Das Buch

 

Eddy Christians ist der blaublütigste Spion, den das Empire je hervorgebracht hat. In einer Zeit des viktorianischen Umbruchs und technischen Fortschritts muss er sich nicht nur mit dem russischen Geheimdienst, verschwundenen englischen Agenten und dem bekanntesten Serienkiller aller Zeiten auseinandersetzen, sondern begegnet auch hilfreichen Raketeningenieuren, noch hilfreicheren verrückten Wissenschaftlern, weniger hilfreichen Kriegstreibern und dem hilfreichsten Berater von Queen Victoria.

 

 

 

Die Autorin

 

Gerüchten zufolge wurde A.P. Glonn 1974 geboren, beschloss mit sieben Jahren, nach Afrika auszuwandern und Wildhüter zu werden – oder Pilot. Wahlweise beides. Sollten diese Ziele nicht erreicht werden, durfte es auch Autor sein. Da man niemanden verrückte Loopings über Afrika fliegen sieht, kann man getrost davon ausgehen, dass lediglich Letzteres geklappt hat. Man munkelt, A.P. Glonn lebe in Bayern, beherrsche aber Hochdeutsch. Keine dieser Theorien konnte bislang verifiziert werden.

A.P. Glonn

 

 

ADEL VERPFLICHTET –
DER AGENT DER KRONE

 

 

Roman

 

 

 

 

Originalveröffentlichung

 

© 2015 Verlag in Farbe und Bunt

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Cover-Gestaltung: Stefanie Zurek, Stefanie Kurt

E-Book-Satz: Winfried Brand

verantwortlicher Redakteur: Stefanie Zurek

Lektorat: Nika S. Daveron

Korrektorat: Nadine Sönnichsen

 

Herstellung und Verlag:

in Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100

45145 Essen

 

www.ifub-verlag.de

 

ISBN Taschenbuch: 978-3-941864-51-1

ISBN E-Book: 978-3-941864-52-8

ISBN Audiobuch: 978-3-941864-53-5

 

Eins
 
Mondsteinsonate

 

 

Juni 1885

»Nennen Sie mich einfach Eddy.«

Albert Victor Christian Edward, Duke of Clarence and Avondale

 

 

I

 

Seit einer halben Stunde stehen wir in Heidelberg. Es dauert nicht so lange, die Dampfmaschine des Luftschiffes zu warten, das ist eine Sache von Minuten. Ich habe die Mechaniker durch das Fenster der Kaiser Otto I. beobachtet; flink und zahlreich wie Ameisen sind sie auf ihren jaulenden, stinkenden Steambikes herangerast, um ihre Aufgaben zu erledigen.

Nein, der Grund für diese Verzögerung ist ein anderer. Ich lehne mich in den Gang, um Augenkontakt zu Helen aufzunehmen, die heute im Stil einer sittsamen Gouvernante unterwegs ist. Ihr Kragen ist so hochgeschlossen, dass sie auf Außenstehende den Eindruck hinterlässt, sie habe einen Spazierstock verschluckt, doch ich kenne sie besser. Sie ist milde besorgt.

»Verzeihung, der Herr?«

Kein Deutscher. Der Akzent ist so dick, dass man ihn mit einem Brotmesser schneiden könnte. Die Maschinen erwachen stotternd und ratternd zum Leben, fauchen wie sich angeifernde Kater bei ihren Revierkämpfen. Blasiert drehe ich mich herum und rückte meine Brille zurecht, deren blaugetönte Gläser dem neuesten Schrei der Pariser Salons entsprechen.

»Tut mir leid, der Platz neben Ihnen …«

Ich zupfe meinen eleganten, grauen Zweiteiler zurecht, stehe auf und trete einen Schritt zur Seite. »Natürlich, bitte setzen Sie sich doch.«

Der Mann holt tief Luft. »Ich bitte um Entschuldigung.« Er grübelt, offensichtlich bereitet ihm die Sprache Schwierigkeiten.

Ich beschließe, ihm großzügig entgegenzukommen. »Wir könnten Englisch sprechen«, näsele ich und neige meinen Kopf. »Ich vermute, damit würden wir uns beide wohler fühlen.«

»Oh.« Schweiß perlt über seine Schläfe, und seine flinken, braunen Augen huschen hin und her, verweilen keine Sekunde länger auf einem Punkt, wandern über Mitreisende, den langen Gang, die Reling im Mittelteil des Schiffes, zur Decke und wieder zurück zu mir.

»Sie sind Engländer, vermute ich?« Er verbeugt sich. »Jones mein Name, Doktor Jones.«

»Amerikaner?«

Das Lächeln schafft es nicht bis in seine Augen. »Aus Princeton, New Jersey«, bestätigt er.

Amüsant, dass er aus einem Ort namens Princeton stammt, wo immer dieses New Jersey in den Kolonien auch liegen mag. Ich gebe zu, Geographie ist nicht meine Stärke. Allgemein bin ich dem stupiden Auswendiglernen nicht zugetan, weswegen mich mein Vater für einen absoluten Dummkopf hält. Ich tue nichts, um ihm diese Meinung zu nehmen. Leider – oder besser glücklicherweise – hat sich meine Großmutter nicht auf dieselbe Weise täuschen lassen.

Ich ergreife Jones’ ausgestreckte Hand. Die Regeln des Anstandes verlangen in einer solchen Situation, sich vorzustellen. Gestatten, Prinz Albert Victor Christian Edward, Enkel von Königin Victoria und Sohn von Kronprinz Albert Edward. Würde bestimmt hervorragend ankommen. Besonders bei Helen, die mich dafür irgendwann unter vier Augen windelweich prügeln würde, zukünftiger Thronerbe hin oder her.

Ich lächle träge. »Wir werden ja eine Zeitlang gemeinsam reisen. Nennen Sie mich einfach Eddy.«

II

 

Die Kaiser Otto I. schwingt sich gerade behäbig in die Luft, als sich mein Phony meldet. Ich knirsche mit den Zähnen. Verdammt, was will Helen denn jetzt schon? Sie ist schlimmer als Alf, der mich ausgebildet hat, und der neigt schon dazu, mich ständig anzufunken. Die Signalstöße hämmern gegen meine Haut, und ich konzentriere mich.

