Geschrieben von Sarah Bosse
nach einem Drehbuch
von Dirk Ahner
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1. Auflage 2017
© 2017 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Die Pfefferkörner – Der Film © 2017
Letterbox Filmproduktion/NDR/ARD/Senator Film Produktion
Alle Rechte vorbehalten
Geschrieben von Sarah Bosse,
basierend auf dem Drehbuch von Dirk Ahner.
Fotos (Marion von der Mehden, Martin Rattini, Martina Jaider)
& Artwork mit freundlicher Genehmigung von
Wild Bunch Germany GmbH
Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign Bad Oeynhausen
SaS · Herstellung: UK
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-22048-8
V001
www.cbj-verlag.de
Kapitel 1
Benny rückte mit dem Zeigefinger den winzigen Kopfhörer seines Headsets zurecht. Immer wieder verrutschte das Teil, weil der blöde Bügel seiner Nerd-Brille im Weg war. Für einen Moment war durch den Lärm der hereinfahrenden U-Bahn nur ein Knacken zu hören. Jetzt durfte kein Fehler passieren!
Er war auf die Infos von Mia angewiesen, die hinter der großen Glasscheibe auf dem höher gelegenen Bahnsteig Position bezogen hatte. Durch das Teleobjektiv ihrer Kamera hatte sie das Geschehen gut im Blick. Er selbst saß nämlich mit dem Rücken zu dem Mädchen, das sie observierten. Luise hieß sie. Sie ging auf dieselbe Schule wie Mia und Benny, allerdings zwei Klassen über ihnen. Nun stand sie schon eine ganze Weile auf dem Bahnsteig, trat unruhig von einem Bein aufs andere und kaute dabei wie ein Weltmeister an den Fingernägeln.
Endlich hörte Benny Mias Stimme: »Adler an Zecke. Bist du in Stellung?«
»Zecke?«, zischte Benny leise ins Mikrofon seines Headsets, als hätte er nicht richtig gehört. »Wieso Zecke? Zecken sind voll fiese Viecher!«
»Das ist doch nur ein Bild.« Mias Stimme klang leicht genervt. »Zecken hängen sich an Leute dran.«
»Aber warum nicht Jaguar?«, protestierte Benny. »Adler an Jaguar. Klingt doch viel besser.«
»Halt mal die Luft an!«, rief Mia plötzlich halblaut. »Sie kommen!«
Jetzt hörte Benny vor lauter Aufregung auch noch das Blut in seinen Ohren rauschen. Mia hatte es gut, sie beobachtete alles aus sicherer Entfernung. Doch nun hing es von ihm ab, dass alles glatt lief.
Benny wagte es, sich vorsichtig umzudrehen. Ein Mauervorsprung bot ihm dabei Schutz.
Da schlenderten auch schon lässig die beiden Oberstufenschüler Olaf und Bosse um die Ecke. Sie waren älter als Luisa, viel zu cool für diese Welt und außerdem zu zweit. Klar, dass man sich da stark fühlte.
Jetzt kam der entscheidende Moment. Benny hoffte, dass Mia ein paar super Fotos gelingen würden, sonst hätten sie keine Beweise in der Hand.
Olaf nickte Luise auffordernd zu. »Na, du Opfer, hast du unsere Unterlagen?«, blaffte er.
Eingeschüchtert kramte Luise in ihrer Umhängetasche. Sie holte einen großen Umschlag hervor.
»Hier. Und jetzt gib mir die Fotos«, hörte Benny sie mit dünner Stimme sagen.
»Wenn du uns verpfeifst, wird die ganze Welt erfahren, was für eine Schlampe du bist«, raunte Olaf, indem er Luise eine Pocketkamera in die Hand drückte. Unsicher hielt sie sie fest, als wäre sie ein rohes Ei.
Bosse lachte dreckig. »Werden deinem Freund bestimmt nicht gefallen, die schönen Fotos, auf denen du ’nen anderen knutschst.«
Luise schwieg. Sie steckte den Apparat in ihre Tasche und machte sich aus dem Staub.
