ÜBER DAS BUCH

Ein großer Familienroman über Verrat und Vertrauen, Hass und Liebe Wien, Gegenwart: Für Ellinor bricht eine Welt zusammen, als eines Tages durch Zufall ein lang gehütetes Geheimnis ans Licht kommt: Ellinor und ihre Mutter sind mit dem Rest der Familie nicht blutsverwandt. Auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln macht sich Ellinor auf den Weg nach Dalmatien und Neuseeland, wo sie einer tragischen Liebesgeschichte und einem großen Familiendrama auf die Spur kommt ... Diese Reise bringt ihr Leben durcheinander und ihre Ehe ins Wanken. Wird sie am Ende Geborgenheit und ihr Glück finden? Ein dunkles Familiengeheimnis, eine unglaublich starke Geschichte, große Frauenunterhaltung

ÜBER DIE AUTORIN

Sarah Lark, geboren 1958, wurde mit ihren fesselnden Neuseeland- und Karibikromanen zur Bestsellerautorin, die auch ein großes internationales Lesepublikum erreicht. Nach ihren fulminanten Auswanderersagas überzeugt sie inzwischen auch mit mitreißenden Romanen über Liebe, Lebensträume und Familiengeheimnisse im Neuseeland der Gegenwart. Sarah Lark ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Schriftstellerin, die in Spanien lebt.

SARAH LARK

DAS GEHEIMNIS DES WINTERHAUSES

Roman

DAS ANGENOMMENE KIND

KAPITEL 1

»Wie schlimm ist es? Und … wie kommt das so plötzlich?«

Ellinor stürzte aufgewühlt über den Flur der Intensivstation auf den ersten Arzt zu, der ihr über den Weg lief. Der Mediziner, ein noch recht junger Mann mit müden Augen, blickte sie irritiert an.

»Um wen geht es denn?«, erkundigte er sich und warf dann einen Blick durch die Glasscheibe auf das Patientenbett, neben dem ein Dialysegerät stand. »Ach, Frau Henning … das akute Nierenversagen … Gehören Sie zur Familie?«

Er musterte sie fragend. Äußerlich war keine Familienähnlichkeit zu erkennen. Ellinor hatte einen sehr hellen Teint, dunkelblondes Haar und grüne Augen. Karla war eher ein dunkler Typ.

Ellinor nickte. »Sicher … Ich meine, ja. Wir sind Cousinen zweiten Grades.« Sie nahm sich zusammen. »Bitte entschuldigen Sie, ich habe mich nicht mal vorgestellt. Aber ich … Karlas Mutter rief uns an und sagte, sie läge im Krankenhaus, und da bin ich sofort hergekommen. Ich wusste nur nicht … Intensivstation … und dann … Bitte sagen Sie mir, dass es nicht so schlimm ist, wie es aussieht!«

Als Ellinor an der Anmeldung im Foyer des Krankenhauses nach Karla Henning gefragt hatte, war sie auf die Intensivstation verwiesen worden. Dort hatte sie ihre in Tränen aufgelöste Tante im Gang vor den Krankenzimmern vorgefunden, offenbar unfähig zu begreifen, was mit ihrer Tochter geschah. Ellinor hatte sich an eine Schwester gewandt, die ihr vor dem Besuch bei ihrer Cousine in die Schutzkleidung geholfen hatte. Sie war sehr freundlich gewesen, hatte ihr aber keine näheren Auskünfte über Karlas Zustand geben können. Ellinor kämpfte jetzt noch gegen den Schock an, den sie empfunden hatte, als sie schließlich an das Bett getreten war. Sie hatte weniger all die Schläuche angsteinflößend gefunden, die ihre Cousine mit diversen Geräten verbanden, als den Anblick ihres aufgedunsenen, gelblich blassen Gesichts, die Ödeme und ihr rasselndes Atmen. Karla schien kaum bei Bewusstsein gewesen zu sein, nur ein Flackern ihrer Augenlider hatte einen schwachen Beweis dafür geboten, dass sie Ellinor erkannte. Sie hatte nicht reagieren können, als Ellinor ihre Hand genommen und leicht gedrückt hatte.

Ellinor war entsetzt über diesen raschen Verfall. Am Tag zuvor am Telefon war ihr die Cousine noch fast normal erschienen, hatte lediglich über Müdigkeit und krampfartige Schmerzen im Unterbauch geklagt. »Womöglich wieder die Nieren«, hatte sie seufzend gesagt. Karla litt unter Bluthochdruck und hatte schon früher einmal Nierenbeschwerden gehabt. Ellinor hatte ihr das Versprechen abgenommen, gleich am nächsten Tag zum Arzt zu gehen. Und dann war die Sache wohl eskaliert.

»Nun beruhigen Sie sich doch erst mal«, bemerkte der Arzt. »Frau …«

Ellinor fasste sich an die Stirn. »Sternberg, Ellinor Sternberg«, stellte sie sich endlich vor. »Bitte entschuldigen Sie. Ich bin einfach … ich bin total durcheinander. Mein Mann hat … er hat mir nicht gesagt, wie schlimm es ist …«

Tatsächlich hatte Gernot es nicht einmal für nötig gehalten, Ellinor auf dem Handy anzurufen, nachdem er den Anruf ihrer Tante entgegengenommen hatte. Er hatte nur einen Zettel auf dem Küchentisch für sie zurückgelassen, bevor er in sein Atelier gefahren war. Karla in Uniklinik. Du sollst dich mal kümmern.

Ellinor war daraufhin sofort losgefahren, wobei sie zunächst gar nicht an Karlas gestriges Unwohlsein gedacht hatte, sondern eher an einen Unfall.

»Es … es ist doch schlimm, oder?«, fragte sie jetzt leise.

