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»Es war ein gewaltiger Plan, Herr Oberst, die kühnste Angriffsoperation der Neuzeit – ein gigantisches Unternehmen …«

Der breithüftige, gedrungene Mann mit den hängenden Schultern und dem teigigen, zerfurchten Gesicht gestikulierte fahrig, während er dozierte. Den feldgrauen halbmilitärischen Uniformrock hatte er am 1. September 1939 angelegt, um ihn erst »nach dem Endsieg« wieder gegen die braune Partei-Litewka zu vertauschen. Der Mann hieß Adolf Hitler und hielt sich für den größten Feldherrn aller Zeiten.

An dem runden Tisch, auf dem der obligate Tee aufgetragen war, dem »Führer« gegenüber, saß steif Oberst Helmut von Pannwitz. Es irritierte ihn, dass Hitler so weitschweifig und in Superlativen über die Operationen des vergangenen Sommers sprach, anstatt sich mit der gegenwärtigen prekären Lage zu befassen.

Erst drei Wochen zuvor, am 2. Februar 1943, hatte sich das Leichentuch über die letzten Kämpfer von Stalingrad gesenkt. Die 1. Panzerarmee hatte sich aus dem Terekgebiet über die Steppe und das Eis des Asowschen Meeres abgesetzt, die 17. Armee war aus dem Westkaukasus in den Kubanbrückenkopf zurückgefallen. Die Truppe, die Pannwitz in der Stunde der Katastrophe aus dem Nichts aufgestellt hatte, retirierte derzeit zur Mijus-Linie – zur Mijus-Linie, von der man sieben Monate zuvor, im Juli 1942, zum Vormarsch aufgebrochen war.

Oberst von Pannwitz war vom Schlachtfeld nördlich des Asowschen Meeres ins Führerhauptquartier beordert worden. Vor seinem inneren Auge standen Bilder des Grauens und der Vernichtung. Erst vor zwei Tagen, auf der Fahrt zu einer Kosaken-Sotnja, hatte der Tod nach ihm gegriffen. Hitler jedoch redete in einem fort von dem, was längst zu Asche geworden war.

Das breite bäuerische Gesicht des Obersten blieb unbewegt. Er vermisste die Zigarre, die er sonst fast ständig zwischen den Lippen hatte.

Hitler war Nichtraucher. Er trank auch nicht. Das Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes, das er Oberst von Pannwitz zu Beginn der Audienz mit pathetischem Wortschwall überreicht hatte, begoss er mit dünnem Tee. Endlich unterbrach er seine Schilderung verspielter Siege. Fragend, mit skeptischem Unterton, sagte er, indem er mit abwesender Geste zwei Finger an die dunkle Schnurrbartbürste legte:

»Diese Russen, Herr Oberst, diese Ostmenschen, die Sie in Ihren Verband eingegliedert haben – sie haben sich also bewährt?«

»Jawohl, mein Führer«, antwortete Pannwitz mit knarrender Stimme. »Es sind vorwiegend Kosaken vom Don, vom Kuban, vom Terek, auch Sibierier. Sie haben sich hervorragend geschlagen – ebenso wie die Karatschaier, die Kabardiner, Tscherkessen, Turkmenen und Kalmücken. Zweifellos haben sie entscheidend zur Stabilisierung der Lage beigetragen. Ich erlaube mir zu wiederholen: Man sollte diese Leute zu einem großen Verband zusammenfassen. Es wäre eine fühlbare Erleichterung für unsere hart ringenden Soldaten, mein Führer.«

Vor dem Betreten des Führerbunkers war Pannwitz, der erst am Morgen vom Frontflugplatz Taganrog abgeflogen war, von einem der hier massenhaft umherschwirrenden Generalstäbler gewarnt worden.

»Sie werden mit Ihren Plänen einen schweren Stand haben, Herr Oberst«, hatte der Major mit den roten Hosenstreifen ihm vertraulich zugeraunt. »Er hält starr an seiner Untermenschen-Theorie fest. Sie werden ins Fettnäpfchen treten, Herr Oberst, wenn Sie ihn vom Gegenteil überzeugen wollen.«

Trotz dieses wohlgemeinten Rates hatte Oberst von Pannwitz mit der ihm eigenen Beharrlichkeit seinen Vorschlag, einen Reiterverband, möglichst eine Division, aus Freiwilligen des Ostens aufzustellen, nun zum zweiten Mal vorgebracht.

Da Hitler, scheinbar in tiefes Nachdenken versunken, schwieg, fuhr Pannwitz lebhaft und drängend fort:

»Trotz aller Mechanisierung entscheidet letzten Endes auf dem Schlachtfeld der Mensch, mein Führer. An Menschen herrscht drüben bei den Bolschewiken Überfluss. Rücksichtslos werden sie ins Feuer geworfen. Wir könnten mit den Ostfreiwilligen, die uns zweifellos in Massen zuströmen werden, ein Gegengewicht schaffen, ganz zu schweigen von den politischen Möglichkeiten.«

Pannwitz war Kavallerist. Im Zuge der Technisierung des Heeres war er zu den motorisierten »Schnellen Truppen« übergewechselt; im Herzen jedoch war er der Mann des Sattels, der Attacke mit blankem Säbel, geblieben. In den letzten Wochen hatte er mit den Steppenreitern des Ostens die Auswirkungen der Katastrophe von Stalingrad eingedämmt. Für diese Tat war er vom »Führer« mit dem Eichenlaub ausgezeichnet worden. Warum zog der Oberste Befehlshaber nicht von sich aus die naheliegenden Konsequenzen aus diesen doch offenkundigen Erfolgen? Warum antwortete er nicht?

Plötzlich hob Hitler den Kopf. Seine fahle, weiche Hand strich das strähnige Haar aus der Stirn. Sein unstet flackernder Blick musterte sekundenlang die straffen, derbknochigen, von ständiger Überanstrengung und schlaflosen Nächten gezeichneten Züge des Obersten.

»Sie wollen diese Horden dem deutschen Soldaten gleichstellen?«, sagte er mit finster gerunzelten Brauen. Doch schon schien er an dem Thema »Kosaken« und »Ostfreiwillige« desinteressiert. Mit der ihm eigenen Sprunghaftigkeit murmelte er: »Stalingrad. Die sechste Armee könnte heute noch an der Wolga stehen. Man hintergeht mich. Meine Befehle werden nicht ausgeführt …«

Immer noch schien er vom Glauben an seine Größe und seine Sendung erfüllt zu sein. Pannwitz starrte ihn ebenso ungläubig wie verstört an. Dieser Mann schien sich auf eisigen Höhen zu bewegen, auf die ihm niemand folgen konnte. War er wirklich ein Genie oder, wie man sich heimlich hinter der vorgehaltenen Hand zuflüsterte, ein von Wahnideen besessener Scharlatan?