Die Anspannung war kaum noch auszuhalten. Benny mahnte sich zur Ruhe und gab einen Befehl in sein Tablet ein, als auch schon Mias Kommando durch das Headset kam: »Okay, Jaguar-Zecke! Du bist dran. Los!«
Benny stand auf und hielt zielstrebig auf die beiden Jungs zu. Sein Daumen schwebte über der Eingabe-Taste, als er sich, das Tablet und ein Jugendmagazin in der Hand, den beiden Jungen näherte und sie anrempelte.
Enter!
Sofort erlosch das grelle Neonlicht auf dem gesamten Bahnsteig und nur die Notbeleuchtung tauchte die Gleise in schummerigen, blauen Schein.
Das war der Moment der Überraschung, den Benny nutzte. Platsch! Ganz so wie er es erhofft hatte, hatte Olaf den Umschlag fallen gelassen.
Augenblicklich bückte sich Benny mit einem gemurmelten »T’schuldigung« danach und drückte ihn Olaf in die Hand, als im selben Moment die Neonröhren wieder aufleuchteten.
»Pass doch auf, Vierauge!«, maulte Olaf. Dann zogen Bosse und er mit einem selbstsicheren Grinsen auf den Lippen davon.
Benny indes steuerte auf die Rolltreppe zu, die ihn hinauf zu Mia bringen würde. Uff, das wäre geschafft!
Er atmete auf. Jetzt konnte er es wagen, den Umschlag hervorzuholen, den er unter dem Magazin verborgen gehalten hatte. Vorsichtig öffnete er die Lasche. Prüfungsunterlagen!
»Hey, das sind die Aufgaben für die Abi-Prüfung!«, wisperte er aufgeregt ins Headset. »Deswegen haben die also Luise erpresst! Klar, ihre Mutter ist die Schuldirektorin.«
»Logo«, spottete Mia, während sie die beiden Jungs weiter mit der Kamera im Auge behielt. »Die zwei haben schließlich den Horizont einer knienden Ameise. Kein Wunder, dass die die Prüfungsergebnisse klauen müssen.«
Im selben Moment beobachtete sie, wie Olaf stehen blieb und den Umschlag öffnete. Mia wusste bereits, was sich darin befand: Das Bild einer Comic-Figur, die dem Betrachter grinsend ihren nackten Hintern entgegenstreckte. Mia sah, wie sich Olafs Miene verfinsterte und er fluchte.
»Mist, Benny! Die haben’s schon rausgefunden«, warnte sie ihren Freund. »Zu mir! Schnell!«
Mit einem Handgriff hatte sie auch schon die Kamera im Rucksack verstaut und war losgerannt. Benny gab Fersengeld, hastete die Treppe hinauf und schloss zu ihr auf.
Olaf und Bosse waren ihnen dicht auf den Fersen.
»Da lang!«, rief Mia außer Atem.
So schnell sie konnten, flitzten sie aus dem Untergrund ins Tageslicht und die neuen Treppen hinauf, die direkt zu den Landungsbrücken am Hamburger Hafen führten. Für einen kurzen Moment waren sie geblendet.
Aber zum Überlegen blieb keine Zeit, Mia und Benny rannten weiter zur Hafencity, über die Brücke auf das Ponton.
Nur kurz wagten sie, sich umzublicken, und sahen, wie die beiden Jungen bereits angesprintet kamen. Sie rannten keinesfalls die Rampe hinunter, sondern jumpten wie Parcours-Profis direkt vom Podest, als wäre es nichts.
»Die beiden haben vielleicht den Horizont einer knienden Ameise«, keuchte Benny. »Aber sie sind verdammt schnell.«
Doch auf Mias Gesicht machte sich trotz der Anstrengung ein Grinsen breit, denn sie hatte etwas bemerkt. »Aber nicht mehr lange. Los, rüber zu den Magellanterrassen!«, kommandierte sie und rannte die schräge Brücke empor.
Hier befand sich nämlich ein Seifenblasenkünstler, der mit zwei Stangen, an deren Enden große Ringe befestig waren, bunt schillernde Kunstwerke in den strahlend blauen Himmel schickte.
