Das Wiedersehen
Der August war zu Ende gegangen. An den sonnenbeschienenen Hängen bei Anapa hatte die Weinlese begonnen. Der Mais wuchs, Nüsse und Tomaten reiften. An der Front war es zeitweilig ruhiger geworden, nachdem alle Durchbruchsversuche des Feindes, die er bald im Fabrikgelände von Noworossijsk, bald in den Schilfdschungeln am linken nördlichen Flügel unserer Armee und dann wieder auf den von Trichtern zerwühlten Höhen oder am Kuban-Damm unternommen hatte, blutig zusammengebrochen waren.
Der Bruch meines Handgelenks war glatt verheilt. Stabsarzt Dr. Pohl hatte mir anstelle des Gipsverbandes eine Elastikbinde angelegt und dazu mit nervösem Zwinkern polternd erklärt: »In Ordnung, mein junger Freund. Eines Tages bekomme ich Sie ja doch wieder in die Finger, und wenn nicht ich, dann ein Kollege.«
Mit Ausnahme des Arztes waren alle Übrigen, die bei meiner Ankunft die Ferienluft von »Krasnaja Swesda« genossen hatten, zur Truppe zurückgekehrt und von anderen Erholungsbedürftigen abgelöst worden. Nun war auch für mich die Abschiedsstunde gekommen. Von der Flakvermittlung aus hatte ich Hauptmann Scheffler, den Ic, angerufen und um einen Kraftwagen für meine Rückfahrt zur Division gebeten – zum Stab, in dem ich in der kurzen Zeit nicht hatte heimisch werden können.
Bei der Säule mit dem roten Stern wartete ich auf den Wagen, der für die ersten Morgenstunden angekündigt war. Mein Gepäck lag neben der mit kyrillischen Buchstaben beschrifteten Säule. Mein Zimmer hatte bereits ein herzkranker Stabsveterinär bezogen.
Der Fahrer des ramponierten Pkws, der pünktlich eintraf, war jener Obergefreite, der mich nach General von Mahlers Tod zum Divisionsfriedhof und später zum Hauptquartier der Armee gebracht hatte. Ich stieg ein. Mit Vollgas brauste der Wagen durchs Lagertor. Hinter einer Staubwolke verschwand das Ferienparadies, das ich kurze Zeit später unter dramatischen Umständen wiedersehen würde. Zu meiner Verwunderung bog der Wagen links ab auf eine Straße, die zur großen Rollbahn führen musste. Auf meine Frage, was der Umweg bedeuten solle, erwiderte der Fahrer in seiner knappen Ausdrucksweise: »Kein Umweg, Herr Oberleutnant, 30 Kilometer kürzer.«
»Ist denn die Front zurückverlegt worden?«, fragte ich. Exakte Nachrichten hatten wir in »Krasnaja Swesda« niemals erhalten.
»Ne«, sagte der Obergefreite, »wir sind nur ’n Ende nach links gerückt. Beim linken Nachbarkorps ist ’ne Division herausgezogen und nach Noworossijsk verlegt worden. Dort macht der Iwan zurzeit Rabatz. Der Stab liegt jetzt in Klein-Bukarest. Vorher waren Rumänen in dem Kaff.«
Das »Kaff«, das wir nach dreistündiger Fahrt in sommerlicher Hitze erreichten, erwies sich als ein kaum beschädigtes kleines Dorf, das, nach allen Seiten geschützt, in einer langgestreckten Mulde lag. Die schilfgedeckten Lehmkaten, von denen nur zwei durch Artilleriefeuer leicht zu Schaden gekommen waren, standen, von Nussbäumen beschattet, in umzäunten Gärten mit hohen Mais- und Sonnenblumenstauden. Unter einem der mächtigen Nussbäume erblickte ich den Befehlswagen des Divisionsstabes und daneben ein großes schwarzes Zelt, vor dem der schwarz-weiß-rote Stander aufgepflanzt war.
Die Abteilung Ic, bei der der Wagen hielt, war in einem Häuschen untergebracht, unter dessen vorspringendem Schilfdach Tabakblätter zum Trocknen und Bräunen aufgehängt waren. An einer schüchtern grüßenden russischen Frau vorbei ging ich über den Gartenweg und trat durch die offene Tür in das kleine Haus. Hauptmann Scheffler trug gerade auf der Feindkarte die neuesten Bewegungen ein. Ein junger Sonderführer half ihm dabei.
Ich meldete mich. Der Hauptmann drehte sich um, begrüßte mich und machte mich mit Sonderführer von Strack bekannt, den er als den neuen Dolmetscher bezeichnete.
»Ist Hauptmann Peterhans auf Urlaub?«, fragte ich arglos.
Der Ic schüttelte den Kopf. »Eine fatale Geschichte, Herr Emser. Hängt mit den drei Russen zusammen, die damals, als Sie zu uns kamen, von den Kosaken eingebracht wurden. Eine Frau und zwei junge Burschen, mit dem Fallschirm abgesprungen – Sie erinnern sich doch noch? Na ja, über die drei ist der gute Peterhans gestolpert. Er wollte sie retten, vor allem wohl das Mädchen. Kurz nachdem Sie weg waren, sind die drei verschwunden. Das Tollste dabei war: Sie haben zwei von den Kosaken mitgenommen, auf die Hauptmann Peterhans felsenfest geschworen hat. Die Folgen für ihn können Sie sich vorstellen. Übrigens sind wir dabei auch den Kosakenzug losgeworden.«
Ein Mensch in Uniform! Bei dem Versuch, drei feindliche Agenten zu retten, war Hauptmann Peterhans selbst ins Netz der Abwehr geraten.
