Die dunkle Eminenz

 

 

 

Band 53

 

Die dunkle Eminenz

 

von Ernst Vlcek und Uwe Voehl

nach einem Handlungsexposé von Ernst Vlcek

 

 

© Zaubermond Verlag 2014

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor.

Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit Asmodi, dem Oberhaupt der Schwarzen Familie, der ihm die Unsterblichkeit sicherte.

Um seine Sünden zu büßen, verfasste de Conde den »Hexenhammer« – jenes Buch, das im 16. Jahrhundert zur Grundlage für die Hexenverfolgung wurde. Doch der Inquisition fielen meist Unschuldige zum Opfer; die Dämonen, auf die de Conde es abgesehen hatte, blieben ungeschoren. Vielmehr wurde bald er selbst als Ketzer angeklagt und hingerichtet. Der Pakt galt, und de Condes Seele wanderte in den nächsten Körper. In vielen Inkarnationen verfolgte er seitdem rachsüchtig die Mitglieder der Schwarzen Familie, bis es ihm in der Gegenwart als Dorian Hunter endlich gelang, Asmodi zu vernichten und auch dessen Nachfolgern wenig Glück beschieden war.

Hunter, der sich selbst als Dämonenkiller bezeichnet, besitzt als Hauptstützpunkt seiner Aktivitäten die Jugendstilvilla in der Londoner Baring Road. Dort lebt er zusammen mit der Hexe Coco Zamis, die aus Liebe zu ihm die Seiten wechselte, und weiteren Mitstreitern des Dämonenkiller-Teams, wie dem Hermaphroditen Phillip sowie Trevor Sullivan, dem alternden Leiter der Mystery Press. Auch Martin Zamis, Dorians und Cocos Sohn, gehörte zu den Bewohnern der Jugendstilvilla. Aber Martin hat die Seiten gewechselt – und ist nach einem Sturz durch die Zeit als Isbrant zum neuen Fürsten der Finsternis geworden. Seine Regentschaft jedoch währte nicht lange. Zu groß waren die Widerstände in den Reihen der Schwarzen Familie.

Nach Isbrants Tod entbrennt innerhalb der Schwarzen Familie ein mörderischer Machtkampf um das Amt des Fürsten der Finsternis. Fast jeder Clan strebt danach, die Führung der Schwarzen Familie zu übernehmen. Dabei bleiben viele Dämonen auf der Strecke, was dem Dämonenkiller und seinem Team sehr entgegenkommt. Es mehren sich jedoch die Gerüchte und Anzeichen, dass ein mächtiger Dämon wiederauferstehen soll, der ein würdiger Fürst der Finsternis sein könnte.

Eine Gruppe von unbedeutenden Dämonen, die innerhalb der Schwarzen Familie nichts zu bestellen haben, will den mächtigen Dämon Aszaghon wiedererwecken, ihn zum Fürsten der Finsternis küren, um so an dessen Macht zu partizipieren. Dieser mächtige Dämon Aszaghon, der kommen soll, um die Welt zu beherrschen, wird die Dunkle Eminenz genannt.

Auf der ganzen Welt werden Reliquienknochen von Heiligen entwendet. Olivaro, der Januskopf, kennt keine Details, keine Zusammenhänge, weiß aber definitiv, dass die Jünger Aszaghons dahinter stecken. Olivaro beschwört den Dämonenkiller, dass er dies verhindern muss. Welches Süppchen kocht der Januskopf diesmal? Will er etwa aus Eigennutzen dieses Komplott zerschlagen, weil er selbst Ambitionen zum Herrschen hat? Aber wie auch immer, der Dämonenkiller muss aktiv werden und verhindern, dass Aszaghon ans Ruder kommt.

Es stellt sich heraus, dass Dorian Hunter in seinem neunten Leben als Ferdinand Dunkel schon einmal erlebt hat, dass Aszaghon zum Leben erweckt werden sollte. Aber der Dämonenkiller hat das offenbar als Ferdinand Dunkel verhindert. Ferdinand Dunkel gehörte dem magischen Zirkel der Dämonen an und lernte sogar mächtige Aszaghon-Jünger kennen, die heute noch die Fäden ziehen. Ferdinand Dunkel verstrickte sich immer mehr in Schuld, bis er selbst fast völlig dem Bösen verfallen war. Im letzten Moment besann er sich jedoch seiner Tugenden und versuchte, Aszaghons Erweckung zu verhindern, indem er plante, wichtige Reliquien zu beseitigen. Ob Ferdinand Dunkel das gelungen ist und was er tatsächlich erreicht hat, bleibt vorerst ein Rätsel.

Die Spur führt den Dämonenkiller und sein Team unter anderem nach Quebec. Dort lebt eine Dämonensippe unter ihrem Patriarchen Herge Lacroix ziemlich abgeschieden auf einem Landsitz. Wenn sie mit anderen Dämonen paktieren, dann im Geheimen. Die einzige nachweisbare Verbindung besteht zu einer Sippe in Frankreich namens de Ville. Eine Bernadette de Ville hat einen Sohn mit Namen Mink Lacroix zum Mann genommen und wohnt bei dessen Familie auf dem kanadischen Gut.

Der Dämonenkiller findet heraus, dass Herge Lacroix eine geheimnisvolle Knochen-Menagerie verbirgt. Herge besitzt Knochen von vielen Großen der Weltgeschichte, eine Elle von Alexander dem Großen, Mittelfußknochen von Rasputin, verschiedene Knochen von Massenmördern, die Weltberühmtheit erlangt haben ...

Und da sind auch die inzwischen fünfzehn Heiligenreliquien, die eine ganz besondere Ausstrahlung haben. Es werden bald mehr werden ... und in nicht ferner Zukunft wird diese Sammlung komplett sein oder zumindest ausreichend groß genug, um das Werk – Aszaghons Wiedererweckung – zu vollenden. Als der Dämonenkiller die Sippe zum Kampf stellt, müssen er und sein Team herbe Verluste einstecken.

Damals wie heute hat der Dämon Xandander mitgemischt und will offenbar von Dorian eine wichtige Information bekommen, die mit Aszaghons neuerlicher Wiedererweckung zu tun hat. Jedenfalls sind die Dämonen des Aszaghon so sehr an Dorians Erinnerung über sein neuntes Leben interessiert, dass sie ihn entführen und in einer Klinik in Wien mit allen magischen Tricks versuchen, an sein Wissen heranzukommen. Dorian Hunter ist diesen Dämonen hilflos ausgeliefert. Coco Zamis findet jedoch seine Spur und kann ihn im letzten Moment den Klauen der Aszaghon-Jünger entreißen.

