Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. Feel Again Playlist
  5. Kapitel 1
  6. Kapitel 2
  7. Kapitel 3
  8. Kapitel 4
  9. Kapitel 5
  10. Kapitel 6
  11. Kapitel 7
  12. Kapitel 8
  13. Kapitel 9
  14. Kapitel 10
  15. Kapitel 11
  16. Kapitel 12
  17. Kapitel 13
  18. Kapitel 14
  19. Kapitel 15
  20. Kapitel 16
  21. Kapitel 17
  22. Kapitel 18
  23. Kapitel 19
  24. Kapitel 20
  25. Kapitel 21
  26. Kapitel 22
  27. Kapitel 23
  28. Kapitel 24
  29. Kapitel 25
  30. Kapitel 26
  31. Kapitel 27
  32. Kapitel 28
  33. Kapitel 29
  34. Kapitel 30
  35. Kapitel 31
  36. Kapitel 32
  37. Kapitel 33
  38. Kapitel 34
  39. Kapitel 35
  40. Epilog
  41. Danksagung
  42. Die Autorin
  43. Die Romane von Mona Kasten bei LYX
  44. Impressum

MONA KASTEN

Feel Again

Roman

Zu diesem Buch

Sawyer Dixon ist es egal, was andere über sie denken. Seit dem Tod ihrer Eltern lässt die toughe Studentin niemanden an sich heran und lebt ihr Leben, wie sie es für richtig hält. Einen Typen wie Isaac Grant würde sie unter normalen Umständen keines zweiten Blickes würdigen. Er ist zu nett, zu schüchtern – und mit seiner Brille und den seltsamen Klamotten das genaue Gegenteil von ihrem üblichen Beuteschema. Als sie allerdings mitbekommt, wie ein paar Mädchen ihn wegen seines besonderen Kleidungsstils aufziehen, kann sie nicht anders, als ihm zu helfen – und küsst ihn vor den Augen aller anderen. Es funktioniert, auch wenn Sawyer völlig überrumpelt ist von dem Kribbeln, das dieser eine Kuss in ihr hervorruft. Als Isaac, der unbedingt seinen Ruf als Nerd loswerden will, sie daraufhin um Hilfe bittet, schließen die beiden einen Deal: Sawyer macht aus ihm einen Bad Boy und darf im Gegenzug seine Entwicklung als Projekt für ihr Fotografiestudium festhalten. Doch Sawyer hat nicht damit gerechnet, dass diese Abmachung ihre Welt völlig auf den Kopf stellen würde. Denn je näher sie Isaac kommt, desto schwerer fällt es ihr, die Mauern, die sie um ihr Herz errichtet hat, aufrecht zu erhalten. Isaac ist der erste Mann, der ihr zeigt, dass es sich lohnen kann, jemandem zu vertrauen, dass es okay ist, zu fühlen – und zu lieben. Und plötzlich wünscht sie sich nichts mehr, als dass sie den Deal mit ihm niemals eingegangen wäre …

Für alle, die bloß ein bisschen verbogen sind.

Für alle, die in jedem Tag eine neue Chance sehen.

Für alle, die nicht das sind, was man über sie sagt.

Feel Again Playlist

Lovesick – Banks

Fuck With Myself – Banks

Better – Banks

Neptune – Sleeping At Last

Sweeter Bitter – 1ST VOWS

There Are Things That You And I Can Never Be – Gersey

10 d E A T h b R E a s T – Bon Iver

The Fear – Ben Howard

A Lack Of Color – Death Cab For Cutie

With Me – Sum41

The Hurt Is Gone – Yellowcard

Believe – Yellowcard

Not Good For Me – Hayden Calnin

Ultra-Beast – Hayden Calnin

The Funeral – Band of Horses

Idfc – Blackbear

Worthless – Bullet For My Valentine

Never Be Like You – Flume feat. Kai

Body Say – Demi Lovato

Someone To Stay – Vancouver Sleep Clinic

KAPITEL 1

Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?

Diese Frage stellte ich mir nicht zum ersten Mal an diesem Abend. Eigentlich war es wie immer: Ich war umgeben von lauter Menschen und kam mir trotzdem vollkommen allein vor. Das Gefühl war für mich nicht neu. Genau genommen war es mein Dauerzustand. Aber hier, in diesem Club, in Gegenwart von lauter frisch verliebten Pärchen, die nicht mal eine Sekunde lang die Blicke voneinander losreißen konnten, erschien es mir einfach besonders unerträglich.

Oder anders gesagt: Ich musste mich beherrschen, nicht quer über den Tisch zu kotzen.

Dass ich mit zwei der Typen unserer überschaubaren Gruppe vor einiger Zeit selbst etwas gehabt hatte, machte die Sache nicht gerade besser. Zumal beide Geschichten ziemlich demütigend für mich geendet hatten. Ethan hatte mich damals, ohne mit der Wimper zu zucken, für »die Liebe seines Lebens« – Monica – abserviert, und auch Kaden hatte mich keines zweiten Blickes mehr gewürdigt von dem Moment an, in dem Allie auf seiner Türschwelle aufgetaucht war. Das war mittlerweile ein Jahr her.

Ob ich irgendetwas an mir hatte, dass Kerle in die Flucht schlug und dafür sorgte, dass sie sich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit in eine feste Beziehung stürzten?

Und wenn schon. Es war ja nicht so, als ob ich an etwas Ernsthaftem interessiert wäre.

Ich wandte den Blick von den turtelnden Pärchen um mich herum ab und ließ ihn stattdessen über die Tanzfläche schweifen. Dort entdeckte ich den rothaarigen Flummi, der der Grund für meine Anwesenheit in diesem Schuppen war. Ein Verlag hatte vor Kurzem eines von Dawns Büchern unter Vertrag genommen, weshalb sie uns zum Feiern hierher eingeladen hatte. Und da Dawn nicht nur meine Mitbewohnerin, sondern auch meine einzige wirkliche Freundin war, war ich mitgekommen. Denn auch wenn ich ihr das nur selten offen zeigte: Ihre Freundschaft war mir wichtig.

Ein feuchtes Geräusch ertönte zu meiner Rechten und ich bemühte mich darum, mein Gesicht nicht angeekelt zu verziehen. So gern ich Dawn auch hatte: Kaden und Allie beim Mandelhockey zuzusehen und -hören, war einfach zu viel des Guten. Ich brauchte dringend noch einen Drink, wenn ich den Abend überstehen wollte.

»Ich gehe zur Bar. Willst du auch noch was?«, fragte ich den Kerl, der neben mir saß. Ich hatte blöderweise seinen Namen vergessen, obwohl Dawn uns einander bestimmt schon hundertmal vorgestellt hatte. Es war irgendetwas mit I. Ian, Idris, Illias … Mit Namen hatte ich mich schon immer schwergetan. Deshalb dachte ich mir für die meisten Menschen Spitznamen aus, wenn ich sie zum ersten Mal traf. Seiner war »Nerd«.

