht nur Erwachsene, sondern oft Gleichaltrige und ganz besonders streng die eigenen Geschlechtsgenossinnen. Für manche mag Jungfräulichkeit bis zur Ehe eine Lösung sein, um sich diesem Konflikt zu entziehen.

Das Ganze hat auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Welche Frauen- und Männerbilder werden vermittelt und als erstrebenswert dargestellt, welche Konsumdiktate werden damit verknüpft? Begehrenswert zu sein heißt heute, begehrenswert auszusehen. Es muss ein Umdenken her. Attraktivität und sexuelle Anziehung sollten nicht darauf reduziert werden, wie man sich in Szene setzt. Mädchen können ihre Sexualität nur dann selbstbestimmt leben, wenn sie frühzeitig positive Unterstützung in ihrer Selbstwert-Entwicklung bekommen und nicht auf moralisierende Geschlechterstereotype festgelegt werden. Dazu gehört auch die positive Besetzung und Bejahung des weiblichen Körpers, schöne von unangenehmen Gefühlen zu unterscheiden, nein und ja sagen zu dürfen, also nicht nur als Objekt zu dienen. Sei es aus Sprachlosigkeit oder aus Scham: Jugendliche reden von sich aus nur selten mit Erwachsenen über sexuelle Erfahrungen und Einstellungen.

Wichtig ist, die Aufklärung nicht allein den Medien zu überlassen. Denn gerade beim Thema Sexualität geht es vor allem darum, Gesehenes oder Erlebtes einordnen und verarbeiten zu können. Deswegen sind Eltern und pädagogische Fachkräfte mehr denn je gefordert, Kindern und Jugendlichen gut zuzuhören, mit ihnen zu reden, sich zu positionieren und eine Orientierungshilfe zu geben.

In diesem Sinne ist Peggy Orensteins Buch beste Aufklärung für Erwachsene, die noch zu anderen Zeiten sexuell sozialisiert wurden. Hier erfahren Sie, welche Erlebnisse Heranwachsende heute mit Sexualität haben, welche Denk- und Verhaltensmuster sie zeigen. Das Buch ist gleichzeitig ein Appell, Töchtern und Söhnen Sexualität als etwas Positives zu vermitteln und sie durch eine offenere Sexualaufklärung zu unterstützen. Gehen wir es an!

Ihr

Sexualpädagogisches Team, pro familia München

EINLEITUNG

Was Sie noch nie über Mädchen und Sex wissen wollten (aber unbedingt fragen sollten)

Vor einigen Jahren wurde mir klar, dass meine Tochter bald kein kleines Mädchen mehr sein würde. Sie hatte die Pubertät vor sich, und das versetzte mich, gelinde gesagt, in Panik. Als sie noch im Kindergarten war und in ihrem Prinzessinnenkostüm herumspazierte, lernte ich die Untiefen der Prinzessinnen-Industrie kennen und gelangte zu der Überzeugung, dass ihre scheinbar unschuldige, hübsche, rosarote Kultur kleine Mädchen auf etwas Heimtückisches vorbereitete, das sie später erwartete. Und dieses »später« kam jetzt auf uns zugerast wie ein Lkw – ein Lkw, dessen Fahrerin zwölf Zentimeter hohe Absätze und einen superkurzen Minirock trug und Instagram checkte, während sie eigentlich auf die Straße schauen sollte. Ich hatte von Freunden, die Eltern von Teenagern waren, Horrorstorys darüber gehört, wie Mädchen in der sogenannten »Aufreiß«-Kultur behandelt wurden, wie sie zum Sexting, also anrüchigen und pornographischen Textnachrichten, gedrängt oder Opfer von Skandalen in den sozialen Medien wurden und wie allgegenwärtig das Thema Sex ist.

Ich hätte eigentlich Expertin im Decodieren der widersprüchlichen Botschaften der Mädchenkultur sein sollen. Ich reiste durch das Land und erklärte Eltern den Unterschied zwischen Sexualisierung und Sexualität. »Wenn kleine Mädchen ›sexy‹ spielen, bevor sie die Bedeutung des Wortes verstehen, lernen sie, dass Sex eine Darbietung für andere statt einer gefühlten Erfahrung ist«, sagte ich ihnen. Wohl wahr. Aber was ist, wenn sie dann die Bedeutung des Wortes verstehen?