Als Dorian wieder zu sich kommt, sind Coco und Olivaro bei ihm. Der Dämonenkiller kann sich an alles erinnern, was er wie in Trance erlebt hat, auch an die bekannten Episoden aus seinem Leben als Ferdinand Dunkel. Aber den weiteren Verlauf seines neunten Lebens kann er sich nicht ins Gedächtnis rufen. Er hat eine regelrechte Blockade und weiß nicht, wie er sie überwinden könnte. Dabei spürt er, dass das Wissen wichtig wäre, um Aszaghons Wiedergeburt zu verhindern. Und da ist noch etwas, das Dorian recht mitnimmt: Er hat, wie als eine Art Vorschau, Impressionen seines Todes als Ferdinand Dunkel zu sehen bekommen. Es war schrecklich. Eine Serie nicht enden wollender Qualen ...

Inzwischen führt eine neue Spur nach Paris ...

Erwachen des Gegners zu verhindern ...

 

 

 

 

Erstes Buch: Die fremde Haut

 

 

Die fremde Haut

 

 

1. Kapitel

 

Die Toten stellen keine Fragen.

In ihren Augen sind alle Menschen gleich – egal ob du einen feinen Zwirn trägst oder Lumpen. Ob du Bankier bist oder Clochard.

Sie sind schweigsam und höflich. Eigentlich reden sie nie. Nur manchmal vernehme ich ihr Wispern. Nicht direkt – ihre flüsternden Stimmen vermählen sich mit dem Rascheln der Blätter, dem Heulen des Windes. Du musst schon genau lauschen, um sie zu verstehen.

Im Moment schweigen sie, und das ist gut so.

Zakaria war erstaunt über sich selbst. Seit wann war denn ein Philosoph an ihm verloren gegangen? Wahrscheinlich war es der alte Friedhof selbst, der diese eigentümlichen Gedankengänge in ihm erweckte. Der Cimetière St. Vincent war ein eher kleiner Totenacker – und dennoch geradezu eine Oase inmitten des geschäftigen Montmartre-Viertels. Seine efeubewachsenen Mauern schirmten ihn von der Außenwelt ab. Einst hatten alteingesessene Familien, die keine der Grabstätten auf dem Hauptfriedhof an der Avenue Rachel besaßen, diesen Ort als letzte Ruhestätte für ihre Toten gewählt. Der Maler Utrillo lag hier begraben. Ab und zu verirrte sich seinetwegen ein Tourist hierher. Oder eine Touristin. Die jungen Kunststudentinnen waren Zakaria am liebsten.

Er lächelte in sich hinein und entkorkte die Weinflasche. Er nahm einen tiefen Schluck des süffigen Roten und schloss genießerisch die Augen, als er spürte, dass der Alkohol fast augenblicklich seine Wirkung entfaltete.

Vor allen Dingen verscheuchte er die Gedanken an die Toten.

Er spürte, wie sich sein Körper entkrampfte. Das Holz der Bank, auf der er es sich zur Nachtruhe bequem gemacht hatte, war noch nicht erkaltet. Es trug noch die Wärme der letzten Sonnenstrahlen des Nachmittags in sich, obwohl längst die Dunkelheit ihre Flügel über den kleinen Friedhof ausgebreitet hatte. Zakarias Rücken schmiegte sich gegen die Lehne, und er stellte sich vor, es wäre die Hand einer Frau, die ihn streichelte.

Vielleicht würde er heute Nacht besser träumen als die letzten Nächte. Es war ein guter Platz.

Falls die Toten schwiegen.

Und sie schwiegen nicht immer.

Da hörte er ein Geräusch.

Augenblicklich war seine gute Stimmung verflogen. Er war auf der Hut. Lauschte. Zum Glück lag die Bank ein wenig abseits des Weges, gut verborgen unter einer Eiche, die ihre schützenden Äste darüber ausgebreitet hatte.

Der Mond stand voll am Himmel. Eine weiße Scheibe, deren gleißendes Licht fast blendete.

Im nächsten Moment sah er den Mann. Er lief über den grauen Kies und schaute sich immer wieder um.

Ein feiner Herr!, dachte Zakaria und pfiff unhörbar durch die Zähne. Vielleicht hat er sich verlaufen, und ich kann mir ein paar Kröten verdienen, wenn ich ihn wieder in sein Hotel bringe.

Denn dass der Mann kein Einheimischer war, sah man auf den ersten Blick. Sein blondes, streng gescheiteltes Haar und die blauen Augen, überhaupt sein ganzer, leicht gedrungener Körperbau ließen eher auf einen Deutschen schließen. Er trug einen piekfeinen Anzug, als hätte er es darauf angelegt, sämtliche Taschendiebe auf dem Montmartre auf sich aufmerksam zu machen.

Nein, der hat sich nicht nur verlaufen, stellte Zakaria fest. Der Mann war auf der Flucht. Vielleicht hatte ihn ja jemand ausrauben wollen, und er war davongestürmt.

In jedem Fall versprach sich Zakaria etwas davon, wenn er dem Fremden half. Er hievte sich hoch, kam jedoch ins Torkeln. Der Wein machte sich jetzt bemerkbar. Und es war nicht die erste Flasche gewesen am heutigen Tag …

»Hallo, hierher!«, wollte Zakaria rufen, aber nur ein Krächzen kam aus seinem fast zahnlosen Mund.

Und das war sein Glück, wie er im nächsten Moment erkannte.

Tatsächlich schaute der Mann für ein paar Sekunden irritiert in Zakarias Richtung – nur um im nächsten Augenblick erneut hinter sich zu blicken. Was er dort sah, ließ ihn aufschreien: »Nein, nein …«

Der Flüchtende rief diese Worte tatsächlich auf Deutsch. Zakaria hatte sich nicht geirrt.

Aus dem Schatten schälte sich eine groteske Kreatur, wie sie der Clochard noch niemals erblickt hatte. Sie überragte den Deutschen um eine ganze Kopflänge. Der gesamte menschenähnliche Körper wirkte wie gehäutet. Die Muskeln und Sehnen waren bloßgelegt wie bei einem anatomischen Modell. Zakaria hatte so etwas schon einmal gesehen, in einer Ausstellung, die konservierte menschliche Leichen in verschiedenen Posen gezeigt hatte. Genauso wie eine dieser Leichen sah dieses Monster aus!

Auf jeden Fall war es echt. Keine Maskerade. Kein Make-up!

Der gesamte offene Körper war von einem blutigen Film bedeckt.