Unvermittelt brach Hitler ab, trank von seinem Tee und erklärte dann mit abschließender Gebärde, ohne ein klares Ja oder Nein verlauten zu lassen:

»Kehren Sie zu Ihrer Kampfgruppe zurück, Herr Oberst. Wenn Sie Wünsche haben – meine Operationsabteilung und der Generalquartiermeister werden Ihnen nach Möglichkeit entgegenkommen.«

Die Teestunde im Führerbunker, die zum Zeremoniell der Verleihung des Eichenlaubes gehörte, war damit beendet.

Pannwitz erhob sich. Er grüßte mit erhobenem Arm. Hitler schien nicht daran zu denken, ihm die Hand zum Abschied zu reichen. Mit exakter Kehrtwendung wandte Pannwitz sich um. Der dicke Teppich, mit dem der komfortable Bunker ausgelegt war, dämpfte das Klirren seiner Sporen.

Als er ins Freie trat, füllte er seine Lungen mit der frischen Frostluft des kalten, trüben Tages. Dieses Führerhauptquartier, unter Bäumen getarnt und überreichlich mit den an der Front fehlenden Flakgeschützen bestückt, war eine riesige Baustelle. Überall waren neue Bunker im Entstehen.

Auf dem Weg zur Abteilung I a begegnete Oberst von Pannwitz einem ergrauten General, den er seit Langem kannte.

»Na, wie war er?«, fragte der vertrocknet wirkende Messtischblatt-Stratege und fuhr sich mit zwei Fingern hinter den mit Goldstickerei geschmückten Uniformkragen.

Pannwitz stieß ein kurzes Lachen aus.

»Er hat eigentlich nur immer vom Vormarsch im vergangenen Sommer gesprochen. Immerhin hat er mich beauftragt, einen Reiterverband aus Kosaken aufzustellen.«

Der General nahm den Arm des Jüngeren.

»Phänomenal, mein Lieber. Gratuliere. Sie haben das erreicht, was der Russengeneral Wlassow vergeblich anstrebt! Kommen Sie mit ins Kasino! Wir wollen einen verlöten auf den Reiterverband von Pannwitz.«

Der Oberst fühlte sich auf einmal unbehaglich. Was hatte er mit seiner unbedachten Erklärung heraufbeschworen? Doch rasch schüttelte er die Bedenken ab. Vollendete Tatsachen waren das Einzige, womit man den »Führer« überrumpeln konnte. Er würde einen Kosakenverband aufstellen, gründlich und nach seinem Kopf, von dem viele behaupteten, es sei ein typisch pommerscher Dickschädel, den er sich eines Tages einrennen werde.

Hätte Pannwitz gewusst, dass er sich in dieser Stunde die Schlinge um den Hals legte – er wäre gewiss Kommandeur bei den »Schnellen Truppen« geblieben und niemals der Feldataman aller Kosaken geworden …

»Wann fliegen Sie nach Taganrog zurück?«, fragte der in der Nähe des »größten Feldherrn« verkümmernde General.

»Erst mal drei Tage nach Hause. So einen Heldenurlaub lässt man sich nicht entgehen.«

»Und wer schmeißt so lange Ihren Laden?«

»Ein angesehener alter Kosaken-Ataman zusammen mit dem Führer meiner Stabsschwadron und mit Rittmeister Hosfeld, meinem Adjutanten. Die beiden kommen von der Kavallerie wie ich. Mit unseren Kosaken verstehen sie sich glänzend.«

Der Ataman mit dem buschigen weißen Schnauzbart schleppte sich an zwei Stöcken auf seinen Beinprothesen durch den Schnee. Die Prothesen waren aus Buchenholz. In seinem selbst gewählten Gewahrsam hatte Ignatij Wassiljewitsch Kulakow sie eigenhändig geschnitzt.

24 Jahre lang hatte der legendäre Kosaken-Ataman sich in seinem zwischen Felsen versteckten Heimatdorf am Terekfluss in einem tiefen Kellerschacht seines Hauses verborgen gehalten. Im Jahre 1918 hatten Granatsplitter dem damals noch jungen Offizier eines zarentreuen Kosaken-Garderegiments beim Sturm auf eine bolschewistische Batterie beide Beine abgerissen. Seine treuen Kosaken hatten den Schwerverwundeten auf Schleichwegen in seine Staniza gebracht und der Obhut seiner Frau übergeben. Die unerschrockene Kosakenfrau hatte ihren Lebensgefährten in aller Heimlichkeit gepflegt und versorgt. Selbst die findigsten Spitzel Moskaus glaubten an seinen Tod.

Im Spätsommer 1942, beim Vormarsch der deutschen Truppen zum Terek, war Kulakow zum ersten Mal wieder ans Tageslicht gekommen. Beim nächsten deutschen Kommandostab hatte der vorzeitig gealterte und verbrauchte Invalide sich zur Verwendung im Kampf gegen die Sowjets zur Verfügung gestellt.

Die Isba, zu der Kulakow sich auf seinen Stöcken mühsam hinarbeitete, trug wie die übrigen stroh- und schilfgedeckten Hütten des Dorfes eine dicke Schneehaube. Dünner Rauch stieg aus dem Schornstein in die frostklare Luft. Es waren dreißig Grad unter null – der kälteste Tag seit Wochen. Im Osten, wenige Kilometer vom Stabsquartier der »Kampfgruppe Pannwitz« entfernt, detonierten in unregelmäßiger Folge die Granaten der feindlichen Artillerie. Dazwischen schnarrten blechern die Maschinengewehre.

Mit einem seiner Krückstöcke stieß Kulakow die Tür der niedrigen Lehmkate auf. Wie Nebel wogte ihm die abgestandene warme Luft aus dem kleinen Raum entgegen. Die winzigen Fenster der Hütte waren dick vereist.

Von dem Tisch, an dem er beim trüben Lichtschein einer Kerosinlampe geschrieben hatte, erhob sich Oberleutnant Steinhoff, der Führer der Stabsschwadron. Er schob Kulakow seinen Stuhl hin.

»Sie sollten sich mehr schonen, Ataman. Bitte, setzen Sie sich!«

Unbeholfen ließ Kulakow sich auf den Stuhl nieder. Unter dem dicken Mantel aus Schafpelz trug er die schwarze Tscherkesska, den Waffenrock aus der alten Zeit. Die silbernen Patronenhülsen und der Krummdolch in der ziselierten Silberscheide schimmerten matt im Lampenlicht.

Steinhoff reichte ihm eine Zigarettenschachtel.

Mit ruhiger Hand zündete sich Kulakow eine Zigarette an, nahm die schwarze Kubanka aus Karakulfell ab und strich das schüttere weiße Haar zurück.

»Haben Sie Nachricht von Rittmeister Hosfeld und Essaul Sirotä, Oberleutnant?«, fragte er mit rauer Stimme, die wie eingerostet klang.

Steinhoff schüttelte den Kopf.