Nicht, dass ich eine Antwort darauf gehabt hätte. Ich tat selbst auch nur mein Bestes, um eine gesunde und glückliche Tochter großzuziehen – in einer Zeit, in der Promis sich selbst als Sex-Objekte präsentierten, um Stärke, Macht und Unabhängigkeit zur zeigen, in der begehrenswertes Aussehen ein Ersatz für das Fühlen von Begehren zu sein schien, in der der Film Fifty Shades of Grey mit seiner psychisch labilen, auf ihren Lippen herumkauenden Heldin und seinem gruseligen, stalkenden Milliardär als ultimative weibliche Fantasie gepriesen wurde und in der keine Frau unter 40 noch Schamhaare zu haben schien. Natürlich habe ich als junges Mädchen auch endlos Songs wie »Sexual Healing« und »Like a Virgin« gehört, aber im Vergleich zu L’il Waynes »Bitch«, deren »strenge Diät« im Song »Love Me« aus nichts außer »Schwanz« besteht, oder Maroon 5’s Versprechen in »Animals«, eine Frau aufzuspüren und bei lebendigem Leib aufzufressen, waren sie Stoff für den Disney Channel. (In dem Video zu »Animals« stalkt Lead-Sänger Adam Levine das Objekt seiner Begierde in Metzgerkleidung, einen Fleischerhaken schwingend, und hat am Ende blutverschmiert Sex mit ihr.) Da möchte ich mich doch glatt bei Tipper Gore dafür entschuldigen, wie meine Freundinnen und ich uns in den 90er Jahren über sie lustig gemacht haben. Seither haben unzählige Studien die schockierende Häufigkeit sexueller Gewalt an amerikanischen Colleges nachgewiesen. Das Problem ist so gravierend geworden, dass Präsident Obama (selbst Vater zweier Töchter) sich eingemischt hat.

Obwohl Mädchen inzwischen zahlenmäßig stärker als Jungen an Colleges vertreten waren und obwohl sie sich richtig »reinhängten«, um ihre akademischen und beruflichen Träume zu realisieren, fragte ich mich: Geht es in Sachen Emanzipation voran oder rückwärts? Haben die jungen Frauen von heute mehr Freiheiten als ihre Mütter, wenn es um die Gestaltung sexueller Begegnungen geht, haben sie dabei mehr Einfluss und mehr Kontrolle? Können sie sich besser gegen Stigmatisierung wehren, und sind sie besser dafür gewappnet, ihre Lust zu erkunden? Und falls nicht, warum nicht? Mädchen leben heute in einer Kultur, in der zunehmend akzeptiert wird, dass es keinen Konsens gibt, wenn nicht beide Beteiligten unmissverständlich in eine sexuelle Begegnung einwilligen – nur ja bedeutet ja. So weit, so gut, aber was kommt nach dem Ja?

Ich musste als Mutter und Journalistin die Wahrheit hinter den Schlagzeilen herausfinden – was Realität und was Hype war. Also fing ich an, Mädchen zu interviewen. Ich führte mit ihnen in die Tiefe gehende, stundenlange Gespräche über ihre Einstellungen, Erwartungen und frühen Erfahrungen mit dem gesamten Spektrum der körperlichen Intimität. Ich befragte die Töchter von Freunden von Freunden (und die Freundinnen dieser Mädchen und auch deren Freundinnen) und Schülerinnen von Highschool-Lehrern, die ich kennen gelernt hatte. Ich bat Dozenten an Universitäten, die ich besucht hatte, Rundmails zu verschicken, in denen Mädchen, die daran interessiert waren, mit mir zu sprechen, eingeladen wurden, Kontakt zu mir aufzunehmen. Schließlich befragte ich mehr als 70 junge Frauen zwischen 15 und 20 – eine Altersspanne, in der die meisten sexuell aktiv werden. (Der durchschnittliche amerikanische Teenager hat mit 17 zum ersten Mal Sex; mit 19 hatten drei Viertel aller Teenager schon Sex. Laut einer 2015 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durchgeführten Studie haben auch in Deuschland die meisten Teenager mit 17 zum ersten Mal Geschlechtsverkehr.) Ich habe mich nur auf Mädchen konzentriert, weil es als Journalistin schon immer meine Leidenschaft und meine Berufung, war, über junge Frauen zu schreiben. Ich berichte seit mehr als 25 Jahren über ihr Leben. Mädchen werden bei ihren auf Sex bezogenen Entscheidungen mit besonderen Widersprüchen konfrontiert: Trotz der veränderten Erwartungen und Chancen unterliegen sie immer noch derselben alten Doppelmoral, dass ein sexuell aktives Mädchen eine »Schlampe« ist, während ein sexuell aktiver Junge als cooler »Aufreißer« gilt. Heute werden allerdings auch Mädchen, die auf Sex verzichten und früher als »tugendhaft« gegolten hätten, verächtlich als »Jungfrauen« oder als »prüde« bezeichnet. Oder wie eine Oberstufenschülerin es ausdrückte: »Normalerweise ist das Gegenteil von etwas Negativem etwas Positives, aber in diesem Fall ist beides negativ. Wie soll man sich da verhalten?«