»Und sonst, Herr Hauptmann?«, fragte ich.
Der Ic deutete auf die an der Lehmwand aufgespannte Karte. »Sehen Sie sich das doch einmal an! Die Mijus-Stellung umgangen und durchbrochen. Feindspitzen in der Nogaischen Steppe. Im Donezgebiet Slawiansk gefallen.«
Bei den letzten Worten schrak ich zusammen. Slawiansk – die Stadt, in der im Winter 42 der Stab unserer Division die Abwehrschlacht geleitet hatte. Die Division, bei der ich damals gestanden hatte, war in Stalingrad geblieben, und nun hatte die Rote Armee Slawiansk zurückerobert, die Stadt, nach der sie in jenen Wintertagen vergeblich gegriffen hatte. Wirklich – wir hatten es weit gebracht!
»Wenn die Russen den Dnjepr erreicht, hängen wir in der Luft«, fuhr Hauptmann Scheffler fort. »Per saldo reizende Aussichten. Es sei denn, die da oben lassen sich noch etwas einfallen, bevor die Tür für uns zuschnappt.«
»Vielleicht kommt es doch zum Vormarsch nach Rostow und zur Entscheidungsschlacht im Donezbogen«, meinte Sonderführer von Strack in beschwörendem Ton, als hinge die Verwirklichung solcher Wunschträume vom guten Willen des Hauptmanns ab.
»Sie haben selbst gesagt, dass jetzt zur Entlastung der Materialseilbahn von der OT eine Brücke über die Straße von Kertsch gebaut werden soll. Ist das nicht ein sicheres Zeichen für eine Offensive, Herr Hauptmann?«
Der magere Junge, der wie ein frühreifer, unterernährter Primaner in seiner Uniform steckte, versuchte krampfhaft, sich den Anschein unerschütterlicher Standhaftigkeit zu geben. Doch in seinen großen blassgrauen Augen flackerte unverhüllte Angst.
Hauptmann Scheffler räusperte sich unwillig. »Menschenskind, Strack, ich weiß es doch genauso wenig wie Sie. Warten Sie’s ab. Wir werden’s schon erleben.«
»Jawohl, Herr Hauptmann«, entgegnete der Sonderführer mit bebenden Lippen, als sei er den Tränen nahe. Er grüßte mit steif ausgestrecktem Arm, nahm seine Mütze und ging hinaus.
Als er außer Hörweite war, sagte Hauptmann Scheffler: »Ich vergesse es selbst immer wieder. Man muss ein bisschen vorsichtig sein bei ihm. Er ist Balte, kein gemütlicher Ostmärker wie Peterhans. Seine Familie in Estland ist von den Bolschewiken ausgerottet worden. Sein einziger Halt ist der ›Führer‹. An ihn klammert er sich und vertraut ihm blind. Übrigens – damit Sie im Bilde sind, Emser: Heute ist große Besprechung beim Kommandierenden. Alles streng geheim. Der General und der Ia sind dort. Ich tippe, unter uns gesagt, auf Räumung und Absatzbewegung zur Krim. Es wäre vermutlich eine nie wiederkehrende Gelegenheit. Die Luftaufklärung hat beim Gegner den Abzug von Kräften beobachtet.«
»Zur Krim«, wiederholte ich. »Und was dann, Herr Hauptmann?«
Hauptmann Scheffler spreizte achselzuckend die Hände. Es war wie die Geste eines Kaufmanns, der feststellt, dass die Kasse leer ist. Nachdenklich drehte er sich zu der großen Wandkarte um, die das Gebiet der Sowjetunion vom Eismeer bis zum Kaukasus und von der Ukraine bis zur Wolga umfasste. Sein Finger zeichnete den Frontbogen des Kubanbrückenkopfes nach. Malaja Ssemlja – die Kleine Erde.
»Beinah sieben Monate lang haben unsere Divisionen diese Front gehalten«, murmelte er. »Sieben russische Armeen haben sich die Köpfe blutig gerannt. Das höchste, was sie erreicht haben, waren kleinere Einbrüche da und dort, die ein paar Stunden oder ein paar Tage später wieder ausgebügelt waren. Wozu das Ganze, Emser, wenn meine Prognose jetzt zutrifft?«
»Die gleiche Frage stelle ich mir auch, Herr Hauptmann«, sagte ich. »Aber wenn wir so denken, dann war überhaupt alles umsonst, was geleistet worden ist, seitdem wir im Herbst ’41 den Dnjepr überschritten haben. Wenn Sie das dem Landser sagen, schmeißt er die Knarre hin und geht nach Hause.«
»Wenn das so einfach wäre«, warf Hauptmann Scheffler ein. »Ich glaube, der Landser weiß recht gut, warum er so stur und verbissen seine Stellung hält und immer wieder das Unmögliche möglich macht.«
In der Nähe krachte es ein paarmal vernehmlich – ein Feuerüberfall der russischen Artillerie.