Vor ihm stand der große Eimer mit der Lauge.
Im Vorbeirennen versetzte Mia dem Eimer einen gezielten Kick.
Entsetzt riss der Mann die Arme in die Höhe und fluchte, während sich die glitschige Brühe über die Holzbohlen der Brücke ergoss.
Benny schlug sich die Faust in die hohle Hand, als er Bosse und Olaf im hohen Bogen hinschlagen sah. »Oh, oh, voll auf die Fresse! Sehr unspektakulärer Stunt.«
Und tatsächlich rutschten die beiden bei jedem Versuch aufzustehen, immer wieder aus.
Benny ließ es sich nicht nehmen, den beiden Jungen eine lange Nase zu zeigen. So viel Zeit musste sein! »Da habt ihr euch mit den falschen angelegt, ihr Hirngrufties!«
Doch er hatte sich zu früh gefreut.
Der Vorsprung, den Mia und er herausgeholt hatten, schmolz dahin wie Eiscreme in der Sonne. Olaf und Bosse hatten schließlich das Geländer zu packen bekommen und sich hochgezogen. Die beiden waren wirklich nicht nur verdammt schnell, sondern auch irre geschickt. Für sie war es kein großes Ding, den Höhenunterschied von der Brücke zum Hafen hinunter zu überwinden, ohne den Weg über die Brücken und Rampen zu nehmen. Wie zwei Affen, die sich durch Baumkronen hangeln, waren sie unterwegs!
Mia und Benny liefen die Gangway hinüber zum Anleger. Schon bald begann ihre Lunge zu stechen, so schnell rannten sie. Dicht hinter ihnen auf den Bohlen waren die Schritte der Jungen zu hören. Bedrohlich donnernd kamen sie näher, als sie auf den Anleger hinauseilten.
»Verdammt, hier geht’s nicht weiter!«, hörte Benny Mia fluchen. Sie hatten das Ende des Schiffsanlegers erreicht.
Doch die Rettung befand sich direkt vor ihnen: Ein Lastenkorb, den Hafenarbeiter gerade beladen hatten, wurde soeben von einem Kran in die Höhe gezogen.
Mia zögerte keine Sekunde und kletterte kurzerhand hinein. »Schnell, Benny!«
Doch anstatt hinterher zu springen, blieb Benny auf dem Kai stehen und blickte sich nervös um.
»Was ist?«, drängte Mia. »Los, spring rein!«
»Ich kann nicht!« Benny klang wirklich verzweifelt.
Mia streckte die Hand nach ihm aus. »Warum denn nicht?«
Aber Benny rührte sich nicht von der Stelle, während Olaf und Bosse gefährlich nahe kamen.
»Hey, ihr kleinen Hosenscheißer! Her mit dem Umschlag!«, forderte Bosse.
»Den könnt ihr euch bei der Polizei abholen!«, brüllte Mia und packte Benny einfach am Schlafittchen. »Benny, jetzt komm, verdammt! Die kriegen uns sonst noch!«
Endlich gab Benny sich einen Ruck, aber es war zu spät, um in den Korb zu klettern. Der setzte sich bereits in Bewegung, und Benny musste sich an der Brüstung festklammern.
Olaf war schnell. Verdammt schnell. Mit wenigen großen Schritten hatte er Benny erreicht und packte ihn am Hosenbein, sodass Bennys Hose bis zu den Knien hinunterrutschte.
Mia hatte ihren Freund allerdings fest im Griff, und Benny schaffte es, seinen Verfolger mit ein paar kräftigen Zappelbewegungen abzuschütteln, wie eine lästige Spinnenwebe.
»Hier, komm.« Mit letzter Kraft zog Mia Benny schließlich in den Lastenkorb, auf dessen Boden sie erst einmal liegen blieben und nach Luft schnappten.
Bosse und Olaf blieben fluchend auf dem Kai zurück.
Da fing Mia an zu lachen! Sie zeigte auf Bennys Glücksbärchi-Shorts. »Ist das ’ne Unterhose oder ’ne Waffe?«
Verlegen zog Benny die Hose wieder hoch. Wie peinlich! »Hat mir meine Oma geschenkt«, murmelte er. Ängstlich spähte er über den Rand des Korbes.