Ich nehme nicht für mich in Anspruch, die Erfahrungen aller jungen Frauen wiederzugeben. Meine Interviewpartnerinnen waren entweder schon auf dem College oder hatten vor, dorthin zu gehen. Ich wollte gerade mit den jungen Frauen sprechen, die das Gefühl hatten, dass ihnen alle Chancen offenstehen, und die am meisten vom wirtschaftlichen und politischen Fortschritt profitierten. Ich hatte sie auch selbst ausgewählt. Doch ich hatte dabei mein Netz weit gespannt: Die Mädchen, die ich traf, kamen vom Land, aus Groß- und Kleinstädten. Sie waren Katholikinnen, Protestantinnen, Evangelikale, Jüdinnen und konfessionslos. Bei manchen waren die Eltern verheiratet, bei anderen geschieden; manche lebten in Patchworkfamilien, andere bei allein erziehenden Elternteilen. Die Mädchen hatten einen politisch konservativen oder liberalen Hintergrund, wenn auch die meisten eher letzterem zuneigten. Die meisten von ihnen waren Weiße, aber viele auch Afroamerikaner oder asiatischer, lateinamerikanischer oder arabischer Herkunft. Etwa zehn Prozent gaben an, lesbisch oder bisexuell zu sein, auch wenn die meisten, insbesondere wenn sie noch auf der Highschool waren, ihre Neigung noch nicht ausgelebt hatten. Zwei der Mädchen waren körperlich behindert. Die weitaus meisten kamen zwar aus der oberen Mittelschicht, aber es gab auch andere ökonomische Hintergründe. Um ihre Privatsphäre zu schützen, habe ich alle Namen und Details, die eine Identifizierung ermöglichen würden, geändert.

Zuerst machte ich mir Sorgen darüber, dass die Mädchen vielleicht nicht bereit sein würden, mit mir über ein so persönliches Thema zu reden. Doch diese Sorgen waren völlig unbegründet. Wo immer ich hinkam, gab es mehr Freiwillige, als ich befragen konnte. Die Mädchen waren nicht nur bereit zu sprechen, sondern geradezu begierig darauf. Kein Erwachsener hatte sich bisher für ihre Erfahrung mit der Sexualität interessiert – was sie taten, warum sie es taten, wie es sich anfühlte, was sie sich erhofften, was sie bedauerten, was ihnen Spaß machte. In den Interviews kam ich oft kaum dazu, eine Frage zu stellen. Die Mädchen fingen einfach zu sprechen an, und ehe wirs uns versahen, waren Stunden vergangen. Sie erzählten mir, was sie über Selbstbefriedigung und Oralsex (sowohl passiv als auch aktiv) und den Orgasmus dachten. Sie sprachen über den schmalen Grat zwischen Jungfrau und Schlampe. Sie sprachen über aggressive und einfühlsame Jungs, über Jungs, die Gewalt ausübten, und über Jungs, die ihnen den Glauben an die Liebe zurückgaben. Sie gestanden, sich zu Mädchen hingezogen zu fühlen, und sprachen über ihre Angst vor elterlicher Ablehnung. Sie sprachen über das komplizierte Terrain der sogenannten »Aufreiß«-Kultur, in der es nur um Sex und nicht um Gefühle geht. Sie ist heute an Colleges gang und gäbe und breitet sich allmählich auch an den Highschools aus. Etwa die Hälfte der Mädchen hatte Erfahrungen irgendwo im Spektrum zwischen Nötigung und Vergewaltigung gemacht. Diese Geschichten waren nur schwer zu ertragen. Ebenso beunruhigend war, dass nur zwei der betroffenen Mädchen zuvor schon mit einem Erwachsenen darüber gesprochen hatten.