Zweimal kurz, dreimal kurz, einmal lang. Pause. Einmal kurz. Einmal lang. Einmal kurz. Pause. Einmal kurz. Dreimal kurz. Ist er es?

Natürlich ist er es, und sie weiß das ganz genau. Ich wette, sie hat sein Bild weitaus gründlicher studiert als ich.

Gereizt trommle ich mit den Fingerspitzen auf meinem Oberschenkel herum. Einmal kurz, dreimal lang. Einmal kurz, einmal lang. Ja.

»Sind Sie nervös?«, fragt Jones und mustert mich aus den Augenwinkeln. Ausgerechnet er! Ich bin es jedenfalls nicht, dem die Finger zittern.

»Ich … ähm … leide unter Flugangst.« Lächerlich! Schon als kleiner Junge habe ich mich für Flugschiffe begeistert, und nichts fasziniert mich mehr als Geschichten über die zaristischen Rapidis, die so schnell fliegen, dass das menschliche Auge nicht mehr zu folgen vermag. Schon vor dreißig Jahren haben sie ihre militärische Überlegenheit demonstriert, als sie uns im Krimkrieg eine vernichtende Schlappe beibrachten. Grandma hat erzählt, alle erwarteten, dass die Russen nach unserer Kapitulation einfach die ganze Welt mit ihren Schnellflugschiffen eroberten. Warum sie es nicht taten, haben wir erst jetzt erfahren. Die Energiequelle, die ihre Fluggeräte speist, kann nicht unbegrenzt hergestellt werden. Ein Agent meiner Großmutter nannte auch einen Namen: Mondstein.

Zuerst haben wir gelacht. Natürlich, jeder kennt diese billigen Feldspate, die nach der Bearbeitung einen bläulichen Schimmer abgeben. Diese Steine haben keinerlei Wert und schon gar keine geheimen Kräfte, um fliegende Maschinen unvorstellbar schnell zu machen. Doch unser Mann in St. Petersburg hat noch mehr herausgefunden. Allem Anschein nach handelt es sich bei diesen Mondsteinen um genau das, was ihr Name impliziert: um Mineralien, die nicht von der Erde stammen.

Grandma erteilte dem Agenten daraufhin den Zerostatus. Ihm war es freigestellt zu tun, was immer nötig war, um in den Besitz eines dieser Steine zu kommen.

Und ich? Ich weiß nur, dass ich vor drei Tagen den Auftrag bekommen habe, mich unverzüglich in meine ehemalige Studienstadt Heidelberg zu begeben und dafür zu sorgen, dass der Bote des Agenten sicher nach London gelangt. Wie ich das anstellen soll, weiß ich nicht.

Ich wende mich ihm zu. »Sie sind also Arzt?«, frage ich.

Er sieht sich unsicher um. »Nein, ich … ich bin Historiker. Ich habe einen Lehrstuhl an der Universität Krakau. Leider hat mich ein Unglücksfall in der Familie dazu gezwungen, kurzfristig nach Hause zurückzukehren.« Seine Hand betastet die Außenseite seines Jacketts und fast verdrehe ich die Augen. Kann er sich noch auffälliger benehmen?

Das wird ein ruhiger Job. Wozu Grandma mir ihre beste Agentin mitsamt einem Backupteam aus drei Leuten mitgegeben hat, entgeht mir völlig.

III

 

Das Krachen der Explosion reißt mich nicht nur aus einem leichten Schlummer, sondern auch aus dem Sitz, und ich werde quer durch das Schiffsinnere geschleudert. Rauch, Geschrei, Gewimmer, das Knirschen von stählernen Balken, das Ächzen der Kaiser Otto I. und das Gefühl, meine Kehle sei quer durch meinen Kopf gerutscht, verbinden sich zu einem Kaleidoskop der Angst. Ich schreie. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich schreie, bis ich gegen eine Wand rutsche und mir den Kopf anschlage. Für einen Moment bin ich zurückversetzt in meinen Traum, der sich um leichte Mädchen und schwere Börsen drehte, und ich atme auf.

Ich erwache mitten im Chaos. Das Schiff hat eine Schieflage, die es mir unmöglich macht, mich zu erheben. Ich rutsche aus und lande in einer dunklen Flüssigkeit. Fast zehn Sekunden vergehen, bevor ich begreife, dass es sich um Blut handelt – noch warm, geradezu lebendig, was man von der Person, die verdreht neben mir liegt, nicht mehr behaupten kann. Als ich auf meine beschmierte Hand starre und mich das Rütteln des abstürzenden Schiffes hin- und herwirft, steigt unkontrollierte Heiterkeit in mir auf. Wir werden sterben. Wir werden alle sterben. Ich brülle hysterisch vor Lachen. Zumindest solange, bis mich etwas hart im Gesicht trifft. Mehrfach.

»Reiß dich zusammen, Eddy!« Helens Stimme dringt endlich zu meinem benebelten Geist durch, und obwohl sie soeben den Sohn ihres Kronprinzen geschlagen hat, ist ihr Gesicht das Schönste, was ich jemals gesehen habe. Ich nehme es in beide Hände und küsse ihre vollen Lippen.

Sie beißt mich und verpasst mir noch eine. »Jetzt ist nicht die Zeit für Hysterie«, sagt sie so ruhig, als säßen wir bei Grandma im Teesalon. »Statusbericht: Alfred und James versuchen, das Schiff zu stabilisieren, Peter ist angeschlagen, aber bei Bewusstsein. Der Captain ist schwer verletzt, aber in der Lage, Anweisungen zu geben.«

Als wollte die Kaiser Otto I. ihre Worte bestätigen, legt sie sich abrupt waagerecht. Ich stolpere kurz, doch Helen hält mich fest.

»Für unseren Schützling sieht es nicht gut aus. Ich habe gesehen, wie ein Teil der Oberdeckverkleidung auf ihn gestürzt ist – wir müssen ihn dort herausholen und brauchen dich dazu, Eddy.« Sie tätschelt meinen Arm.

