Kein Buch von Tag zu Tag, nach Themen, Gedanken, Ereignissen oder Intervallen regelmäßig gefüllt. Aber doch ein Tagebuch. Erfahrungen eines bestimmten Tages zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Jahr. Nicht immer, eher nur wenn es brennt. Dann werden Einfälle und Beobachtungen im diversen Charakter eines Tagebuchs nieder geschrieben und können sich nun, in ihrer neuen Gestalt auf dem Papier abgelegt, beruhigen, entspannen und sterben.
Die Tagebuch-Blätter sind nicht homogen, nicht leicht zuzuordnen. Sie entstehen als Empfindungen oder Reflexionen von Erlebtem. Alltägliche Eindrücke, kleine und größere Begebenheiten, die mich treffen, ängstigen, erregen, erfreuen, amüsieren und mich nicht loslassen, rufen mich auf den Plan. Der Grad ihrer Beunruhigung gibt dann den Ausschlag, ob sie mich zum Schreiben auffordern. Das Drängen aus dem Innern hält mich wach, bittet mich, es in eine Form zu gießen, zu zeichnen, zu malen, zu dichten, zu tanzen oder eben, wenn es passt, zu schreiben. Der Durst nach geistiger Freiheit, die Liebe zu den Künsten und zur mystischen Rose ist in meiner Natur. Immer wieder ergreift mich ein Verlangen, Geschehnisse aufs Korn zu nehmen, sie auszuloten, sie zu attackieren oder zu entschärfen, zu filtern, ihnen den Schneid abzuluchsen, sie zu umtanzen, zu besingen, poetisch zu erhöhen – oder auch sie einfach nur, wie sie eben sind, zu entlassen.
In meinen Tagebuchvideos von 2007-2015 ging es mir wie in diesen Schriftstücken um die Lust, mich zu äußern, zu sprechen, um Anhörung und Verarbeitung mich irritierender Vibrationen, um Schmerz und Liebe, um freundliche sowie tosende Gedanken, um überschäumende Glücksversuchungen. Ich nannte diese Begleiter cinephile Selbstgespräche. Die Tagebuch-Blätter ähneln diesen gefilmten Selbstgesprächen in ihrem unsystematischen, sehr persönlichen, oft bruchstückhaften Charakter. Es wird nichts Geheimnisvolles verborgen, auch nichts absichtsvoll preisgegeben. Die Tagebuch-Blätter sind kein Kunsttagebuch, kein Traumtagebuch, kein Reisetagebuch, kein Tagebuch der Erinnerung.
Ähnlich den Blättern eines Baumes gleicht kein Blatt dem anderen und doch sind alle von derselben Art, ungleich groß, vielfältig in Form und Farbe, unterschiedlich geprägt durch ihre jeweils ganz eigene Geschichte. Im Zu-Boden-Tanz lösen die Herbstblätter sich leicht vom Baum und lassen sich vom Wind tragen. Aber auch vom Sturm gerissen oder aufgewirbelt schweben sie am Ende bedingungslos fallend zur Erde. Die Blätter unserer prachtvollen Bäume sind für mich das Inbild des Sterbens. Sie entstehen zeitgemäß in zarter, betörender Schönheit, spenden uns Licht, Schatten und Sauerstoff, scheiden in üppiger bis aggressiver Färbung und verwesen dann in Stille. Ein Ende des Getreten-Werdens oder des sanften Vergehens in Unauffälligkeit. In Anlehnung an ihren Spirit notiere ich meine Beobachtungen in aller Unregelmäßigkeit eben als Tagebuch-Blätter.
Ein Zitat aus dem letzten Kapitel meines Buches Ahnensog 2 soll dieses Vorwort beenden:
Dem hochgespülten Schlamm schaute ich schreibend ins Auge. Solange bis er versengt war. Nun ruht die Asche all der verbrannten Rätsel auf dem Friedhof meiner seelischen Verbrennungsanlage. Heilige Asche. Sie ist das, was übrig bleibt, wenn alle Schlacke vom Feuer der Erkenntnis verbrannt ist. Auch diese Asche wird einmal vergehen, ebenso wie vom Kampfer nichts übrig bleibt, wenn er verbrannt ist.
6. Jan. 2015
Falten. Bei Falten denke ich sofort an Christo, der die halbe Erde verpackt, kleinste und größte Elemente mit Stoff umhüllt. Ihn faszinieren Falten diverser Materialien und bei jedem seiner Europabesuche reist er nach Padua, um sich dort von den Malern der Frührenaissance inspirieren zu lassen. Die reine Schönheit dieser frühen Darstellungen vom Faltenwurf hat vielleicht ein wenig zum Zauber der Christo-Verhüllungen beigetragen, den ich bei jedem seiner neuen Projekte empfand. Die europäische Kunstgeschichte ist voller Bilder vom Faltenwurf – puristisch, facettenreich, faszinierend, berauschend – der bis zur Erfindung der Fotografie etliche Maler unseres Kontinents inspirierte und aufforderte, sich dessen Schönheit in Fleiß und Hingabe zu widmen.
Wie anders steht es um die Falten der alternden Frau in Europa! Die innere Notwendigkeit für bestimmte Kleidungsstücke oder Kosmetika nimmt bei mir mit dem Alter zu. Während ich bis zum Alter von etwa 60 Jahren keinen BH trug, mich kaum schminkte und keinerlei Gedanken wegen meines Aussehens hegte, nahmen diesbezügliche Gedanken und Sorgen seitdem langsam und seit meinem 70. Lebensjahr auffällig zu. Sie beginnen mich zu bedrücken. Ich entdecke, dass ich eine dünne Haut habe und die Tendenz, faltig zu werden, einfach nicht zu übersehen noch zu kaschieren ist. Also wird es nun meine nicht abzuwendende Aufgabe sein, mich mit dieser Anlage zu arrangieren.