Der Flüchtende verschwand hinter einem Ginsterbusch. Sofort setzte das Monstrum ihm nach.

Diese Kreatur, die es eigentlich gar nicht geben durfte, hatte bislang nicht einen Laut von sich gegeben. Sie erinnerte Zakaria an einen blutrünstigen Hai, der genau wusste, dass sein flüchtendes Opfer nicht den Hauch einer Chance hatte.

Aus dem Gebüsch drangen die grässlichsten Laute, die Zakaria in seinem bisherigen Leben vernommen hatte. Ein Fauchen und Reißen, ein Schnaufen und Heulen. Dazu das Geräusch, das brechende Zweige verursachten. Oder Knochen.

Zakaria wusste nicht, wie es sich anhörte, wenn Knochen zersplittert und zermalmt wurden – aber so musste es sich anhören. Untermalt waren diese fürchterlichen Geräusche von den Schreien eines Menschen, die von einer derartigen Pein und Furcht zeugten, dass sie eher an das Quieken eines Schweins erinnerten.

Zakaria drückte sich noch tiefer in den Schatten der Bank. Er zitterte am ganzen Leibe. In seiner Verzweiflung hielt er sich die Ohren zu, um die unmenschlichen Geräusche auszuschließen. Doch es war sinnlos. Selbst als er sich zusammenkauerte und den Kopf wie ein kleines Kind zwischen die Knie gepresst hielt, war es nicht vorüber. Nach wie vor waren die Laute vorhanden und frästen sich in seine Gehörgänge.

Schließlich – nach einer für Zakaria schier endlosen Ewigkeit – setzte Stille ein.

Totenstille.

Zögernd wagte sich der Clochard hervor. Er konnte es zunächst nicht glauben, dass der Albtraum vorbei sein sollte. Vielleicht war es ja eine Falle, und dieses Scheusal wartete nur darauf, sich auf sein nächstes Opfer zu stürzen.

Dennoch war da etwas in ihm, das größer war als seine Angst. Das ihn zwang, einen Schritt vor den anderen zu setzen, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, dass er nicht fantasiert hatte.

Dass er nicht übergeschnappt war.

Langsam und so lautlos er es vermochte, näherte er sich dem Ginsterbusch. Nichts! Nichts war zu erkennen. Zakaria betrat das Unterholz.

Und dann geschah es.

Er stolperte plötzlich und fiel der Länge nach hin. Er kreischte auf, als er unter seinen tastenden Händen eine weiche, wabbelige Masse zu fassen bekam.

In diesem Moment gaben die Wolken den vollen Mond frei, und sein Licht enthüllte Zakaria den formlosen Klumpen aus blutigem Fleisch und Knochen, auf dem er lag. Die Überreste eines Menschen.

Jenes fein gekleideten Herrn, der vor dem Unheimlichen geflüchtet war!

Zakaria hielt es nicht mehr auf dem Boden. Er rappelte sich auf, der Panik nah. Sein einziger Gedanke war, so schnell wie möglich fortzukommen.

Er konnte dieses Wissen nicht für sich allein behalten. Er würde daran ersticken.

Während er lief, wusste er auch schon, was sein Ziel war. Die Polizei! Sie würden ihm glauben müssen, wenn sie erst mit eigenen Augen sahen, was sich hier Grauenvolles abgespielt hatte.

Er hatte schon fast das schmiedeeiserne Eingangstor des Friedhofs erreicht. Ein Flügel stand sperrangelweit offen.

Da sah er die Gestalt davor.

Zakaria stoppte mitten im Lauf. Die Umrisse kamen ihm vertraut vor. Im nächsten Augenblick kroch der Mond zwischen den Wolken hervor und tauchte die Gestalt in ein fahles Licht.

Ein Mann in feinem Zwirn, mit blonden Haaren und einem markanten Gesicht. Gerade entnahm er der Brusttasche ein silbernes Etui und zückte eine Zigarette. Nachdem er sie in Brand gesteckt hatte, ging er, ein fröhliches Lied pfeifend, seines Weges.

Zakaria verstand die Welt nicht mehr.

Es war der feine Herr, der vor dem Monster geflüchtet war.

 

Dorian Hunter lächelte, als er erwachte.

Er hatte soeben einen wunderschönen Traum gehabt. Er war eine Art Teufel gewesen, jedenfalls jemand mit großer Macht. Und großer Begierde. Man hatte eine ganze Schar gefallener Engel zu ihm gebracht. Es waren wunderschöne Frauen – und sie alle sahen aus wie Coco.

Die Auswahl war ihm schwergefallen, zumal sie angefangen hatten, sich zu streiten, wer ihn als Erste beglücken durfte. Also hatte er die Würfel zu Hilfe genommen …

Es war einer jener Träume, die er lieber für sich behalten wollte. Und doch waren sie im Grunde ein Ausdruck seiner Liebe. Die sich zwar im Traum, aber nicht in der Wirklichkeit auf das Körperliche beschränkte.

Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er auf diese Liebe keinen Pfifferling mehr gesetzt. Doch diese gehörten der Vergangenheit an. Ihre Beziehung zueinander war gefestigter denn je. Es war ein gutes Gefühl, geliebt zu werden.

Das einzig gute Gefühl zurzeit, wie er zugleich eingestehen musste. Alles andere in seinem Leben bereitete ihm Kopfzerbrechen. Eigentlich wollte er daran nicht denken. Nicht nach diesem herrlichen Traum.

Dennoch konnte er vergessen, noch einmal einzuschlafen. Er sah auf den Radiowecker neben seinem Bett. Es war bereits zehn Uhr. Kein Wunder, dass das Bett neben dem seinen verwaist war. Coco saß bestimmt längst unten beim Frühstücksbüfett und ließ es sich schmecken.

Der Gedanke an krossen Speck, gebratene Würstchen, schaumig geschlagenes Rührei und andere göttliche Speisen ließ ihm einerseits das Wasser im Munde zusammenlaufen, andererseits krampfte sich sein Magen zusammen, sodass er fast einen Brechreiz verspürte.

So ging das nicht. Er hatte während seines erzwungenen Krankenhausaufenthaltes zu lange auf feste Kost verzichtet. Er würde sich langsam herantasten müssen. Dies betraf auch seinen Whisky- und Zigarettenkonsum.

Die Aussicht auf ein erstes Glas Bourbon nach einer schier endlosen Zeit der Dürre war fast noch verlockender als das Frühstück. Und rauchen! Er musste irgendwo Zigaretten herbekommen!

Das waren schon drei elementare Ziele, die ihm das Aufstehen erleichterten.