Ich überprüfe, ob alles an mir heil und unverletzt ist. Meine Hände öffnen und schließen sich ohne Probleme, also scheint mein dröhnender Kopf keine meiner Fähigkeiten zu beeinträchtigen.

Vater würde lachen, wenn jemand im Zusammenhang mit mir von Fähigkeiten spräche. Tatsächlich weiß er nicht einmal, was in mir steckt. Wortwörtlich. Als ungestümer Junge von zwölf Jahren bin ich von Vaters Rappen gestürzt. Das dumme Tier war so erregt, dass es mir auf dem Arm herumtrampelte und ihn völlig zerschmetterte. Es war unmöglich, meinem Vater davon zu berichten, ebenso unmöglich, als Krüppel dahinzusiechen; ich gestehe, ich dachte an Selbstmord. Grandma, die immer alles wusste und erfuhr, ließ mich in ihren Teil von Buckingham Palace verlagern und versprach mir Hilfe.

Ich lernte das erste Geheimnis Grandmas kennen: Professor Andrew. Er entspricht dem Bild eines verrückten Wissenschaftlers, wie ihn Mary Shelley entworfen haben könnte. Seine Ideen von künstlichen Gliedmaßen und besonderen Materialen werden von seinen Kollegen belächelt und verhöhnt. Nicht so von der Queen. Sie hatte den Professor gekauft, mitsamt seinem Labor und den Forschungen der letzten dreißig Jahre. Ich bin der Erste gewesen, der davon profitierte.

Mein Arm besteht aus einem Metall, das härter ist als jeder Stahl und biegsamer als eine Weidenrute. Der Professor nennt es Andrewit, und als ich zuletzt mit ihm geredet habe, stellte er mir seine neueste Vision vor: ganze Menschen aus diesem Metall, die sich selbstständig bewegen und denken können. Eine entsetzliche Vorstellung!

Ich folge Helen taumelnd durch den Gang, bis wir den Platz erreichen, an dem Jones und ich gesessen haben. Im ersten Moment bin ich mir sicher, dass sich unter diesem Schutt nichts Lebendiges mehr befinden kann, doch ich reiße das Gestänge hastig fort. Helen und ich wechseln einen Blick. Doktor Jones ist bei den Explosionen von seinem Sitz gerutscht, was ihm das Leben gerettet hat. Ob er am Leben bleibt, können wir im Moment nicht beurteilen – ein Stück Stahl hat sich wie ein Speer in seine Seite gebohrt. Jones’ Augen sind verdreht wie bei einem durchgehenden Pferd. Helen zwängt sich zu ihm durch, ohne ihn zu berühren.

»Können Sie mich verstehen?«, fragt sie so sanft, als spräche sie zu einem Kind.

Ein Grunzen folgt als Antwort, doch sein Blick fokussiert sich auf ihr Gesicht.

»Wie Ihnen der junge Eddy sicherlich mitgeteilt hat …« Er stöhnt auf und umklammert den Stab, der aus seinem Leib ragt. »… bin ich der englischen Sprache durchaus mächtig.«

Der junge Eddy? Na, der hat Nerven. Er ist höchstens fünfundzwanzig, der ehrenwerte Historiker!

Helen lächelt besänftigend. »Gut, Sir. Sehen Sie mich an: Wie viele Finger sehen Sie?« Sie hält ihre Hand hoch.

Jones grinst verzerrt. »Lady, wer hat Ihnen erzählt, dass medizinische Kenntnisse von der Fähigkeit abhängen, diverse Finger zu erkennen? Ich weiß, dass ich mich im Schockzustand befinde; eine Methode des Körpers, sicherzustellen, dass man lange genug funktioniert, um erste medizinische Maßnahmen zu ergreifen.«

Der Mann belehrt uns in dieser Situation? Kann er seine Dozententätigkeit nicht einmal einstellen, wenn er sich in einer Krisensituation befindet? Ich falle auf die Knie, als etwas hart wie übergroße Regentropfen in den Rumpf des Luftschiffs einschlägt. Und die Kaiser Otto I. jault kreischend auf. Heißer Dampf zischt an uns vorbei. Gellende Schreie ertönen, als sich das Schiff mit der Nase nach unten neigt. Mein Team hat es offenkundig nicht geschafft, das Luftschiff zu kontrollieren. Ich werfe mich über Helen und Jones.

Gott nimmt das Luftschiff zwischen seine mächtigen Hände und zerquetscht es. Wie ein Kind schlägt Er es mehrfach auf den Boden, um zu sehen, wie die Scheiben bersten, tödliche Scherben alles zerfetzen, was sich in ihrem Weg befindet, und Stahlträger abknicken und brechen wie Strohhalme. In Seiner Gnade beschließt Er, uns nicht zu töten, doch Er gewährt diese Gnade nicht vielen.

Husten schüttelt mich und ich ringe nach Luft. Meine verquollenen Augen zeigen mir Sodom und Gomorrha. Bläuliche Flammen zucken und flackern über mir, und die Hitze versengt mein Gesicht. Unter mir wimmert jemand, und ich rutsche zurück. Helen sieht benommen aus, doch außer einem langen Riss auf ihrer Wange scheint sie unverletzt. Das dunkle Blut, das an ihrem schwarzen Kleid klebt, stammt von Jones. Sein Atem geht flach, doch er ist bei Bewusstsein.

»Raus«, ächzt er. »Die Maschinen werden jeden Moment hochgehen.«

Helen gibt ihm Recht. »Los, Eddy. Ich sehe nach, ob es Überlebende gibt.«

Ich will protestieren, nicke jedoch. Natürlich wäre sie nicht in der Lage, den Mann zu tragen, und irgendwer muss nach den anderen Passagieren schauen. Es gefällt mir nicht, aber es gibt Zeiten, in denen ich mich durchaus von Vernunft leiten lasse. Mühelos hebe ich Jones wie eine Braut auf meine Arme – Professor Andrews Erfindung sei Dank.