»Idyllisches Nest«, sagte ich. »Aber wenn die Russen hier ’reinknallen oder ein paar Bomben fallenlassen, dürfte vom Führungsstab nicht mehr viel übrig sein.«
»Es war der Wunsch von General Scheufele«, gab Hauptmann Scheffler zurück. »Er wollte nach dem Kellerdasein in Pokrowskaja Luft und Sonne haben. Als ich ihm vorschlug, wenigstens die einheimische Bevölkerung zu evakuieren, lehnte er es ab. An die Fäden, die von hier nach drüben gehen, glaubt er nicht. Ein seltsamer Mensch. Auf der einen Seite Pedant, auf der anderen großzügig und aufgeschlossen. Für das Gastspiel des Fronttheaterzuges hat er in Noworossijsk ein Klavier organisieren lassen.«
Von meinem Anruf aus »Krasnaja Swesda« her wusste ich, dass die Division den Theaterzug erwartete.
»Sind die Künstler schon hier?«, fragte ich und gab mir dabei Mühe, nicht allzu viel Interesse zu zeigen.
»Künstlerinnen meinen Sie wohl«, gab Hauptmann Scheffler schmunzelnd zurück. »Scheinen Verspätung zu haben. Heute früh wollte sich der Theaterleiter bei mir melden. Im Grunde genommen ist es unverantwortlich, die Leutchen hinter der Front herumkutschieren zu lassen. Aber ›Kraft durch Freude‹ ist nun mal eine der Parolen dieser großen Zeit. Sie hatten doch schon in ›Krasnaja Swesda‹ das Vergnügen, Emser?«
»Damals ist die Vorstellung ausgefallen, Herr Hauptmann«, antwortete ich. »Wir hatten an dem Tag eine Beerdigung. Da passte es nicht recht.«
»Daran sehen Sie, dass alles relativ ist«, meinte der Ic. »In der Hauptkampflinie gibt es täglich Tote. Trotzdem sind die Landser völlig außer Rand und Band, seitdem sie wissen, dass sich ein Grüppchen deutsch sprechender oder vielmehr singender Weiblichkeit vor ihnen produzieren wird. Das landeseigene Fronttheater, das von der Armee aufgezogen worden ist, hat längst nicht diese Wirkung. ›Lili Marleen‹ will der Landser hören. Das wirft ihn um.«
Selbstvergessen summte der Hauptmann die Melodie vor sich hin, die der Belgrader Wachtposten Abend für Abend denen zu Gemüte führte, die einen Radioapparat oder zum Mindesten ein Tornister-Funkgerät zur Verfügung hatten. Plötzlich brach er ab, trat zur Tür und schaute prüfend zum Himmel, an dem sich mächtige weiße Wolken ballten.
»Kubanbrückenkopf«, murmelte er. »Heute Abend wissen wir mehr, Emser.« Nach einer Pause setzte er hinzu: »In ’ner halben Stunde sehen wir uns beim Essen. Richten Sie sich inzwischen ein. Die Unterkunft ist gleich nebenan. Im Garten ist ein Splittergraben. Er stammt noch von den Rumänen.«
Ich ging ins Quartier. Der Fahrer hatte mein Gepäck bereits in den kleinen, kahlen Raum geschafft, in dem die drei Holzpritschen aus Pokrowskaja aufgestellt waren. Darüber hingen grüne Moskitonetze. Zu den Kubansümpfen mit ihren Mückenschwärmen war es nicht mehr weit. Den Wandschmuck bildete eine Fotografie des rumänischen Königs Michael, die wohl von unseren Vorgängern vergessen worden war. Links neben der erdgrauen, unter einem struppigen, gebleichten Schilfdach sich duckenden Lehmkate, in deren Hinterzimmer die Besitzerin, eine alte, verschrumpelte Russin, hauste, stand in einer Laube aus Weinranken ein Tisch mit einer Bank und zwei Stühlen. Der Splittergraben zwischen hohen, sacht im trägen Wind schaukelnden Sonnenblumen war mit wenigen Schritten zu erreichen.
Im Osten grollte das Störfeuer der feindlichen Artillerie. Im Dorf dagegen, das auf der Karte Stepnoje und bei den Landsern »Klein-Bukarest« hieß, herrschte friedliche Stille. Es gab weder Katzen noch Hühner noch Hunde. Nur ein paar Kühe und eine Anzahl kleiner Pferde grasten am Dorfrand zwischen früchteschweren Nussbäumen. Wie durch ein Wunder hatten die Tiere die rumänische Einquartierung überlebt.
Wolkenschatten huschten über das Dorf, in dem der Krieg eingeschlafen zu sein schien. Im Osten und Nordosten schwoll das Geschützfeuer zu dumpfem Rumpeln an. Ich dachte an Leutnant Lemke. Wie mochte es ihm ergangen sein, ihm und der Kompanie, die längst wieder vorn in Stellung war? Der Verteidigungsabschnitt des Regiments Staufer grenzte jetzt an den der 10. rumänischen Division, der sich bis zum Kuban und eine Strecke weit am Fluss entlang hinzog.