Es geht hier nicht um Seide oder Samt, ihr Schillern im Licht, um Form und Farbe wie beim Faltenwurf, sondern um das ganze Gegenteil, nämlich um die Falten der Frauenhaut, wenn sie altert. So sehr uns die Falten schöner Stoffe faszinieren, so befürchten, meiden oder verabscheuen wir sie bei der alternden Frau. Das neurotische Abendland wird von der Materie beherrscht und ich bilde in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Vielleicht respektieren oder verehren wir die Falten bei der gegerbten Haut einer gestandenen Indianerin, einer naturwüchsigen Frau der indigenen Völker. Aber bei uns? Im zivilisierten Raum, der nur noch eins im Kopf hat, Erhalt der Materie um jeden Preis bei gleichzeitiger Zerstörung derselben?
Heute fahre ich mit meinem nagelneuen Auto Mona Lisa in die City Hamburg. Seat Ibiza, ML 3140, Automatik, hundert Ps, weiß, schwarzes Sonnendach, Freisprechanlage, Sitzheizung. Ich ahnte nicht, welche Genusswelle den Körper durchzieht, wenn so ein Gefährt dich aufnimmt und sanft dorthin bringt, wo du gerade sein möchtest. Verstehe ich nun also doch, dass alle Welt an der Materie hängt? Ich gehe ins Alsterhaus, um ein Weihnachtsgeschenk zu tauschen. Überteuerte Markenartikel der Edeldesigner sind jetzt im sogenannten Ausverkauf um mindestens 50% reduziert. Ich entdecke, dass ich vor kurzem Unmengen an Geld einfach auf die Straße geworfen habe. Alternde Frauen, die endlich Geld und Zeit haben, blättern mit verstörten Mienen in den überteuerten Kleidungsstücken, wahrend in Harburg auf dem Schwarzenberg die Asylanten in Zelten den regennassen Winter überstehen müssen, tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und unerwünschte Durchgekommene von uns wieder nach Hause geschickt werden. Ich bin mittendrin und frage mich, ob es genügt, all dies zu sehen, zu verstehen und gerade mal einen kleinen Tagebucheintrag zu machen.
Ich gehe zu Douglas, um mir einen Konturenstift für meine Lippen zu kaufen. Douglas am Jungfernstieg an der Alster. Eine ältliche Frau mit unangenehmer Ausstrahlung kommt auf mich zu. Sie kann keine Douglas-Verkäuferin sein, schießt es mir durch den Kopf, und schon fragt sie mich, ob sie mir helfen könne. Brav trage ich ihr mein Anliegen vor und anstatt, dass sie mir meinen Wunsch erfüllt, sieht sie mir prüfend ins Gesicht und meint, „und dann können wir gern auf Ihre sehr trockene Haut eingehen“. Ich verneine und steuere auf die Lippenstiftabteilung zu. Sie sieht mich entsetzt an und meint, dass meine Haut aber dringend der Pflege bedürfe. Ich entgegne, dass ich gut versorgt sei, sie muss nachgeben und wir erledigen den erwünschten Einkauf. Auf dem Weg zur Kasse, insistiert sie erneut, ob ich nicht wenigstens Proben für eine Gesichtspflege haben möchte, da es für mich dringend wäre wegen meiner sehr trockenen Haut. Mir wird übel und ich lehne erneut ab. Ihr Gesicht hatte braune Altersflecken, sie sah unzufrieden und bösartig aus. Zerknirscht übergab sie mich einer jungen Verkäuferin, die mich in Ruhe ließ und mir lediglich an der Kasse das Geld für den Konturenstift abnahm. Die Alte hantierte hinter der Jungen und streckte mir eine Parfum-Probe über den Tisch: „Dann nehmen Sie wenigstens einen Duft, wenn sie schon keine Pflege wollen.“ Wie benommen steckte ich die Probe ein und verließ das Geschäft. Es regnete am düsteren Himmel. Ich steuerte einen Ascheimer an, warf das Parfum hinein, entnahm den Konturenstift seiner Verpackung, die ich auch entsorgte, um jegliche Spuren von der Alten zu tilgen.
Mir ist elend und ich fahre in meinem weißen Auto durch die graue Stadt nach Hause. Ich fühle mich erwischt. Ich weiß zwar, dass die Alte ihre eigenen Haut- und Altersprobleme in mir sah und mir aufdrängen wollte.
Aber: Meine Eitelkeit wird auf den Prüfstand gestellt. Etwas stimmt nicht. Noch niemals traf ich eine alte hässliche Verkäuferin bei Douglas an. Ausnahmslos werden dort attraktive Frauen angestellt. War es ein Wahnbild von mir? In der Regel sind sie jung, entgegenkommend und von aparter Schönheit, zumindest haben ihre fein geschminkten Gesichter meist eine Pfirsich gleiche Haut. Diese Alte ist mir nicht umsonst begegnet. Sie ist in mir. Ich bin die Alte, ich bin ihre Angst, ihre Verzweiflung. Die Bosheit der fleckigen Alten treibt mich in die Enge. Ich komme mir vor wie in den Märchen der Gebrüder Grimm. Ich will diese mich ekelnde Alte wie im Froschkönig die Prinzessin den Frosch an die Wand werfen. Ich werde ihr wie Schneewittchen einen vergifteten Apfel zu essen geben, damit sie schreiend verendet. Ich werde ihr einen Spiegel vorhalten, dass ihre in zeternder Angst gestellte Frage nach ihrer vergangenen Schönheit in tausend Scherben zerfällt. Ich werde ihrem Jugendwahn eine Kette mit einem Amulett eines sich liebenden jungen Königspaars um den Hals legen, damit sie den Flaum jugendlicher Liebe einatmen muss und daran zugrunde geht. „Wenn wir auch verfallen, der Kern unserer Seele ist davon nicht betroffen.“ [Zitat J., als er mir am 1. Nov. 2017 bei diesem Tagebucheintrag über die Schulter schaut.]