Der junge Arzt sah sie mitfühlend an. »Es ist natürlich nicht schön«, sagte er freundlich. »Aber jetzt haben wir Frau Henning ja erst mal an die Dialyse angeschlossen, ihr Zustand sollte sich also bald bessern. Wie es dann allerdings langfristig aussieht …« Der Arzt rieb sich die Stirn. »Kommen Sie doch mit ins Büro«, forderte er Ellinor auf. »Wir müssen uns nicht hier auf dem Flur unterhalten.«

Ellinor folgte ihm zu einem Besprechungszimmer und kam sich dabei ziemlich dumm vor. Sie machte sicher nicht den besten Eindruck, dabei verstand sie sich eigentlich ganz gut darauf, mit Krisen umzugehen. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität managte sie diverse Verwaltungs- und Organisationsaufgaben, unterrichtete und betreute Projekte. Sie konnte gut mit Menschen umgehen und war durchaus multitaskingfähig. Nun allerdings verließ sie jede Gelassenheit. Karla war weit mehr für sie als eine Verwandte. Sie waren fast gleich alt, engste Freundinnen und standen sich nah wie Schwestern. Der Gedanke, Karla zu verlieren, war Ellinor unerträglich.

»Was hat sie denn nun genau?«, fragte Ellinor, als ihr der Arzt, der sich inzwischen als Dr. Bonhoff vorgestellt hatte, einen Stuhl anbot. Er selbst nahm an einem Schreibtisch Platz.

»Ihre Cousine leidet an einer akuten Nierenentzündung, einer Glomerulonephritis. Das bedeutet, dass die Nierenkörperchen es nicht mehr schaffen, die Abfallprodukte aus dem Blut zu filtern, was zu Vergiftungserscheinungen und zur Ödembildung führt. Es wird kein Harn mehr ausgeschieden. Bei Frau Henning nimmt die Erkrankung leider einen sehr schweren Verlauf, wir haben es zurzeit mit einem akuten Nierenversagen zu tun.« Der Arzt spielte mit einem Kugelschreiber.

»Aber das … das ist reversibel?«, erkundigte sich Ellinor. »Sie wird wieder gesund?«

Dr. Bonhoff spielte mit einem Rezeptblock auf dem Schreibtisch. »Vorerst bleiben wir da optimistisch«, meinte er vorsichtig. »Glomerulonephritis ist häufig heilbar. Es gibt allerdings Fälle, in denen die Behandlung nicht anschlägt. Bei Ihrer Cousine sehen wir bislang keine Besserung, das muss allerdings noch nichts heißen. Wir versuchen es auf jeden Fall weiter.«

»Und wenn nicht? Wenn es nicht hilft?«, fragte Ellinor entsetzt. »Sie … sie wird doch nicht sterben?«

Dr. Bonhoff schüttelte den Kopf. »Daran wollen wir zunächst nicht denken, es gibt noch sehr viele Dinge, die wir tun können«, erklärte er. »Wenn es zu chronischem Nierenversagen kommt, steht uns die regelmäßige Dialyse offen. Und eine Transplantation, wenn es gar nicht anders geht. Aber zunächst bleiben wir bei der begonnenen Behandlung. Frau Henning wird sich sicher bald besser fühlen.«

»Und woher kommt so was?«, fragte Gernot und hängte seinen Mantel an die Garderobe.

Er war gleichzeitig mit Ellinor nach Hause gekommen, aber im Gegensatz zu ihr war er zu Fuß unterwegs gewesen. Der typische Wiener Herbstregen hatte ihn völlig durchnässt, und er war dementsprechend schlecht gelaunt. Nichtsdestotrotz hatte ihm Ellinor schon im Treppenhaus aufgeregt von Karla erzählt, ohne wirklich großes Mitgefühl zu erwarten. Gernot und Karla mochten sich nicht besonders.

»Das wissen sie nicht.« Ellinor seufzte. »Es ist wohl eine Überreaktion des Immunsystems. Vielleicht durch eine Infektion ausgelöst … oder durch den hohen Blutdruck …«

»Ich hab immer gesagt, sie soll mehr Sport treiben«, bemerkte Gernot und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. »Sie ist ganz schön dick.«

Ellinor machte Anstalten, den von ihr am Morgen vorbereiteten Auflauf in den Ofen zu schieben. Gernot schüttelte jedoch den Kopf und wies sie aus der Küche. Ein paar Minuten später brachte er eine liebevoll arrangierte Platte mit Sandwiches, belegt mit Räucherlachs, verschiedenen Käsesorten und Mixed Pickles ins Wohnzimmer.

»Ich bin beim Feinkostgeschäft vorbeigekommen«, sagte er, als er ihren Blick sah. »Und ich konnte nicht widerstehen. Wir haben schließlich keine Gewichtsprobleme …« Er lächelte und musterte Ellinors Figur wohlgefällig.

Ellinor erwiderte das Lächeln. Sie fühlte sich geschmeichelt, und natürlich war das Essen eine wunderbare Überraschung – zumindest solange sie sich keine Gedanken darüber machte, was all die Leckereien gekostet hatten. Sie hätte mit dem Geld wahrscheinlich den Lebensmittelvorrat für eine ganze Woche bezahlen können. Nun ließ sie sich allerdings auch noch dazu verleiten, eine teure Flasche Wein zu öffnen. Etwas Gutes musste sie sich heute tun, seit dem Besuch im Krankenhaus fühlte sie sich wie gerädert.