Dorian erhob sich aus seinem Bett. Auf einem Stuhl hingen eine Jeans und ein Polohemd, dazu frische Unterwäsche und Strümpfe. Coco hatte es für ihn herausgelegt.

Aber zunächst musste er ins Bad. Als er sich im Spiegel betrachtete, fragte er sich, ob er vielleicht doch träumte und gar nicht unter den Wachen weilte.

Er sah aus wie ein Zombie. Mit grauer Haut, blutunterlaufenen, tief umschatteten Augen, deren Blick noch stechender wirkte denn je, eingefallenen Wangen und aufgesprungenen Lippen. Das Haar stand in Büscheln von seinem Kopf. Der gewaltige Schnauzer hing traurig hinab.

Vielleicht war auch Coco nur ein Traum.

Im Ernst, welche Frau konnte solch ein Monster, das sich ihm im Spiegel präsentierte, wirklich lieben?

Außerdem stank er. Nach Desinfektionsmitteln und Schweiß.

Nein, so konnte er sich unmöglich unter die Leute wagen. Er musste erst mal unter die Dusche. Andererseits wurde die Gier in ihm immer mächtiger.

Vielleicht reichte ja auch eine Katzenwäsche, und ein paarmal mit den Händen durch die Haare zu fahren.

Er entschied sich für Letzteres. Was scherten ihn die Leute!

Eventuell gab es ja sogar einen Zigarettenautomaten auf der Etage.

Dorian zog sich den hoteleigenen Bademantel über, steckte ein paar Münzen und Scheine ein und betrat den Hotelkorridor. Eine trübe Deckenbeleuchtung empfing ihn. Der Teppich kratzte unter seinen Fußsohlen. Vielleicht hätte er sich wenigstens Schuhe anziehen sollen. Rechts und links erstreckten sich scheinbar endlos die Türen zu weiteren Zimmern. Nirgendwo eine Spur von einem Zigarettenautomaten.

Was machte er überhaupt hier draußen? Warum rief er nicht einfach den Zimmerservice an? Eine grandiose Idee! Nur leider zu spät. Als er sich umdrehte, um seine Tür wieder zu öffnen, war diese ins Schloss gefallen. Er hatte keinen Schlüssel dabei.

Seine gute Laune, die er nach dem Traum gehabt hatte, war verflogen. Jetzt musste er auch noch jemanden suchen, der ihm die verdammte Tür wieder aufschloss. So, wie er aussah, konnte er sich nicht im Frühstücksraum sehen lassen. Die Gäste würden schreiend davonlaufen.

Also setzte er verdrossen seine Suche fort. Als er um die Ecke bog, entdeckte er vor einem Zimmer einen Reinigungswagen. Fehlte nur noch die passende Servicekraft dazu, die ihm sein Zimmer wieder aufschließen und seine sonstigen Wünsche erfüllen würde …

Er ging darauf zu, als sich rechts plötzlich eine Zimmertür öffnete. Eine ältere Dame mit aufgetakelter Frisur sah ihn entsetzt an, musterte ihn ausgiebig von Kopf bis Fuß, wobei ihr Gesichtsausdruck zwischen Ekel und Entsetzen schwankte, um dann schleunigst wieder umzukehren.

Dorian hörte sie – offensichtlich ihren Gatten – ankeifen: »In dieser Absteige bleibe ich keine Minute länger! Wenn du wüsstest, was sich dort draußen für Gesindel herumtreibt …«

Der Dämonenkiller hatte jetzt nur noch den Reinigungswagen im Auge. Er wollte vermeiden, dass sein Auftritt hier irgendwelchen Ärger heraufbeschwor und seine Gegner auf ihn aufmerksam machte.

Coco hatte ihn nicht aus den Klauen des Dämons Xandander befreit, nur damit er sich gleich wieder Ärger einhandelte. Xandanders Asche war zwar in alle Winde verstreut, aber hinter ihm steckten noch weitere Dämonen. Sie alle strebten die Wiedererweckung und Inthronisierung Aszaghons als Herrn der Finsternis an.

Den Schlüssel dazu besaß Dorian selbst. Es hatte mit seinem Leben als Ferdinand Dunkel in der Vergangenheit zu tun. Dieses Geheimnis, das noch nicht einmal Dorian kannte, hatten die Dämonen ihm entreißen wollen.

Wenn er sich nur selbst erinnern könnte …

Aber vielleicht war dies ja sogar der beste Schutz für alle Beteiligten. Was er selbst nicht wusste, konnte ihm auch keiner entlocken. Noch nicht mal unter der Folter.

Er hatte den Wagen erreicht und schaute in das Zimmer hinein, deren Tür offen stand.

Was er sah, ließ ihn abermals daran zweifeln, in der Wirklichkeit angekommen zu sein.

Auf dem französischen Bett rekelte sich eine attraktive Blondine. Sie trug nur ein Negligé, unter dem ihre üppigen Brüste verlockend bei jeder Bewegung wippten.

Dorian hatte mit vielem gerechnet, aber nicht, dass seine Gegner es derart plump angehen würden.

»Ich habe dich bereits erwartet«, flüsterte die Blondine mit rauchiger Stimme. »Komm doch näher, damit wir uns einander vorstellen können.« Ihre Nippel zeichneten sich hart gegen den transparenten Stoff ab. Sie spreizte leicht ihre Beine, sodass der Dämonenkiller erkennen konnte, dass dieser Hauch von Nichts tatsächlich ihr einziges Kleidungsstück war.

»Wenn du was zu rauchen hast, lässt sich darüber reden«, sagte Dorian. Zur Flucht war es eh zu spät. Und er war unbewaffnet. Noch nicht einmal einen Dämonenbanner hatte er eingesteckt.

Rauchen kann tödlich sein, dachte er. Zumindest seinen Sarkasmus hatte er bewahrt.

Jetzt hatte er den Beweis, wie gefährlich seine Gier wirklich sein konnte.

Die Frau deutete auf das Nachttischchen. Wie aus dem Nichts gezaubert, lagen dort plötzlich zwei Schachteln Players.

»Das ist doch die Sorte, die du bevorzugst, oder?«

Dorian nickte. »Du scheinst mich gut zu kennen, Babe.«

Sie verzog die Lippen zu einem Schmollmund. »Nenn mich doch einfach – Coco.«

Was hatte das wieder zu bedeuten? »Tut mir leid, aber dazu bist du zu blond.«

Sie rekelte sich wieder aufreizend auf dem Bett, spreizte die Beine noch mehr. »Na und? Gefalle ich dir denn nicht, Dori-boy?«

Dorian musste schlucken. Obwohl es geradezu nach einer Falle stank, konnte er nicht verhindern, dass seine Erregung wuchs. Wahrscheinlich hatte diese falsche Larve längst einen Liebeszauber gewirkt.