26. Jan. 2015
Warten. Wenn ich nicht schreibe, bin ich ein Nichts, sagte einst Alfred Andersch. Dieser Ausspruch nistete sich bei mir ein. Von Zeit zu Zeit wird er von meiner Seele ans Licht geholt und auf den Prüfstand gestellt. Das Werk eines echten Künstlers enthebt ihn während der Zeit seiner Arbeit durch die Unmittelbarkeit des Schaffensprozesses in eine Aura, die frei ist von Zweifel, Unmut und Angst. Das Geheimnis des Gestaltens durchdringt den Künstler auch als Person und befreit ihn zeitweilig von jeglicher Anhaftung. Der Künstler darf dann vom Wunder des Soseins kosten. Solange er arbeitet, unterscheidet sich seine Befindlichkeit vom Leidenszustand der meisten Menschen. Wenn er aber nicht arbeitet, ist er ein gewöhnlicher Mensch mit all den bekannten Sorgen und Ängsten. Allerdings wirkt das abgeschlossene Werk in ihm. Es löst vielfältige Reaktionen aus. Auch diverse Gegenbewegungen können ihn attackieren.
Nun habe ich immer wieder darüber nachgedacht, wie ich den gedankenfreien Daseins-Zustand während des Schaffens auch im Alltag aufrecht erhalten bzw. auch ohne Kunst erreichen kann. Künstler, die sich mit Drogen an die Arbeit machen, sind mir suspekt. Zugleich liebe ich die Künstler in ihrer Schwäche gegenüber der Faszination des Rausches durch Drogen. Ist nicht der Zustand des Rausches durch einen guten Wein göttlich und der immerwährenden Glückseligkeit ähnlich, nach der wir uns alle sehnen, und können nicht gerade wahre Künstler ein echtes Lied von ihm singen? Der immensen Verführung ist nur mit einem starken Geist zu begegnen, der messerscharf unterscheidet. Ich verehre das Werk Giacomettis. Seine späten Skulpturen allerdings sind mir unangenehm, zuweilen finde ich sie gar beschämend bis abscheulich. Man sah ihn nie ohne Zigarette. Wein und Kaffe waren seine ständigen Begleiter. So sehe ich sein Spätwerk im Licht eines schon weitgehend vergifteten Körpers. Was wohl am Ende anderes heraus gekommen wäre, hätte er auf die stetige Unterwanderung durch das Gift der kleinen Drogen verzichtet? Dieselbe Frage stelle ich mir bei etlichen Malern, Dichtern und Musikern, deren lasches Spätwerk ich auch als Ergebnis von Drogenmissbrauch sehe.
Ähnlich wie es bei einem wunderbaren Wein schlecht zu ertragen ist, dass die Schönheit seiner Wirkung nicht bleibt, kann der leere Zustand nach Abschluss einer künstlerischen Arbeit schwer erträglich sein. Kann denn künstlerisches Schaffen Sucht sein? Natürlich kann es das. Man spürt sehr genau, ob ein heiliger Zustand eintritt, ob das Quellenpotenzial rein, ob dessen Gestaltung clean ist und sich der Wahrheit verpflichtet.
2010 malte ich meine letzten großen Bilder. In den vergangenen vier Jahren schrieb ich zwei Bücher. Der gähnende Alltag, der sich auftut nach Abschluss von Ahnensog 2, attackiert mich zeitweilig derart heftig, dass ich mich zwangsläufig mit dem oben erwähnten Zitat von Alfred Andersch auseinandersetzen muss. Da ich künstlerisch nur arbeite, wenn sich etwas im Inneren zeigt, das eineindeutig nach Gestaltung ruft, nehme ich mir vor zu warten und dieses Warten als eine bewusste Pflicht ernst zu nehmen.
27. Jan. 2015
70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Kein perfekter Platz heute für einen Eintrag in mein Kunst-Tagebuch, dessen zusammenhängender Sinn sich meist erst ergibt, wenn ich mich durch die Hingabe ans Schreiben vollkommen entspannen darf?