»Die Fernsprechverbindung ist leider unterbrochen, Ataman. Ich denke, sie sind auf dem Marsch.«

Draußen auf dem vereisten Weg wurde der Hufschlag eines müde galoppierenden Pferdes laut. Die beiden horchten auf. Steinhoff öffnete die Tür.

Durch aufstiebenden Schnee kam ein Reiter auf einem abgetriebenen Gaul heran, ließ sich mit katzenhafter Behändigkeit aus dem Sattel gleiten und trat in die Stube. Er hob die Hand an die tief über die Ohren gezogene Fellmütze.

»Meldung von Leutnant Bondar«, brachte er heftig atmend hervor. »Michailowskaja ist von feindlichen Kräften in Stärke von zwei Bataillonen eingeschlossen. Leutnant Bondar bittet dringendst um Verstärkung und Munition.«

»Wie lange glaubt Leutnant Bondar durchhalten zu können?«, fragte Steinhoff, der wie alle deutschen Offiziere der »Kampfgruppe Pannwitz« die russische Sprache hinlänglich beherrschte.

»Diese Nacht noch, Gospodjin Oberleutnant, länger nicht«, antwortete der Kosak.

Steinhoff nickte.

»Charascho. Werden sehen, was sich tun lässt. Versorgen Sie Ihr Pferd, Kosak!«

Der Melder salutierte stumm und ging hinaus.

Steinhoff wandte sich zu Kulakow.

»Ataman, wir müssen Bondar noch in dieser Nacht heraushauen.«

Kulakow fuhr sich über die faltige Stirn.

»Die deutsche Führung wiederholt ständig ihre Fehler. Auf das Gerücht hin, dass die Bolschewiken im Norden angreifen, hat man die Hauptmasse unserer Reiter voreilig in Marsch gesetzt. Polkownik Pannwitz hat immer wieder betont, dass bei uns der Durchbruchsversuch zu erwarten ist. Warum hat man ihm nicht geglaubt? Unsere Kräfte sind für einen Entlastungsangriff zu schwach, Oberleutnant. Wir müssen Rittmeister Hosfeld und Essaul Sirotä einen Meldereiter entgegenschicken.«

Steinhoff griff schon zu Mantel und Mütze. Während er dem Ataman beim Aufstehen half, sagte er:

»Wir wollen hoffen, dass die Abteilung rechtzeitig eintrifft. Ich alarmiere die Stabsschwadron und verständige den Korpsstab. Viel wird das freilich nicht nützen. Sie wissen ja, hinter uns liegen keine Reserven mehr.«

Er folgte dem schwerfällig humpelnden Ataman ins Freie. Die Kälte traf ihn wie ein Schlag. Während Kulakow sich zum Quartier seiner Leibwache begab, lief er eilig zum Haus des einstigen Dorf-Sowjets, in dem der Gefechtsstand untergebracht war. Im Näherkommen hörte er das Läuten des Feldtelefons.

Steinhoff betrat das würfelförmige, hässliche Gebäude und riss die Tür zum Geschäftszimmer auf. Ein Nachrichten-Unteroffizier hielt ihm den Handapparat eines der auf einem Tisch aufgereihten Fernsprecher entgegen.

»Herr Oberleutnant, hier ist der Chef der leichten Batterie.«

Wieder eine Alarmnachricht, dachte Steinhoff bitter, während er den Hörer ans Ohr presste. Er meldete sich.

»Hier Ziegelschutt – Oberleutnant Steinhoff.«

Der Leutnant, der die einzige Batterie leichter Feldhaubitzen befehligte, über die die »Kampfgruppe Pannwitz« verfügte, meldete vom anderen Ende der Leitung:

»Hallo, Herr Steinhoff, hören Sie: Hier ist was los. Vor uns muss eine üble Schweinerei passiert sein. Seit einer halben Stunde fangen wir Versprengte auf – Italiener und Rumänen, viele ohne Waffen. Verständigung gleich null. Die wenigen, die Deutsch verstehen, geben wirres Zeug von sich. Muss sich um einen Einbruch oder einen Durchbruch bei der Frontnase weiter südlich handeln. Ist der Kommandeur noch nicht zurück?«

»Nein«, sagte Steinhoff, »wir erwarten ihn in drei oder vier Tagen. Haben Sie Verbindung mit Bondar?«

»Bis heute Früh. Dann muss das Funkgerät ausgefallen sein. Böse Geschichte, Herr Steinhoff! Wie steht’s mit Feuererlaubnis für mich?«

»Nichts zu machen. Sie wissen ja Bescheid. Munitionsnachschub fällt vorerst flach. Halten Sie das Volk auf, das bei Ihnen zusammenläuft. In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen. Ende!«

Steinhoff läutete ab und legte den Hörer auf. Er warf einen Blick auf die an der Wand angebrachte Karte und wandte sich dem Hauptwachtmeister zu.

»Weber, in zehn Minuten steht die Stabsschwadron marschbereit. Lassen Sie die Fahrzeuge volltanken und geben Sie Handgranaten aus. Ein Portepeeträger und zehn Mann bleiben als Wache hier.«

Der Hufschlag von mehr als sechshundert Pferden dröhnte wie dumpfer Trommelwirbel auf dem hart gefrorenen Schnee. Schattenhaft trabte die Reiterabteilung unter dem hohen, sternübersäten Himmel durch die früh hereingebrochene Dunkelheit. Sattelleder knirschte, und Pferde schnaubten, Karabiner schlugen im Takt gegen die hinter den Sätteln aufgeschnallten Kochgeschirre. Unter den Reitern waren Kosaken vom Don, vom Kuban, vom Terek, aber auch asiatisch aussehende Kalmücken aus den Steppen um Elista und Astrachan, dazu Kabardiner und Tscherkessen aus der Gegend von Mosdok und Grosny sowie dunkelhäutige Karatschaier, die ihre Schafherden in den Tälern des oberen Kuban und der Laba verlassen hatten.