Im Norden, über den Lagunen und Schilfwäldern, wo seit Monaten ein schleichender, grausamer Amphibienkampf im Gange war, verdunkelte schwarzer Qualm den Himmel. Wenn die Russen dort oben starke Kräfte ansetzten, überlegte ich, und wenn sie gleichzeitig im Südwesten an der Schwarzmeerküste landeten und in unseren Rücken stießen, wäre alles, was zur Stunde der Kommandierende General den Divisionskommandeuren eröffnen mochte, von blutigen Tatsachen überholte Theorie. Es wäre das Ende einer Armee, die sich aus der Not des winterlichen Rückzuges noch einmal zum Widerstand gestellt hatte und schon länger als ein halbes Jahr die »Kleine Erde« hielt.
Auf der Dorfstraße erschien der neue Dolmetscher. Als er mich sah, schwenkte er einen Brief. »Post für Sie, Herr Oberleutnant!«
Post für mich? Ich ahnte nicht, wer mir noch schreiben sollte, seitdem es keine Inge mehr gab. Zögernd nahm ich den Brief in Empfang und suchte, bevor ich ihn öffnete, den Namen des Absenders. Er lautete: Anneliese Metzelbrod. Auf einmal fühlte ich mich wieder in die eisigen Tage des Januars 1942 zurückversetzt. Goroditsche. Beim Durchbruch der Russen war der Stützpunkt in der winterlichen Öde vom Feind genommen worden. Wir hatten Oberleutnant Erich Metzelbrod, den Sohn meines Kommandeurs, schwer verwundet geborgen. Am Abend vor dem Rückzug des Regiments, der unserem Oberst zum Verhängnis wurde, war Erich Metzelbrod im Hauptverbandsplatz gestorben.
Oft hatte der Oberst mir, seinem Adjutanten, von Anneliese, der Frau seines Sohnes, erzählt. Auch Erich Metzelbrod hatte immer wieder von ihr gesprochen. Nun hielt ich einen Brief von ihr in der Hand und wagte nicht, ihn zu öffnen, weil ich zu wissen glaubte, was er enthielt. Ich schob den Brief in die Tasche, in der ich Inges letzte Zeilen aufbewahrte. Später, wenn ich allein wäre, würde ich ihn lesen.
Hauptmann Scheffler kam die paar Schritte vom Ic-Haus herüber. Der glatt gescheitelte Unteroffizier vom Geschäftszimmer hatte die Fernsprechwache übernommen. Eine Ordonnanz brachte das Essen. Hauptmann Scheffler hatte kaum den ersten Bissen zu sich genommen, als drüben das Telefon klingelte.
Der Unteroffizier schaute durch die Tür. »Herr Hauptmann – für Sie.«
Als Hauptmann Scheffler zurückkehrte, sagte er: »Hören Sie, Emser, Sie kennen doch die Theaterleute von ›Krasnaja Swesda‹ her. Sitzen irgendwo dort drüben fest. Konnten heut früh nicht weiterfahren, weil die Straße unter Beschuss lag. Wir müssen uns um die Leutchen kümmern. Vor allem muss man feststellen, ob der Riesenomnibus ausreichend getarnt ist. Weiterfahrt keinesfalls vor dem Abend. Übernehmen Sie das, Emser! Der Wagen für Sie ist schon angefordert.«
Während ich im Quartier Mütze und Koppel holte, fuhr draußen der Pkw vor, mit dem ich von »Krasnaja Swesda« gekommen war. Hauptmann Scheffler zeigte mir, bevor ich aufbrach, auf der Karte den Punkt, an dem der Theaterzug festsitzen musste.
Dicht hinter Klein-Bukarest bog die Straße, auf der man zur rechten Nachbardivision gelangte, in das von Schluchten durchschnittene Hügelland ab, das sich nach Süden hin bis zu den bewaldeten Ausläufern des Kaukasus erstreckte. Karstige Höhen, die nur stellenweise mit bräunlich versengtem dürrem Gras bewachsen waren, säumten die graue, von der langen Trockenzeit rissige Fahrbahn.
Ich dachte an die blonde Frau, der ich in »Krasnaja Swesda« begegnet war. Nun war es doch so gekommen, dass ich sie wiedersehen sollte. Seltsamerweise jedoch beglückte mich dieser Gedanke nicht. Wie eine Vorahnung überkam mich ein Gefühl der Beklommenheit, das ich nicht abzuschütteln vermochte.
Die Gegend war völlig einsam. Nirgends war eine Siedlung; kein deutscher Soldat zeigte sich. Der Fahrer pfiff gewohnheitsmäßig vor sich hin. Auf einmal verstummte er. Voraus in der vom Sonnenlicht flimmernden Öde schwoll ein Geräusch wie das zornige Brummen von Hornissen an, gefolgt von unregelmäßigem Geknatter.