Das Café in Hamburg-Eppendorf am Grindel ist überfüllt. Heute ist der 27. 1. 2015, 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Bin ich daher so nervös? Wollte ich vielleicht darüber schreiben? Ein derartiger Tag des Gedenkens und niemandem ist etwas anzumerken? Mir erscheint der lockere Frohsinn der Studentinnen und jungen Männer seltsam schal und naiv. Tue ich ihnen Unrecht? Wir befinden uns im ehemals jüdischen Viertel am Grindel beim Abaton. Vor wenigen Jahrzehnten wurden hier Menschen aus ihren schönen Stadtwohnungen gezerrt, abgeführt, abtransportiert, um planmäßig ermordet zu werden. Gedanken an meine künstlerische Produktion treten in den Hintergrund. Mein inneres System fokussiert sich jetzt auf das Thema des heutigen Tages, an dem ich nicht vorbeikomme. Darf ich es Thema nennen? Ist es nicht etwas ganz anderes als ein Problem, mit dem wir uns thematisch beschäftigen sollten? Wie wäre es, wenn dieses feine Stadtviertel heute einfach still gelegt würde? Stell dir vor, jeder, der hier lebt und arbeitet und zusätzlich jedermann, der heute hierher gelangt, aus welchem Grunde auch immer, würde durch eine Verordnung unmissverständlich aufgefordert, zu schweigen, einen Tag lang, nur für einen Tag in Stille zu gedenken. Dazu könnte im Abaton der Film Shoah von Claude Lanzmann laufen, acht Stunden im Stück, in einer Endlos-Schleife. Als ich eben begann zu schreiben, konnte ich nur einen beengten Platz einnehmen und nicht umhin, meine Mitmenschen aufs Korn zu nehmen. Jetzt, nachdem ich meinen mahnenden Empfindungen und Gedanken Luft gemacht habe, ist es hier plötzlich ruhig und nahezu menschenleer. Ist es möglich, dass meine Gedanken an die mörderischen Aktionen zur planmäßigen Vernichtung des Jüdischen Volkes, eben auch hier im Grindelviertel Hamburgs, die Menschen beim Warten auf einen Milchschaumcafé derart berührt haben, dass sie vor ihrer Verantwortung geflohen sind? Nicht einmal einem einzigen Tag, einem solchen Gedenktag, dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, wird flächendeckend Aufmerksamkeit gewidmet in Hamburg, der schönsten Stadt der Welt (90,3), einem Mustergau auch der Judenentrechtung und -vernichtung. Wie elegant muss es hier gewesen sein, als jüdische Hanseaten das Stadtbild dieses noblen Stadtviertels prägten. Die Studentin neben mir mit Pferdeschwanz und Haargummi, Dauerfrisur junger Hanseatinnen, nimmt ihren Rucksack und geht. Hat sie meine Worte gehört? Die Kleidungsstücke nahezu aller hier Sitzenden sind von Frauen genäht, die als Sklavinnen gehalten werden. Daunen und Billigfedern der Polsterjacken werden den eingepferchten Gänsen vom lebendigen Leib gerissen. Die Felle von den in Massentierhaltung ermordeten Tieren schreien vor Schmerz und erlauben ihren Trägerinnen gerade einmal die Ausstrahlung dumpfer Zufriedenheit.
Zwei Stunden später. Meine Parkuhr war abgelaufen und ich klappte meinen PC zu. Es ist bedrückend an diesem Tag in dieser Gegend im Café am Allendeplatz zu sitzen und absolut nichts von dem Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz wahrzunehmen, zu sehen, zu erleben, außer selbst darüber zu schreiben. Vor dem Café wird mir plötzlich klar, warum ich heute am 27. Januar 2015 gerade an diesem Ort schreibe, was ich nicht geplant hatte. Eine Schülergruppe steht vor dem Abaton und wartet gelangweilt auf einen Film, der sich mit Auschwitz befasst. Mir stößt die zunehmende Verwahrlosung dieser ehemals prachtvollen Bürgermeile auf. Zugelassene Bettler unterbrechen wie die mahnenden Stolpersteine das Bild des ungepflegten Bürgersteigs auf ähnlich verlogene Weise. Wir tun doch sonst nichts für die Armen. Nach einem Arztbesuch in dem nahe gelegenen Pöseldorf und einem Mittagstischgericht im Abatin will ich hier erneut ins Café Balzac gehen, um weiter zu schreiben. Es gelingt mir nicht. Heute verbreitet diese Gegend keinerlei intellektuelles oder studentisches Flair. Vielleicht lässt sich eben auf eine noch vor wenigen Jahrzehnten dem Judenmord anheim gegebene Gegend nicht einfach ein lockeres studentisches Leben pflanzen und arglos genießen. Den trüben Ausdruck der Studenten verstärken diverse Alte, zu denen ich auch gehöre. Obwohl ja nichts gegen ein langes Leben gesagt werden kann, erscheinen sie mir wie suchende Schmarotzer, die ihr Leben lang verdrängt haben, was angeschaut hätte werden müssen, und die nun den Jungen aus innerer Not deren Dasein erschweren und rufen: Ihr für uns! Süchtig, geistig unterversorgt, ängstlich, krank, einsam; so ungefähr die Ausstrahlung der alternden Rentnerschar in der City.
Ich flüchte ins Café Balzac in den Colonnaden. Hier weiß erst recht kein Mensch etwas von einem Gedenktag. Der Tag unterscheidet sich in keinerlei Weise von jedem beliebigen anderen. Eine kleine Frau setzt sich mir gegenüber, etwa mein Alter, kurzes getöntes Haar, Gleitsichtbrille, strenge Hosen, klopft das rote Polster ihres Sitzes sauber, reinigt dauernd den Tisch mit der soft weißen Papierserviette, intensiv wischend, als wolle sie Tränen und Blut wegreiben, das so viele Juden dieser Hansestadt hier vergossen. Sie blättert mit spitzen Fingern in der ausliegenden Presse, im Handelsblatt. Wir brauchen die Juden wird der Tonus sein, darin sind sich alle einig. Auf wen könnten wir sonst unseren Hass ausbreiten. In mir kriecht eine messerscharfe Abneigung gegen diese Frau hoch, die mich zugleich mahnt: Du bist diese Frau. Vergiss es nicht! Auch für sie bist du verantwortlich. Ein Schleim hustender alter Mann betritt das Café. Was weiß er vom Holocaust? Ich stelle mir diese Einrichtung in vierzig Jahren vor und bekomme das Fürchten.