Unter ihnen wurden Olaf und Bosse immer kleiner, je höher der Korb stieg.
»Euch mach ich fertig!«, brüllte Bosse mit erhobener Faust.
Benny beobachtete, wie die beiden Jungen von einem großen Pfahl aus hinüber zu einer Leiter sprangen, die an der Außenwand des Schiffes festgemacht war, als hätten sie eingebaute Sprungfedern. Für die beiden Parcours-Profis eine leichte Übung.
»Mist!«, fluchte Benny.
Denn im selben Moment, als der Lastenkorb auf Deck des großen weißen Frachters aufsetzte, kamen auch Bosse und Olaf über die Reling geklettert.
Mia und Benny versuchten zu flüchten, kreuzten das Schiff durch die Gänge, kletterten Treppen hinauf, aber es war ein sinnloses Unterfangen. Am Bug des Schiffes hatten die beiden sie eingeholt. Hier ging es nicht weiter. Tief unter ihnen, hinter der weißen Reling, platschte das Wasser gegen den Schiffsrumpf.
»Sackgasse!«, keuchte Benny enttäuscht.
»Verdammt, hier geht’s nicht weiter!«, fluchte Mia.
Sie saßen in der Falle!
Wie schlau müssen die sich jetzt vorkommen, dachte Benny, als Olaf und Bosse grinsend auf sie zu geschlendert kamen. Ganz in Chuck-Norris-Manier ließ Bosse die Fingerknochen knacken!
Benny war enttäuscht. Er wäre so gerne zusammen mit Mia aus diesem Abenteuer als Held hervorgegangen. Sie beide gegen die blöden Oberhirnis!
Mia und er … Mia … Aus dem Augenwinkel lugte er zu dem sommersprossigen Mädchen hinüber. Der Wind fing sich in ihren langen aschblonden Haaren. Er hätte sie so gern beeindruckt.
Dann fiel ihm etwas ein.
Zugegeben, die Kampfsport-Figur, in die er jetzt mutig hineinsprang, fiel ziemlich ungelenk aus und erinnerte eher an einen sterbenden Schwan. Aber es war immerhin ein Versuch!
Er riss die Hände in die Höhe und knurrte: »Schön vorsichtig! Ich kann Kibotu!«
Die erhoffte Wirkung blieb aus. Bosse und Olaf kamen unbeirrt weiter auf Benny zu.
Jetzt ist es gleich vorbei, dachte Benny. Jetzt vermöbeln die mich!
Da zerriss das schrille Tatütata einer Polizeisirene die Luft.
»Die Bullen!« Bosse drehte sich auf dem Absatz um.
Erleichtert sah Benny in seiner seltsamen Krähenhaltung, wie die beiden Jungs die Flucht ergriffen.
Plötzlich bremste Olaf mit quietschenden Sohlen ab und griff hinter eine der Aufbauten. »Warte!«, rief er seinem Kumpel zu.
Und da stand sie. Alice. Mias kleine Schwester.
In der Hand hielt sie ein Spielzeug-Megafon aus Plastik. Die vermeintliche Polizeisirene!
Mia traute ihren Augen kaum. »Alice! Bist du uns etwa nachgelaufen?«
Alice ließ sich von der Situation überhaupt nicht beeindrucken. Sie war genervt. Konnte Mia nicht einmal dankbar sein?
»Vielen Dank, Alice. Toll, dass du uns retten willst, Alice. Wir sind froh, dich dabei zu haben, Alice«, antwortete sie daher gereizt.
Aber Mia war mindestens genauso genervt. »Mann, warum haben kleine Schwestern keinen Ausschaltknopf?«
Jetzt reichte es Bosse aber. »Klappe halten, alle beide!«
»Was soll der Mist?« Olaf riss Alice das Megafon aus der Hand und knallte es auf den Boden, sodass es scheppernd in seine Einzelteile zerbrach. »Willst du uns veräppeln, oder was?«
Alice floh hinüber zu Mia und Benny. Dann zog sie ihr Smartphone aus der Tasche und hielt es triumphierend in die Höhe. Spöttisch grinsend trällerte sie: »Nee, eigentlich wollte ich nur Zeit schinden.«
Die Fragezeichen standen den beiden Jungen ins Gesicht geschrieben. Was wollte die kleine Göre ihnen damit sagen?