Er begann zu schwitzen.

»Du hast ja Schweißperlen auf der Stirn, Darling. Du hast dir zu viel zugemutet. Zieh doch endlich den Bademantel aus und leg dich zu mir.«

Es fiel ihm schwer, der Einladung nicht Folge zu leisten. Doch noch war er der Herr seiner Sinne. Und seiner wahren Begierden.

Er näherte sich ihrem Bett. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus – das jedoch erstarb, als er vor dem Nachttischchen haltmachte, sich hinabbeugte und sich die zwei Schachteln griff.

Die eine steckte er gleich in die Tasche seines Bademantels.

Die andere riss er auf, um sich mit zittrigen Fingern eine Players herauszuziehen und zwischen die Lippen zu stecken.

»Hast du auch Feuer?«, fragte er.

»Also schön, die willst es auf die harte Tour!«, zischte die Blondine. »Du hast es mit deinem Starrsinn vermasselt. Ich hätte dir eine wirklich schöne Zeit bereiten können – aber es geht auch anders!«

Ihr Gesicht zerfloss innerhalb weniger Sekunden zu einer Furienmaske. Der Kopf wuchs um das Doppelte. Die Haut färbte sich schwarz, und aus den Augen spritzte giftiger Geifer. Schließlich saß ein monströser Schädel auf dem noch immer vollendeten Frauenkörper.

Dorian wollte automatisch zurückweichen. Doch er war wie paralysiert. Die Zigarette entfiel seinen Lippen.

Langsam, mit immer noch aufreizenden Bewegungen, erhob sich die Furie aus dem Bett und näherte sich dem Dämonenkiller.

»Ich hätte nie gedacht, dass es so einfach werden würde«, sprach das Wesen. Die Stimme hatte sich verändert. Sie erinnerte an das Knistern und Rascheln welken Laubes, das zusammengefegt wurde.

Dorian spannte alle Muskeln an, um gegen die Lähmung anzugehen. Aber es war keine Frage der Körper- oder Willenskraft.

»Streng dich nicht unnütz an«, sagte das Zwitterwesen. »Du wirst deine Kräfte noch brauchen. Wir wollen doch nicht, dass du schlappmachst, bevor du uns nicht erzählt hast, was wir von dir wissen wollen. Und vielleicht …«

Die Furie hatte ihn erreicht. Ein bestialischer Gestank ging von ihr aus. Eine gespaltene Zunge zuckte hervor und leckte über sein Gesicht. »… vielleicht werden wir danach unser Tête-à-Tête fortsetzen. Du gefällst mir, Dori-boy. Du hast etwas unzweifelhaft Dämonisches an dir.«

Mit der linken Hand griff sie in seinen Schritt, der zu Dorians Erstaunen immer noch ausgebeult war. »Wie ich sehe, bist du meinem Charme ebenfalls erlegen. Ich überlege, ob wir uns nicht doch vorher etwas näherkommen sollten!«

Sie rieb sein Glied, sodass es noch stärker anschwoll. Dabei drückte sie ihren Leib stärker an den seinen.

Dorian rief sich Coco in Erinnerung. Dieses Monster hatte ihn nur verhext. Es war allein Coco, die er liebte. Doch es war seltsam. Sosehr er sich auch bemühte – es fiel ihm schwer, sich Cocos Züge zu vergegenwärtigen.

Der Einfluss der Furie, deren schreckliches Antlitz zum Greifen nah war, war zu stark. Ihre Finger bogen sich zu rasiermesserscharfen Krallen, mit denen sie seinen Bademantel aufschlitzte.

»Du brauchst doch diesen Fummel nicht mehr, Darling!«, flötete sie. Im nächsten Augenblick wankte sie mit einem Aufschrei zurück. Wie geblendet hielt sie sich den Unterarm vor die Augen.

Gleichzeitig spürte Dorian, dass er sich wieder bewegen konnte. Der Bann war gebrochen!

Er schaute an sich hinab und bemerkte die Kette, die an seinem Hals baumelte. Daran hing ein kleiner silberner Drudenfuß. Er konnte sich nicht erinnern, die Kette umgelegt zu haben. Wahrscheinlich hatte Coco sie ihm zum Schutz umgehängt, bevor sie das Zimmer verlassen hatte.

Blitzschnell wog der Dämonenkiller seine Möglichkeiten ab. Flucht kam nicht infrage. Womöglich agierte die Furie nicht allein, sondern hatte noch Helfershelfer im Hotel. Ganz zu schweigen davon, dass sie unschuldige Menschen gefährden konnte. Er schnappte sich einen Stuhl, der vor dem Sekretär stand, und holte aus.

Bevor die Furie, die noch immer die Augen abgewandt hatte, reagieren konnte, schlug Dorian ihr den Stuhl über den Schädel. Die Stuhlbeine barsten. Die Furie gab einen Schrei der Wut von sich. So einfach würde es nicht sein, mit ihr fertig zu werden.

Verzweifelt sah er sich nach einem anderen Gegenstand um, den er als Waffe einsetzen konnte. Zudem erholte sich das Ungeheuer schneller, als Dorian lieb sein konnte. Langsam, den Kopf halb abgewandt, kam es wieder auf ihn zu. Dorian riss sich die Kette mit dem Drudenfuß vom Hals, schnappte sich ein Stuhlbein, dessen eines Ende spitz abgesplittert worden war, und wickelte die Kette darum. Damit gelang es ihm, die Furie zumindest auf Distanz zu halten.

Das unheimliche Wesen fauchte und versuchte immer wieder, nach ihm zu greifen, zuckte aber stets vor dem Amulett zurück. Dabei gelang es dem Monstrum, Dorian immer weiter in das Zimmer hineinzutreiben.

Der Dämonenkiller erkannte seinen Fehler, als es zu spät war. In seinen Kniekehlen spürte er plötzlich das Bett. Er fiel nach hinten auf die Matratze.

Im gleichen Augenblick stürzte sich die Furie mit einem Sprung auf ihn. Ihr Fauchen klang wie der Triumphschrei einer Raubkatze in Dorians Ohren. Instinktiv streckte er das Stuhlbein, das er noch immer fest umklammert hielt, der Angreiferin entgegen.