Wir müssen allem sterben, was der Geist in uns angesammelt hat, jeder Prägung, jeder Tradition, jeder religiösen Emotion und jeder Überzeugung. Wir sind verantwortlich, jeder ist für jedes Geschehen verantwortlich. Wenigstens heute an diesem Ort, in Hamburg, im Gedenken an Auschwitz. Wie soll unser Geist frisch werden, wenn wir die Last der Vergangenheit nicht einmal anschauen? Wie wollen wir als Deutsche ohne die Anstrengung des Verstehens dieser bleischweren Last in uns die Möglichkeit zum Atmen frei räumen? Wir können, wenn wir wollen. Einfach, indem wir still werden? Was gibt es zu tun? Nichts, antwortet der Weise. Setz dich in den Zug des Lebens und lasse dich auf dem Kahn deiner Bestimmung den Fluss hinunter treiben. Wirf die Ruder weg. Stell dein Gepäck ab. Wie auch immer du dich anstrengst, es wird dir geschehen, wie es für dich bestimmt und beabsichtigt ist. Vergiss jegliche Anstrengung. Sie ist umsonst. Verschwendete Energie. Lass alles zu. Gib endlich auf. Lasse diesen Gedenktag inmitten des stummen Vergessens deiner Mitmenschen in dir blühen und sterben.
Wie kann ich nur einen Tagebucheintrag zur Kunst vornehmen an einem solchen Tag? Mir wird vor mir selbst bang und das ursprüngliche Anliegen meines Schreibens zerrinnt im Angesicht der Ignoranz unserer Hamburger Bevölkerung an diesem 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, die ich, eine Hanseatin, doch auch bin.
3. Feb. 2015
Warten 2. Ist es denn wahr, dass ich nur schreibe, wenn ein heiliger Zustand sich in mir auftut, der nach Beachtung ruft und seine Dringlichkeit schließlich nicht mehr überhört werden kann, sodass ich zum entsprechenden Mittel greife, was bei mir heißt, schreiben, malen, zeichnen?
Musizieren und Tanzen gehören ebenso zu meiner Ausdruckswelt, nur bleiben meine Möglichkeiten auf diesen beiden Feldern für mich auf einer schlichten Ebene. Leider! Denn in der Tiefe verehre ich gerade diese beiden Künste. Sie sind dem Herzen am nächsten. Bewegung und Musik sind der Schönheit einer tanzenden Schneeflocke näher als Worte und Farben. Allerdings ist die Wahrheit mit jeglicher Kunst zu erfassen, wenn der Künstler selbst von der Gnade der Muse geküsst ist und durch sein Werk das Wunder der Stille berührt wird.
Wann ist ein solcher Ruf aus dem Innern denn heilig? Darf z. B. Schmerz als Aufruf gelten, wie ich es tausendfach tat? Reicht innere Seelenqual aus, um auf das Wunder jenseits unseres Leidens zu verweisen, was viele Künstler, besonders in Europa, immer wieder taten? Oder sind nicht die Werke die wertvollsten, die jenseits von Schmerz und Sehnsucht von der absoluten Schönheit berichten und den Menschen ein Segen sind wie die Stille eines Weisen? Ich denke dabei sofort an die Musik von Mozart oder an die Lyrik der Sufidichter Rumi und Heifetz. Kann es sein, dass ich es satt bin, den Schmerz zu beleuchten, die Qual als Auslöser für meine künstlerische Arbeit zu nehmen? Jahrelang habe ich lang habe ich mich durch das Dickicht der Verstellungen des Seins gewühlt, habe diesen Schlamm auf Leinwände geworfen, meine Geschichte in Bildgeschichten beleuchtet und zuletzt das Dahinter, die Zusammenhänge des Leidens an unseren Prägungen in langen Texten hin und her gewälzt, solange, bis alles verbrannt war, was mich je bedrückte und mich am Sosein hinderte.
Nun bin ich nicht mehr bereit, die Sehnsucht zu beleuchten. Was kann ich tun? Warten.
Himmelfahrt 2015
Selbst der feinsinnige Leiter eines Tanzkurses, an dem ich seit etlichen Jahren teilnehme, lässt seine Gruppe einen Begrüßungstanz für den neuen Papst vollführen: „Und wem der neue Papst schnuppe ist, begrüße ihn dennoch tanzend“.
So geht es nicht, das ist mir zu wenig; eine derart lapidare Bemerkung zum Machtinstrument der christlichen Kirche, die bestrebt ist, uns weiterhin in Knechtschaft zu halten! Wir sind diesem 2000 Jahre alten und nicht enden wollenden Phänomen allerhöchste Aufmerksamkeit schuldig. Die mich enttäuschenden Worte wurden mit einem leise ironischen Lächeln begleitet, das verlogene Lächeln der traumatisierten unterdrückten deutschen Männlichkeit. Ich habe den Begrüßungstanz für den Papst nicht mitgemacht und versuchte, in der Umkleidekabine über diese unmündige kleine Bemerkung unseres Lehrers zu sprechen. Es war niemand dabei, der empfänglich gewesen wäre für eine kritische Betrachtungsweise.
Die Praxis der 5rhythmen gilt als avantgardistisch, was spirituelle Sehweise und inneres Wachstum angeht. Die Erfinderin dieser Tanzmeditation hatte ihre wertvolle Idee verantwortungsbewusst und intelligent in die Welt entlassen. Leider aber war letztlich auch sie – ich entnehme es ihren Schriften und dem Unterricht etlicher von ihr zertifizierten 5rhythmen-Lehrern – dem Zwang erlegen, diese Meditation zu einem therapeutischen Programm zu entfalten, um damit seelische Rettungsaktionen in Szene zu setzen.