»Lassen Sie mich hier, Eddy.« Jones ist kaum mehr bei Bewusstsein. »Ich schaffe es ohnehin nicht. Und diese ganzen Leute … Sie sind alle meinetwegen gestorben.« Die Schmerzen haben ihn nicht gebrochen, doch rinnen ihm Tränen die Wangen herunter.

»Ach, tatsächlich?« Ich fluche, als weißer Rauch seitlich aus der Wand zischt, und schütze den Historiker mit meinem Körper. »Haben Sie das Schiff zum Absturz gebracht?«

»Ich bin dafür verantwortlich!«, beharrt er schwach. »Sie verstehen nicht …«

Die Tür klemmt. Dreimal muss ich dagegen treten, bis sie sich widerwillig öffnet und mich ins Freie bringt. Schweiß rinnt mir in die brennenden Augen und macht mich reizbar. »Ich verstehe besser, als Sie ahnen, Sir. Sie besitzen, was die Russen nicht hergeben wollen, und deshalb haben ihre Rapidis das Luftschiff abgeschossen.«

Oha! Kann ich nicht einmal mein flinkes Maul halten? Jones’ Augen werden so groß wie die Untertassen von Grandmas Teeservice.

»Wer sind Sie, Eddy?«

»Nur jemand, der auf Sie aufpassen sollte und spektakulär versagt hat«, antworte ich widerwillig.

»Mein Gott!«, murmelt er. »Sie wissen von …«

»Den Mondsteinen? Natürlich.«

Ein helles Pfeifen ist meine einzige Warnung. Ich werfe mich mit Jones in ein dichtes Buschwerk und dämpfe mit meiner Hand seine Schmerzensschreie. Innerlich fluche ich wie ein Droschkenkutscher. Natürlich reicht es den Zaristen nicht, das Luftschiff vom Himmel zu holen. Sie wollen ihren Mondstein zurück! Ein silberner, schlanker Pfeil faucht heran und setzt lautlos zur Landung an. Es ist ein Rapid, schnelle, wendige Jäger, die durch die Luft schnellen wie Kometen. Glühende Feuerbälle zucken aus dem Wrack der Kaiser Otto I., hämmern treffsicher in den Rapid und reißen ein schwarzes Loch in seine Flanke. Die Maschine brüllt auf und stürzt ungebremst zu Boden.

Ich erwarte Flammen, die bis zum Himmel lodern, doch nichts passiert. Gott weilt gerade außerhalb meiner Gebete. Oder auch nicht, denn irgendwer hat schließlich den Rapid abgeschossen.

Erleichtert wende ich mich von dem Anblick der zerstörten Rapid ab und sehe, wie sich eine schwarze Gestalt aus einem der zerstörten Luftschifffenster fallen lässt und zwei weiteren Leuten hilft. Als die drei in meine Richtung humpeln, begreife ich. Mir wird schlecht, doch ich nehme meine Hand von Jones’ Schulter, richte mich auf und winke Helen zu.

IV

 

Wie es aussieht, sind nur Helen und ich mit leichteren Blessuren und ein wenig angesengt aus dem Absturz davongekommen. Der Historiker hat jede Menge Blut verloren. Neben Helen steht Alf; zum ersten Mal in der gesamten Zeit, die ich ihn kenne, wirkt mein raubeiniger Ausbilder, als wüsste er nicht, was er tun sollte. Die Finger seiner rechten Hand umklammern sein linkes Handgelenk, und die bittere Galle in meiner Kehle droht überzuschwappen, als ich sehe, dass er keineswegs an der Hand verletzt ist – er besitzt keine linke Hand mehr. Blut tropft stetig zu Boden, und er beobachtet das dunkle Rinnsal weggetreten, voller Faszination.

Den anderen Mann kenne ich nicht. Er ist nicht mehr jung, um die fünfzig vielleicht, und er hat sich von Helen mehr tragen lassen, als dass er in der Lage war, selbst zu laufen. Sein dunkles Haar ist angesengt und raucht.

»Peter? Jamie?« Die dünne Stimme eines Kindes. Es ist meine.

Helen schüttelt den Kopf und zieht uns eilig mit, bis wir im Schutz der Bäume verschwunden sind. Wie recht sie daran getan hat, zeigt sich nur wenige Sekunden später. Die Erde bebt, als die Kaiser Otto I. mit einer Wucht explodiert, die einen Vulkan in den Schatten stellt, und kurz darauf prasseln die harten Schüsse einer Gatling Gun an die Stelle, an der wir uns soeben noch befunden haben.

Ich schleppe Jones hinter ein paar Felsenbrocken. Der Historiker deutet mit zitternden Fingern auf Alf. »Sie müssen ihn abbinden, sonst verblutet er«, keucht er heiser.

»Zuerst einmal müssen wir das Ding aus Ihrem Körper entfernen«, entgegne ich.

»Nein!« Zum Glück hat er kaum noch eine Stimme, sonst wüssten die Russen sofort, wo wir uns befinden. »Das … Ding.« Er spuckt Blut und setzt von neuem an. »Wenn Sie es herausnehmen, verblute ich. Genau wie der Mann da.« Er sieht zu Helen, von der er – wohl zu Recht – mehr Sachverstand erwartet. »Los doch!«

Helen diskutiert nicht, sie folgt seiner Anweisung. Alf merkt nicht einmal, was um ihn herum passiert, und der andere Mann kauert zu unseren Füßen und beißt auf seine Faust.

Jones gibt leise Anweisungen, und da ich der Meinung bin, keine Hilfe zu sein, schwinge ich mich auf die Felsen und beobachte die Zaristen. Zwei Männer schleichen geduckt auf die Kaiser Otto I. zu. Zwei weitere suchen die Umgebung mit Fernrohren ab, und da sich der Lauf der Gatling bewegt, muss sich mindestens noch einer in dem Silberpfeil befinden.

Ich überprüfe mein Phony. Vielleicht ist Gott doch nicht allzu weit fort, denn das warme Summen verrät mir, dass es noch funktioniert. Meine Finger zittern, als ich einen Ruf absetze. Dreimal kurz. Pause. Einmal lang. Zweimal lang, einmal kurz, einmal lang.