Sie konnte ihren Sprung nicht mehr abbremsen. Mit voller Wucht bohrte sich der spitze Stab in ihre Brust und kam im Rücken wieder hervor. Eine schwarze, stinkende Flüssigkeit spritzte aus der Wunde und benetzte den Dämonenkiller.

Langsam sackte der durchbohrte Körper auf ihn zu. Mit letzter Kraft stieß Dorian ihn von sich. Der Leib sackte in sich zusammen. Innerhalb weniger Sekunden war nur noch Asche von dem Monster übrig.

Dorian rappelte sich auf und atmete einmal tief durch. Anscheinend war ihm im Krankenhaus seine angeborene Vorsicht abhandengekommen. Ohne Coco und das Amulett …

Der Gedanke an Coco versetzte ihm einen Stich. Vielleicht schwebte auch sie inzwischen in Gefahr. Sie mussten so schnell wie möglich von hier verschwinden. Bevor er jedoch entscheiden konnte, das Zimmer zu verlassen, bückte er sich nach der Zigarette, die auf den Boden gefallen war und suchte mit raschen Blicken nach Feuer. Auf der Konsole lag ein Päckchen Streichhölzer mit dem hoteleigenen Schriftzug.

Er entzündete ein Hölzchen, hielt es an die Zigarette und inhalierte tief und befriedigt.

Diese Zigarette hatte er sich verdient!

Er wollte das Streichholzheftchen gerade einstecken, als ihm etwas daran auffiel. Die Buchstaben begannen zu flimmern, der Schriftzug des Hotel Westend veränderte sich vor seinen Augen. Plötzlich stand dort in flammenden Buchstaben: Wir haben dich!

Mit einem Fluch ließ Dorian die plötzlich glühend heiße Schachtel fallen.

Das war der Beweis, dass die Furie nicht allein agierte, sondern Helfershelfer hatte. Die ihn auch jetzt, in diesem Augenblick, im Visier hatten.

Die Streichholzschachtel ging in Flammen auf und versengte den Teppich. Das entfachte Feuer war allerdings nicht groß genug, dass die automatischen Sprinkleranlagen in Betrieb gesetzt wurden.

Aber Dorian erlebte noch eine zweite Überraschung: Als er das silberne Drudenfuß-Amulett wieder an sich nehmen wollte, war dieses ebenfalls glühend heiß. Der Dämonenkiller riss ein Stück vom Betttuch ab und wickelte es sich um die Hand. Als er erneut den Drudenfuß ergreifen wollte, glühte dieser auf und zerschmolz vor seinen Augen.

Sie hatten ihm seine einzige Waffe genommen.

Er hatte das Gefühl, dass sie mit ihm spielten. Nun, da sie wussten, dass er ihnen nicht mehr entkommen konnte.

Er beeilte sich, aus dem Zimmer zu kommen, bevor sich dort noch weitere rätselhafte Dinge ereignen konnten. Auf dem Korridor stolperte er fast über eine weitere Frau.

Es war eine junge Türkin. Sie war anscheinend ebenso erschrocken wie Dorian und gab einen leisen Aufschrei von sich. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Dorian begriff, dass ihm von dieser Frau keine Gefahr drohte. Es schien sich um die Reinigungskraft zu handeln.

»Gut, dass Sie endlich da sind«, gab Dorian der Frau zu verstehen. »Das Bett in meinem Zimmer sieht aus wie ein Müllhaufen. Den sollten Sie unbedingt entsorgen.«

Er schob sich an der Frau vorbei, bevor diese reagieren konnte. Er war sicher, dass ihr in dem Zimmer keine Gefahr drohte. Die Dämonen hatten es nur auf ihn abgesehen.

Während er durch den Gang hastete, musste er wieder an Coco denken. Er musste sie warnen … Er hielt nach einem Aufzug Ausschau, der ihn nach unten befördern würde. Am Ende führte der Gang scharf nach links. Dorian folgte ihm. Tür reihte sich an Tür.

Wiederum schritt er bis ans Ende, ohne dass er auf einen Aufzug gestoßen wäre. Mittlerweile hätte er sich auch mit einer Treppe begnügt.

Seine Sorge um Coco wuchs. Er hatte das Gefühl, dass es auf jede Sekunde ankam.

Als der Gang abermals einen Knick nach links nahm, ohne dass Dorian auf einen Weg nach unten gestoßen wäre, kam ihm die Sache spanisch vor.

Er befand sich noch immer auf derselben Etage. Eigentlich hätte er längst sein Zimmer erreichen müssen. Vielleicht war er auch daran vorbeigelaufen.

Er schaute auf die Nummern der Tür.

Die rechts von ihm trug die Nummer dreizehn.

Die links von ihm auch.

Alarmiert betrachte er die Nummern der weiteren Türen vor ihm.

Sie alle wiesen die Dreizehn auf.

Langsam drehte er sich um und schaute den Gang entlang. Ganz am Ende glaubte er eine flüchtige Bewegung zu erkennen. Sie verschwand im gleichen Moment, als er sie erblickte.

Er lief zurück, bis er das Ende erreicht hatte. Keine Spur von dem Schatten! Dafür vergewisserte er sich, dass sämtliche Türen mit der Nummer dreizehn versehen waren.

Er war niemand, der sich von einem einfachen Spuk ins Bockshorn jagen ließ. Es versetzte ihn eher in Wut, als er sich vorstellte, dass ihn jemand mit derartig billigen Mätzchen in Bockshorn jagen wollte.

Kurzerhand öffnete er die erstbeste Zimmertür.

Er war überrascht, auf die ältere Dame von zuvor zu stoßen, die sich über seinen Anblick empört hatte. Sie diskutierte noch immer mit ihrem Mann. Dieser war einen Kopf kleiner als seine Gattin, und sein gelichteter grauer Haarschopf und die herabgezogenen Mundwinkel zeugten von jahrelangem Ehemartyrium. Allenfalls sein Golfoutfit inklusive der karierten Hose zeugte davon, dass er abseits dessen vielleicht doch seinen Spaß hatte.

»Da ist dieser unverschämte Kerl schon wieder!«, empörte sich die Frau. »Was erlauben Sie sich, einfach unser Zimmer zu betreten? Ich werde die Polizei rufen. Erwin, halte diesen Menschen inzwischen fest!«

»Aber Edith …!«

Dorian Hunter bemühte sich gar nicht erst um Aufklärung. Seine Blicke suchten das Telefon. Es stand auf dem Nachttischchen. Er griff zum Hörer und wählte die Nummer des Empfangs.