»Ist dieser Krieg nicht voller merkwürdiger Widersprüche?«, sagte der an der Spitze trabende deutsche Rittmeister Alfred Hosfeld zu seinem gleichrangigen Begleiter, dem Kosaken-Essaul Sirotä. »Als wir im Juni einundvierzig gegen die Sowjets antraten, standen viele der Männer, die jetzt mit uns reiten, als Gegner auf der anderen Seite. Aber die Zeit hat uns gelehrt, dass wir unter den Völkern dieses Riesenlandes mehr Freunde als Feinde haben. Was wussten wir von euch und eurem Russland. Bis heute ist es für uns ein unlösbares Rätsel geblieben.«

»Stalin ist euer großer Werber«, entgegnete Sirotä mit dem Sarkasmus, den er immer zur Schau trug, wenn Hosfeld auf die Politik zu sprechen kam. »Der Tyrann im Kreml treibt euch nicht nur die Kosaken, sondern auch Russen, Ukrainer, die Turkvölker und die Stämme des Kaukasus als Freiwillige zu. Vergessen Sie aber nicht, Alfred Pawlowitsch, wir stehen im Kampf gegen unsere Brüder. Sie sind nicht nur mein Waffenkamerad, Sie sind mein Freund. Deshalb spreche ich offen mit Ihnen. Aber glauben Sie nicht, dass unserer Reiter euch Deutsche lieben! Sie wollen frei werden! Sie hassen das Stalinregime. Es gefällt ihnen, dass sie wieder die alte Uniform und die alten Abzeichen aus der zaristischen Zeit tragen können. Auch die Wehrmachtsverpflegung sagt ihnen zu. Was eure Führung mit uns vorhat, wissen die meisten von ihnen nicht. Aber merken Sie sich: Wir sind kein Kolonialvolk! Wir bekämpfen nicht die eine Tyrannei, um uns einer anderen zu beugen. Ihr Soldaten habt keine Schuld, ich weiß. Ja, wenn alle Deutschen so wären wie Polkownik Pannwitz, wie Sie und Oberleutnant Steinhoff!«

Der Essaul gab seinem Pferd einen leichten Schlag mit der Nagaika. Er starrte nach Osten, wo grelles Mündungsfeuer aufzuckte. Schließlich fuhr er erregt fort:

»Aber eure Reichskommissare und eure Landwirtschaftsführer sind nicht besser als die Politruks von Väterchen Stalin. Warum lassen die Einsichtigen unter euch das zu? Sie wissen, Alfred Pawlowitsch, als der Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion ausbrach, musste ich als Zwangsarbeiter in den Tundren am Eismeer Gold für die Herren im Kreml waschen. Ich bin Kosak, und das Kosakentum passt nicht ins Programm der Gleichmacherei. Ich wurde rehabilitiert, weil man ausgebildete Offiziere für die Front brauchte. Als Kapitän der Roten Armee ließ ich mich mit meiner Kompanie bei Isjum von euren Panzern überrollen, weil ich damals ebenso wie General Wlassow eurer Propaganda glaubte. Jetzt reite ich an Ihrer Seite, weil ich meine Heimat liebe, weil sie frei werden soll von ihren Unterdrückern. Aber das Kriegsziel eurer Führung billige ich nicht.«

Die Spitze des langen Reiterzuges erreichte den Kirchplatz eines kleinen, halb im Schnee vergrabenen Dorfes.

Rittmeister Hosfeld gab nach rückwärts den Befehl zu kurzer Rast. Erst als er abgesessen war, sagte er zu Sirotä:

»Unser Ziel ist das gleiche wie das eure. Sie werden es bald erfahren, Anatolij Feodorowitsch. Oberst von Pannwitz setzt durch, was er sich vorgenommen hat. Ich glaube an unsere Waffenbrüderschaft.«

Ein einsamer Reiter sprengte im fahlen Schneelicht heran, sprang aus dem Sattel und reichte dem Rittmeister eine schriftliche Meldung.

Hosfeld las beim Schein seiner Taschenlampe Oberleutnant Steinhoffs Notruf. Bestürzt wandte er sich zu Sirotä, der im schwarzen Filzumhang, der Burka, und mit schwarzer Schaffellmütze neben seinem Rapphengst stand.

»Michailowskaja ist eingeschlossen.«

Wortlos schwang sich Sirotä wieder in den Sattel. Rittmeister Hosfeld folgte seinem Beispiel. Kommandos wurden laut. Der große Reiterpulk trabte an.

Im Hof der abgebrannten Schule von Dimitrowskaja stand die dampfende Feldküche der Stabsschwadron. Elendsgestalten, die mehr Vogelscheuchen als Soldaten glichen, bildeten einen dichten Kreis, um ein wenig Wärme abzubekommen. Andere stapften gebeugt umher und schlugen mit den Armen. Einzelne trugen Karabiner, etliche hatten nur noch Seitengewehre oder Spaten am Koppel, die übrigen waren unbewaffnet. Ihre Gesichter waren bärtig und mit dem Schorf von Frostwunden überzogen. Das Schuhwerk war brüchig. Einige hatten zerschnittene Decken um ihre erfrorenen Füße gewickelt. Es waren Rumänen und Italiener. Die einen hatten hohe, braune Lammfellmützen auf dem verfilzten Haar, die anderen trugen über den Kopfschützern die grauen Filzhüte der Alpini.

Der einzige Offizier des verlorenen Haufens, ein Alpini-Leutnant, stand abseits im Gespräch mit Oberleutnant Steinhoff. Sein rechter Arm hing in einer verschmutzten Verbandschlinge. Sein abgemagertes graues Gesicht mit der vorspringenden Adlernase sah müde und verbittert aus.

»Damals, im August vorigen Jahres«, sagte er, und der stumpfe Ausdruck seiner hellen Augen belebte sich, »damals hatten wir die Berge des Kaukasus vor uns. Das Alpini-Korps war ein Eliteverband der italienischen Armee. Und was geschah? Ihr Führer Adolf Hitler gab uns den Befehl, nach Nordosten abzudrehen. Das Alpini-Korps mit seinen bergerfahrenen Soldaten, seinen Tragtierkolonnen und seiner Gebirgsartillerie marschierte durch die Manytschsteppe gegen Stalingrad. Dort ist es untergegangen.«

Mit der gesunden Linken wies der Leutnant auf die gebeugten Gestalten im Schein des Feldküchenfeuers, die gierig heißen Tee aus ihren Kochgeschirren schlürften.

»Porco di Madonna! Das, Kamerad, sind die Letzten des ruhmreichen Alpini-Korps.«

Oberleutnant Steinhoff erwiderte nichts. Er blickte in die vom Schneelicht schwach erhellte Dunkelheit. Stalingrad! In den Trümmern der zerschossenen Stadt an der Wolga und am Don waren mit der deutschen 6. Armee auch die italienischen Gebirgssoldaten sinnlos verblutet. Warum hatte der »Führer« nicht zur rechten Zeit den Rückzug befohlen?

Ataman Kulakow humpelte auf seinen Stöcken über den Hof heran.

»Ataman, ist Nachricht von Hosfeld und Sirotä eingetroffen?«, fragte Steinhoff.

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Njet, Oberleutnant.«

»Dann bleibt mir keine andere Wahl«, murmelte Steinhoff. »Ich muss diese armen Teufel wieder ins Feuer jagen.«

Er kramte eine Weile in den Taschen seines Schafpelzes, brachte eine Packung Zigaretten zum Vorschein und reichte sie dem Italiener.