STQ.

Save the Queen. Das Zeichen, dass alles, was schief gehen kann, auch schief gegangen ist. Die Funker von Grandmas Geheimdienst werden mithilfe des Rufes unsere Position bestimmen können. Im Kopf überschlage ich, wie lange es dauern wird, bis Hilfe eintrifft, und knirsche mit den Zähnen. Stunden, vielleicht sogar bis morgen früh, denn bald geht die Sonne unter und nachts funktionieren die Ortungsgeräte schlecht. Ich beobachte den glühenden Feuerball am Horizont, als könnte ich ihn mit meinem Blick bannen.

Als ich wieder zu meinen Gefährten zurückkomme, liegt Alf bleich wie ein Toter neben Jones, der auch nicht lebendiger aussieht. Der fremde Mann reibt mit seinen Fäusten über seine geröteten Augen. Helen spricht leise zu ihm, doch er schüttelt nur den Kopf.

»Ich bin Österreicher!«, schnieft er. »Ich habe keinen Streit mit den Russen oder euch Engländern.«

Helen und ich wechseln einen Blick.

»Alois Schicklgruber«, stellt sie ihn vor. »Ein Zollbeamter auf dem Weg nach Lüttich.« Sie zuckt mit den Schultern, ihre Meinung über den Mann ist klar: Er ist nutzlos.

Ich nehme sie zur Seite. »Ein Notruf ist abgesetzt«, erkläre ich. »Wir haben mindestens fünf Gegner, die alle bewaffnet sind.«

Sie überlegt einen Augenblick. »Wir besitzen zwei Armeerevolver mit insgesamt zwölf Schuss. Die Felsen und Bäume geben uns Deckung, aufpassen müssen wir erst bei Einbruch der Nacht. Die Zaristen könnten uns in der Dunkelheit überraschen.«

»Dann sollten wir sie am besten jetzt ausschalten.« Mein Magen verkrampft sich vor Angst, bevor er hungrig knurrt.

Helen nickt, nimmt Alf den Revolver ab, tätschelt Jones’ blasse Wange und bedenkt den Österreicher mit einem kühlen Blick, bevor sie mir die Waffe reicht. »Versuch einfach, dir nicht selbst ins Bein zu schießen, Eddy«, murmelt sie.

Ehrlich mal, ich bin nicht der beste Schütze, aber ein wenig Zutrauen hätte mir jetzt auch nicht geschadet.

Wir schlagen einen Bogen und nähern uns dem Rapid von der anderen Seite. Die beiden Soldaten haben das zerstörte Luftschiff überprüft und diskutieren aufgeregt mit ihren Kameraden. Ich verstehe kein Wort, doch ihr Ärger entgeht mir nicht. Helen nickt mir zu und verlässt meine Seite.

Hinter einer Fichte kniend, visiere ich die Russen an. Der schwere Revolver bockt in meinen Händen, und meine Ohren werden taub. Vielleicht wäre ich erfolgreicher gewesen, wenn ich die Augen offen gehalten hätte, doch schmerzerfülltes Schreien bestätigt mir, dass ich zumindest irgendetwas getroffen habe.

Die Gatling schwenkt in meine Richtung, und ich fliehe. Wie ein angeschossener Hirsch presche ich durchs Unterholz und höre die Zaristen hinter mir, doch mehrere dröhnende Schüsse stoppen meine Verfolger abrupt.

Helen und ich treffen uns am Waldrand nahe unserer provisorischen Zuflucht und werfen uns zu Boden.

»Wie sieht’s aus?«, keuche ich.

»Zwei getroffen, tödlich oder schwer genug verletzt, um uns keine Sorgen mehr zu bereiten«, konstatiert sie. »Einer nur gestreift, einen verfehlt.« Sie verzieht ihr Gesicht, unzufrieden mit sich selbst.

»Bleiben also noch zwei«, denke ich halblaut nach.

»Eher drei, wenn der mit dem Streifschuss ein harter Hund ist.«

Das sind sie alle. Nur die Elitesoldaten des Zaren gehören zur Besatzung eines Rapidis. Wir huschen zu unseren Schützlingen zurück.

V

 

Als sich die Dunkelheit wie ein Leichentuch über uns senkt, haben sich Helen, der Zollbeamte und ich um das Lager verteilt und lauschen in die Nacht. Ich hoffe, ja, ich bete darum, dass unsere Leute kommen, doch die Stunden vergehen, und das Einzige, was ich höre, ist ein Käuzchen, das direkt über mir seinen schaurigen Ruf ausstößt. Die Geisterstunde hält mich in ihrem erbarmungslosen Griff, und es schüttelt mich. Von allen Seiten drohen grausige Schatten mit ihren Skelettfingern, wabert Nebel auf und drückt mir den Atem ab.

Dennoch ist es nicht meine Schuld, dass die Situation eskaliert. Schicklgruber muss eingeschlafen sein, denn plötzlich höre ich ihn wie am Spieß schreien, und dann blenden Laternen auf und nehmen mir für Minuten die Sicht. Ein harter Lauf drückt sich in meine Brust.

»Wo ießt Montstein?«, blafft eine harte, raue Stimme.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, mein Herr«, behaupte ich, und er rammt mir die Waffe in den Leib, sodass ich minutenlang keine Luft bekomme. Wie Vieh treiben sie uns zusammen, die drei Männer in ihren ehemals weißen Uniformen. Jetzt sehen sie aus, als hätten sie in Schlamm gebadet – sie müssen die ganze Nacht nach uns gesucht haben.

Einer von ihnen, derjenige, dessen gesamte linke Seite blutverkrustet ist, stößt einen triumphierenden Schrei aus und richtet sein Gewehr auf Jones.

»Du! Gieb mierr Montstein odär iech mache diech kapuutt!«

Jones’ Augen flattern nur, er ist kaum bei Bewusstsein.