Er wirkte völlig fehl am Platz hier. Zum einen trug er ein Jeanshemd mit Fliege. Im Ernst, er trug eine Fliege. Sie war weiß mit blauen Punkten, und ich starrte sie nicht zum ersten Mal an diesem Abend einen Moment zu lange an, bevor ich meinen Blick über den Rest von ihm schweifen ließ. Seine Locken, von denen ich nicht sagen konnte, ob sie hellbraun oder dunkelblond waren, hatte er mit Gel oder Haarspray fixiert, damit sie ihm nicht in die Stirn fielen. Abgerundet wurde der geschniegelte Look mit einem halbrunden Brillengestell aus braunem Kunststoff.

Er war viel zu overdressed für das Hillhouse, und ich konnte dem Drang, seine geordneten Federn einmal gehörig durcheinanderzubringen, nur gerade so widerstehen.

Der Nerd erwiderte meinen kritischen Blick. Auch seine Augen hatten eine undefinierbare Farbe. Irgendwo zwischen Braun und Grün, von dunklen Wimpern umrahmt.

»Also?«, hakte ich nach.

»Was?«, fragte er, und eine leichte Röte trat auf seine Wangen.

Niedlich.

»Ob du einen Drink möchtest«, wiederholte ich langsam.

Er schluckte schwer. Es wirkte beinahe, als hätte er Angst vor mir. Wenn ich ehrlich war, wunderte mich das nicht. Alles an mir war ein einziges Warnschild: von dem schwarzen Eyeliner, den ich zu großzügig um meine Augen auftrug, über das Oberteil, dessen Cutouts die Form eines riesigen Totenkopfs hatten, bis zu den Stiefeln, mit denen ich schwere Metalltüren hätte eintreten können. Ich konnte ihm nicht verdenken, dass er erst mal vorsichtig war und einen gesunden Abstand zu mir hielt.

Aber da er und ich die Einzigen waren, die nicht mit der Zunge im Mund von jemand anders hingen, blieb uns wohl nichts anderes übrig, als uns miteinander zu beschäftigen. Wenigstens für diesen einen Abend.

»Danke. Ich habe noch«, sagte er mit einiger Verspätung und hob ein Glas mit rotem Cocktailschirmchen hoch.

»Bist du sicher, dass das dein Glas ist?«

Sein Blick schoss zu dem Glas in seiner Hand, und er zuckte zusammen. Seine Wangen wurden noch dunkler und nahmen ziemlich genau die Farbe des Schirmchens an. »Shit.«

Ich stand auf und nickte zur Bar. »Kommst du mit? Oder willst du den anderen lieber weiter zuschauen? Ich meine, ich habe kein Problem mit Spannern. Nur mir gibt das irgendwie nicht so den Kick, den ich heute Abend brauche.«

»Wie witzig, Sawyer«, meldete sich Monica zu Wort, erstarrte allerdings sofort, als ich ihr einen Schweig-oder-Stirb-Blick zuwarf.

Wenn ich etwas auf Knopfdruck beherrschte, dann diesen Blick, in dessen Genuss vor allem Leute kamen, von denen ich wusste, dass sie gern und viel hinter meinem Rücken über mich redeten. Oder die mir einen der wenigen Typen ausgespannt hatten, die ich jemals auch nur annähernd interessant gefunden hatte.

Ich brauchte wirklich dringend einen Drink. Oder drei. Zum Glück erhob sich auch der Nerd. Ich griff nach seiner Hand, ohne Monica und die anderen eines weiteren Blickes zu würdigen. Seine Finger waren ganz kalt, aber ich würde nicht riskieren, dass er mir auf dem Weg über die Tanzfläche verloren ging, weil er zu höflich war, seine Ellenbogen einzusetzen.

Bei der Bar angekommen, lehnte ich mich über den Tresen und lächelte Chase zu. Er war Barkeeper im Hillhouse, und unsere letzte Begegnung hatte nackt in seiner Wohnung geendet.

»Lange nicht mehr gesehen, Babe«, sagte er zur Begrüßung und schenkte mir ein träges Halblächeln. »Was darf’s sein?«

Er stützte sich mit beiden Händen zu den Seiten meiner Arme ab und beugte sich zu mir nach vorne. Er war genau mein Typ: düstere Aura, Tattoos, zerzauste dunkle Haare und ein kantiges Gesicht, das von Bartstoppeln umrahmt war. Ich erinnerte mich genau daran, wie sie sich an den Innenseiten meiner Schenkel angefühlt hatten. Zu schade, dass er mittlerweile eine Freundin hatte.

»Ich hätte gerne einen Bourbon. Und für meinen Freund hier …« Ich sah den Nerd an.

»Ein Bier«, sagte dieser schnell, ohne mir oder Chase in die Augen zu sehen. Die roten Flecken hatten sich mittlerweile auf seinem Hals ausgebreitet und verschwanden unter dem engen Kragen seines Hemds.

»Ein Bier«, wiederholte ich.

Für einen kurzen Moment blickte Chase zwischen uns hin und her, eine Augenbraue nach oben gezogen. Es sah so aus, als wollte er etwas sagen, doch dann nickte er nur.

Mit einem »Geht aufs Haus« stellte er unsere Drinks wenig später vor uns auf den Tresen.

»Cool. Danke.«

Ich griff nach meinem Glas und warf dem Nerd einen zerknirschten Blick zu. »Ich bin echt schlecht, was Namen angeht«, fing ich an. »Wie heißt du noch mal?«

Zum ersten Mal an diesem Abend zeigte sich der Ansatz eines Lächelns auf seinem Gesicht. »Grant. Isaac Grant.«

Dieser Typ stellte sich allen Ernstes mit seinem Nachnamen vor. Als wäre er bei einem Bewerbungsgespräch. Oder James Bond.

»Dixon. Sawyer Dixon«, ahmte ich ihn nach und hob mein Glas. »Auf einen guten Abend, Grant, Isaac Grant.«

Kopfschüttelnd stieß er mit mir an.

»Also, Grant, Isaac Grant, was machst du hier?« Ich lehnte mich rücklings gegen die Bar, um die Tanzfläche überblicken zu können. Unsere Gruppe war von hier aus kaum zu erkennen, bloß ab und zu sah ich Dawns Haare in den bunten Lichtern aufleuchten.

»Dasselbe wie du, schätze ich.«

Ich nippte an meinem Bourbon. »Bist du gut mit Dawn befreundet?«

Er hob eine Schulter, als wüsste er nicht genau, was er darauf antworten sollte.

»Auf jeden Fall bist du kein großer Freund von Small Talk, oder?«, fragte ich.

Wieder der Ansatz eines Lächelns. Schade. Er hätte eigentlich ganz attraktiv sein können – wäre da nicht dieser Stock gewesen, der in seinem Hintern steckte.

»Und du bist sehr direkt«, erwiderte er so leise, dass seine Stimme beinahe von den wummernden Bässen verschluckt wurde.