»Tenente, kennen Sie die Lage im Nordosten?«

»Nein, Kamerad. Wir sind aufs Geratewohl marschiert, nachdem die Stellung meines Bataillons überrannt worden war. Die Rumänen habe ich unterwegs aufgesammelt. Sie wollen nicht mehr kämpfen.«

»Wer fragt schon danach?«, warf Steinhoff ein. »Wer, zum Teufel, fragt denn uns, ob wir wollen? Nach Michailowskaja sind zwei Bataillone der Roten Armee durchgebrochen. Eine Kosaken-Sotnja unserer Kampfgruppe ist in dem Dorf eingeschlossen. Wenn wir sie heute Nacht nicht heraushauen, bricht die Front in unserem Abschnitt zusammen. Sie begreifen, was das bedeutet.«

Er gab dem Italiener Feuer, zündete sich selbst eine Zigarette an und fuhr fort:

»Tut mir leid, Tenente, aber ich muss Ihnen befehlen, gemeinsam mit mir den Entlastungsangriff zu führen.«

Tenente Locatelli verbeugte sich leicht. Seine aufgesprungenen Lippen verzogen sich zu einem ironischen Lächeln.

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Kamerad.«

Er grüßte mit der Linken, begab sich zu seinen Leuten und richtete ein paar italienische Worte an sie. Die Antwort waren Flüche.

Steinhoff verließ mit Kulakow den Schulhof. Auf der Straße warteten die Fahrzeuge der Stabsschwadron und Kulakows berittene Leibwache aus zwanzig ausgewählten Kosaken.

Steinhoff rief einen Wachtmeister heran.

»Sorgen Sie für die Bewaffnung der Italiener und Rumänen, sobald die Lkw-Kolonne eintrifft! Folgen Sie uns dann schnellstens in den Bereitstellungsraum südwestlich von Michailowskaja!«

Die Fahrzeuge der Stabsschwadron und Kulakows Reiter verschwanden nordostwärts in der Dunkelheit.

In unregelmäßigen Abständen drang von Zeit zu Zeit anschwellender Gefechtslärm durch die Stille der Winternacht. Eine Feuerpause war eingetreten – die Ruhe vor dem Sturm.

In einer tief eingeschnittenen Balka im Norden von Michailowskaja waren zwei Kompanien des 3. sowjetischen Schützen-Bataillons angetreten. Die Soldaten in den erdfarbenen Mänteln und den pelzbesetzten, mit dem roten Stern versehenen Wintermützen trampelten frierend im tief zusammengewehten Schnee. Mit Wodkadunst vermischter Atemhauch schlug sich als Reif an den Bartstoppeln und den Mantelkrägen nieder. Warme Verpflegung hatte es seit Tagen nicht gegeben. Ebenso lang war es her, seit sie die letzte geheizte Unterkunft verlassen hatten. Nitschewo! Der Ausdruck ihrer breiten Gesichter zeigte stumpfe Ergebenheit.

»Towarischtschi!«, Metallisch dröhnte die Stimme des Politkommissars durch die Schlucht bis hinüber nach Michailowskaja. »Soldaten der unbesiegbaren Roten Armee! Der historische Sieg an der Wolga weist uns den Weg nach Westen. Euch fällt in dieser Stunde die heroische Aufgabe zu, den Feind vom Boden des sozialistischen Vaterlandes, der unsterblichen Sowjetunion, zu vertreiben. Die anmaßenden Söldlinge des Faschismus sind am Ende. Doch vor euch stehen jetzt nicht die irregeleiteten Soldaten Hitler-Deutschlands, sondern deren Mordkomplizen, russische Menschen, die zu fluchwürdigen Verrätern an der Partei der Werktätigen und am Sowjet-Vaterland geworden sind. Wollt ihr durch diesen Abschaum das Dorf Michailowskaja weiter verpesten lassen? Wollt ihr in der bitteren Kälte frieren, während die Helfershelfer der Aggressoren in den warmen Stuben sitzen? Vorwärts, Rotarmisten, zertretet die giftige Brut der Abtrünnigen! Vorwärts – sa Rodinu – sa Stalina – für unsere Heimat – für unseren Stalin!«

Laut grölend wiederholten dreihundert Mann die Parole.

»Sa Rodinu – sa Stalina!«

Stille trat ein. Doch plötzlich dröhnte vom Rand des Dorfes her eine andere Stimme überlaut und blechern durch die Winternacht.

»Perechoditje! Lauft zu uns über, russische Brüder! Kommt zu den Kosaken, den Befreiern von Unterdrückung und Sklaverei! Kommt zu uns! Kämpft mit uns gegen Stalin, den Totengräber der Völker Russlands!«

Wütend feuerte der Politruk, der droben am Rand der Schlucht stand, mit seiner Maschinenpistole in Richtung der Stimme. Dann rauschte eine Salve Granaten über die Schlucht hinweg gegen das Dorf.

Der Feuerschlag der russischen Artillerie verstärkte sich. Abschüsse und Einschläge vermischten sich zu donnerndem Getöse. Pulverqualm hüllte alles in dichte Schwaden ein. Dazwischen flammten grelle Blitze.

Zahlreiche Häuser des Dorfes waren bereits zerstört. Jetzt brachen weitere unter den Schlägen donnernd berstender Granaten zusammen. In den unversehrten Katen drängten sich die Kosaken der Sotnja Bondar in Erwartung des feindlichen Angriffs. In den Hausgärten und auf Staßen und Wegen war der Schnee gerötet vom Blut zerfetzter Männer und Pferde. Im Eisenhagel der herumschwirrenden Splitter zerrten hilfreiche Hände Verwundete in den fragwürdigen Schutz der Lehmhütten.

Leutnant Alexej Iwanowitsch Bondar hatte nach der Kampfrede des Politkommissars die Besatzung am Nordrand des kleinen Dorfes verstärkt. Mit seinem schwarzbärtigen Leibkosaken Grischka lag er hinter einem Schneewall am einzigen MG, für das noch Munition vorhanden war. Seine ganze Sorge galt dem Maschinengewehr. Würde es wieder versagen in der grausamen Kälte, wie es schon mehrmals geschehen war?

Jäh verstummte das feindliche Artilleriefeuer.

»Jetzt kommen sie«, murmelte Grischka. Er wusste, wie es bei denen drüben zuging. Bis zu seiner Gefangennahme in der Kubansteppe war er selbst Rotarmist gewesen.

Bondar schnaubte verächtlich.

»Lass sie nur kommen!«

Laut rief er den zu beiden Seiten verteilten Kosaken zu: »Augen auf, Männer, und knallt nicht in die Sterne!«

Plötzlich hob er lauschend den Kopf.

»Hörst du’s, Grischka?«

Er schob die über die Ohren gezogene Lammfell-Papacha hoch. Nein, es war keine Täuschung. Im Westen hatte Gefechtslärm eingesetzt: Schützenfeuer und Geschrei, übertönt vom Rattern deutscher Maschinengewehre.