Aber auch wenn sie über einvernehmliche sexuelle Begegnungen berichteten, tat es mir oft weh, den Mädchen zuzuhören. Das klingt vielleicht nicht neu, aber allein diese Tatsache ist schon hinterfragenswert. Wenn sich im öffentlichen Bereich so viel für die Mädchen verändert hat, warum hat sich dann nicht mehr – viel mehr – im privaten Bereich verändert? Kann es echte Gleichberechtigung im Klassenzimmer und auf den Vorstandsetagen geben, wenn es keine Gleichberechtigung im Bett gibt? 1995 erklärte der Nationale Ausschuss zur sexuellen Gesundheit Jugendlicher in den USA eine gesunde sexuelle Entwicklung zum Grundrecht des Menschen. Intimität zwischen Jugendlichen, so hieß es damals, sollte »einvernehmlich, frei von Ausbeutung, ehrlich, lustvoll und vor ungewollter Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten geschützt sein.« Wie kommt es, dass wir mehr als zwei Jahrzehnte später noch so beschämend weit von diesem Ziel entfernt sind?

Sara McClelland, Professorin für Psychologie an der Universität Michigan, schreibt über Sexualität als eine Frage der »Gerechtigkeit in intimen Beziehungen«, die grundlegende Aspekte der Geschlechterungleichheit, der ökonomischen Unterschiede, der Gewalt, der körperlichen Unversehrtheit, der körperlichen und geistigen Gesundheit, der Selbstwirksamkeit und die Machtdynamik in unseren persönlichsten Beziehungen berührt. Sie fordert uns auf, uns zu fragen: Wer hat das Recht, sexuell aktiv zu sein? Wer hat das Recht, sexuelle Aktivität zu genießen? Wer ist der Nutznießer der Erfahrung? Wer hat das Gefühl, sie verdient zu haben? Wie definieren die Beteiligten »gut genug«? Das sind im Zusammenhang mit weiblicher Sexualität in jedem Alter schwierige Fragen, aber besonders schwierig sind sie, wenn es um die ersten, prägenden Erfahrungen von Mädchen geht. Dennoch war ich entschlossen, sie zu stellen.

Einige der Mädchen, mit denen ich sprach, blieben noch lange danach mit mir in Kontakt. Sie hielten mich per E-Mail über neue Beziehungen oder sich verändernde Überzeugungen auf dem Laufenden. »Ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich wegen unseres Gesprächs mein Hauptfach gewechselt habe«, schrieb ein Mädchen. »Ich werde jetzt Gesundheitswissenschaften, mit Schwerpunkt auf Geschlechterrollen und Sexualität, studieren.« Eine Schülerin schrieb mir, dass unser Gespräch die Fragen beeinflusst habe, die sie bei der Besichtigung von Colleges gestellt habe. Eine dritte, eine Oberstufenschülerin, gestand ihrem Freund, dass alle ihre bisherigen Orgasmen gespielt gewesen seien. Eine weitere Schülerin forderte ihren Freund auf, sie nicht mehr in Bezug auf Orgasmen unter Druck zu setzen, da es den Sex ruiniere.

Die Interviews – mit den jungen Frauen selbst sowie mit Psychologen, Soziologen, Kinderärzten, Lehrern, Journalisten und anderen Experten – veränderten auch mich. Sie zwangen mich, mich mit meinen vorgefassten Meinungen auseinanderzusetzen, mein Unbehagen zu überwinden, mir über meine Werte klar zu werden. Ich glaube, dass ich dadurch zu einer besseren Mutter, einer besseren Tante und einer besseren Verbündeten für all die jungen Frauen (und jungen Männer) in meinem Leben geworden bin. Ich hoffe, dass es Ihnen nach der Lektüre dieses Buches genauso geht.