»Ein Fluch oder Segen. Alles eine Frage der Perspektive, Grant, Isaac Grant.«

Er stöhnte auf. »Wirst du mich jetzt immer so nennen?«

Ich drehte mich zu ihm und lehnte mich seitlich gegen die Bar. »Was erwartest du denn, wenn du dich Leuten so vorstellst? Eigentlich bin ich sogar ein bisschen enttäuscht, dass du mir nicht auch gleich deinen zweiten Vornamen gesagt hast.«

In seine Augen trat ein amüsiertes Funkeln. Im Halbdunkel der Bar war es noch schwerer, ihre genaue Farbe auszumachen. Ich beugte mich ein Stück weiter vor und stellte fest, dass er genauso roch, wie er aussah: geschniegelt, sauber und akkurat. Mit Sicherheit benutzte er irgendein teures Aftershave.

Es überraschte mich, dass es mir gefiel.

»Verrätst du ihn mir?«, wisperte ich.

Seine Augen weiteten sich. Es machte Spaß, ihn aus dem Konzept zu bringen, stellte ich fest.

»Nur wenn du versprichst, nicht zu lachen«, sagte er.

Ich hob zwei gekreuzte Finger. »Niemals.«

Isaac holte tief Luft. »Theodore.«

Ich nickte anerkennend. »Isaac Theodore Grant. Gefällt mir. Hat etwas Erhabenes.«

Er hob eine skeptische Braue. »Findest du?«

Ich nickte und nahm noch einen Schluck von meinem Whiskey.

Er stieß ein atemloses Lachen aus. »Wenn ich das meinem Grandpa erzähle, freut er sich«, sagte er. »Ich wurde nach ihm benannt.«

Es war nett, zu sehen, wie Isaac mal ein bisschen lockerer wurde. Ich hatte ihn zum ersten Mal getroffen, als Dawn nach einem Vortrag zusammengebrochen war – weil sie Beruhigungsmittel genommen hatte, die ich ihr vorher zugesteckt hatte. Damals hatte er gewirkt, als würde er sich jeden Moment vor Aufregung übergeben.

»Hast du einen Zweitnamen?«, fragte er nach einer Weile.

Ich zuckte zusammen. Unwillkürlich schoss meine Hand zu dem Medaillon, das unter dem Kragen meines Tops auf meiner Haut ruhte. Ich drückte meine Handinnenfläche fest darauf und brauchte einen Moment, um unser belangloses Geplänkel wieder aufnehmen zu können.

Schließlich sagte ich, viel zu spät und mit einem viel zu breiten Grinsen: »Isaac Theodore! Ich kann nicht glauben, dass du ein Mädchen beim ersten Treffen schon so etwas fragst. Ich darf doch sehr bitten.«

Isaacs Blick wanderte zu der Hand auf meiner Brust. Er runzelte die Stirn.

»Dass ich dich entführt habe, hat übrigens einen Grund«, sagte ich schnell, um das Thema zu wechseln.

»Der da wäre?«, fragte er.

Wer zum Henker brachte es fertig, sich mit einer Flasche Bier in der Hand derart gewählt auszudrücken?

»Wir sind die Einzigen auf dieser Party, deren Hirn nicht von Liebe benebelt ist. Das bedeutet, wir müssen stark sein und zusammenhalten, Isaac Theodore. Komme, was wolle.«

Als er lächelte, erschienen um seine Augen lauter kleine Lachfalten. »In Ordnung.«

Ich hielt ihm mein Glas noch einmal hin. Als er mit seiner Flasche dagegenstieß, hatte ich die Hoffnung, dass der Abend vielleicht doch gar nicht so übel werden würde wie erwartet.

Eineinhalb Stunden und drei weitere Drinks später waren Isaac und ich in Sachen Small Talk zwar noch nicht wirklich viel weiter gekommen, eine Gemeinsamkeit hatten wir aber herausgefunden: Wir liebten es, Leute zu beobachten, vor allem, wenn sie seltsame Paarungsrituale auf der Tanzfläche durchführten.

»Ich könnte mich niemals so bewegen«, murmelte Isaac und legte den Kopf schräg. Ich folgte seinem Blick und entdeckte einen Typen, der einen ziemlich krassen Hüftschwung draufhatte.

»Ich könnte es dir beibringen.«

Er sah mich mit hochgezogener Braue an. »Hast du nicht vorhin gesagt, du tanzt nicht?«

»Ich tanze nicht zu so schrecklicher Musik. Aber ich weiß, wie man sich bewegt. Wenn du willst, zeige ich dir das bei Gelegenheit mal unter vier Augen«, sagte ich lächelnd.

Seine Wangen wurden wieder rosa. Inzwischen hatte ich es fünfmal geschafft, ihn zum Erröten zu bringen. Die Zehn wollte ich im Laufe des Abends unbedingt noch knacken.

»Ich habe das Gefühl, dass die Leute …«, er nickte in die Richtung der Tanzfläche, »… alle nicht tanzen, weil sie Spaß dran haben, sondern nur, weil sie …« Er unterbrach sich selbst und presste die Lippen fest aufeinander.

»Weil sie jemanden aufreißen wollen?«, half ich ihm aus. »Das stimmt. Das Hillhouse ist nichts anderes als eine Partnervermittlung für notgeile Studenten. Alle, die hier drin niemanden finden, können es gleich ganz bleiben lassen.«

Er hatte gerade die Flasche angesetzt und verschluckte sich. So heftig, dass es ihm zur Nase wieder rauskam. Ich reichte ihm hastig mehrere Servietten.

Er sah so komisch aus, dass ich laut lachen musste, was die Aufmerksamkeit von ein paar Mädchen erregte, die seitlich an der Bar saßen und Isaac und mich jetzt anstarrten. Als ich demonstrativ zurückstarrte und eine Augenbraue hob, steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten. Wenig später kicherten sie unüberhörbar.

Ich rollte die Augen und drehte mich wieder zu Isaac. Dieser starrte resigniert in seine Bierflasche.

»Was ist?«, fragte ich.

Er winkte ab. »Nichts.«

»Wegen denen da drüben? Mach dir nichts draus. Ich bin das gewohnt«, sagte ich schnell. Das Letzte, was ich wollte, war Mitleid, und schon gar nicht von jemandem wie Isaac.

Überrascht blickte er zwischen den Mädchen und mir hin und her. Dann breitete sich Erkenntnis auf seinem Gesicht aus. »Sie meinen nicht dich, Sawyer.«

»Was?«, fragte ich verwirrt.

Er trank den Rest seines Biers und stellte die Flasche auf dem Tresen ab. Sein Blick war fest auf das dunkle Holz geheftet. »Ich bin mit denen in einem Seminar. Sie sind … eher nicht so nett.«

»Was heißt das, ›eher nicht so nett‹?«, hakte ich nach. Mir gefiel nicht, wie er auf einmal aussah: als würde er sich schämen.