Es gibt zwar eine lose Führung der Gruppe durch den Tanzlehrer, die sich an der wunderbaren Eingebung und dem klugen Konzept der 5rhythmen orientiert. Der Unterricht zeichnet sich allerdings durch eine extrem offene Form aus, die unterschiedslos jeden mitmachen lässt, wie und wann er möchte. Darin liegt eine Gefahr. Wenn der Lehrer nicht wahrhaft geerdet ist, seine Ausstrahlung keine zwingende Kraft hat, sein Charakter zuwenig Stringenz und Führungsabsichten bietet, wird aus einer derart offenen Veranstaltung schnell ein Sammelbecken für schwache Seelen. Unsere anfänglich lebendige flüchtige Tanzgruppe von angenehm bunter Energie entwickelte sich über die Jahre nach und nach zu einem Kern sich spirituell überschätzender Tänzer, die ihrem Herdentrieb nun endlich einen Hort verpasst haben. Für mich ist dieser Prozess schmerzhaft, da ich es sehr schätze, nach der von unserem sensitiven Tanzlehrer klug eingesetzten Musik aus seinem profunden Erfahrungsschatz und ebenso auf Weisung seiner fein gewählten Worte hin in den 5rhythmen zu tanzen. Ein schleichender Prozess von vielen Jahren hat die interessanten Persönlichkeiten langsam vertrieben und die schwachen immer stärker zu einer Art Familie zusammen geschweißt. So gibt es Teilnehmer/innen, die gar nicht tanzen, sondern umherlaufen, sich vorwiegend begrüßen, umarmen und die Abende benutzen, um ihre desolate innere Verfassung besser zu ertragen. Auch gibt es ignorante Beteiligte, die durch unsachgemäße egozentrische Verhaltensweisen ein nicht zu unterschätzendes Zerstörungspotential entfalten. Der Lehrer müsste den Mut haben, bestimmte Voraussetzungen zu verlangen und sich sowie uns vor dieser destruktiven Energie zu schützen wissen. Oder es passiert eben das, was sich hier abzeichnet. Die spirituelle Leuchtkraft der Szenerie löst sich nach und nach auf. Die Tänzer/innen dürfen wie Kinder ungefährdet spielen, sich gegenseitig schützend und absegnend; eine fest installierte Gruppe mit Familiencharakter. Angestrebte Wandlungsfähigkeit, geistiges Wachstum, innerer Aufbruch, gegenseitige Achtung bei unterschiedlicher Ausprägung der Persönlichkeiten weicht einer in der Tiefe ersehnten Gruppenzugehörigkeit.
Ähnlich den Mainstream-Angeboten der verflachenden Medien- und Kulturlandschaft unserer derzeitigen Gesellschaft wird in angeblich freiheitlich spirituellen Einrichtungen reaktionäre Einfalt vermarktet und unser latenter, ständig schwelender Muttersog bedient. So wird leider auch hier entgegen der ursprünglichen Absicht der Erfinderin am Ende geistige Enge im Gewand einer Tanzmeditation in Szene gesetzt.
Der Prägung als deutscher Christ ist nicht so mal eben durch eine neue Tanzidee zu entkommen. Eine letztlich auf Angst basierende Mentalität begründet zur Zeit in unserem Land die vorherrschende innere und äußere Haltung der meisten Deutschen. Entweder du machst mit oder du gehörst nicht dazu. Auf allen Ebenen. Angstbesessen, süchtig, bedrohlich.
10. Aug. 2015
Schönheit 1. Jeden Morgen gehe ich vom Spiegel nicht fort, ohne mich selbst abzusegnen. Ich muss meiner Gestalt, meiner Kleidung, meinem Aussehen den Segen der Schönheit geben, bevor ich mich in die Welt wage.
Nicht nur für den Außenraum, auch für den PC am eigenen Schreibtisch.
Hier sitze ich sogar am liebsten mit hohen Schuhen.
Obwohl ich ganz überzeugt handle, nagen doch immer wieder leise oder laute Gedanken, Beobachtungen bis hin zu Zweifeln ob dieses morgendlichen Rituals. Bin ich zu eitel, habe ich Angst vor dem Alter, bzw. dem Tod?
Was hat es auf sich mit der Schönheit, die ich über alles liebe? Ich möchte seit langem über Schönheit sprechen, schreiben.
Denn sie treibt mich um, vom Morgen bis zum Abend. Selbst meine Kleidung für die Nacht und die Bettwäsche müssen stimmen. Den lieben Tag lang räume, putze, ordne, gestalte ich nicht nur mich, sondern ebenso die kleine Welt, in der ich lebe. In ständiger kritischer oder genießender Beobachtung aller Objekte um mich herum, Gefäße, Möbel, Nahrungsmittel, Kleidung usw., usw., … hole ich die optimale Ästhetik ihrer Erscheinungsformen heraus, indem ich meine Sichtweise als Maßstab einsetze. So mische ich mich ein in das Dasein der Dinge bezüglich ihrer Beschaffenheit, ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und ihrer Anordnung im Raum. Mehr oder weniger bewusst, einmal als selbstständige Beschäftigung, mal nebenbei und auch schon mal in Eile wird die mich umgebende Dingwelt ständig in Bezug zu mir in Position gebracht.
Bei frisch geschnittenen Blumen aus dem Garten ist die Sache verständlich. Sie werden in eine passende Vase gegeben, so lange harmonisierend gesteckt, geschnitten, gestellt, geordnet, bis ich das Arrangement loslassen kann. Dann finde ich einen optimalen Platz im Raum und kann atmen.
Allerdings gehe ich mit meiner Wäsche ähnlich um, wenn ich sie z. B. auf die Leine hänge. Ich achte auf ihre Glätte, eine ihnen entsprechende optimale Beklammerung, auf ihre nachbarschaftliche Verwandtschaft. Gedanken an Vergangenheit und Zukunft jedes Wäschestücks begleiten meine Tätigkeit. Farben – selbst der Klammern – Stoffbeschaffenheit, Herkunft und Funktion der Teile flattern nicht nur im Wind sondern ebenso in meiner ständigen bewussten Wahrnehmung. Ähnlich gehe ich mit nahezu allen häuslichen Objekten um, die mir unter die Augen und Finger geraten – und zwar immer in einer Art ästhetisierenden leisen Anstrengung, die der Schönheit dienen soll.