»Iwans«, stellte der Obergefreite sachlich fest. »Möchte wissen, was die beharken.«
Er verlangsamte die Fahrt, um im Bedarfsfall sogleich anhalten zu können. Plötzlich tauchte vor uns in geringer Höhe ein Flugzeug auf. Die Maschine – eine gepanzerte russische IL II – schwebte mit mäßiger Geschwindigkeit geradewegs auf uns zu. Wir stießen die Türen auf, sprangen aus dem ruckartig abgebremsten Wagen und warfen uns zu Boden. Flach an die Erde gepresst, wartete ich auf den Feuerstoß, der den Pkw durchsieben würde. Doch das Geprassel, das ich schon zu hören glaubte, blieb aus. Ich drehte vorsichtig den Kopf. Auch der Heckschütze, den ich beim Abflug der Maschine in seiner Kanzel aus kugelfestem Glas sitzen sah, feuerte nicht. Kaum dreißig Meter hoch fliegend verschwand die IL II nach Norden.
Wir standen auf, klopften den Staub ab und lachten. Aber es war ein gepresstes Lachen, als würge uns die Gefahr, der wir auf so unwahrscheinliche Weise entgangen waren.
»Der Hund hat sich verschossen«, brummte der Obergefreite. Nachdem er sich eine Beruhigungszigarette angezündet hatte, fügte er hinzu: »Oder er hat Ladehemmung.«
Ich antwortete nicht. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Wir fuhren weiter. Die Straße holte zu einer Biegung aus. Der Obergefreite fluchte, weil er sich einbildete, dass er das gepanzerte Schlachtflugzeug hätte abschießen können, wenn er in der Eile des Aussteigens nicht seinen Karabiner im Wagen zurückgelassen hätte. Der Hang zur Linken trat zurück. Der Einschnitt, durch den die Straße führte, verbreiterte sich zu einem langgestreckten Tal. Staubige Büsche säumten die steinhart ausgetrocknete Fahrbahn. Rechts stieg lichter Laubwald an. Mir wurde heiß. Die Sonne brannte mörderisch, obgleich es schon Anfang September war. Ich holte die Karte hervor. Der Punkt, den Hauptmann Scheffler mir gezeigt hatte, konnte nach der Beschaffenheit des Geländes nicht mehr weit sein.
Auf einmal erblickte ich voraus im grellen Glast des sonnendurchglühten Talbodens mehrere Gestalten, die allem Anschein nach aufgeregt umherrannten. Ihre Tropenuniformen hoben sich kaum erkennbar in der graubraun verdorrten Landschaft ab, aber es waren auch Farbflecke zu sehen. Am Waldsaum wurde ein großes Fahrzeug sichtbar – der Fronttheaterzug.
»Drück auf die Tube, Mann«, befahl ich dem Fahrer. Er trat aufs Gaspedal. Beim Näherkommen fand ich meine Ahnung bestätigt: Der Omnibus war zu einem Wrack zusammengeschossen. Verwunderlich schien nur, dass er nicht in Brand geraten war. Das Dach war aufgerissen, die Seitenwand durchsiebt und sämtliche Scheiben zersplittert. Ich stellte mir das Flugzeug vor, wie es schießend niedergestoßen war. Manche Bordschützen feuerten auf einzelne Menschen.
Der Pkw hielt an. Ich sprang mit einem Satz heraus und lief zum Heck des auf die Radfelgen abgesackten mächtigen Fahrzeugs. Es war wie ein Kugelfang durchlöchert. Von den Insassen zeigte sich niemand, doch hörte ich gellendes Schreien einer Frau. Dann sah ich am Waldrand, wo auch der Lkw mit dem Gepäck des Theaterzuges und zwei Kübelwagen der Wehrmacht abgestellt waren, unseren General, der sich gemeinsam mit Oberstleutnant Frisch um eine wild um sich schlagende blutüberströmte Frauengestalt bemühte. Der General hatte einen Verbandkasten neben sich. Zwei von den Mädchen, mit denen ich in »Krasnaja Swesda« an der Kasinotafel gesessen hatte, standen hilflos weinend dabei. Die übrigen Mitglieder des Ensembles, unter denen ich vergebens Marianne suchte, und die Begleitmannschaft des Generals umringten stumm in dichtem Kreis eine zweite am Boden hingestreckte Gestalt. Ich sah Stahl-Trettow, den Leiter des Theaters. Sein linker Arm hing schlaff im blutdurchtränkten Ärmel herab.
Ich drängte mich zwischen zwei Mann der Generalseskorte hindurch. Marianne lag reglos im strohigen Gras. Sie trug das gleiche Kleid, in dem sie damals am Strand der kleinen Bucht erschienen war. Ihre Augen waren geschlossen, als ob sie schliefe. Aber ihr Gesicht hatte die frische, gesunde Farbe verloren. Ein dünner Blutfaden rann von einem Mundwinkel zum Kinn. Über der linken Brust war das Rosenmuster des Kleides zerfetzt und dunkelrot gefärbt.
Ich trat zurück und fasste Stahl-Trettow an seinem gesunden Arm. Der alte Schauspieler, der Hauptmann Peterhans so ähnlich sah, wandte sich um. Sein Gesicht war das eines Greises, dessen Lebenskraft im Versiegen ist. In seinen Augen regte sich flüchtig ein Ausdruck des Erkennens.
»Kommen Sie«, sagte ich. »Sie müssen sich verbinden lassen.«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist nichts«, krächzte er heiser, als habe er seine Stimme verloren. »Nur eine Streifwunde.«
Dennoch ließ er es zu, dass ich den klebrig-feuchten Hemdärmel hochstreifte und die immer noch stark blutende Fleischwunde mit meinem Verbandspäckchen versorgte.