»Es ist bescheuert«, murmelte er ausweichend. »Vergiss es einfach.«

»Sag mir, was ›eher nicht so nett‹ bedeutet, Isaac Theodore«, forderte ich, diesmal mit mehr Nachdruck.

»Okay, okay.« Er hob kapitulierend die Hände und warf einen letzten flüchtigen Blick zu den Mädchen. »Es ist keine große Sache. Seit das neue Semester vor drei Wochen angefangen hat, haben die es irgendwie … auf mich abgesehen.«

»Was heißt das?«

Er wurde wieder rot, aber diesmal konnte ich mich nicht darüber freuen.

»Ach, sie machen sich über meinen Kleidungsstil lustig … und anderen Kram.«

»Anderen Kram«, wiederholte ich langsam.

Isaac rieb sich verlegen den Nacken. »Sie ziehen mich damit auf, dass ich … angeblich noch Jungfrau bin.«

»Bist du das denn?«, fragte ich.

Er sah mir fest in die Augen und schüttelte den Kopf.

Aha.

»Dann sag ihnen das doch.«

»Das bringt nichts. Sie glauben, was sie glauben wollen. Letzte Woche habe ich gehört, wie sie gewettet haben, wer …«

»Wer …?«

Er räusperte sich. »Wer zuerst …«

»Wer es zuerst mit dir treibt?«, fragte ich erhitzt.

Er nickte kurz.

»Woher weißt du das?«

»Sie sitzen direkt hinter mir. Es ist schwer, nicht jedes Wort zu hören, das sie sagen.«

Wut flammte in mir auf, und ich brauchte einen Moment, bis ich wieder sprechen konnte. »Das ist das Geschmackloseste, was ich seit Langem gehört habe. Und ich höre viel Geschmackloses. Ich meine, selbst wenn es stimmen würde – das geht doch niemanden was an. Was fällt denen ein, so eine dämliche Scheiße abzuziehen?«

Isaacs Lippen öffneten sich leicht, und er sah mich an, als würde er mich erst jetzt zum ersten Mal richtig wahrnehmen.

»Hast du ihnen gesagt, dass du sie erbärmlich und widerwärtig findest und sie damit aufhören sollen?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Es ist mir egal, was sie denken.«

»Ich finde das aber nicht in Ordnung«, sagte ich und warf den Mädchen meinen Todesblick zu. Leider hatte er bei ihnen nicht den gewünschten Effekt. Im Gegenteil, sie begannen nur, noch lauter zu kichern.

Ich drückte den Rücken durch und trat einen Schritt von der Bar weg und auf sie zu, da griff Isaac nach meinem Ellenbogen und zog mich zurück zu sich an den Tresen. Er war ein gutes Stück größer als ich, und ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

»Es ist wirklich nicht wichtig. Und es macht mir nichts aus.« Er lächelte besänftigend, und merkwürdigerweise flaute meine Wut augenblicklich etwas ab.

»Ich finde es trotzdem scheiße.«

Er neigte seinen Kopf zur Seite und betrachtete mich eingehend. »Wieso?«

Ich blickte an seiner Schulter vorbei zu den Mädchen. Sie hatten noch immer nicht aufgehört zu lachen.

Zur Hölle mit ihnen.

Langsam drehte ich mich zurück zu Isaac und legte meine Hände flach auf seine Brust.

Ich spürte, wie sein Atem stockte.

»Weil ich dich schwer in Ordnung finde, Grant, Isaac Theodore Grant.«

Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

KAPITEL 2

Als mein Mund seinen berührte, stieß Isaac ein gedämpftes Geräusch aus. Ich fing es mit meinen Lippen auf. Bestimmt drängte ich meinen Körper gegen seinen, bis er rücklings gegen den Bartresen stieß. Ich ließ meine Hand an seinem Nacken hinaufwandern, bis ich sie in seinem Haar vergraben und ihn fester an mich ziehen konnte.

Komm schon, Isaac. Spiel mit.

Ich leckte über seine Unterlippe, und er keuchte überrascht. Seine Hände glitten zu meinen Hüften und endlich, endlich erwiderte er den Kuss. Unsere Zungen trafen kurz, beinahe schüchtern aufeinander.

Dann löste ich mich von ihm und lehnte mich ein kleines Stück zurück.

Die Farbe, die seine Wangen jetzt angenommen hatten, gefiel mir deutlich besser als die, die noch vor ein paar Sekunden dort gewesen war, als er sich geschämt hatte.

Durch halb gesenkte Lider sah er mich an. Seine Augen waren ganz dunkel. Und plötzlich zog er mich wieder an sich und presste die Lippen fest auf meine.

Whoa.

Isaac schob eine Hand in meinen Nacken, die Finger der anderen spreizte er auf meinem Rücken. Er vertiefte den Kuss, drang mit seiner Zunge hungrig in meinen Mund. Eine enorme Energie ging von ihm aus und auf mich über, und für einen Moment blieb mir tatsächlich die Luft weg. Meine Knie wurden weich.

Meine verdammten Knie wurden weich.

Das war mir noch nie passiert.

Fest krallte ich meine Hände in den Stoff seines Jeanshemds und zog ihn noch enger an mich. Jetzt war kein Millimeter mehr zwischen uns. Ich saugte an seiner Zunge und spürte, wie sein Brustkorb unter meinen Händen vibrierte. Hitze schoss in meinen Magen und direkt weiter nach unten, als Isaac meine Unterlippe zwischen seine Zähne zog und zubiss.

Heilige Scheiße. Wer hätte gedacht, dass dieser Kerl so küssen konnte?

Diesmal war er derjenige, der sich zurückzog. Er lehnte seine Stirn gegen meine und atmete schwer.

Ich war genauso atemlos.

»Wo hast du gelernt, so zu küssen, Isaac Theodore?«, murmelte ich, meine Hände noch immer auf seinem Brustkorb.

Er öffnete den Mund, um mir zu antworten.

»Was zur Hölle macht ihr da?«, erklang es plötzlich direkt hinter mir, und ich wirbelte herum.

Dawn stand keinen Meter von uns entfernt und starrte uns fassungslos an.

Einen Moment lang hatte ich keine Ahnung, was ich ihr antworten sollte. Was hatten wir da getan? Dann sagte ich das Erstbeste, das mir in den Sinn kam: »Ich habe Isaac gerade dabei geholfen, seinen Ruf zu verbessern.«

Hinter mir spürte ich, wie Isaac sich versteifte.

Dawns kastanienrotes Haar war zerzaust, und sie blies sich den verschwitzten Pony aus der Stirn. Skeptisch blickte sie zwischen uns hin und her. »Kommt ihr zurück an unseren Tisch?«

Ich nickte und ließ zu, dass sie sich bei mir unterhakte. Als ich mich nach wenigen Metern zu Isaac umdrehte, starrte er auf den Boden.

Die Mädchen am anderen Ende der Bar hatten aufgehört zu lachen.