»Sie wünschen?«

»Verbinden Sie mich unverzüglich mit dem Speisesaal. Ich möchte Frau Zamis sprechen!«

Kaum hatte er seinen Wunsch geäußert, fiel ihm siedend heiß ein, dass sich Coco garantiert nicht unter ihrem richtigen Namen angemeldet hatte. Aber wenn sie ihren Namen ausriefen, würde Coco alarmiert sein.

Das Ehepaar im Zimmer protestierte lautstark. Dorian ignorierte sie. Gespannt lauschte er in den Hörer hinein. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, bis sich endlich wieder jemand meldete.

»Hallo, was willst du denn von mir, Dori-boy?«

Entsetzt erkannte er die Stimme wieder. Es war die der Furie. Aber er hatte sie doch getötet!

»Ich wusste doch, dass du Sehnsucht nach mir hast. Weiß du was? Du bleibst jetzt einfach, wo du bist, und ich werde zu dir kommen. Was hältst du davon? Und dann machen wir es uns richtig gemütlich …«

Dorian warf wortlos den Hörer zurück auf die Gabel. Er musste hier raus!

»Schließen Sie hinter mir die Tür ab!«, warnte er das Ehepaar. »Und öffnen Sie niemandem!«

Mit diesem Rat stürmte er wieder hinaus. Er konnte nur hoffen, dass sich die beiden daran hielten. Er schaute nach rechts und links. Der Korridor lag zu beiden Seiten verwaist da. Er zuckte mit den Schultern. Im Grunde war es egal, welche Richtung er wählte. Er hatte die Vermutung, dass ihn jede zu seinen Gegnern führen würde.

Verzweifelt sah er sich nach einer tauglichen Waffe um. Alles, was er fand, war ein Gemälde, das in einen schweren Holzrahmen gespannt war. Das Bild zeigte ein Frauenporträt.

Er riss es von der Wand herunter. Im gleichen Moment erwachte es zum Leben. Die Frau auf dem Bild begann sich zu verwandeln. Die Haut wurde runzelig und grau, die Haare wurden zu schlangenartigen Gebilden, und als sie den Mund öffnete, waren nadelspitze Zähne zu erkennen. Am schlimmsten aber war der Gestank.

»Ich sagte doch, dass wir uns wiedersehen würden«, begrüßte ihn die Furie.

Dorian hielt noch immer das Bild in Händen. Wie bei der ersten Begegnung war sein Körper wie erstarrt.

»Du bist tot!«, sagte er. »Nur Staub ist von dir zurückgeblieben!«

Die Furie lachte. »Du sprichst von meiner Schwester. Aber wenn du eine von uns tötest, hast du die anderen auf dem Hals. Und glaub mir, mein Liebling: Diesmal wird deine Strafe doppelt so schmerzhaft ausfallen …«

Ihre Krallenhände griffen aus dem Bild heraus nach seinem Hals. Dorian war machtlos. Er schnappte nach Luft, während die Furie erbarmungslos zudrückte.

»Du … darfst … mich … nicht … töten!«, presste er hervor. Sein Geheimnis, das noch nicht einmal er selbst kannte, war sein Joker.

Da flog ein Gegenstand an ihm vorbei und traf die Furie mitten ins Gesicht. Für einen Augenblick löste sich seine Erstarrung. Er war frei!

Er nutzte die Gunst des Augenblicks und schmetterte das Bild samt Rahmen auf den Boden. Das Stück Leinwand wellte sich und bäumte sich auf. Dorian nahm es in beide Hände und zerriss es in vier Stücke. Als wollten sie flüchten, rollten sie in verschiedenen Richtungen hinfort.

Dorian ließ sie ziehen.

Er schaute sich um und erkannte erst jetzt, wem er seine Rettung zu verdanken hatte. Der guten Edith. Sie schien noch immer geschockt von dem, was sie angerichtet hatte. Jedenfalls hielt sie den Mund. Die Vase, mit der sie die Furie getroffen hatte, lag in tausend Scherben auf dem Teppich verstreut.

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe«, sagte Dorian. »Aber jetzt sollten Sie wirklich wieder auf Ihr Zimmer gehen!«

Die Frau nickte, bewegte sich aber nicht. Dorian erkannte, dass sie unter Schock stand. Der Anblick der Furie war mehr, als sie hatte verkraften können. Er ging nicht fehl in der Annahme, dass der Vasenwurf eigentlich ihm gegolten hatte. Wahrscheinlich hatte sie ihn auch noch für einen Bilderdieb gehalten.

Er führte die Dame, die ihm plötzlich sehr sympathisch geworden war, zurück in ihr Zimmer. Zuvor jedoch schnappte er sich einige Überreste des Bilderrahmens, sodass er zumindest zwei brauchbare Schlagknüppel besaß.

»Haben sie irgendeine Waffe?«, fragte er Erwin, der stocksteif dastand.

»Ich weiß nicht, wer Sie sind«, sagte Erwin heiser. »Aber ich vermute, dass Sie in Schwierigkeiten stecken, oder?«

»Da können Sie verdammt drauf wetten. Also, was ist nun?«, fragte Dorian drohend.

Der Mann wich vor ihm zurück. »Wir haben nichts, wirklich … das heißt …«

Er drehte sich um und war mit zwei Schritten am Kleiderschrank. Daraus holte er einen alten Säbel hervor. »Den kann ich Ihnen anbieten. Haben wir gestern bei einem Antiquitätenhändler erstanden. Stammt angeblich noch von der Türkenbelagerung.«

»Besser als nichts«, brummte Dorian, entriss dem verdutzten Mann die Waffe und stürmte wieder hinaus.

Er untersuchte den Säbel. Es war ein wirklich sehr schönes Exemplar. Der Knauf war reich verziert und bestand aus echtem Silber. Die Klinge selbst war aus Damaszenerstahl und schillerte bei jeder Bewegung in sämtlichen Regenbogenfarben. Die Waffe musste ein Vermögen gekostet haben.

Dorian warf die Bruchstücke des Bilderrahmens fort. Der Türkensäbel war eine weit wirkungsvollere Waffe. Er schwang ihn versuchsweise hin und her und stellte fest, dass er ausgezeichnet ausbalanciert war.

Mit neuem Mut inspizierte er zum dritten Mal den Gang. Er war es leid, der Gejagte zu sein. Die nächste Furie würde er sich schnappen und so lange zur Rede stellen, bis sie ihm den Ausgang aus dieser magischen Falle verriet!

Abermals ging er bis ans Gangende und folgte ihm nach links. Nichts tat sich. Und niemand war zu sehen. Trotzdem hatte er die ganze Zeit das Gefühl, dass er beobachtet wurde.