Nun könnte ich seitenlang, stunden- und tagelang über diesen dauernd mich begleitenden Impetus des nahezu zwanghaften Harmonisierens weiterschreiben, ihn unter die Lupe meiner bewussten und semibewussten Wahrnehmung legen und mich in ausmalende Betrachtungen ergießen.
Ich weiß, dass wenn ich diese notierenden Beobachtungen zum Thema Schönheit jetzt weiter ausführte und vorantriebe, plötzlich ein Umschwung entstehen und ich mich fragen würde, was denn eigentlich falsch daran sei, derart zu handeln, wie ich es eben tue. Oder mir entstünde eine übergreifende Erörterung von Schönheit, z. B. dass der Begriff Schönheit etymologisch von schauen und von schonen kommt, dass Schönheit nicht nur unsere Oberfläche bedeutet, dass innere Schönheit nicht immer sichtbar ist usw., usw., …, …
Derart schrieb ich bisher meine Tagebuchnotizen nieder. Zunächst ohne Konzept mich einschreibend trieb ich das Geschreibe voran, bis eine Lösung aufglimmte. Diesen Augenblick durfte ich nicht stören. Und während ich dann einfach weiterschrieb, entfaltete sich dieser glimmende Keim schließlich wie von selbst zu einer Gestalt formend. Ein wohltuender Entstehungsprozess, der mir durch bloße Reflexion nicht zugänglich gewesen wäre.
Heute bemerke ich, dass ich keine wirkliche Lust habe, mich auf diesen Umschwung hin zu bewegen und dass ich keinen Sinn mehr in einer derartigen Warteschleife verspüre. Der leise Unmut machte sich schon zu Beginn bemerkbar. Mein etwa seit zehn Jahren mich umtreibender schriftstellerischer Drang, mich im Café zu äußern und zu genießen, will sich heute nicht wie gewohnt zeigen. Das reflektierende Sprechen über meine inneren und äußeren Befindlichkeiten, Wahrnehmungen und Tätigkeiten will mir heute nicht kommentarlos gelingen. Habe ich es vielleicht satt? Bahnt sich eine Wandlung oder gar ein Umbruch an? Schreiben will ich unbedingt weiterhin. Aber vielleicht anders oder gar ganz anders als bisher? Bin ich nicht mehr dieselbe? Braucht meine ständig sich verändernde Sehweise von Welt, Kosmos und Bewusstsein eine neue Sprachform?
Obwohl ich schon tausend mal über Schönheit schreiben wollte, nervt mich heute die Vorstellung dieser ernsthaften Absicht in meiner von mir bisher praktizierten Art und Weise (s. Tagebuchaufzeichnungen/Betrachtungen/Reisenotizen). Es geht um mehr. Ich spüre zu sehr, was es mit dem Schein und der Bestimmung jeglicher Form auf sich hat. Quantenphysik, Wahrheitslehre und die tiefe Erfahrung von Zeit und Zeitlosigkeit, auch des letzten verrinnenden Lebensabschnittes (Alter), machen sich hier im Café deutlich bemerkbar und wollen beachtet sein.
Gestern vernahm ich von einem der ältesten Weisen, Ashtavakra, wie er seinem Schüler, dem König Janaka, als erste Aufforderung mitgibt: Meide die Sinnesobjekte wie Gift. (Ramesh Balsekar, Duett der Einheit/Der Ashtavakra Gita Dialog,Verlag Kamphausen 1991, S.7) Aufrichtig sehne ich mich nach der Freiheit des Geistes und vernehme nun von für mich diesbezüglich maßgeblicher Seite, dass jegliches Sinnesobjekt von mir gemieden werden soll, wie Gift. Wie Gift wohlgemerkt!
Da sitze ich nun. Eine Frau, die eine so treue Ästhetin ist, dass sie sich immerfort in einem Standby-Bemühensmodus befindet, der augenblicklich in kleine oder umfangreiche bis ernsthafte Aktivitäten umspringt, sobald sich eine Möglichkeit des Arrangierens in Liebe auftut, wie ich meine Leidenschaft freundlicherweise nennen möchte. Bin ich jetzt zu einer Entscheidung gezwungen und muss ich mir meine geliebte Betätigung mit den schönen Dingen verbieten?
Schon von vielen Weisen weiß ich, dass Verlangen die größte Bürde ist, welche unserem Unglück und unserem Leid zugrunde liegt. Gleichzeitig sollen wir uns in das Betrachtende Bewusstsein derart entspannen, dass wir glücklich sind. Denn angeblich nur glückliche Menschen, die all ihre tiefen Verkettungen entfernt und prägenden Krusten abgeworfen haben, sind in der Lage, die unmittelbare Wahrheit zu erfahren, was mein tiefster Wunsch ist.
Ich darf das Schöne erleben, es hegen und pflegen. Nur will ich mich darin nicht ergießen, da ich sonst an ihm hafte. Und diese Anhaftung ist gemeint mit Verlangen. Grob gesprochen, sind es die Süchte, nicht nur die bekannten Krankmacher wie Alkohol, Zucker, maßloses Essen etc., sondern auch die vertrackten Süchte, wie Sentimentalität, übermäßige Freundlichkeit, frömmelnde Hilfsbereitschaft, Jammerei, Anhänglichkeit, Arbeit, Spielen, Sport, Pc, Kinder, Urlaub, Cafébesuch …
Man weiß doch selbst nur allzu gut, wann ein Vorhaben ein schlichtes lebensbejahendes Unterfangen ist und wann es der Vermeidung eigener Ohnmacht dient und in Verlangen umschlägt.