»Karlas Bluthochdruck ist genetisch bedingt«, verteidigte sie dann ihre Cousine zum wiederholten Mal. Gernot wurde nicht müde, Zusammenhänge zwischen Karlas Erkrankung und ihrem Lebensstil ausfindig zu machen. »Sie raucht nicht, und sie ist nicht übergewichtig – nicht jeder kann so drahtig sein wie du …« Gernot hatte bei der Verteilung der Gene Glück gehabt. Er war schlank und muskulös. Mit seinem dunklen, vollen Haar, dem markanten Gesicht und den mandelförmigen braunen Augen war er ein äußerst gut aussehender Mann. »Karla ernährt sich gesund«, fuhr Ellinor fort. »Und fast salzlos. Sie kann nichts für den hohen Blutdruck, Gernot, sie hat nun mal diese Veranlagung.«

»Und warum hast du keine Blutdruckprobleme?«, fragte er provokant. »Ihr seid doch schließlich nah verwandt. Nein, nein, damit kannst du mir nicht kommen. Irgendwas ist da. Irgendwas macht sie falsch …«

Ellinor seufzte und gab auf. Sie würde Gernot nicht überzeugen können, er neigte dazu, starrsinnig an seinen Ansichten festzuhalten. Und in gewisser Weise war das ja gut so. Sie war stolz darauf, dass ihr Mann zu seinen Überzeugungen stand – auch wenn es ihm das Leben nicht immer leichter machte. Gernot war Künstler, Maler und Bildhauer, und es kam immer wieder vor, dass ihm Galerien und Agenten Vorschläge dazu unterbreiteten, wie er seine Werke gefälliger und damit besser verkäuflich gestalten könnte – indem er kleinere Leinwände benutzte zum Beispiel und nicht so düster malte. Dabei formulierten die meisten Kritiker sehr viel diplomatischer als Karla, die es nicht lassen konnte, sich über Gernots Kunst lustig zu machen.

»Wenn man sich so was an die Wand hängt, wird man depressiv«, hatte sie beim Besuch seiner letzten Ausstellung angemerkt. »Kein Wunder, dass das keiner kauft. Wer will denn ein Bild von trauertragenden Darmschlingen im Wohnzimmer? Zumal das Wohnzimmer mindestens Ballsaalgröße aufweisen müsste, um es aufzuhängen. Gernot malt für die Zielgruppe ›selbstmordgefährdete Schlossbesitzer‹. Und die ist ziemlich klein.«

Gernot ließ sich jedoch weder von Karlas bösartigen Schmähungen noch von der konstruktiven Kritik seiner Galeristen beeindrucken. Seine Zeit, davon war er überzeugt, würde kommen, und irgendwann würde seine Kunst sich durchsetzen. Solange hielt er an seinem Stil fest. Ich bin Künstler, kein Kunstgewerbetreibender, pflegte er abwertend zu bemerken, wenn ihn jemand danach fragte, ob er nicht ein Porträt von seinem Hund oder ein Bild von seinem Haus malen könne.

Ellinor bestärkte ihren Mann in der Ablehnung solcher Angebote, wenn auch mitunter etwas halbherzig. Natürlich war sie stolz, wenn Kritiker und Zeitungen nach einer Ausstellung lobende Worte für ihn fanden. Sie würde es dennoch begrüßen, wenn er etwas mehr zum Familieneinkommen beitrüge. Zurzeit lastete alles auf ihr, und es war ihr folglich fast unmöglich, Geld beiseitezulegen, um sich ihren dringendsten Wunsch vielleicht doch noch erfüllen zu können. Ellinor versuchte seit Jahren erfolglos, schwanger zu werden, und hoffte auf eine künstliche Befruchtung, bevor sie zu alt dafür war. Sie war siebenunddreißig, die Zeit wurde knapp. Bislang war es ihr allerdings nicht möglich gewesen, den zu leistenden finanziellen Eigenanteil aufzubringen, und sie konnte sich nur damit trösten, dass späte Schwangerschaften in ihrer Familie lagen. Auch bei ihrer Mutter war das so gewesen.

»Ich hab andere Probleme«, sagte sie jetzt. »Wahrscheinlich komme ich nach einem anderen Zweig der Familie. In diesem Fall ein Glück. Mein Blutdruck ist eher zu niedrig. Und jetzt schenk uns den Wein ein und erzähl mir von deinem Tag. Der kann eigentlich nur besser gewesen sein als meiner …«

Gernot erzählte wie gewohnt eher wenig und nicht gerade etwas Aufmunterndes. Statt in seinem Atelier zu arbeiten, wie Ellinor angenommen hatte, hatte er sich an diesem Nachmittag mit seiner Agentin getroffen, um diverse geplante Ausstellungen und Projekte zu besprechen. Gernot hielt große Stücke auf Maja, die ihn betreute, seit er sich einige Monate zuvor von seinem langjährigen Agenten und Galeristen getrennt hatte. Mit Maja arbeitete er nun nach eigenen Angaben großartig zusammen. Ellinor sah das eher skeptisch, aber sie wagte nicht anzumerken, dass die junge Frau bislang noch keine einzige größere Ausstellung für ihn arrangiert hatte. Schließlich interpretierte Gernot jede kritische Äußerung als Ausdruck von Eifersucht. Er gab zu, eine Beziehung mit Maja gehabt zu haben, bevor er Ellinor vor fünf Jahren geheiratet hatte. Inzwischen, so behauptete er, sei das längst vorbei, sie seien nur noch Freunde und Geschäftspartner. Karla hatte da jedoch ihre Zweifel und pflegte sie Ellinor gegenüber wortreich zu äußern: Du brauchst doch nur zu beobachten, wie sie Gernot ansieht! Und dass sie sich nicht einkriegt darüber, wie toll diese komischen Bilder sind. Sie schmiert ihm permanent Honig ums Maul. Maja will was von deinem Mann, deshalb hat sie ihn in ihre Kartei aufgenommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er wieder anbeißt.