»Die Unsern, Chorunsche«, rief Grischka begeistert aus, »das sind die Unsern!«

»Kosaken«, brüllte Bondar, »hört ihr’s? Der Gegenangriff. Jetzt nehmen wir sie in die Zange. Keine Gnade! Keine Gefangenen! Nur Überläufer werden geschont!«

Den frostklammen Finger am Abzug des MGs, horchte Bondar angespannt auf die Geräusche des rasch sich entwickelnden Gefechtes. Gleichzeitig beobachtete er das im trügerischen Schneelicht vor seinen Augen halb verschwimmende Vorfeld. Schattenhaft tauchten aus der Schlucht die ersten Angreifer auf.

Leutnant Bondar stieß den neben ihm liegenden Leibkosaken an.

»Grischka, los, rotes Leuchtsignal!«

»Sejtschas, Chorunsche«, brummte der Kosak, fingerte nach der Leuchtpistole am Koppel, hob sie über den Kopf und feuerte sie ab. Steil stieg das rot glühende Alarmzeichen zum Nachthimmel empor.

Mehrere Kosaken rannten heran, um die ins frostharte Erdreich gegrabenen Schützenlöcher zu besetzen. Rufe wurden laut.

»Die Hunde! Ich hol mir den Politruk! Handgranaten, Bruder, wo sind die Handgranaten?«

Zusehends belebte sich das Schneefeld mit eilig näher stapfenden Gestalten. Es wurden immer mehr.

Bondar krümmte den Finger durch. Hart schlug der Kolben gegen seine Schulter. Starr blickte sein rechtes Auge über den unter den Feuerstößen vibrierenden Lauf des MGs.

Plötzlich schwieg Bondars Waffe.

»Munition! Beeil dich!«, rief er Grischka zu.

Der Leibkosak reichte ihm einen neuen Gurt. Die froststarren Finger gehorchten kaum, als Bondar sich anschickte, den Patronengurt einzuführen.

Das Schützenfeuer, das die Kosaken währenddessen unterhielten, klang kläglich und schwach.

»Wacht auf!«, brüllte Bondar. »Feuern! Feuern!«

Die Rotarmisten aber rückten unerbittlich vor. Wo blieb der Gegenangriff so lange? War er etwa stecken geblieben?

Wütend zog Leutnant Bodar durch. Das MG versagte. In der kurzen Feuerpause war es eingefroren. Er griff nach dem bereitliegenden Karabiner.

Unaufhaltsam kam die Front der Angreifer näher.

»Dawai! Bystra!«

Der Politruk trieb sie an. Noch schwiegen ihre Waffen. Ihr stummes Vordringen wirkte unheimlich, als bewege sich eine Rotte Gespenster durch den Schnee, angefeuert von einem grimmig tobenden, nach Blut dürstenden Teufel. Wie Wölfe, die ihrer Beute sicher waren, kamen sie heran …

2

Punkt neun Uhr abends hatte der Gegenangriff zum Entsatz der in Michailowskaja eingeschlossenen Kosaken-Sotnja begonnen. Im ersten Anlauf hatte man einen beachtlichen Geländegewinn erzielt.

Oberleutnant Steinhoff ging mit der Stabsschwadron und den abgesessenen Kosaken von Kulakows Leibgarde am rechten Flügel vor, während Tenente Locatelli die links sich entfaltende Gruppe führte.

»Avanti!«

Die Pistole in der gesunden Linken, stieß der Alpini-Leutnant den Anfeuerungsruf immer wieder zwischen den vor Anstrengung gefletschten Zähnen hervor. In der Schusswunde an seiner rechten Hand tobte ein wilder Schmerz. Er wusste, was ihm bevorstand, aber er wollte den Deutschen und den Kosaken zeigen, was in einem Offizier des italienischen Eliteverbandes steckte.

Ataman Kulakow verfolgte aus der Deckung der vom Schnee halb zugewehten Ruine eines einsamen Hauses das Vorgehen der beiden weit auseinandergezogenen Schützenlinien. Schon verlangsamte sich das anfänglich zügige Tempo. Der Feind hatte die Flankenbedrohung inzwischen erkannt und verstärkte zusehends seine Abwehr. Deutlich sah der alte Ataman, wie das immer heftiger einsetzende MG-Feuer die beiden Abteilungen, von denen die linke bereits bedenklich nachhing, immer häufiger in den Schnee zwang.

»Ein tapferer Offizier, dieser Italiener«, murmelte Kulakow. Es schmerzte ihn, dass er zur Untätigkeit verurteilt war, während andere für Bondars Kosaken ins Feuer gingen.

»So ist es, Ataman«, bestätigte der kaukasische Leibwächter, der ständig an Kulakows Seite blieb. »Aber mit halb Verhungerten, Erfrorenen und Lahmen kann auch der Tapferste nicht Krieg führen.«

Geschosse schwirrten gefährlich nah vorbei. Der Tscherkesse achtete ebenso wenig darauf wie der auf seine Stöcke gestützte Ataman.

»Verfluchte Kälte!«

Der krummnasige, in einen langen Schafpelz gehüllte Kaukasier stampfte mit den Füßen, die sich wie Eisklumpen anfühlten.

»Da bin ich besser dran, mein Freund«, meinte Kulakow mit beißendem Spott. »Du solltest dir auch Holzbeine zulegen.«

Das feindliche Abwehrfeuer nahm zu. Der Gegenangriff begann zu stocken. Dünn drangen die Rufe herüber, mit denen Locatelli seine Alpini und die Rumänen voranzutreiben versuchte. Steinhoffs Gruppe war unterdessen bedrohlich weit vorgeprellt.

Auf einmal wurden Motorengedröhn und mahlendes Kettengerassel laut. Wie vorsintflutliche Ungeheuer schoben sich drei, vier russische Panzer aus der Dunkelheit hervor, die jetzt dichter wurde, da Mond und Sterne sich hinter einem Wolkenschleier verbargen. Blitze zuckten aus den Rohren der Panzerkanonen.

Das Ende der »Kampfgruppe Pannwitz« schien besiegelt. Mit bloßen Händen konnte man feuernde Panzer nicht aufhalten, auch nicht mit Karabiner- und MG-Geschossen. Mit dem rechtzeitigen Eintreffen von Hosfeld und Sirotäs Reiterabteilung war wohl nicht mehr zu rechnen. Vielleicht hatte der Meldereiter sie im Dunkel der Nacht verfehlt?

Ein großer Traum zerbrach vor den Augen des Atamans, der selbst nicht mehr ins Gefecht gehen konnte. Er berührte den Arm seines Leibwächters.

»Komm!«

Auf seinen Krückstöcken humpelte er zu dem Kübelwagen, der in einer Senke abgestellt war. Was für ein Fest wäre es für die roten Kommissare, wenn sie den tot geglaubten Erzfeind Ignatij Wassiljewitsch Kulakow in die Hand bekämen! Alles war zu Ende. Bondar war mit seiner Sotnja verloren. Die Front war offen. Den Überlebenden blieb nur die Flucht.