Doch auf die Antwort brauchten sie nicht lange zu warten. Hinter ihnen tauchten zwei Polizisten auf.
Polizist Krabbe, ein gemütlicher Rothaariger, schnappte sich Bosse. »Ah, da haben die Pfefferkörner ja mal wieder für Recht und Ordnung gesorgt!«
Sein Kollege Schirmer stellte lächelnd fest: »Irgendwann macht ihr uns noch arbeitslos.« Dabei drehte er Olaf die Arme auf den Rücken.
»Wir haben nichts gemacht. Ehrlich, ich schwöre!«, startete Bosse einen wenig erfolgreichen Versuch.
Auch Olaf spielte die Unschuld in Person. »Die Pfefferkörner haben uns ganz fies ausgetrickst!«
Die beiden Beamten beeindruckte das wenig.
»Na, das besprechen wir mal ganz in Ruhe auf der Wache«, sagte Krabbe. »Und jetzt Abmarsch!«
***
Wenig später fanden sich Benny, Mia – und auch Alice – im Hauptquartier der Pfefferkörner wieder, einem alten Lagerraum in der Hamburger Hafencity. Der war zwar mit allem möglichen Gerümpel und Kisten vollgestellt, hatte aber auch noch genug Platz für all das, was ein gutes Ermittlerteam so braucht. Es gab einen Schreibtisch mit Computern und eine große Tafel, auf der man Übersichtsskizzen zeichnen konnte und – ganz wichtig – ein bequemes Sofa und eine Hängematte, in der man prima nachdenken konnte.
Benny öffnete das Fenster, um frische Luft und Sonnenstrahlen hereinzulassen, während Mia sich aus ihrer Jeansjacke pellte.
Nur Alice war noch ganz erfüllt von dem Abenteuer, das sie gerade erlebt hatten. »Boah, Leute, das war ja der Wahnsinn!«
Da fiel Mia etwas ein. »Sag mal, was soll das eigentlich sein, Kibotu?«
»Kinder-Boden-Turnen«, erklärte Benny die Abkürzung. Er bekam sehr wohl mit, dass Mia die Augen verdrehte. »Hey, darin war ich wirklich mal der Beste!«, rief er.
Mia seufzte. »Für solche Aktionen sind wir einer zu wenig. Wir brauchen noch einen dritten Mann. Oder eine dritte Frau.« Und noch bevor Alice etwas sagen konnte, drehte sich Mia ruckartig zu ihrer kleinen Schwester um und zischte: »Und damit meine ich nicht dich!«
»Und warum nicht?«, meckerte Alice beleidigt.
»Weil du zu klein bist, du Zwerg!«, motzte Mia.
»Und du bist hier der Boss, oder was?«, blaffte Alice zurück. Trotzig ließ sie sich auf das Sofa plumpsen. »Wir haben die Typen doch gekriegt! Das war echt der Hammer. Kommen die eigentlich jetzt in den Knast?«
Benny zuckte mit den Schultern. »Na ja, ihr Abi können die jedenfalls erst mal vergessen.«
»Was war da eigentlich los vorhin im Korb?«, wollte Mia von Benny wissen. »Hast du etwa Höhenangst?«
Benny fühlte sich ertappt. Er wich Mias Blick aus. »Pfft … Blödsinn.«
Aber Mia hatte ihn schon durchschaut. Für sie war die Sache klar. Das war also der Grund, warum Benny so vehement gegen eine Klassenfahrt nach Südtirol gewettert hatte. »Jetzt kapier ich’s. Deshalb hast du so einen Horror vor den Bergen.«
Alice wurde hellhörig und richtete sich auf dem Sofa auf. »Du hast Höhenangst? Echt jetzt? Wie uncool.«
Benny reichte es. Was war schon so schlimm daran? Musste er sich dafür tatsächlich rechtfertigen?