Der Montagmorgen begann wie jede Woche damit, dass ich mir vor meinem ersten Kurs einen großen Smoothie holte und damit über das Campusgelände spazierte. Woodshill war toll. Obwohl ich ein Junior und der Campus seit mittlerweile zwei Jahren mein Zuhause war, betrachtete ich die schönen Backsteingebäude mit den hohen Torbögen und die Statuen einflussreicher Personen jedes Mal so, als wäre es mein erster Tag hier. Es gab immer wieder etwas Neues zu entdecken.

Zum Beispiel war mir noch nie das Muster auf der Backsteinmauer direkt neben dem Astronomiegebäude aufgefallen. Ich stellte meinen Smoothie auf einer Bank ab, holte meine Spiegelreflexkamera aus der Tasche und ging in die Hocke. Durch die Linse betrachtete ich die Musterung im Gestein. Wahrscheinlich war dort Regen in das Gemäuer eingedrungen, und die Feuchtigkeit hatte sich ausgebreitet und es so verfärbt, dass es aussah, als ob ein Gesicht sich in Richtung der Sonne reckte.

Das Licht, das auf die Mauer fiel, war genau richtig. Immer noch durch die Linse blickend machte ich einen langsamen Schritt zurück und drehte am Rädchen für den ISO-Wert. Manuell stellte ich den Fokus ein.

Ich drückte auf den Auslöser. Wie immer sandte das leise Klicken meiner Kamera ein aufgeregtes Kribbeln in meine Magengegend, und ich bekam Gänsehaut. Fotografie war alles für mich. Es gab nichts, was mir mehr bedeutete, nichts, was mich auch nur annähernd so glücklich machte wie der Moment, in dem ich wusste, dass ich ein perfektes Foto geschossen hatte.

Nach einer Weile packte ich meine Kamera wieder ein, nahm meinen Smoothie und ging zu meinem Kursraum. Visualisierung der Gesellschaft und ihrer Ideologien war eines der wenigen Pflichtseminare in meinem Studium, das mir gut gefiel und mich nicht mit endloser Theorie zu Tode langweilte. Mittels Fotografie sollten wir bestimmte Aspekte der Gesellschaft widerspiegeln und dazu Stellung nehmen. In diesem Semester lautete die Aufgabe, einen Beitrag zum kritischen Verständnis der sozialen Wirklichkeit zu leisten. Leider gehörte zu dem Abschlussbericht, den wir schreiben mussten, auch eine theoretische Analyse. Ich hätte gut darauf verzichten können, aber für diesen Kurs nahm ich sogar das in Kauf.

»Morgen«, sagte ich in den Raum und bekam vereinzeltes Murmeln zurück.

Ich ging zu meinem gewohnten Platz in der ersten Reihe, ließ mich auf den Stuhl fallen und holte meinen Laptop aus der Tasche. Für ihn war damals mein gesamtes Gespartes draufgegangen, und er war neben meiner Kamera, die Dawn liebevoll auf den Namen Frank getauft hatte, mein teuerstes Besitztum.

Ich gab selten viel Geld aus. Da ich fast ausschließlich in der Mensa aß, brauchte ich nicht viel für Essen, und Klamotten kaufte ich meist gebraucht und nähte und schnitt sie mir so zurecht, dass sie mir gefielen. Das Van-Halen-Shirt, das ich heute trug, hatte ich mir beispielsweise für drei Dollar in einem Thriftshop in Portland gekauft. Es war viel zu groß, aber ich hatte auf der rechten Seite am Saum einen Knoten gebunden, damit man sah, dass ich Jeansshorts darunter trug.

»Sind wir vollzählig? Dann fange ich jetzt an«, sagte meine Dozentin, Robyn Howard, und allmählich ebbte das Murmeln im Raum ab. Sie öffnete ihre Präsentation, die sie mit dem Beamer an die Leinwand warf, und begann, mit Begriffen wie Ortsspezifität, Wesentlichkeit und Modifikation um sich zu werfen. Ich mochte Robyn sehr, nicht zuletzt, weil sie jung war, blaue Haare hatte und mir – im Gegensatz zu vielen meiner anderen Dozenten – noch kein einziges Mal einen Was-will-die-eigentlich-hier-Blick zugeworfen hatte. Ihren Vorträgen konnte ich trotzdem nur mit einem Ohr folgen. Ich hasste Theorie.

Stattdessen öffnete ich das Photoshop-Programm und rief mein neuestes Projekt auf – eine Fotoreihe, die den Titel »Der Morgen danach« trug. In den letzten fünf Monaten hatte ich nach jedem meiner One-Night-Stands Fotos gemacht. Natürlich nicht von den Männern, mit denen ich geschlafen hatte. Das wäre geschmacklos gewesen und nicht mein Stil. Stattdessen hatte ich die Kleidungsstücke, die auf dem Boden verteilt waren, fotografiert und versucht, sie in besonderer Weise zu inszenieren. Ich hatte die Lichtstrahlen eingefangen, die am Morgen durch die Vorhänge geschienen waren, hatte Ewigkeiten auf dem Boden gehockt, um genau im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken. Die Bilder waren ästhetisch, elegant und sexy, und jeder, der sie sah, konnte in sie hineininterpretieren, was er wollte. Das war es, was ich an Kunst so liebte. Es gab kein Richtig und kein Falsch, kein Schwarz oder Weiß. Alles war okay, und alles hatte seine Berechtigung.

Ich öffnete die neueste Datei und betrachtete das Foto. Ich hatte es noch nicht bearbeitet, aber ich konnte schon jetzt sehen, dass es toll werden würde. Die ganze Szene war in rotes Licht getaucht, und was ich besonders mochte, war, dass der Fokus des Bildes nicht auf den Kleidungsstücken, sondern auf einer Uhr lag. Ich zoomte das Bild etwas näher heran, um das Ziffernblatt erkennen zu können, da atmete hinter mir jemand zischend ein.

Ich drehte mich um. Ein blondes Mädchen – ich glaubte, sie hieß Ashley – starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ist was?«, fragte ich.

Sie presste ihre Lippen zu einer schmalen weißen Linie zusammen und senkte den Blick wortlos auf ihren eigenen Laptop.

Stirnrunzelnd drehte ich mich wieder nach vorne.

Den Rest des Seminars verbrachte ich damit, das Bild zu bearbeiten. Als Robyn mit der Theorie durch war, ging sie durch die Reihen und kommentierte den Zwischenstand unserer Arbeiten. Bei mir angekommen, beugte sie sich über meinen Laptop und betrachtete erst das Bild mit der Uhr und dann noch mal die anderen Bilder, die ich ihren Ratschlägen folgend nach dem letzten Seminar noch mal an einigen Stellen überarbeitet hatte.