Auf dem Gefechtsfeld beobachtete einer von Kulakows Kosaken, dass der italienische Leutnant nicht mehr aus dem Schnee hochkam, dass die Italiener und Rumänen kehrtmachten und sich hastig absetzten.

Oberleutnant Steinhoff war mit seiner Gruppe auf der deckungslosen Fläche in Stellung gegangen. Sie feuerten auf die näher kommenden Panzer. Aber die Geschossgarben prallten wie Erbsen an den Stahlplatten ab.

Der Kosak trat den fliehenden Italienern und Rumänen entgegen. Mit seiner Maschinenpistole brachte er sie zum Stehen.

»Holt den Leutnant heraus!«, befahl er scharf in seinem hart klingenden Deutsch.

Angesichts der drohenden Haltung des Kosaken drehten sich drei der Alpini zögernd um. Mit sichtlichem Widerstreben stapften sie ins wild anschwellende Feuer zurück. Andere folgten ihnen. Sie erreichten den Leutnant, hoben ihn auf und bewegten sich schwerfällig mit ihrer Last durch den Schnee. Zwei der Träger, die verwundet zusammenbrachen, wurden abgelöst und von den übrigen vom Gefechtsfeld geschleppt.

Währenddessen zog sich Steinhoff unter hinhaltendem Feuer langsam zurück. Schwärme von Rotarmisten folgten den vorstoßenden Panzern.

Oberleutnant Steinhoff dachte an die leichte Batterie, die bei Dimitrowskaja in Feuerstellung stand. Wenn sie in deren Schutz gelangen könnten, gäbe es vielleicht noch einmal eine Atempause.

Auf einmal drehte er entgeistert den Kopf. Was war das für ein donnerndes Geräusch? Was bedeutete die schattenhafte Masse, die von Südwesten rasch näher kam?

Doch schon brauste die wilde Jagd an den Italienern und Rumänen, an Oberleutnant Steinhoff und seinen benommen starrenden Leuten vorbei – Reiter, Hunderte barbarisch johlender Reiter, angeführt von Hosfeld und Sirotä.

Im Galopp stoben sie, blanke Säbel und Karabiner schwingend, durch Wolken aufgewirbelten Schnees. Ihr gellendes Kampfgeschrei übertönte den Donner der Hufe und den Gefechtslärm am Nordrand von Michailowskaja.

Die Welle der Rotarmisten, die sich hinter den Panzern heranwälzte, brandete zurück wie vor einer unsichtbaren Mauer. Verwirrung entstand. Wie eine Lawine aus Pferdeleibern und brüllenden Dämonen brach die Wucht der Attacke über die wankenden Reihen herein, flutete an den Panzern vorbei und warf sich auf die nachfolgende Infanterie.

Minuten später waren die stählernen Ungetüme isoliert. Die Besatzungen schienen vor Grauen wie gelähmt. Handgranaten detonierten. Einzelne Kosaken sprangen aus den Sätteln, brachten Haftladungen an und waren schon wieder auf den Rücken ihrer Pferde, als die Ladungen unter Blitz und Donner hochgingen.

Uneindämmbar brach die Attacke sich Bahn. Nur noch vereinzelt fielen Schüsse. Pferde überschlugen sich mit ihren Reitern, aber wie Katzen sprangen die Kosaken wieder auf. Nur wer fiel oder wer verwundet stürzte, blieb liegen. Fliehende Gestalten in erdfarbenen Mänteln und pelzbesetzten Mützen wurden niedergeritten und von den Hufen der nachfolgenden Pferde zertrampelt. Das Gewieher scheuender Gäule übergellte Schreie und Flüche.

Hosfeld und Sirotä hatten sich nicht voneinander getrennt. Vom Gewimmel ihrer Reiter gefolgt, stießen sie in die Flanke der beiden Kompanien des 3. Sowjetischen Schützenbataillons, das den Kosaken in Michailowskaja den Rest hätte geben sollen.

Zu Fuß brach Alexej Iwanowitsch Bondar mit den Überlebenden seiner Sotnja aus den Trümmern des Dorfes hervor, wo sie sich zum letzten Widerstand festgesetzt hatten.

Das Kampfgetümmel verebbte. Flammen und schwarzer Qualm umhüllten die niedergekämpften Panzer. Im Innern der Kolosse detonierte die aufgespeicherte Munition. Hunderte toter und verwundeter Rotarmisten bedeckten weithin das Schneefeld. Wer von ihnen die Hände hob, um sich zu ergeben, wurde von einem Säbelhieb oder einer Kugel niedergestreckt. Die Kosaken erwarteten keinen Pardon. Sie gaben auch keinen. Der Feind, gegen den sie geritten waren, verkörperte für sie das tausendmal verfluchte Regime, das ihnen alle Rechte und die Freiheit genommen hatte.

Schaudernd beobachtete Rittmeister Hosfeld, dass sie nicht einmal die Verwundeten schonten. Als er gegen das Gemetzel einschreiten wollte, hielt Sirotä ihn zurück.

»Keine Dummheiten, Alfred Pawlowitsch! Kosaken sind keine sanften Krieger.«

Hosfeld wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Erst jetzt verspürte er wieder die Kälte. Er war ebenso wie Sirotä abgesessen.

Leutnant Bondar kam heran und umarmte seine Retter nach Kosakenart.

»Ihr seid gerade noch rechtzeitig gekommen.«

Ohne ein weiteres Wort schwang er sich auf ein herrenloses Pferd. Mit einem Teil der Reiter setzte er selbstständig die Attacke fort. Sie überritten eine sowjetische Reservekompanie und stürzten sich auf die Feuerstellung der feindlichen Batterie, die Michailowskaja zusammengeschossen hatte. Die vier Geschütze fielen den siegestrunkenen Reitern unversehrt in die Hände.

Das Dunkel der Nacht verwandelte sich ins Grau der Dämmerung. Die Stille des Todes lag über dem Schlachtfeld. Stumm trabten die Kosaken zu den befohlenen Sammelplätzen.

Hosfeld und Sirotä ritten nach Dimitrowskaja. Dort sollte eine neue Frontlinie aufgebaut werden. Den beiden Offizieren folgte ein Trupp Kosaken. Zusammengekauert schliefen die Männer im Sattel. Die Pferde, deren Nüstern mit Reif bedeckt waren, folgten einander in müde trottendem Schritt.

Hosfeld und Sirotä schwiegen lange. Eine Zigarette wurde an der anderen angesteckt. Die Reiterabteilung hatte einen Sieg errungen. Sie hatte im Abschnitt der »Kampfgruppe Pannwitz« den Durchbruchsplan der Roten Armee durchkreuzt. Doch für wie lange? Die Übermacht der anderen Seite war erdrückend.