Ellinor verteidigte Gernot natürlich – sie glaubte an ihn, wollte an ihn glauben! Es konnte einfach nicht sein, dass Maja ihn nur deshalb vertrat, weil sie in ihn verliebt war. Die junge Frau hatte als Agentin Renommee, sie vertrat auch namhafte Künstler und würde ihren Ruf nicht für einen Klienten aufs Spiel setzen, von dessen Können sie nicht überzeugt war. Trotzdem blieben bei Ellinor Zweifel, und sie hatte den Verdacht, dass Gernot das wusste. Auf jeden Fall würde sie sich hüten, irgendetwas gegen Maja zu sagen. Gernot konnte sehr verletzend werden, wenn er glaubte, dass sie ihm nicht vertraute.

Am nächsten Tag lagen für Ellinor in der Uni nur Büroarbeiten an. Sie brauchte kein Seminar zu leiten und konnte sich folglich den Vormittag freinehmen, um zu Karla in die Klinik zu fahren. Natürlich hoffte sie auf eine positive Entwicklung, aber Dr. Bonhoff, der schon wieder oder immer noch Dienst hatte und noch erschöpfter wirkte als am Tag zuvor, konnte keine Entwarnung geben. Ellinor traf ihn auf dem Flur vor der Intensivstation, und wieder gab er freundlich Auskunft.

»Nach der Dialyse sieht es natürlich etwas besser aus mit Ihrer Cousine«, erklärte er. »Die Nieren arbeiten allerdings immer noch nicht. Tatsächlich breitet sich die Entzündung trotz der Therapie aus. Wir suchen fieberhaft nach der Ursache und versuchen es inzwischen auch mit Antibiotika, falls ein Infekt vorliegt. Aber ich fürchte, wir haben es mit einer chronischen Nierenerkrankung zu tun …«

»Es wird also auf eine Dialysebehandlung hinauslaufen?«, fragte Ellinor. Sie war gefasster als am Tag zuvor. »Alle … alle paar Tage?«

Der Arzt nickte bedauernd. »Ja«, meinte er dann. »Das Problem ist allerdings, dass Frau Henning auch die Dialyse sehr schlecht verträgt. Schon bei dieser ersten Behandlung sind Komplikationen aufgetreten – unter anderem eine hypertensive Krise, ein plötzlicher Blutdruckanstieg. Wir haben das in den Griff bekommen, nur langfristig … Ihre Cousine muss auf jeden Fall besonders überwacht werden, auch zwischen den Behandlungen.«

»Und eine Transplantation?«, erkundigte sich Ellinor. »Käme die infrage?«

Dr. Bonhoff nickte. »Das wäre sicher das Beste. Allerdings wird es nicht einfach sein, einen Spender zu finden. Auf die Liste von Eurotransplant haben wir sie vorsichtshalber schon mal setzen lassen, aber sie hat eine seltene Blutgruppe, und es gibt noch andere Parameter … Es wird jedenfalls nicht leicht. Tut mir leid, dass ich Ihnen da wenig Hoffnung machen kann.«

Ellinor fuhr sich durchs Haar. »Gibt es nicht auch … Warten Sie … Wie nennt man das? Lebendspenden? Dass irgendein Freund oder Verwandter dem Kranken eine Niere abgibt? Ich meine … man hat doch zwei …«

Dr. Bonhoff rieb sich die Schläfe, eine für ihn offenbar charakteristische Geste. »Das wäre eine Möglichkeit«, räumte er ein. »Und tatsächlich wurde Frau Hennings Mutter auch schon getestet. Die Ergebnisse stehen noch aus.«

»Und wie sind die Chancen?«, fragte Ellinor.

Dr. Bonhoff hob die Schultern. »Das kann man nicht sagen. Allerdings finden sich in der näheren Verwandtschaft recht häufig passende Spender. Wenn Sie möchten, können Sie sich ebenfalls testen lassen. Allerdings sollten Sie das nicht leichtfertig entscheiden. Es gibt neben der Operation an sich viele Risiken. Müdigkeit, Thrombose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen … Und natürlich die Gefahr, eines Tages selbst an einer Nierenerkrankung zu leiden und dann nur noch über ein Organ zu verfügen. Sie sollten sich das auf jeden Fall gut überlegen.«

Ellinor nickte, obwohl ihr Entschluss eigentlich schon feststand. Natürlich würde sie eine ihrer Nieren spenden! Wenn es irgendeine Möglichkeit gab, Karla zu helfen, dann würde sie es tun.

Sie fasste neuen Mut, als sie sich von Dr. Bonhoff verabschiedete und für eine erneute Begegnung mit Karla wappnete. Der Arzt hatte sie vorgewarnt, was deren Zustand betraf. Ihre Cousine war von der Behandlung geschwächt und mochte den Besuch vielleicht sogar verschlafen.

Tatsächlich fand Ellinor sie in nicht viel besserem Zustand vor als am Tag zuvor. Karla schien sie kaum zu erkennen. Ellinor zog nichtsdestotrotz einen Stuhl an das Krankenbett und begann tapfer, ein bisschen von ihrer Arbeit zu erzählen und kleine Scherze zu machen.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie schließlich mit einem Anflug von Galgenhumor. »Wir finden eine Lösung. Mit meinen Eierstöcken ist zwar nicht viel los, aber meine Nieren funktionieren ganz großartig!«

KAPITEL 2

»Du bist verrückt!« Gernot schüttelte verständnislos den Kopf, nachdem er endlich begriffen hatte, was Ellinor ihm sagen wollte. Sie war mit ihrem Entschluss, Karla eine ihrer Nieren zu spenden, nicht einfach herausgeplatzt, sondern hatte sich genau überlegt, wie sie ihrem Mann ihr Anliegen verständlich machen konnte. Das änderte allerdings nichts an seiner ablehnenden Reaktion. »Du willst dich aufschneiden lassen, deine Gesundheit ruinieren, eine riesige Narbe in Kauf nehmen …« Gernot unterstrich seine Rede mit theatralischen Gesten.