»Tötte ien!«, bellt der Offizier, der neben mir steht. »Tötte ien …«

»Nein!« Helen steht mit ausgebreiteten Armen über Jones. »Ich lasse es nicht zu – erst müsst ihr an mir vorbei!«

Grauen packt mich, doch bevor ich schreien kann, zuckt der verletzte Zarist mit den Schultern, hebt seine Waffe und drückt ab. Die Kugeln schlagen in Helens schmalen Oberkörper ein, lassen sie tanzen und zucken wie die Puppen, die an Fäden geführt werden. Ohne einen Laut sackt sie über dem Historiker zusammen und begräbt ihn unter sich.

»Ihr Schweine!«, heule ich.

Mein Bewacher grinst. »Alles gutt!«, sagt er.

Dann erschießt er mich.

VI

 

Mit Tränen in den Augen beobachte ich, wie sich die Russen über Helen und Jones beugen, und warte. Ich brauche nicht lange warten. Zwei Schüsse ertönen. Die letzten beiden Kugeln aus dem sechsschüssigen Armeerevolver, den Helen bei sich trägt.

Die beiden Soldaten stürzen zurück, und der Offizier schreit etwas auf Russisch, doch da stehe ich schon neben ihm. Seine aufgerissenen Augen starren mich an, als ich ihn mit meinem rechten Arm an der Kehle packe und hochreiße. Er gurgelt.

Ich hämmere seinen Schädel gegen den nächsten Baum und lasse ihn fallen. Vielleicht bin ich hysterisch, doch falls dem so ist, lässt Helen es sich nicht anmerken, als ich ihr aufhelfe. Stöhnend reibt sie sich über ihre Brust und bleckt die Zähne. Die hauchdünne Rüstung aus Andrewit unter unserer Kleidung hindert die Kugeln zwar am Eindringen, nicht jedoch an der Wucht ihrer Schläge. Ich schätze, wir werden in der nächsten Zeit jede Menge blauer Flecken spazieren tragen. Ich grinse trotzdem wie ein Idiot und sie lächelt mir zu.

»Gut gemacht, Eddy.«

Das ist das erste Lob, das ich jemals von ihr gehört habe. Vermutlich auch das letzte.

Sie sinkt neben Jones auf die Knie und legt ihm die Hand auf die Stirn. Er erwacht, als habe sie die Macht, ihn von den Toten zurückzuholen. Seine Augen starren mich glasig an. »Ich … ich wüsste zu gern, wer Sie sind, Eddy.« Er hustet.

Ich bin abgelenkt, denn in diesem Moment höre ich das wunderbarste Geräusch der Welt. Die dröhnenden Dampfmaschinen solider, englischer Luftschiffe.

»Ich erzähle es Ihnen, wenn wir uns wiedersehen«, verspreche ich, innerlich überzeugt, es nicht zu tun. Er wird ohnmächtig, als die beiden Flying Tommys landen und bekommt nicht mehr mit, dass die Ärzte fast den Kampf um ihn verlieren.

Mein Beschluss, Jones meine Identität nicht preiszugeben, erübrigt sich in dem Moment, als er wieder erwacht und Helen an der Seite seines Krankenbettes vorfindet. Er stiehlt ihr nicht nur das Herz, dieser verdammte amerikanische Dieb. Wir hätten ihn allein dafür einsperren müssen; nicht nur, dass der Stahl, der ihn durchbohrte, den Mondstein pulverisierte, nein, er raubt der Queen auch noch ihre beste Agentin.

Immerhin darf ich bei ihrer Hochzeit Trauzeuge sein, und nachdem mich Helen mit dem edlen Champagner abgefüllt hat, den Grandma hat springen lassen, ringt sie mir das Versprechen ab, der Pate ihres Sohnes zu werden, den sie auf jeden Fall zeugen werden.

Nun gut. Es gibt Schlimmeres auf der Welt als der Pate von Henry Jones Junior zu werden, denke ich und beschließe, ihm irgendwann einen Hund zu schenken.

 

Zwei
 
Russisches Ballett

 

 

Juli 1885

»Getrieben sind sie alle.«

Teena Jermaine, Drehflüglerkommandantin

 

 

I

 

Alfs Hand hat ein Eigenleben entwickelt. Unkontrolliert öffnet und schließt sie sich, und immer wieder verhakt sich der Mittelfinger und bleibt stehen, während seine Gefährten schlaff auf dem Tisch herumliegen. Er hat sie eindeutig nicht im Griff.

»Das sieht … seltsam aus«, bemerke ich beiläufig.

Alf brummt etwas, das sich verdächtig nach »Prinzenklugscheißerarsch« anhört, und ballt die Faust. Er schnellt wie ein Schachtelteufel wieder hoch und scheint mich triumphierend anzugrinsen.

Professor Andrew, der sich so oft mit den Händen durchs Haar gefahren ist, dass er aussieht wie eine schmächtige Version von Beethoven, kichert und macht seinem Ruf als verrückter Wissenschaftler alle Ehre.

»Die Ätherenergie zwischen deinem Arm und der künstlichen Hand funktioniert noch nicht.« Er redet mit uns, als wüssten wir, wovon er spricht.

»Heißt das, ich muss für den Rest meines Lebens so herumlaufen?« Alf reißt die Hand mit dem ausgestreckten Mittelfinger hoch.

Die Tür rollt auf und Grandma steht im Eingang zu Andrews unterirdischem Laboratorium. »Sieht seltsam aus«, sagt sie und tritt näher, um sich Alfs Hand anzusehen.

Er versucht, sie hinter seinem Rücken zu verbergen, doch ein milder Blick genügt und er steht mit gesenktem Kopf da wie ein bei einer Untat ertappter Schuljunge. Ein Schuljunge von sechseinhalb Fuß Größe, einem gepflegten Backenbart und nach hinten gekämmten, dunklen Haaren, die an den Schläfen eine Pfeffer- und Salzmischung aufweisen.

»Ich nehme an, die Äthermagien zwischen Alfs Blutkreislauf und der künstlichen Hand fühlen sich noch nicht voneinander angezogen?«

Wie macht sie das immer? Ich sehe Grandma niemals lesen, sich nie mit jemandem über technische Errungenschaften unterhalten und außer mit ihrem grässlichen Zwergspitz niemals längere Diskussionen führen. Trotzdem weiß sie besser über das Bescheid, was Andrew hier veranstaltet, als jeder andere.