»War sie gleich tot?«, fragte ich.
Stahl-Trettow nickte wortlos.
»Sie hat es gewusst«, sagte ich.
Er blickte mich verständnislos an. Ich drehte mich zu der Verwundeten um. Erst jetzt kam mir zum Bewusstsein, dass es die schwarzhaarige Lotte war. Ihre Schreie waren zu einem kläglichen Wimmern versiegt. Der General schaute auf. Am rechten Oberschenkel und am rechten Arm des Mädchens hatte er Aderpressen angelegt. Ich trat auf ihn zu, um mich zu melden. Die militärischen Formen waren so sehr in uns verwurzelt, dass sie auch angesichts von Blut und Tod ihre Gültigkeit nicht verloren. Der General wischte die blutigen Hände am Gras ab, bevor er aufstand. Der Ia folgte seinem Beispiel.
Ich hob die Hand zur Mütze. »Oberleutnant Emser, vom Erholungslager zur Division zurück.«
Der General erwiderte meinen Gruß mit der ihm eigenen Exaktheit. »Wir sind gleich nach dem Tieffliegerangriff hier angekommen«, sagte er. »Es ist entsetzlich. Der Omnibusfahrer liegt tot im Wagen.« Er wandte sich dem Ia zu. »Frisch, holen Sie rasch mein Kartenbrett. Wir nehmen die Überlebenden und die beiden Toten zum Gefechtsstand mit. Emser fährt zum Verbandsplatz.«
Auf der Karte zeigte der General mir die Lage des Verbandsplatzes. Ich winkte meinen Fahrer heran. Zwei Mann der Stabswache halfen uns, die Verwundete, die nur noch gequält stöhnte, in den Wagen zu betten. Als wir losfuhren, warf ich einen letzten Blick dorthin, wo Marianne lag. Jemand hatte eine Decke über sie gebreitet.
Als wir den Hauptverbandsplatz unserer Nachbardivision erreichten, lebte die schwarzhaarige Lotte noch. Zwei Sanitäter legten die Bewusstlose behutsam auf eine Trage. Ein Arzt in blutbesudeltem weißem Mantel kam aus dem Zelt.
»Gestern hat sie hier gesungen«, sagte er mit einem traurigen Blick auf die Verwundete. Zu den Krankenträgern gewandt, setzte er hinzu: »Gleich zur Operation! Assistenzarzt Schmidt soll alles vorbereiten. Ich operiere mit Narkose.«
Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte ein paar Züge, warf die Zigarette fort und verschwand im Zelt.
Im Beisein des Generals wurden Marianne Falahn und der Omnibusfahrer Hubert Krüll auf dem Divisionsfriedhof beerdigt. Die beiden schmucklosen Kreuze, die wir aus Klein-Bukarest mitgebracht hatten, waren die Einzigen unter Hunderten, die neben dem Namen keine Dienstgradbezeichnung aufwiesen.
Als die Erdbrocken mit dumpfem Aufklatschen auf die Zeltbahn fielen, die Mariannes Körper umhüllte, war mir, als sei es Inge, die in der schmalen, tiefen Grube lag. General Scheufele legte Blumen aus einem Garten unseres Quartierdorfes vor den Gräbern nieder. Außer ihm und Major Schmeller, dem IIa der Division, waren die fünf weiblichen Mitglieder des Fronttheaterzuges, die verschont geblieben waren, die drei Musiker, der Lkw-Fahrer sowie der Requisiteur der Künstlertruppe anwesend. Verstört und wie verloren starrten sie vor sich hin, als wüssten sie, dass sie nicht auf einen Soldatenfriedhof hinter der Front gehörten.
Stahl-Trettow, der Chef, war am Abend zusammengebrochen und sofort nach dem Übersetzhafen Taman abtransportiert worden, ebenso die schwarzhaarige Lotte, deren rechtes Bein amputiert worden war. Die beiden befanden sich zur Stunde des Begräbnisses wohl bereits auf der Krim.
Ich hatte den General in Vertretung von Hauptmann Scheffler, der zum Korps zu einer Ic-Besprechung gerufen worden war, zum Friedhof begleitet, um nach der schlichten Trauerstunde, bei der es nur eine kurze Abschiedsrede des Requisiteurs und keinen Ehrensalut gab, mit ihm nach vorn zum Regiment Staufer zu fahren.
Der General und Major Schmeller verließen den Friedhof. Ich folgte den beiden, nachdem ich den Überlebenden des Fronttheaterzuges, die noch am gleichen Tag die Heimreise antreten sollten, im Namen des Ic die Hände gedrückt hatte. An diesem Tag schien die Sonne nicht. Mächtige Wolkengebilde zogen über die Kleine Erde hinweg, von Nord nach Süd, vom Asowschen zum Schwarzen Meer.