»Die Narbe ist ja wohl das geringste Problem!«, unterbrach ihn Ellinor. »Man wird sie kaum sehen. Und sonst … Ich hab das nachgelesen, Gernot, es kommt eher selten zu Komplikationen. Die OP ist nicht sehr kompliziert. Und man kann gut mit nur einer Niere leben.«

»Klar. Deshalb hat die Natur auch dafür gesorgt, dass wir zwei haben!«, höhnte Gernot. »Das ist Irrsinn, Ellinor, das kannst du nicht machen.«

»Es könnte Karla das Leben retten!«, beharrte Ellinor. »Selbst wenn ich hinterher ein paar Beschwerden haben sollte, wäre es das wert!«

»Ein paar Beschwerden!« Gernot griff sich an die Stirn. »Wir reden nicht von Kopfschmerzen ab und zu, sondern von ganz massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Die du leichtfertig auf dich nehmen willst, nur um deiner Cousine ein paar Unannehmlichkeiten zu ersparen. Natürlich ist das kein Spaß, wenn man alle paar Tage zur Blutwäsche muss. Aber andere stecken das auch weg. Man kann mit der Dialyse leben, Ellinor. Das beweisen täglich Millionen Menschen auf der ganzen Welt.«

»Karla kann das offenbar nicht!«, wandte Ellinor ein.

Gernot verzog das Gesicht. »Deine geliebte Karla braucht ja bei allem eine Extrawurst«, bemerkte er. »Da solltest du mal drüber nachdenken. Sie nutzt dich aus!«

Ellinor hätte beinahe gelacht, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Genau der Vorwurf war es nämlich, den Karla gegen Gernot vorzubringen pflegte. Sie war überzeugt davon, dass er seine Frau ausnutzte. Schließlich lebte er in ihrer Wohnung von ihrem Geld. Aber das konnte Ellinor nun unmöglich zur Sprache bringen!

»Karla ist kaum bei Bewusstsein!«, erklärte sie empört. »Das Letzte, was man ihr vorwerfen kann, ist, irgendjemanden auszunutzen. Wahrscheinlich würde sie sogar versuchen, es mir auszureden. Bestimmt will sie gar nicht, dass ich …«

»Dass du dich für sie aufopferst?«, fragte Gernot melodramatisch. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Sich für jemanden zu opfern ist schließlich der ultimative Liebesbeweis, der …«

»Liebesbeweis? Du spinnst!« Ellinor schüttelte den Kopf. »Du hörst dich an, als wärest du eifersüchtig. Aber ja, ich liebe Karla. Sie ist sozusagen … mein zweites Ich, meine Schwester, meine Seelenverwandte. Wir sind zusammen aufgewachsen, wir haben immer alles gemeinsam gemacht. Bis …«

Bis sie mit Gernot zusammengekommen war. Ellinor biss sich auf die Lippen. Ihre Beziehung mit Gernot hatte das Verhältnis zwischen ihr und Karla abkühlen lassen – ohne dass die gegenseitige Zuneigung darunter gelitten hatte. Ellinor nahm Karla nicht mal übel, dass sie Gernot so harsch kritisierte, aber sie trafen sich jetzt einfach seltener. Karlas Lebensgefährte Sven konnte Gernot ebenfalls nicht leiden. Abende zu viert, wie mit früheren Freunden der beiden Frauen, fielen also weg.

»Jedenfalls fahre ich jetzt noch mal in die Klinik«, beendete Ellinor schließlich die fruchtlose Diskussion. »Ich lasse mir Blut abnehmen. Wir können ja noch mal drüber reden, wenn ich weiß, ob ich als Spenderin infrage komme.«

Ellinor war immer noch ziemlich aufgebracht, als sie ihr Auto in Richtung Krankenhaus lenkte. Es fiel ihr schwer, sich nicht über Gernots Reaktion zu ärgern. Natürlich lehnte er Karla ab, und diese ließ ihn ihre Antipathie ebenfalls mehr als deutlich spüren. Man musste aber fairerweise einräumen, dass Gernot es Karla und Sven nicht gerade leicht gemacht hatte, ihn zu mögen. Schon beim ersten Treffen zu viert hatte er sich arrogant und ungeduldig gezeigt, hatte die freundlichen Fragen der anderen zu seiner Arbeit spöttisch und desinteressiert beantwortet und alle sonstigen Gesprächsthemen als spießig abgetan. Spießig war auch die Wahl des Restaurants, in dem man sich getroffen hatte, spießig war Karlas und Svens Auftreten. Ihre Berufe – Karla war Lehrerin und Sven Polizeibeamter – waren völlig unannehmbar.

Ellinor seufzte. Gernot war zweifellos manchmal brüsk, und sie war oft erschrocken, wie hartherzig er sein konnte. Andererseits war sie überzeugt davon, dass Verletzlichkeit hinter seinem Auftreten steckte. Seine Ablehnung ihrer Nierenspende zum Beispiel … Gernot war auf seine Art sensibel und sehr auf ein perfektes Äußeres bedacht. Allein der Gedanke, ihren Körper durch eine Narbe verunstaltet zu sehen, musste ihn erschrecken. Es war nicht einfach, mit einem Künstler zusammen zu sein, Gernot hatte seine Launen, seine Empfindlichkeiten – aber gerade das machte ihn interessant. Der Sex mit ihm war intensiver, als Ellinor ihn je mit einem anderen empfunden hatte. Gernot war fantasievoll, aufregend, sie liebte seinen Körper, seine Geschmeidigkeit, die Liebkosungen seiner sehnigen Hände.