Der Professor nickt. »Meine Forschungen haben ergeben, dass es sich nicht um Magie, sondern Energie handelt.« Seine Stimme klingt abwesend. Er behandelt alle Menschen gleich – oder zumindest mit beiläufiger Gleichgültigkeit. Ob vor ihm ein Bettler oder ein Edelmann steht, interessiert ihn nicht, er lebt in seiner eigenen Welt.

Die Queen lässt ihn gewähren. Vor einiger Zeit hat sie mir gegenüber erwähnt, dass sie an Andrew nicht seine höfischen Qualitäten interessiere, sondern nur das, was sein seltsames, übergroßes Gehirn produziere.

»Er ist verrückt, aber genial«, pflegt sie zu sagen.

Eben jetzt hat der geniale Verrückte eine Art Fliegerbrille übergestülpt. Sie sieht abscheulich aus, so klobig, als hätte er ihren Rahmen aus dem Stahl einer Lok gebaut, und ihre Gläser vergrößern seine Augen ins Unermessliche. Andrew starrt mich an und gluckst in sich hinein.

Ich kontrolliere, ob sich Flecken auf dem Stoff meiner schneeweißen Uniformjacke befinden, doch natürlich ist sie tadellos. Dalton hätte nie zugelassen, dass ich weniger als perfekt erscheine. An ihm ist ein guter Kammerdiener verloren gegangen, obwohl ihn Grandma als meinen Privatdozenten eingestellt hat. Er hält mich für einen Idioten, was meistens auf Gegenseitigkeit beruht.

»Was, verdammt noch mal?«, blaffe ich Andrew an.

Alf verpasst mir einen Stüber auf den Hinterkopf. Er benutzt dafür die künstliche Hand, und ich kippe vornüber. Er hat sie einfach noch nicht im Griff; ein Pferd hätte weniger stark zugetreten.

»Hör auf, im Angesicht einer Dame und deiner Königin zu fluchen«, ermahnt er mich.

Ich jaule auf.

»Alfred«, sagt die Queen. »Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst meinen Enkel nicht schlagen?«

Er starrt nachdenklich auf den Boden. »Nicht einmal?«, fragt er und legt den Kopf schief.

»Richtig.« Sie nickt. »Und du, gewöhn dir das Fluchen schleunigst wieder ab, Eddy!«

»Jawohl, Ma’am.« Ich knirsche mit den Zähnen und betaste die Beule, die sich heiß aus meinem Haarschopf wölbt. »Warum lacht der Professor so?«

»Ich nehme an, weil er mit dieser Brille unter deine Kleidung sehen kann«, sagt Grandma ungerührt und schlüpft in den bleiernen Kittel, den Andrew ihr mit abgewandtem Kopf reicht.

»Was?« Ich kiekse wie ein Mädchen, halte mir jedoch die Hände vor die Stelle, die mich als Jungen ausweist.

»Wie sonst soll ich erkennen, wie sich Blutäther und Andrewit miteinander verbinden?«, brummt der Professor und beugt sich über Alfs Arm.

Unser Zusammenstoß mit den Russen ist gerade einmal drei Wochen her und Alf hat sich dank der hervorragenden Pflege von Grandmas Ärzten sehr gut erholt. Er hat der Queen seinen Rücktritt angeboten, doch davon wollte sie nichts hören.

»Alfred«, hat sie gesagt, »nachdem das törichte Mädchen in die Kolonien verschwunden ist, kann und will ich nicht auch noch auf dich verzichten. Eddy ist noch nicht so weit, um auf eigenen Füßen zu stehen, auch wenn er sich zuletzt nicht gänzlich dumm angestellt hat.«

Aus dem Mund der Queen ist das mehr als ein Lob, geradezu ein Ritterschlag. Nicht, dass ich das nötig hätte, ich bin ja ohnehin Prinz, aber da mir Grandma versprochen hat, mich aus dem politischen Langeweilerkram herauszuhalten, wenn ich mich dafür nach ihrem Gutdünken ausbilden lasse, tut es doch ganz gut zu hören, dass sie ihren Teil der Abmachung nicht bereut.

Ich fürchte, ich habe die Abmachung noch gar nicht erwähnt. Liegt wohl daran, dass mir diese Geheimhaltungssache in Fleisch und Blut über gegangen ist.

Ich habe schon zeitig gewusst, dass mir das Regieren nicht liegt. Vater hat von Anfang an versucht, mich als seinen Ältesten auf das vorzubereiten, was mich nach Grandmas und seinem Tod erwarten würde, aber Himmel noch eins! Existiert irgendetwas, das weniger Spaß macht als Regierungskram und Etikette? Zum Glück gibt es Georgie, meinen kleinen Bruder. Gut, er ist jetzt nicht so klein, nur anderthalb Jahre jünger als ich, aber er ist so vernünftig und viel besser geeignet, irgendwann König zu sein, als ich es jemals sein könnte. King George klingt auch viel besser als King Albert, selbst wenn ich mir auch nur merken wollte, was Dalton versucht, uns über höfische Umgangsformen beizubringen. Will ich aber nicht.

Und die alte Lady scheint auch andere Pläne zu haben. Sie beachtet die Klagen Daltons und meines Vaters über meine Langsamkeit im Denken nicht im Geringsten. Stattdessen hat sie mich vor die Wahl gestellt, entweder meinen Aufgaben als Erstgeborener nachzukommen oder für sie zu arbeiten. Ich habe mich für Letzteres entschieden und mich seitdem keinen Tag gelangweilt. Ich komme viel in der Welt herum und es ist immer aufregend. Und angefangen hat es an dem Tag, als ich unbedingt den Gaul meines Vaters ausprobieren wollte und stattdessen mit einem Arm aus Andrewit im Labor des Professors erwachte.