Rückkehr zum Regiment
Ohne Klein-Bukarest zu berühren, fuhr das Kfz 17 des Generals, dem diesmal kein Begleitfahrzeug folgte, auf der Nachschubstraße der Division nach Osten. Ich befand mich an der Seite von Major Schmeller auf dem Rücksitz. General Scheufele saß straff aufgerichtet vorn neben dem Fahrer. Steifnackig lehnte er sich gegen das Polster des Sitzes. Von Zeit zu Zeit hob er die Hand über die Tür des offenen Fahrzeugs und stäubte die Asche von seiner Zigarette ab. In der Frühe, vor der Abfahrt zum Friedhof, war ich dabei gewesen, wie er die Russenfrau, die für ihn die Blumen aus ihrem Garten geholt hatte, eine Anzahl Rubelnoten überreichte – Rubel, kein deutsches Besatzungsgeld. Die Frau hatte ihm mit einer tiefen Verbeugung gedankt. Aber noch mehr hatte es mich berührt, als er dem Ordonnanzoffizier, der das Klavier in Noworossijsk geholt hatte, den Auftrag gab, das Instrument zurückzuschaffen. Vielleicht war er ein Pedant, wie Hauptmann Scheffler meinte, aber jedenfalls einer, der nicht nur von anderen Korrektheit und untadeliges Verhalten forderte. Nicht jeder seines Ranges hätte sich tags zuvor der verwundeten Kabarettistin in gleicher Weise angenommen wie er. Es fiel mir immer schwerer, sein Verhalten, das er von der ersten Stunde an zur Schau getragen hatte, mit dem in Einklang zu bringen, was Leutnant Lemke von ihm behauptete. Es war für mich ein Rätsel. Wie hätte ich ahnen können, dass es sich schon wenig später gleichsam von selbst lösen würde?
Die Höhenzüge, zwischen denen wir eine Zeit lang hindurchfuhren, blieben zurück. Vor uns dehnte sich flaches Land mit spärlicher Vegetation nach Osten bis zu den grün schimmernden Uferauen des Kuban. Auf einer Behelfsbrücke überquerten wir einen Bach, der von mageren Erlen- und Weidenbüschen eingesäumt war, und gelangten in ein durch Artilleriebeschuss stark mitgenommenes Dorf. Im Westteil standen noch einige halbwegs unversehrte Häuser, von den restlichen waren nur zerhackte Mauerreste und geschwärzte Schornsteine übrig. Unter einer der vielen Ruinen hatte sich der Regimentsgefechtsstand eingenistet. Oberst Staufer erwartete den General auf der Straße. Die beiden verschwanden im Gefechtsstand, während der Fahrer den Wagen in Deckung brachte. Ich nahm an, dass General Scheufele mit dem Oberst die Geheimbefehle besprach, die er tags zuvor vom Kommandierenden empfangen hatte. Keiner wusste, was sie enthielten.
Nach einer halben Stunde erschien der General wieder in Begleitung von Oberst Staufer.
»Na, Emser«, sagte der Oberst, nachdem er ein paar Worte mit Major Schmeller gewechselt hatte, »wie ist’s? Keine Lust, zum Regiment zurückzukommen?«
»Lieber heute als morgen, Herr Oberst«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Nicht sehr schmeichelhaft für den Divisionsstab«, meinte der General.
Drüben beim Feind meldete sich mit leisem Knall eine Serie von Abschüssen.
»Es wird gleich rauschen«, sagte Oberst Staufer.
In der Luft wurde ein zunehmendes Jaulen laut, dann krachten verstreut nacheinander mehrere Granaten im Vorgelände des Dorfes. Die nächste Gruppe lag schon näher. Der hochgeschleuderte Dreck prasselte bis zu uns herab.
»Meine Herren«, sagte General Scheufele, »wir müssen weiterfahren.«
Er gab dem Oberst die Hand. »Ich sehe auf dem Rückweg noch einmal vorbei, Oberst Staufer.«
Der Wagen fuhr zur Straße, auf der Sprengstücke und Mauerbrocken umherlagen. Wir stiegen ein. Die feindlichen Geschütze waren verstummt. Nach Überquerung einer freien Fläche führte die Straße in der Deckung eines nach Südosten gerichteten Dammes entlang. Zwei Verwundete kamen uns entgegen. Dann folgte ein kleiner Trupp gefangener Rotarmisten, die von einem zackig grüßenden Landser begleitet wurden.
Der Damm bog in scharfem Knick nach Süden ab. In dem Winkel befand sich der vorgeschobene Bataillons-Gefechtsstand von Major Wilhelmi in Gestalt eines mit Bohlen abgesteiften Erdbunkers. Wir betraten den Raum. Major Wilhelmi, der inzwischen einiges von seiner Rundlichkeit eingebüßt hatte, machte Meldung. Neben ihm stand Leutnant Stapf. Er trug den linken Arm in einer Schlinge aus verschmutztem Verbandsmull. Im Hintergrund der halbdunklen Erdhöhle verharrten der Funker, der Bataillonsschreiber und zwei Melder in strammer Haltung, bis der General mit einer Handbewegung abwinkte.
Major Wilhelmi berichtete, ein Spähtrupp des Feindes habe beim Morgengrauen bis zu den Stellungen der Kompanie von Leutnant Lemke vorgefühlt. Sechs Gefangene seien eingebracht worden und befänden sich auf dem Weg zum Divisionsgefechtsstand.
»Sehr gut«, sagte der General. »Ich möchte mir die Kompanie ansehen.«
»Wenn Herr General gestatten, werde ich Sie zur Kompanie führen«, entgegnete Major Wilhelmi.