Ellinor lächelte, als sie daran dachte, wie er sie am Anfang ihrer Beziehung oft mit Finger- oder Lebensmittelfarben bemalt hatte, bevor sie sich liebten. Sein »Kunstwerk« hatte er sie damals genannt und sie ermutigt, es ihm gleichzutun. Er hatte über die »Kriegsbemalung« gelacht und dann angelegentlich mit ihr darüber diskutiert, ob die Liebe zwischen Mann und Frau der ultimative Ausdruck von Frieden war oder eher die intensivste Form des Geschlechterkrieges, in dem einer versuchte, den anderen zu dominieren.

Mit Gernot konnte man die spannendsten Gespräche führen. Am Anfang ihrer Beziehung hatte Ellinor geglaubt, sie würden gemeinsam ein endloses Abenteuer erleben. Inzwischen hatte sich das etwas abgenutzt, es herrschten Alltag und Routine. Trotzdem gab es immer noch Tage oder häufiger Nächte, in denen Gernot ihre Welt zu etwas ganz Besonderem machte. Als Karla und Ellinor sich einmal darüber unterhalten hatten, hatte ihre Cousine gesagt, dass Liebe für sie vor allem Wärme bedeute, Wärme und Geborgenheit, gespendet vom jeweils anderen – Zärtlichkeit auf einem flauschigen Teppich vor einem flackernden Kaminfeuer hatte sie damit assoziiert. Ellinor dagegen sah sich mit Gernot eher in einem Ring aus Flammen und Glut. Das Feuer konnte verhalten glühen, aber dann auch wieder auflodern, es konnte wärmen, doch ebenso verbrennen, es konnte Glück bedeuten oder Schmerz …

Als Ellinor im Krankenhaus ankam, hatte sie sich erfolgreich davon überzeugt, dass das Glück mit Gernot die Enttäuschungen bislang immer überwogen hatte. Und es würde noch sehr viel schöner werden, wenn sie endlich ein Kind hätten. Etwas unglücklich passierte sie ein Schild, das zur Entbindungsstation wies. Sie wünschte sich so sehr ein eigenes Baby, und sie war davon überzeugt, dass Gernot als Vater ausgeglichener werden würde. Gerade er, der immer so darauf aus war, der Welt seinen Stempel aufzudrücken, der sich wünschte, dass »etwas von ihm bliebe«, wie er es auszudrücken pflegte. Ein Kind wäre etwas so viel Größeres als ein paar düstere Pinselstriche auf einer riesigen Leinwand.

Seufzend klingelte Ellinor an der Intensivstation und fragte eine Schwester nach Dr. Bonhoff. Sie folgte ihr zum Arztzimmer und hörte gleich ihr bekannte Stimmen. Als sie durch die angelehnte Tür hineinspähte, erkannte sie nicht nur Dr. Bonhoff, sondern auch Karlas Mutter Marlene und ihre eigene Mutter.

»Es tut mir wirklich sehr, sehr leid«, sagte Dr. Bonhoff gerade. Ellinors Mutter reichte Marlene ein Taschentuch. »Die Werte passen überhaupt nicht zusammen, Sie kommen als Spenderin für Ihre Tochter absolut nicht infrage und Ihr Mann leider auch nicht.« Karlas Vater hatte sich am Abend zuvor ebenfalls testen lassen. »Aber nun weinen Sie doch nicht, es ist ja noch längst nicht alles verloren.« Marlene schluchzte unaufhaltsam. »Schauen Sie, es gibt ja noch Eurotransplant«, fuhr Dr. Bonhoff fort. »Es kann sich jederzeit ein Spender finden. Und vielleicht sind da andere Familienangehörige. Frau … äh … Sternberg will sich zum Beispiel testen lassen …«

Ellinor wollte die Erwähnung ihres Namens eben zum Anlass nehmen, einzutreten und ihre Absicht noch einmal zu bestätigen, als ihre Mutter dem Arzt ins Wort fiel.

»Wer? Ellinor? Meine Tochter will eine Niere spenden?«

Sie klang alarmiert, ganz anders, als Ellinor erwartet hätte. Ihre Mutter stand Karla sehr nah, sie hatte ihre Nichte gemeinsam mit Ellinor aufgezogen. Karlas Eltern, die einen Betrieb führten, hatten wenig Zeit für ihre Tochter gehabt.

»Bei Cousinen ist das durchaus möglich«, erläuterte Dr. Bonhoff. »Und Sie selbst als ihre Tante, Frau …«

»Ranzow, Gabriele Ranzow …«

»… Frau Ranzow, kommen natürlich auch infrage. Wenn Sie möchten, nehmen wir Ihnen gleich Blut ab.«

»Auf keinen Fall!« Gabrieles Stimme klang so schrill, als wollte sie sich bald überschlagen. »Also erst mal bin ich nicht direkt Karlas Tante. Ihre Mutter und ich sind auch nur Cousinen. Und dann … Also ich kann das nicht machen und meine Tochter ebenfalls nicht! Haben Sie … haben Sie sie überhaupt schon über die Gefahren eines solchen Eingriffs informiert? Über … über die Risiken …?«

Es klang eigentlich nicht so, als stünden Ellinors Mutter konkrete Risiken vor Augen. Eher schien sie krampfhaft nach Argumenten gegen eine Nierenspende ihrer Tochter zu suchen.

Ellinor entschloss sich einzugreifen. Sie betrat das Zimmer.