»Ich hasse die Berge, okay?« erwiderte er wütend. »Ich bin Hamburger. Mein Element ist das Wasser.« Dann wandte er sich an Mia. »Mann, Mia, warum musstest du den alten Schulze auch bequatschen, ausgerechnet nach Südtirol zu fahren.«
? dachte Mia genervt. Das hat mir gerade noch gefehlt. maulte sie ihre kleine Schwester an. Dann wandte sie sich an Benny. »So habe ich Luca noch nie erlebt. Ich glaube, er braucht unsere Hilfe. Bist du dabei?«
Was für eine Frage. Wenn Mia ihn um etwas bat, dann war er selbstverständlich dabei!
»Klar«, antwortete er etwas verlegen.
»Natürlich bin ich dabei. Ich tu doch alles, was du willst, mein Schnuckiputzischatzilein«, trällerte Alice süßlich und verzog ihre Lippen zu einem Kussmund. Längst hatte sie mitbekommen, dass Benny in Mia bis über beide Ohren verknallt war.
Mia und Benny holten tief Luft. »Klappe, Alice!«, riefen sie im Chor.
Ihre Gedanken kreisten um Luca. Was war da bloß los in seiner wunderschönen Heimat, in dem verträumten Tal in den Bergen?
***
Luca liebte die Berge! Wann immer er dazu Gelegenheit hatte, machte er Wanderungen hinauf in die schroffen Felsen, die sich imposant in den Himmel streckten. Bei einer dieser Wanderungen hatte er auch den Eingang zu einem alten Bergwerk gefunden. Klar, dass er den verlassenen Stollen erkunden wollte, schließlich rankte sich eine geheimnisvolle Legende um den Berg.
Es war für ihn ein Leichtes gewesen, mit einem verbogenen Nagel das Vorhängeschloss an der verwitterten Holztür zu öffnen. Das »Zutritt verboten!«-Schild am Eingang übersah er dabei geflissentlich. Was sollte ihn hier an diesem unwirtlichen Ort schon erwarten, außer vielleicht irgendwelches Getier?
Luca war gut ausgerüstet mit einer warmen, wetterfesten Jacke, Kletterseilen und natürlich einer Taschenlampe, deren Licht einen schwachen Schein in den finsteren Schlund des Berges warf.
In dem alten Stollen war es kalt und feucht. Es tropfte von den mit Spinnweben behangenen Wänden und der Wind pfiff hinter ihm her, als er sich im Licht der Taschenlampe immer tiefer vorwagte, vorbei an mächtigen Stützbalken aus Eichenholz. Die mussten jahrhundertealt sein!
Lucas Atem ging vor Aufregung keuchend, als er immer weiter hinein lief in das unterirdische Labyrinth. An einer Gabelung musste er sich entscheiden. Beide Wege sahen wenig einladend aus.
Links rum. Hier wurde der Gang bald enger und dunkler.
Luca stutzte. Da baumelte doch etwas von der Decke herab! Was war das? Eine Riesenfledermaus?
Aber es war etwas anderes. Etwas Unheimliches. Ein seltsames Gebilde aus Zweigen, Knochen, Fell und Federn, das wie ein großer Tierschädel anmutete.
Starr vor Schock stand Luca vor dem Gebilde und konnte den Blick nicht von ihm wenden.
Plötzlich war ein Fauchen und Keuchen zu hören, als käme es direkt aus dem Rachen eines Monsters, das hier unten in der Dunkelheit auf der Lauer lag. Fast glaubte Luca, seinen heißen Atem zu spüren.
Ein Monster, das sprechen konnte!
Luca meinte, das Blut würde ihm in den Adern gefrieren, als er deutlich die Worte hörte: »Du bist verflucht!«
Ein lauter Schrei drang aus Lucas Kehle. Es schrie förmlich aus ihm heraus.
Endlich konnte er sich aus der Starre lösen.
Bloß nicht stolpern, bloß nicht hinfallen, nur raus hier!, waren seine einzigen Gedanken, als er die Flucht ergriff.