Es kommt eben gar nicht darauf an, was es ist, was ich erlebe, vorhabe oder tue. Solange ich mit hellem Herzen handle, ist alles erlaubt. Wenn ich die Schönheit über alles verehre, da in ihr die Liebe erstrahlt, ist es also völlig o.k. Nur in blinder Zuneigung fortschwimmen wäre fatal, da mein Geist dann in trüber Schwammigkeit verwesen würde.
Nun bin ich doch wieder meinen gewohnten Weg des Schreibens gegangen.
24. Aug. 2015
Schönheit 2. Meine Selbstkritik am Arrangieren in Liebe in dem vorangegangenen Tagebucheintrag Schönheit 1 vom 10. August lässt mir keine Ruhe. Auch bedrängt mich weiterhin der dort zitierte Ausspruch von Ashtavakra Meide die Sinnesobjekte wie Gift.
R. Balsekar gibt uns zu den konzentrierten Aufforderungen von Ashtavakra jeweils sich anschließende Erläuterungen. Durch unsere Prägung fällt alles, was wir hören und erleben, in ein Raster von Gut und Böse, von Sünde, Schuld und Scham. Vernehme ich also von einem maßgeblichen Geist eine Mahnung mit dem Inhalt Sinnesobjekt=Gift, entsteht mir sofort ein entsprechendes Du musst. Interessanterweise kommentiert R. Balsekar die Worte dieses Weisen in keiner Weise hinsichtlich Moral, Gebot, Verzicht oder Selbstkasteiung. Er konfrontiert uns stattdessen an dieser Stelle mit dem Kernproblem menschlichen Leidens, dem Verlangen, und lenkt uns schrittweise zu der notwendigen Einsicht, dass wir nicht die Täter sind. Dies wiederum einzusehen, erfordert Hingabe. Das Verstehen dieser komplexen und zugleich einfachen Tatsache ist nun kein intellektuelles Verstehen, sondern eines, das auf Vertrauen basiert.
Alles, was notwendig ist, um Erleuchtung geschehen zu lassen, ist das klare Verstehen einer Dimension, die völlig unterschiedlich vom intellektuellen Verstehen ist. Das, was ein intellektuelles Verstehen hervorbringt, ist ein Glaube an das, was verstanden wird, aber ein intuitives Verstehen basiert auf Vertrauen. Intellektuelles Verstehen – Glaube – basiert auf Argumentation, Logik, Anstrengung und Konflikt. Intuitives Verstehen – Vertrauen – basiert auf einer gewissen zwangsläufigen Unvermeidbarkeit, einem entspannten Akzeptieren des Was-ist, völlig frei von irgendwelchen Zweifeln oder Meinungen. (Ramesh S. Balsekar, Duett der Einheit, Der Ashtavakra Gita Dialog, S.10)
Die hier angesprochene Einsicht in die Nicht-Täterschaft ist nur möglich, wenn wir uns fallen lassen und unseren so hoch verehrten Glauben an unsere Ratio ins Wanken bringen. Vertrauen ist die Kraft, die dich befähigt, die spontane Annahme der Wahrheit zu ermöglichen. Vertrauen erkennt intuitiv den Klang der Wahrheit und öffnet „das Auge des Herzens“, um die Wahrheit zu empfangen. (Ramesh S. Balsekar: ebenda)
Nichts von Verzicht, von Fastenkuren oder strengen Übungen. Keine Gebote, Vorschriften oder Verbote. Also ich darf meine Liebe zu den schönen Dingen weiterhin pflegen. Warum denn nicht? Zumal mir nicht selten ein Empfinden für Schönheit entsteht, auch wenn die Dinge im landläufigen Sinne gar nicht schön sind, wie z. B. eine welkende Blüte, ein alter Mensch, eine herunter gekommene Straße oder ein Café mit schäbigem Mobiliar.
Die Künstler der amerikanischen Pop-Art in den 60er Jahren des 20. Jh.s haben mich in ihrer Direktheit, einer uns Europäern eher fremden Schlichtheit, nachhaltig berührt. Der Ausspruch von Jim Dine I love things ließ mich nie los. Wie unendlich oft es mir geschieht, dass ich die Dinge liebe! Es kann eine Schale sein, ein Postkasten, eine Strickjacke, eine Stuhllehne o. a. m. Andy Warhol’s All is pretty hat mich ebenso gefangen genommen. Es wird den Giganten der Pop-Art leicht unterstellt, dass sie lediglich den Kontrast zur hehren Kunst aufzeigen wollten, dass für sie nicht die Noblesse der Ästhetik von entscheidendem Wert sei, sondern eher die bescheidenen Dinge des Alltags, des populären Lebens, ihre Bedeutung hätten. Es wird leicht die Schlussfolgerung gezogen, sie verwendeten Klischees, seien oberflächlich in ihrer Auffassung, könnten nicht malen o.ä.m. Aber geht nicht oft ein Zauber von den Werken dieser einzigartigen Pop-Art aus, z. B. auf den Bedroom-Paintings von Tom Wesselmann, im Licht der Vinyl-Plastiken und Giant Objects von Claes Oldenburg, von den Abstraktionen und den Skulpturen Roy Lichtensteins? Waren sie evtl. klüger als wir es zu wissen meinen? Wenn sie für den Alltag und seine Oberfläche schwärmten und meinten, alles in ihr zu sehen, beginnt der tiefsinnige Europäer sogleich zu zweifeln und zu kritisieren.