»Guten Tag, zusammen. Und Mama … Was ich tue oder lasse, musst du mir schon selbst überlassen!«, erklärte sie entschieden. »Tante Marlene, dein Test hat ergeben, dass du als Spenderin nicht geeignet bist? Genauso wenig wie Onkel Franz?«

Karlas Mutter nickte. Sie sah schrecklich blass aus, ihre Augen waren vom Weinen gerötet. »Ich hätte … ich hätte es so gern gemacht«, flüsterte sie. »Und Franz natürlich auch. Sogar Sven hat sich testen lassen …«

Ellinor legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das weiß ich doch«, sagte sie sanft. »Ich mache es auch gern. Ich lasse mir gleich Blut abnehmen. Dann sehen wir morgen, ob es geht.« Sie lächelte. »Ich bin da übrigens ganz optimistisch. Karla und ich waren schon immer ein Herz und eine Seele. Da können wir doch auch ein Herz und eine Niere werden.«

Dr. Bonhoff erwiderte das Lächeln. »Sie haben sich das wirklich genau überlegt?«, fragte er noch einmal.

Ellinor nickte. »Sicher, ich …«

»Sicher ist da gar nichts«, unterbrach ihre Mutter, die sich inzwischen wohl von dem Schreck über Ellinors plötzliches Auftauchen erholt hatte. »Meine Tochter und ich werden über diese Sache noch einmal reden. Bitte entschuldigen Sie uns, Herr Doktor. Marlene … ich lasse dich ungern allein, aber ich … Wir trinken jetzt einen Kaffee zusammen, Elin, und dabei werde ich dir diese Geschichte ausreden …« Entschlossen stand sie auf.

Ellinor blickte unsicher zwischen den Anwesenden hin und her. Ein solches Auftreten kannte sie nicht von ihrer Mutter. Sie war selten streng und nie dogmatisch gewesen und hatte eigentlich ein gutes Verhältnis zu ihr und zu Karla. Diese kategorische Ablehnung, zu helfen, selbst wenn damit ein kleines Risiko verbunden war, kam so völlig unerwartet … Ellinor beschloss, sich die Argumente ihrer Mutter wenigstens anzuhören.

»Gehen Sie nur.« Dr. Bonhoff erhob sich ebenfalls. »Wir können Ihnen auch später noch Blut abnehmen. Sie sollen sich vor allem sicher sein. Auf keinen Fall wollen wir Sie zu irgendetwas überreden. Und Sie, Frau Henning, kommen jetzt erst mal mit zu Ihrer Tochter. Der geht es heute Nachmittag sehr viel besser. Sie hat sich ein bisschen von der Dialyse erholt und ist wieder voll ansprechbar. Sie können mit ihr reden … Bestimmt freut sie sich über den Besuch.«

Während Marlene dem Arzt folgte, ging Ellinor mit ihrer Mutter in die Cafeteria des Krankenhauses. Sie versuchte, gleich das Gespräch auf die Spende zu bringen, aber Gabriele ging nicht darauf ein.

»Natürlich liegt mir Karla am Herzen«, sagte sie, als Ellinor irgendwann von Erklärungen zu Vorwürfen überging. »Und ich weiß, wie viel sie dir bedeutet. Dennoch … Ein Organ spenden, dich aufschneiden lassen, dich …«

Ellinor rührte entnervt in ihrem Kaffee, während Gabriele weiter lamentierte. Sie ging sogar so weit anzuführen, dass Ellinors Vater das sicher nicht billigen würde. Dabei waren Gabriele und Georg Ranzow seit Jahren geschieden und gewöhnlich wie Hund und Katze. Tatsächlich fühlte Ellinor sich bei dem Gespräch mit ihrer Mutter sehr an ihre Auseinandersetzung mit Gernot erinnert – nur dass Ellinor seine Einwände erwartet hatte, während Gabrieles Ablehnung sie enttäuschte. Schließlich beschloss sie, ihr das auch zu sagen.

»Wie kannst du nur derartig herzlos sein!«, griff sie ihre Mutter an. »Es ist fast, als wäre es dir egal, was aus Karla wird. Mama, wenn sie keine neue Niere bekommt, könnte sie sterben! Ich dachte … also eigentlich hatte ich gedacht, du wärst die Erste, die mich ermutigt, ihr zu helfen. Aber du redest von Narkoserisiken und Narben und allem möglichen Zeug. Dabei weißt du gar nichts über Nierentransplantationen. Was du da alles erzählst … du hast keine Ahnung. Oder hast du dich irgendwo kundig gemacht? Im Internet vielleicht?«

Die Frage war etwas hinterhältig. Tatsächlich war der Argumentation ihrer Mutter leicht zu entnehmen, dass ihr keinerlei medizinische Kenntnisse zugrunde lagen.

»Ich hab mehr Ahnung, als du denkst!«, gab diese zurück, wirkte aber plötzlich hilflos. »Ich … ich … ich hab jedenfalls meine Gründe … Und es … es ist auch gar nicht gut, der Natur so ins Handwerk zu pfuschen …«

Ellinor schlug die Augen gen Himmel. Gabrieles Vorbehalte verblüfften sie immer mehr. »Was ist das denn jetzt für ein Argument?«, brauste sie auf. »Also wenn’s danach geht, dürfte Karla auch nicht zur Dialyse, dann müssten wir der Natur einfach ihren Lauf lassen. Was ist bloß los mit dir, Mama? Du bist doch sonst nicht so … so …« Sie brach ab. Für sie war das Gespräch beendet. »Ich hab jetzt jedenfalls genug von der Diskutiererei. Ich gehe zu Dr. Bonhoff und sage ihm, dass ich mich entschieden habe. Dann wissen wir wenigstens, woran wir sind. Wenn ich als Spenderin infrage komme, können wir immer noch weiterstreiten.«

Gabrieles Gesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und biss sich auf die Lippen. »Dann lass dich von mir aus testen!«, sagte sie. Es klang nicht mehr so aggressiv, eher resigniert. »Doch ich sag dir gleich, es wird nichts dabei herauskommen. Wahrscheinlich habt ihr nicht mal dieselbe Blutgruppe, von anderen Gemeinsamkeiten ganz zu schweigen …«