»Sehr schön, Sawyer«, sagte sie. »Mir gefällt, wie du auf diesem Bild hier mit dem Licht gespielt hast.«

»Nicht nur mit dem Licht …«, schnaubte das Mädchen hinter mir. Ich hatte keine Ahnung, was ihr Problem war, und widerstand dem Drang, auf ihre Bemerkung einzugehen, während meine Dozentin in unmittelbarer Nähe war. Dankenswerterweise ignorierte auch Robyn sie taktvoll.

»Hast du schon eine Idee für dein Abschlussprojekt?«, fragte sie stattdessen.

»Ich weiß noch nicht genau«, sagte ich. »Das hier ist nett, aber es ist mir noch nicht gut genug. Portraits fand ich spannend, aber als wir die letztes Semester machen mussten, hat mir auch da irgendetwas gefehlt. Ich hätte noch eine Reihe mit Bildern vom Campus, aber auch die scheint mir irgendwie nicht …«, ich suchte nach dem richtigen Begriff, »… wichtig genug.«

Robyn lächelte warm. »Du bist eine Perfektionistin durch und durch.«

»Nur, wenn es um Fotografie geht.«

»Lass dir nicht zu viel Zeit zum Nachdenken. Du hast großes Talent, aber denk daran, dass du auch eine Abschlussarbeit schreiben musst. Und die wird um einiges umfangreicher sein als die bisherigen Arbeiten, die du für mich gemacht hast.«

»Okay. Ich halte die Augen offen.«

Sie nickte kurz, dann wandte sie sich dem nächsten Studenten zu.

Nach der Stunde räumte ich meinen Kram zusammen und schulterte gerade meinen sackförmigen Rucksack, da stieß das Mädchen aus der Reihe hinter mir mit ihrer Schulter mit voller Kraft gegen mich und stürmte an mir vorbei aus dem Raum.

Was zur Hölle?

Ich folgte ihr schnellen Schrittes. Als würde sie auf mich warten, stand sie neben der Tür des Seminarraums, wo sie von zwei Freundinnen umarmt und getröstet wurde. Als sie mich entdeckten, warfen sie mir vernichtende Blicke zu.

»Habe ich dir irgendetwas getan, Ashley?«, fragte ich.

Sie fuhr zu mir herum. Rote Flecken hatten sich auf ihrem Gesicht ausgebreitet. Ihre Augen funkelten.

»Ich heiße Amanda, Schlampe«, fauchte sie.

Ups. Ich war wirklich nicht gut darin, mir Namen zu merken. »Und ich heiße Sawyer, und nicht Schlampe«, sagte ich ruhig. »Was hast du für ein Problem?«

Sie machte einen drohenden Schritt in meine Richtung. »Hattest du Spaß?«

Ich hatte wirklich keine Ahnung, was dieses Mädchen von mir wollte.

»Ich habe viel Spaß in meinem Leben, ja. Aber ich glaube, darum geht es gerade gar nicht, oder?«, erwiderte ich.

»Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Denkst du, ich würde die Uhr nicht wiedererkennen? Unglaublich, dass du das Bild direkt vor meiner Nase aufmachst. Wie scheiße kann man denn bitte sein?«, keifte sie. Ihre Stimme war so hoch, dass sich meine Nackenhaare aufstellten.

»Komm mal runter«, sagte ich, bemüht, nicht ebenfalls laut zu werden. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Du hast mit meinem Freund geschlafen!«

Überall auf dem Flur blieben Leute stehen und reckten ihre Hälse. Ein paar von ihnen erkannte ich, allen voran den Brillenträger, der gerade aus dem Raum schräg gegenüber gekommen war und nun – wie alle anderen – innehielt. Es war Isaac. Grant, Isaac Grant. Dawns Freund, den ich am Wochenende geküsst hatte. Dass er mich mit genau demselben Gesichtsausdruck ansah wie alle anderen Umherstehenden auch, versetzte mir einen Stich.

Ich versuchte, die Fassung zu bewahren und mir den Schock nicht anmerken zu lassen.

»Ich wusste nicht, dass Cooper eine Freundin hat.«

Amanda lachte und schluchzte gleichzeitig auf. Ihre Freundinnen streichelten beruhigend ihre Schultern.

Cooper, der verfluchte Wichser. Er hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Nicht auf der Party, nicht, als er mich gefragt hatte, ob ich mit zu ihm wolle, nicht während wir miteinander geschlafen hatten.

Fuck.

Instinktiv trat ich auf Amanda zu. Gefühlt die halbe Uni hatte sich um uns versammelt und schien jedem unserer Worte gebannt zu folgen.

»Er hat nichts von dir gesagt«, sagte ich so leise, dass uns hoffentlich niemand verstand.

Sie hob den Blick, und der unbeschreibliche Zorn in ihren Augen war die einzige Warnung, die ich bekam. In der nächsten Sekunde holte sie aus und verpasste mir eine schallende Ohrfeige.

Der plötzliche Schmerz ließ mich Sterne sehen.

»Du dreckige Hure!« Ihre Stimme überschlug sich. Nur verschwommen nahm ich wahr, dass es um uns herum vollkommen still war und niemand etwas sagte. In meinem Kopf hingegen dröhnte es. Amandas Worte hatten mich von einem Moment auf den anderen in meine Jugend zurückkatapultiert. Schlampe! Hure! Genau wie deine Mutter!

Mir wurde schlecht. Amanda hob erneut die Hand. Trotz des Schocks reagierte ich und packte ihr Handgelenk.

»Du schlägst mich, weil dein Freund seinen Schwanz nicht in der Hose behalten kann?«, fauchte ich und grub meine Nägel in ihre Haut.

»Du mieses Stück …«

Ich verfestigte meinen Griff. Dann kam ich mit dem Gesicht ganz dicht an ihres. »Ich kann nichts dafür, dass dein Freund ein Arschloch ist«, sagte ich tödlich leise.

Ihre Hand erschlaffte, und sie begann zu weinen. Um uns herum stieg der Geräuschpegel wieder. Die Leute begannen zu murmeln. Ich hörte eine gezischte Beleidigung. Dann noch eine.

Es war zu viel. Meine Wange schmerzte, mein Schädel dröhnte, und ich bekam keine Luft mehr. Unvermittelt ließ ich Amanda los und machte auf dem Absatz kehrt. So schnell ich konnte, bahnte ich mir einen Weg durch die Leute, den Kopf erhoben, aber trotzdem nicht in der Lage, irgendetwas oder irgendjemanden zu erkennen.

Als ich fast draußen angekommen war, fasste mich jemand am Arm. Ich fuhr herum, war schon bereit dazu, mich zu wehren …

»Alles okay?«, fragte Isaac. Er betrachtete mich prüfend durch seine Brillengläser.

»Ich muss hier raus«, krächzte ich.

Er schaltete schnell und hielt mir die Tür auf. Mit wackeligen Beinen folgte ich Isaac, als er mich quer über den Campus führte. Schließlich machten wir vor einer Parkbank Halt, die etwas abseits im Schatten eines großen Baumes stand. Ich war froh, mich setzen zu können.

Zittrig holte ich Luft.