General Scheufele schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, mein Lieber. Ein Melder genügt.«
Leutnant Stapf drehte sich um und rief einen der beiden Melder heran. Der Mann setzte den Stahlhelm auf, nahm seinen Karabiner und verließ vor uns den Bunker. Er schlüpfte in eine schmale Einkerbung des Dammes, drehte sich um und sagte: »Großen Abstand halten, Herr General. Der Laufgraben ist nur flach, weil das Grundwasser nicht tief liegt. Wenn die Russen hier was sehen, schießen sie gleich mit schweren Granatwerfern herüber.«
Der General drehte sich zu Major Schmeller um. »Sie haben doch die Orden bei sich?«
»Jawohl, Herr General«, antwortete der Adjutant und klopfte auf eine Tasche seiner Tropenbluse. Wie der General und ich, der als Letzter folgte, trug auch er keinen Stahlhelm.
Geduckt bewegten wir uns durch den nach Osten führenden Graben. Eine trügerische Stille breitete sich über dem flachen Land, das nichts von denen verriet, die hier einander kampfbereit gegenüberlagen. Auf einmal trug der Wind, der steif von Nordosten wehte, ein Geräusch vom Iwan herüber, das wie das Knallen von Flaschenkorken klang.
»Achtung!«, schrie der Melder und warf sich platt in den Graben.
Der General fiel aufs Knie wie ein Ladekanonier im Manöver. Major Schmeller, obgleich hinter ihm, ging ebenfalls nicht tiefer, während ich dem Beispiel des Melders folgte. Aber die schweren Werfergranaten, die mit bösartigem Schwirren von drüben kamen, galten nicht uns. Sie schlugen, Qualmpilze und Erdfontänen aufwerfend, in den Damm ein, der hinter uns lag.
Ich war gerade dabei aufzustehen, als der General den Kopf wandte und mir zurief: »Emser, laufen Sie zurück. Der Fahrer soll meinen Wagen zum Dorf bringen und dort auf uns warten.«
Ich wiederholte den Befehl, spurtete los und entledigte mich des Auftrages, bevor es wieder krachte.
Am Einlass in den Kampfgraben der Kompanie Lemke holte ich die drei ein. Der Graben unterschied sich von dem auf der blutgetränkten Höhenstellung nur dadurch, dass er nicht so tief war. Doch immerhin konnte man aufrecht stehen, ohne vom Feind gesehen zu werden. Schanzzeug lag umher, Munitionskisten waren aufgestapelt, Posten im Stahlhelm spähten reglos ins Gelände.
Der Melder führte uns zu einem nach rückwärts abzweigenden Stichgraben. Ein Bunker oder vielmehr ein halb mit einer Zeltbahn verhängtes größeres Deckungsloch war der Kompaniegefechtsstand. Leutnant Lemke und Feldwebel Suhrmann legten ihre Skatkarten beiseite und kamen gemächlich wie Höhlenmenschen zum Vorschein. Der Leutnant hob lässig die verstümmelte Rechte an die Tropenmütze und machte in nuschelndem Ton Meldung.
»Hat Major Wilhelmi Sie nicht verständigt?«, fragte der General in leicht indigniertem Ton.
»Nein, Herr General«, antwortete Lemke mit unerschütterlicher Ruhe. »Die Fernsprechleitung ist mal wieder gestört.«
»Sind denn keine Störungssucher unterwegs?«, fragte der General.
»Nicht von vorn, Herr General«, entgegnete Lemke. »Das ist Sache des Bataillons. Ich kann hier keinen Mann entbehren.«
»Richtig«, stimmte General Scheufele, schon eine Spur freundlicher zu, unterbrach sich jedoch und fragte Lemke: »Warum starren Sie mich eigentlich so an, Leutnant? Haben Sie noch nie einen General gesehen?«
Er schwäbelte auf einmal stark, als habe die Frontatmosphäre etwas in ihm geweckt, das ihm naheging.
Ich konnte Lemke nicht sehen, da der General und Major Schmeller ihn verdeckten. Mit Schrecken hörte ich, wie er sagte: »Wir kennen uns, Herr General. Wir waren in der gleichen Maschine, die am 10. Januar von Gumrak aus dem Stalingrad-Kessel ausgeflogen ist.«
Schweigen. Ich war mir der Peinlichkeit des Augenblicks bewusst und wünschte, ich könnte Lemke ein Zeichen geben. Würde er in seiner Wut noch weitergehen? Dann drohten Tatbericht und Kriegsgericht.
Doch Lemke sagte nichts mehr. Stattdessen murmelte der General, wie in eine böse Erinnerung versunken: »Nicht möglich – das ist doch nicht möglich! Sie waren …« Er brach ab, und ich sah, wie er Lemke mit den Worten »Ja, es war kein Vergnügen, mit einem Lungenschuss in dem Schaukelkasten zu sitzen«, die Hand hinstreckte.
Lemke ergriff die Hand des Generals wie die eines alten Freundes, dem man lange Zeit unrecht getan hat.
»Herr General hatten …?«, sagte er hastig, »Und ich Idiot dachte, Sie wären ein ›Ausflieger‹.«