Ellinor blickte ihre Mutter verwundert an. »Wieso bist du dir da so sicher?«, erkundigte sie sich. »Okay, wir sind nur Cousinen zweiten Grades. Aber das ist doch trotzdem ein relativ naher Verwandtschaftsgrad.«

Gabriele schüttelte den Kopf und ließ die Schultern sinken, als hätte sie einen Kampf verloren. »Nein, Elin«, sagte sie leise. »Tut mir leid, dass du es so erfahren musst. Wir hätten es dir und Karla früher sagen müssen, aber es hat einfach keiner mehr daran gedacht … Es schien so völlig unwichtig zu sein. Tatsächlich sind wir, du und ich, mit Marlenes und Karlas Familie nicht blutsverwandt. Meine Mutter war ein angenommenes Kind.«

»Sie war was?« Ellinor runzelte die Stirn, völlig verwirrt über Gabrieles Geständnis. »Sie war adoptiert, wolltest du sagen?«

Gabriele schüttelte den Kopf. »Nein. Eher eine Art … hm … Pflegekind. Jedenfalls hatte sie einen anderen Nachnamen als ihre Geschwister. Ich bin darauf gestoßen, als ich irgendwann mal ihren Pass in die Hand bekam. Dana war keine geborene Parlov, sondern hieß … warte mal, wie war das noch … Vlašić …«

»Klingt ebenfalls slawisch«, sagte Ellinor, schon um überhaupt irgendetwas zu sagen. Die Eröffnung ihrer Mutter machte sie beinahe sprachlos. »Und du meinst … dir hat es auch niemand erzählt? Warum denn nicht? Was gab es denn da zu verbergen?«

Gabriele zuckte mit den Schultern. »Es gab sicher nichts zu verbergen. Jedenfalls sollte man es nicht so ausdrücken. Das klingt schließlich, als hätte man ein großes Geheimnis daraus gemacht. Als ob sich jemand dafür schämte oder als ob irgendwas Dramatisches dahintersteckte. Dabei glaube ich, dass es einfach nur allen egal war. Du weißt doch noch, wie eng Oma Dana und ihre Schwestern zusammengehalten haben. Sie hat sich nie wie eine Fremde gefühlt in der Familie. Nur der andere Name störte, hat sie mir gesagt, nachdem ich es herausgefunden hatte. Du darfst mir glauben, ich war damals genauso schockiert über die Heimlichtuerei wie du jetzt. Oma und Opa Parlov haben noch gelebt. Dana meinte jedenfalls, sie hätte sich immer Parlov genannt, weil sie so gern genauso heißen wollte wie ihre ›Schwestern‹. In der Schule hat sie dafür manchmal Ärger bekommen. Als dann alle heirateten, relativierte es sich, weil jede einen anderen Nachnamen bekam und keiner mehr daran dachte, dass Dana irgendwann nicht ganz dazugehört hatte. Es ist ja auch nicht wirklich wichtig – wenn es nicht gerade um eine Nierentransplantation geht. Ich hätte es dir längst erzählen sollen, aber als du jetzt so plötzlich mit der Spende anfingst, hab ich kalte Füße gekriegt. Wenn die Blutprobe analysiert wird, kommt doch sicher heraus, dass ihr nicht verwandt seid, oder?« Sie sah Ellinor Verständnis heischend an. »Na ja, jetzt weißt du es. Und … wenn du dir jetzt trotzdem Blut abnehmen lassen willst, dann tue ich es natürlich auch. Ich würde Karla genauso gern helfen wie du. Glaub mir, ich … ich würde ihr sofort eine Niere spenden. Es ist nur sehr unwahrscheinlich, dass die Testergebnisse positiv sind.«

Auch wenn die Chancen schlecht standen, aufgeben würde Ellinor so schnell nicht. Sie war nur ziemlich verwirrt. Trotzdem wollte sie Karla unbedingt noch sehen und sich anschließend auf jeden Fall testen lassen.

Erneut machte sie sich auf den Weg zur Intensivstation – und traf dort einen unerwartet aufgeregten Dr. Bonhoff. Der Arzt hielt einen Ausdruck mit Blutwerten in der Hand und diskutierte ihn lebhaft mit einer Krankenschwester. Ellinor hörte Worte wie »Kreatininwert« und »glomeruläre Filtrationsrate«, ohne ihre Bedeutung zu verstehen, aber Dr. Bonhoff wandte sich ihr direkt zu, als er sie sah.

»Frau Sternberg, es gibt gute Nachrichten!«, erklärte er. »Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, aber der Zustand Ihrer Cousine verbessert sich weiter. Wir vermuten, dass sie endlich auf die Medikamente anspricht, die wir ihr geben. Jedenfalls besteht Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Vielleicht erholen sich die Nieren … Wollten Sie jetzt zu mir, wegen des Bluttests?«

Ellinor nickte, informierte den Arzt jedoch auch über das Geständnis ihrer Mutter.

»Und weder Sie noch Ihre Cousine hatten die leiseste Ahnung?«, fragte der Arzt kopfschüttelnd. »Was für eine Geschichte! Da werden Sie ja einiges aufzuarbeiten haben in der nächsten Zeit, oder? Sie wollen der Sache doch bestimmt auf den Grund gehen.«

Ellinor nickte. Sie würde Karla nicht gleich mit der Angelegenheit konfrontieren, es war sicher nicht gut für sie, wenn sie sich aufregte. Aber wenn es ihr besser ging, würde sicher auch sie wissen wollen, was es mit ihrer Herkunft auf sich hatte. Wobei Karlas Abstammung natürlich nicht fraglich war, Marlene war unzweifelhaft eine Parlov. Dana dagegen, Ellinors Großmutter …

Ellinor beschloss, den Spuren des angenommenen Kindes zu folgen.