»Zeig mal«, meinte Isaac und beugte sich vor. Ich drehte mein Gesicht so, dass er sich meine Wange ansehen konnte. Sein Blick verdunkelte sich.

Ich ließ mich zurücksinken und schloss die Augen. Meine Hände zitterten weiterhin, aber die tiefen Atemzüge halfen mir dabei, mich wieder zu beruhigen.

»Hier, iss das«, sagte Isaac nach einer Weile.

Ich öffnete die Augen. Er hielt mir einen Schokoriegel vor die Nase. Zögerlich nahm ich ihn entgegen, wickelte das Papier herunter und biss ein kleines Stück ab. Im ersten Moment rebellierte mein Magen, aber dann merkte ich, dass die Schokolade mir guttat. Und obwohl ich eigentlich nicht viel für Süßigkeiten übrighatte, aß ich sie bis zum letzten Krümel auf.

Danach starrte ich für ein paar Minuten ins Nichts.

Es bestand keine Chance, dass Isaac nicht mitbekommen hatte, was Amanda zu mir gesagt hatte. Mit einem skeptischen Blick drehte ich mich schließlich zu ihm: »Wieso bist du mit mir gekommen?«

Er runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

»Wieso sitzt du hier mit mir, wenn du genau weißt, was ich gemacht habe?«

»Das da drinnen ging gerade gar nicht.«

»Eine Schlampe wie ich hat es wohl nicht anders verdient«, sagte ich zynisch.

»Sawyer!« Isaac sah mich empört an.

»Was denn? Du hast Amanda doch gehört.«

»Mir ist egal, was du gemacht hast – jemanden zu schlagen, ist nie in Ordnung«, erwiderte er grimmig. Er sah mich weiter an, durch die Gläser dieser blöden Streberbrille, und ich fragte mich unwillkürlich, ob sie Sonnenstrahlen bündelten und auf mich richteten, weil mir völlig unerwartet ganz warm wurde.

»Ich wusste es nicht«, hörte ich mich plötzlich selbst sagen. Ich richtete den Blick auf meine Schuhspitzen, und meine Haare fielen mir vors Gesicht. Das war besser. Einen Vorhang zwischen mir und Isaacs wachsamem Blick zu haben, fühlte sich gut an.

»Er hat nie was von einer Freundin gesagt«, fuhr ich fort. »Ich hätte sonst nicht … Ich meine, ich würde nie …«

»Sawyer«, unterbrach Isaac mich sanft. »Ich glaube dir.«

Ich blickte auf und strich mir das Haar hinters Ohr.

Isaac studierte eingehend mein Gesicht. Dann fiel sein Blick wieder auf die Stelle an meiner Wange, wo sicherlich noch immer der Abdruck von Amandas Hand zu sehen war.

»Wir sind nicht das, was sie über uns sagen, Sawyer. Lass dir das nicht einreden.« Er lächelte mich aufmunternd an, und langsam, ganz langsam flaute das schmerzhafte Pochen in meiner Wange ab.

KAPITEL 3

Al musterte mich kritisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war ein riesiger, bulliger Typ und sah aus, als könnte er mich und gleichzeitig zwei weitere Personen, ohne mit der Wimper zu zucken, einhändig zerquetschen.

Auf jeden anderen hätte er in diesem Moment wahrscheinlich einschüchternd gewirkt, da ich aber inzwischen seit vier Monaten im Woodshill Steakhouse arbeitete, kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, dass sich hinter seiner grimmigen Fassade ein butterweicher Kern verbarg.

»Komm schon, Al. Gib dir einen Ruck«, sagte ich und zwang mir ein seltenes Lächeln aufs Gesicht. Ich wusste, dass es Wirkung zeigen würde. Das tat es immer, wenn ich mich mal dazu durchrang.

»In Ordnung. Aber wenn du mir meine Kunden vertreibst, fliegst du.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter.

Jetzt war mein Lächeln nicht länger erzwungen. »Du bist der Beste.«

Er grunzte bloß, stieß die Klapptüren auf und verschwand wieder nach hinten in die Küche.

Endlich. Ich räumte hastig die letzten Gläser in das Regal hinter der Bar und ging danach zu dem riesigen Mischpult. Seit Al die Anlage vor ein paar Wochen angeschleppt hatte – angeblich ein Überbleibsel seiner Tage als DJ –, hatte es mich in den Fingern gejuckt, sie auszuprobieren. Doch nur ein Schritt in die ungefähre Richtung, und Als warnende Stimme war aus Richtung der Küche gedonnert und hatte gedroht, mich zu feuern, sollte ich auch nur an einem einzigen Rädchen drehen. Dabei müssten wir im Steakhouse meiner Meinung nach dringend bessere Musik spielen, wenn wir nicht nach und nach die Gäste mit Als langweiligen Gastro-Mixtapes vergraulen wollten.

Irgendwann musste er mal einen guten Musikgeschmack gehabt haben, dachte ich, als ich die Platten durchwühlte, die sich in dem Schrank unterhalb des Mischpults stapelten. Darin zu stöbern, war ein bisschen wie Weihnachten. Fassungslos zog ich eine Bullet-For-My-Valentine-Platte hervor. Sofort legte ich sie ein und drehte den Lautstärkeregler am Mischpult hoch. Wenig später schickte mir ein raues Gitarrensolo einen angenehmen Schauer über den Rücken.

»Sawyer, Kundschaft!«, rief meine Kollegin Willa.

Ich unterdrückte einen Seufzer, richtete meine schwarze Schürze und tröstete mich mit der Tatsache, dass ich wenigstens für diese Schicht einen guten Soundtrack haben würde.

Als ich durch den Vorhang an den Tresen trat, stahl sich gegen meinen Willen ein Lächeln auf mein Gesicht. Meine Mitbewohnerin balancierte auf einem der Hocker und war gerade dabei, ihren Steinzeit-Laptop auf den Tresen zu hieven. Ich war immer wieder erstaunt darüber, dass ein so kleiner, zierlicher Mensch ein derart riesiges Teil mit sich herumschleppen konnte.

»Ich dachte, du wolltest heute mit Loverboy nach Portland«, sagte ich zur Begrüßung und nahm eine Flasche Cola aus der Kühlschublade.

»Hallo, Sawyer, ich freu mich auch, dich zu sehen«, entgegnete Dawn trocken. »Und ja, wollte ich eigentlich auch, aber dann habe ich mich dazu entschieden, meiner allerliebsten Mitbewohnerin einen Besuch abzustatten.« Sie stützte die Ellbogen auf den Tresen und legte das Kinn auf ihren gefalteten Händen ab.