Rittmeister Hosfeld beugte sich im Sattel vor und tätschelte den Hals seines Pferdes. Als er sich wieder aufrichtete, sagte er:

»Ich bin sicher, das ist die Wendung. Heute Nacht haben wie den Beweis dafür geliefert, dass die Ostfront mit eurer Hilfe gehalten werden kann, Anatolij Feodorowitsch. Wenn unser Oberst das vor seinem Abflug zum Führerhauptquartier erlebt hätte …«

»Sie sind ein Träumer, Alfred Pawlowitsch«, warf Essaul Sirotä mit harter Stimme ein. Mit seiner schwarzen Fellmütze und dem schwarzbraunen, an den Schultern versteiften Filzumhang sah er wie ein finsterer Dämon der Rache aus, keiner sanften Regung fähig und nur darauf bedacht, den Feind zu treffen und zu schlagen.

Er schüttelte den Kopf. Sein scharf geschnittenes Gesicht, das tief gebräunt war von der Sonne, vom Wind und vom Frost, zeigte einen verschlossenen Ausdruck. Sein Schnurrbart war weiß vom Reif. Der Blick seiner eng zusammengekniffenen hellen Augen war ins Weite gerichtet.

»Wir haben eine Kosaken-Sotnja herausgehauen«, sagte er, während seine Linke spielerisch die Nagaika schwang. »Auch mit diesem Sieg, wie Sie es nennen, werden wir euren ›Führer‹ nicht von unserer Unentbehrlichkeit überzeugen können. Was ist denn aus der groß angekündigten Befreiungsarmee des Generals Wlassow geworden? Alles Propaganda, Alfred Pawlowitsch! Man will die russischen ›Untermenschen‹ beschwichtigen, damit sie nicht zu den Partisanen laufen. Das ist alles. Ich weiß, Sie glauben an den Erfolg der Mission von Polkownik Pannwitz. Seine Gedanken sind gut. Aber der Teufel hat die Hand im Spiel. Das ist es.«

Hosfeld antwortete nicht. Erst nach einer Weile sagte er:

»Es ist so merkwürdig still. Ich rufe vom Gefechtsstand aus beim Korpsstab an. Muss doch hören, was links und rechts von uns los ist. Möglicherweise fahre ich auch nach Taganrog. Es wäre ein schwerwiegender Fehler, unsere Kosaken infanteristisch einzusetzen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Abteilung ›verheizt‹ wird wie so viele kleine isolierte Osteinheiten, die nirgends Rückhalt haben.«

»Das ist richtig«, stimmte Sirotä zu. »Aber fürs Erste, scheint mir, haben die drüben genug. Wenn sie wirklich in unserem Abschnitt angreifen sollten, werden wir die Stellung schon halten.«

Er drehte sich im Sattel um.

»Antraben, ihr Schlafmützen!«

Aufgeschreckt griffen die Kosaken nach den lose hängenden Zügeln.

In schnellem Trab näherte sich der kleine Trupp den Gebäuden des Kolchos »Rote Fahne«, die sich unweit des Dorfes Dimitrowskaja im trostlosen Einheitsstil sowjetischer Baukunst aus der schneebedeckten Steppe erhoben.

Graue Schneewolken kamen von Osten heran, wo brandiges Morgenrot über dem Horizont verglomm.

Am Eingang von Dimitrowskaja wartete die Fahrzeugkolonne der Stabsschwadron mit laufenden Motoren. Schlaftrunken hockten die Soldaten auf ihren Sitzen, die Karabiner zwischen den Knien und weiß gestrichene Stahlhelme über den tief in die Stirn gezogenen Kopfschützern.

Rittmeister Hosfeld schwang sich aus dem Sattel, übergab einem Kosaken die Zügel seines Pferdes und ging steifbeinig zu dem Kübelwagen an der Spitze der Kolonne. Ataman Kulakow winkte ihm zu, und Oberleutnant Steinhoff hob die Rechte an den Rand der Feldmütze.

»Jetzt kann uns nur noch Tee mit Rum retten«, sagte er, als der Rittmeister einstieg.

»Das war eine Nacht!«, murmelte Hosfeld.

»Die Nacht der blutigen Säbel«, versetzte Kulakow mit grimmigem Lachen. »So etwas hat es seit dem Jahre achtzehn nicht mehr gegeben.«

Die Fahrzeuge rollten mit klirrenden Schneeketten durch das halb zerschossene Dorf, dessen frühere Bewohner längst mit Sack und Pack nach Westen gezogen waren.

Essaul Sirotä saß in dem Haus, das er sich als Quartier ausgesucht hatte, neben dem überheizten Ofen. Er hatte die Filzstiefel ausgezogen und die graue Feldbluse mit den breiten Schulterstücken des Kosakenoffiziers abgelegt. Sein Wehrmachtshemd stand über der dunkel behaarten Brust offen. An einem Wandhaken neben der Tür hingen der Filzumhang, die Nagaika und das Koppel mit dem schweren, breiten Reitersäbel und der Pistolentasche. Auf dem Tisch in der Mitte der Stube lagen die Fellmütze und die Maschinenpistole. Daneben stand der Fernsprechapparat. Soeben hatten die Strippenzieher die Verbindung zum Gefechtsstand hergestellt.

Ein Kosak trat ohne anzuklopfen ein. Sein Gesicht unter der zottigen Papacha war gerötet. Es war Wachtmeister Rudenko, der Führer des Trupps, den Sirotä von Zeit zu Zeit auf eigene Faust zum Requirieren von Pferden und Rekrutieren noch nicht erfasster Kosaken ausschickte. Essaul Sirotä unternahm manches auf eigene Faust. Selbst Oberst von Pannwitz vermochte nur wenig gegen die Eigenwilligkeit des verwegenen Reiterführers auszurichten.

»Was bringst du, Petja?«, fragte Sirotä, sich in seinem Lehnstuhl rekelnd, den von einem Streifzug zurückgekehrten Wachtmeister.

»Die beste Nachricht, die Ihr Euch denken könnt, Essaul«, antwortete Rudenko mit breitem Grinsen. »Wir haben sie gefunden.«

»Wen habt ihr gefunden?«

Ahnungsvoll fuhr Sirotä hoch.

»Doch nicht – doch nicht …«

Rudenko nickte eifrig.

»Erraten, Essaul, wir haben Swetlana Kirillowna, Eure Frau gefunden. Sie ist mit einem Flüchtlingstreck von Krapotkin am Kuban übers Eis gekommen. Seit gestern rastet der Treck in der Staniza Rasnokol, acht oder neun Werst von hier. Wir hätten sie mitgebracht. Aber sie kann nicht reiten. Sie ist krank.«

Sirotä war aufgestanden.

»Krank sagst du? Mach dein Maul auf, Petja! Heraus mit der Sprache! Was ist mit Swetlana Kirillowna?«

»Ihr Schlitten ist im Eis eingebrochen. Man hat sie aus dem Wasser gezogen. Eine Erkältung, Essaul, etwas Fieber. Die Tatarin, bei der sie im Quartier liegt, hat sie im Bett festgehalten. Sie wollte zu Euch. Ich habe sie vertröstet.«