Einmal glaubte er hinter sich ein Geräusch zu hören und wirbelte herum. Aber da war – nichts. Ein andermal vernahm er aus einem der Zimmer eine weibliche Stimme, die schmeichelnd seinen Namen rief. Als er die Tür öffnen wollte, erwies sich diese als verschlossen. Dafür war plötzlich ein höhnisches Lachen zu hören.

Sie spielten noch immer mit ihm.

Oder glaubten es zumindest.

Mit grimmigem Gesichtsausdruck und steigender Wut schritt er voran.

Da erblickte er vor sich eine halb geöffnete Zimmertür. Er stutzte. Vorsichtig schlich er heran.

Konnte es sein, dass es sich um sein eigenes Zimmer handelte? Hier sah zwar alles gleich aus und auch die Zimmernummern trugen nach wie vor alle die Dreizehn – aber mit jedem Schritt wurde er sich sicherer, dass es wirklich sein Zimmer war.

Als er es verlassen hatte, hatte er die Tür hinter sich geschlossen.

Kein Laut drang aus dem Raum.

Schließlich hatte er ihn erreicht und warf die Tür vollends auf, den Türkensäbel hiebbereit.

Was er sah, ließ ihn erstaunt innehalten.

Auf der Bettkante saß Coco und sah ihm erstaunt entgegen.

»Was ist denn in dich gefahren? Was hast du mit dem Säbel vor?«, fragte sie besorgt.

Dorian senkte die Waffe. Seine Blicke schweiften umher, aber er konnte keine Gefahr ausmachen.

In knappen Worten erzählte er, was vorgefallen war.

»Du solltest erst einmal die Tür hinter dir schließen«, schlug Coco vor. »Wer weiß, was dort draußen noch alles lauert.«

Dorian tat ihr den Gefallen. Aber noch immer traute er dem Frieden nicht ganz.

»Und leg endlich diesen lächerlichen Säbel beiseite, bevor du dir noch etwas damit antust. Wir sollten überlegen, was wir jetzt tun.«

Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Du erstaunst mich immer wieder. Wie konntest du in diesem Aufzug nur hinausgehen?«

»Wenn das alles ist, was dir Sorgen macht«, erwiderte er gereizt. »Wo hast du überhaupt gesteckt?«

»Ich habe mich ein wenig umgesehen.«

»Und was war das Ergebnis deiner – Inspektion?«, kam es mürrischer aus ihm heraus als gewollt. Seine Gereiztheit gefiel ihm selbst nicht. Er angelte nach einer der Zigarettenpackungen, die sich noch immer in der Tasche seines Bademantels befanden, und steckte sich einen Glimmstängel in den Mund.

Verflucht! Wieder kein Feuer! Er sah sich mit wilden Blicken um, aber nirgendwo entdeckte er eine Streichholzschachtel.

»Ich habe nichts Außergewöhnliches entdecken können«, antwortete Coco unterdessen. »Ich glaube nicht, dass wir in unmittelbarer Gefahr sind.«

Er sah sie entgeistert an. »Glaubst du, ich habe mir das alles nur eingebildet?«

Sie schwieg einen Moment, bevor sie sagte: »Niemand weiß, was sie mit dir während der Zeit deiner Gefangenschaft angestellt haben. Vielleicht haben sie dein Gehirn manipuliert, um an die Wahrheit zu gelangen …«

»Willst du damit sagen, dass ich wahnsinnig sein könnte?« Seine Augen funkelten wütend.

»Jetzt beruhige dich doch. Ich will gar nichts sagen. Natürlich bist du nicht verrückt. Ich habe einen Vorschlag: Du gehst jetzt erst einmal unter die Dusche, und dann gehen wir gemeinsam frühstücken – so wie du es vorhattest.«

Wenn er ehrlich war – einen besseren Vorschlag hatte er auch nicht. Schließlich konnte er in diesem Aufzug das Hotel nicht verlassen. Nur dass er das Frühstück ausfallen lassen und sich auf dem schnellsten Wege woanders einquartieren würde, das wusste er.

Brummend schnappte er sich den Kleiderstapel, den Coco bereits zuvor bereitgelegt hatte, und verschwand ins Badezimmer. Allerdings nicht, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, dass die Zimmertür verriegelt war.

Was war nur in Coco gefahren? Sie schien die Lage weit weniger ernst zu nehmen als er. Andererseits hatte sie vielleicht recht. Wenn sie beide in Panik verfielen, würde dies auch nichts ändern. Allerdings würden sie sich etwas einfallen lassen müssen, um ihre Gegner zu überlisten.

Er streifte den Bademantel ab und stellte sich unter die Dusche. Wer konnte wissen, was sie außerhalb des Hotels erwartete – und wann er das nächste Mal Gelegenheit hatte zu duschen. Die heißen Wasserstrahlen brachten ihn zum Schwitzen. Er wollte gerade die Temperatur herunterdrehen, als er im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Er fuhr herum – und atmete auf.

Es war nur Coco. Dorian war verblüfft, dass sie sich ebenfalls entkleidet hatte. Ihr makelloser Körper mit den vollen Brüsten war für ihn nach wie vor verlockend. Mehr denn je wurde ihm bewusst, wie sehr er sie vermisst hatte.

Trotzdem war ihm nicht ganz wohl. »Du solltest lieber im Zimmer bleiben und Wache schieben«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich glaube nicht, dass sie so schnell aufgeben …«

Coco trat näher, das Lächeln auf ihren vollen Lippen drückte milden Spott aus. »Noch immer überzeugt davon, dass diese Furien uns hetzen, mein Dämonenjäger?«

Es gefiel ihm nicht, dass sie die Situation nicht ernst nahm. Es war ganz und gar nicht ihre Art …

Dann war sie heran, trat in die Duschkabine und schmiegte sich an ihn.

Sofort spürte er die Erregung, als er ihre samtige Haut spürte und die festen Brüste.

»Ich habe das vermisst«, flüsterte sie, während sie sich geschickt herumdrehte, sodass sie mit dem Rücken zu ihm stand. Dorians Hände wanderten wie von selbst über ihren Leib, bekamen ihre Brüste zu fassen und liebkosten sie zärtlich.

»Seit wann bist du so zimperlich?«, fragte Coco mit rauchiger Stimme. »Fester! Nimm mich richtig hart ran!«

Einen Moment lang war er irritiert. So kannte er seine Gefährtin gar nicht. Aber vielleicht war auch sie durch den langen unfreiwilligen Verzicht entsprechend aufgeheizt.