Ich schob ihr ein Glas eisgekühlter Cola zu. »Herzallerliebst. Also, warum bist du hier und nicht bei Cosgrove?«

Sie seufzte. »Er musste früher los.«

Ich hob eine Braue. »Und da ist er einfach ohne dich gefahren?«

Sofort schüttelte sie den Kopf. »Ich war im Kurs bei Nolan und habe nicht auf mein Handy geguckt. Es gab … einen Notfall.«

»Ah.« Ich hakte nicht weiter nach. Dawn hatte mir schon vor einer ganzen Weile erzählt, dass ihr Freund Spencer eine komplizierte Familie hatte und oft ohne Vorwarnung nach Hause musste. Anscheinend war seine Schwester krank und auf seine Hilfe angewiesen.

»Interessante Musik, die Al heute aufgelegt hat«, sagte Dawn nach einer Weile.

»Er hat mich ans Mischpult gelassen.«

Ihr Gesicht leuchtete auf. »Na endlich! Du hast dir doch schon seit Wochen die Finger danach geleckt.«

Für einen Moment war ich überrascht, dass sie das sagte. Dann erinnerte ich mich daran, dass es Dawn war, die da vor mir saß. Egal, wie wenig ich über mich oder mein Leben sprach – es war unmöglich, mit jemandem wie ihr zusammenzuwohnen und nichts von sich selbst preiszugeben. Sie kannte mich einfach manchmal ein bisschen besser, als mir lieb war.

Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Denn der Blick, mit dem Dawn mich in diesem Moment beäugte, war mir alles andere als neu.

»Na los. Frag schon«, seufzte ich und nahm die Gläser entgegen, die Willa mir auf einem Tablett reichte. Ich bedankte mich mit einem Nicken und fing an, sie abzuspülen.

»Was war das am Wochenende?«

Ich hielt inne. Ich hatte erwartet, dass sie mich auf die Sache mit Amanda ansprechen würde. »Was meinst du?«

Sie schnaubte laut.

Ich hob den Blick von der Spüle.

Sie zog vielsagend ihre Augenbrauen hoch, als würde ich mich absichtlich dumm stellen.

»Ich habe keine Ahnung, was du von mir willst.«

Dawn verdrehte die Augen. »Die Sache mit Isaac.«

Oh. Das hatte ich tatsächlich aus meinem Gedächtnis verdrängt. »Ach so. Das.«

»Ja. Das«, wiederholte sie. »Was hatte es denn mit diesem Abgeschlecke auf sich?«

Ich seufzte. Wie ich Dawn kannte, würde sie nicht lockerlassen, bis sie mir alles aus der Nase gezogen hatte. Also lieferte ich ihr die Kurzzusammenfassung.

Als ich fertig war, sah sie beinahe enttäuscht aus.

»Und ich dachte, ihr …« Sie hob die Schultern.

Ich schnaubte. »Dass ich eurem elitären Pärchen-Club beitreten will?«

Sie wurde knallrot.

Fassungslos starrte ich sie an. »Dawn! Willst du mich verarschen?«

»Was denn? Ihr saht süß zusammen aus!«, entgegnete sie trotzig.

»Ich habe ihm geholfen, weil er ein netter Kerl ist. Mehr nicht.«

»Und mit netten Kerlen fängst du grundsätzlich nichts an. Schon klar«, grummelte sie.

Ihre Bemerkung versetzte mir einen Stich. Unwillkürlich fasste ich an meine Wange. Es hatte über einen Tag gedauert, bis sie nicht mehr heiß und rot gewesen war.

»Tut mir leid. So war das nicht gemeint«, setzte Dawn schnell hinterher.

»Schon okay.«

»Isaac macht so was normalerweise nicht. Er ist total schüchtern. Ich weiß nicht mal, ob er …« Sie hob hilflos die Schultern.

»Ob er was?«, fragte ich.

Sie wurde schon wieder rot. »Naja, ob er schon mal eine Freundin hatte. Oder … du weißt schon …« Sie machte eine vage Handbewegung, die alles und nichts bedeuten konnte.

Das war etwas, was ich niemals verstehen würde: Dawn schrieb erotische Geschichten. Erotische Geschichten mit langen, expliziten, detailverliebten Sexszenen, die selbst mir die Röte ins Gesicht trieben. Aber sie brachte es nicht über sich, in der realen Welt über Sex zu reden, ohne vor Scham einen halben Herztod zu erleiden.

Ich stützte mich mit den Armen auf den Tresen. »Isaac ist keine Jungfrau mehr, falls du das meinst.«

Sie schnappte nach Luft. »Woher weißt du das?«

Ich erinnerte mich an seinen hungrigen Kuss und das Gefühl von seinen Händen auf meinem Körper. Zunächst war er schüchtern gewesen, aber dann hatte sich seine Zurückhaltung in Luft aufgelöst, und sein Kuss war gierig, beinahe verzweifelt geworden. Selbst wenn er mir vorher nicht gesagt hätte, dass er keine Jungfrau mehr war, hätte mir spätestens die Art, wie er mich berührte, verraten, dass er ganz genau wusste, was er tat.

»Ich weiß es einfach«, sagte ich schulterzuckend. »Für so etwas habe ich einen siebten Sinn.«

»Ist es nicht normalerweise der sechste Sinn?«

Ich verzog die Lippen zu einem schmutzigen Grinsen. »Was mein sechster Sinn ist, möchtest du nicht wissen, Dawn. Glaub mir.«

In einer fahrigen Bewegung griff Dawn nach ihrem Colaglas und trank einen großen Schluck, um darauf nichts antworten zu müssen.

Das nächste Seminar von Visualisierung der Gesellschaft war die reine Hölle. Die Mädchen, die hinter mir saßen, lästerten so laut über mich, dass es unmöglich war, ihre Stimmen auszublenden. Am Anfang hatte ich kurz überlegt, mich in die letzte Reihe zu setzen, hatte die Idee aber schnell wieder verworfen. Ich würde mich nicht verstecken.

Doch es war unfair. Cooper, der seine Freundin betrog, kam mit einem blauen Auge davon, aber ich war diejenige, die den Hass abbekam und als Schlampe beschimpft wurde. Wieso war das so? Unsere Gesellschaft war verdammt abgefuckt. Frauen zogen immer die Arschkarte. Es war zum Kotzen.

Die Vorlesung kam mir länger vor als sonst. Wahrscheinlich weil ich zum ersten Mal Robyns Theorie zuhörte, statt wie üblich meine Bilder zu bearbeiten. Erst nachdem Robyn ihre Präsentation beendet hatte, klappte ich meinen Laptop auf und schaltete ihn ein. Ich spürte die Blicke von Amanda und ihren Freundinnen auf meinem Rücken. Ihr Tuscheln wurde lauter. Ich verdrehte die Augen.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, weiter an meiner »Der Morgen danach«-Reihe zu arbeiten, wusste aber, dass ich mich sowieso nicht konzentrieren konnte. Ich klickte stattdessen den Ordner mit den Fotos an, die ich über die letzten Monate verteilt vom Campus geschossen hatte.

Als Robyn während ihres Rundgangs bei mir vorbeikam, stutzte sie. »Hast du ein neues Projekt begonnen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist die Fotoreihe vom Campus, von der ich dir erzählt habe.«