Alf hat damals gemeint, ich sei zu jung, um als Agent der Krone herangezogen zu werden, aber Grandma wischte seine Einwände beiseite. Wer mit zwölf zum Kadetten auf See ausgebildet werden könne, dem konnte es nicht schaden, auch andere Sachen zu lernen. Sie bezog sich damit auf die Anweisung meines Vaters, George und mich zur Navy zu schicken, um echte Männer zu werden, wie er es ausdrückte.

Durch meinen kleinen Unfall, den wir als Typhuserkrankung tarnten, kamen wir damals zwei Monate später an Bord der HMS Britannia als die anderen Jungs unseres Alters, doch dank der frisch erworbenen Kräfte meines neuen Armes fiel es mir leicht, Georgie und mich vor ihren rauen Späßen zu schützen. Es war anstrengend an Bord, aber wir bekamen eine Menge Länder und seltsame Menschen zu sehen, auch wenn ich Dalton – der uns auf Vaters Anweisung natürlich begleiten musste – noch mehr Kummer bereitete. Er ahnte ja nicht, dass ich in seinem Unterricht regelmäßig einschlief, weil mich Alf nach dem Drill an Bord im waffenlosen Kampf unterwies, mir Schwimmen, Tauchen, Schlösserknacken, Maskieren und in der Art der Unterschicht zu sprechen beibrachte.

Jawohl, derselbe Alf, der jetzt mit hochrotem Kopf dasitzt, weil sein ungehöriger Mittelfinger noch immer als einziger aufrecht auf den Professor deutet.

»Jetzt lass die Albernheiten, Eddy, und sperre deine Ohren auf«, sagt Grandma. »Ich habe einen neuen Auftrag für euch.«

Ich betrachte Andrew misstrauisch, lasse aber gehorsam die Hände sinken. Er beachtet mich ohnehin nicht.

»Wir haben unseren Kontakt in St. Petersburg verloren.«

»Derselbe, der uns von den Mondsteinen berichtet und den Amerikaner geschickt hat?«

»Eben jener«, bestätigt sie. »Ich will, dass ihr euch auf den Weg nach Russland macht. Zufällig findet in wenigen Tagen die Weltausstellung in St. Petersburg statt, so dass ihr problemlos als interessierte Flugtechniker einreisen könnt. Vorausgesetzt natürlich, Alfred glaubt sich bereits wieder in der Lage, einen Auftrag zu übernehmen?« Sie betrachtet interessiert die künstliche Hand meines Ausbilders.

Er nickt, doch bevor er etwas sagen kann, ist unser neuester Zielort endlich in mein Gehirn vorgedrungen.

»St. Petersburg? Russland?! Die sprechen Russisch!«

»Das hast du sehr gut erkannt.« Grandma lächelt, fehlt nur noch, dass sie mich tätschelt, als wäre ich ihr Lieblingshund.

»Aber Helen ist weg – sie war die Einzige von uns, die Russisch konnte!«

Manchmal bin ich wütend auf diesen Amerikaner, der uns einfach so Helen weggenommen hat. Sie beherrscht nicht nur ein halbes Dutzend Sprachen fließend, sie ist auch ein weitaus besserer Schütze als ich – außerdem gibt es kaum ein Fahrzeug, das sie nicht lenken kann. So sehr ich die Luftschiffe und ihre kleineren Geschwister, die Drehflügler, liebe, bin ich mir doch bewusst, dass meine Fähigkeiten, mit ihnen umzugehen, eher … sagen wir, mäßig sind.

»Daran habe ich natürlich gedacht.«

Natürlich hat sie das. Sie wedelt mit der Hand und öffnet dadurch die Tür des Laboratoriums, die leicht brummend zur Seite rollt. Im dunklen Flur steht eine ebenso dunkle Gestalt, und Grandma hebt königlich ihre Hand. Der Schatten betritt zaghaft das hell erleuchtete Reich des Professors.

Verwundert hebe ich eine Augenbraue und wechsle einen Blick mit Alf, der sich jedoch keine Regung erlaubt. Ob es daran liegt, dass er Grandma nicht enttäuschen will oder dass er Angst hat, kann ich nicht beurteilen.

»Komm näher, Gregory«, fordert die Queen. »Halt den Rücken gerade, Junge, Brust raus, Bauch rein!«

Einen Bauch hat er nicht, den er einziehen könnte. Aber ein Junge ist er tatsächlich, geradewegs auf der Schwelle zum Mann. Ich schätze ihn auf fünfzehn, sechzehn.

»Euer Übersetzer, Führer, Laufbursche, Träger«, stellt Grandma ihn vor.

»Wasche Welitschestwo.« Seine Verbeugung fällt kläglich aus, doch man kann ihm keinen Vorwurf machen. Er ist ein Bauernjunge durch und durch, lang und schlaksig und mit einem groben Gesicht, auf dem sich die ersten dunklen Stoppeln zeigen. »Mein Name ist Grigori Jefimowitsch, werte Herren«, stellt er sich vor und die harten Silben scheinen regelrecht zu Boden zu fallen, als er sich ruckartig wieder aufrichtet. »Zu Euren Diensten.« Man hört ihm den Hinterwäldler an, doch seine Aussprache ist nahezu tadellos.

»Was treibt dich ausgerechnet in das britische Empire, Junge?«, brummt Alf. Er hat sein Interesse an Andrews Fummelei verloren und richtet sein Augenmerk gänzlich auf Jefimowitsch. Ich kenne ihn lange genug, um zu sehen, wie unbehaglich er sich fühlt. Durch die Russen hat er seine Hand verloren, zu den Russen soll ihn sein nächster Auftrag führen und ein Russe soll unsere Bezugsperson sein? Alfs Gesicht besteht völlig aus Stein, so sehr bemüht er sich, gegenüber der Queen keinen Unmut zu zeigen.

»Er sagt, er sucht nach Gott«, mischt sich Grandma brüsk ein. »Bis er ihn gefunden hat, wird er euch behilflich sein.«

II

 

Für die Fahrt nach Norfolk benutzen wir die unterirdischen Dampfbahnen. Sie sind erst vor Kurzem fertiggestellt worden und bringen uns bis zum Kanal, wo wir mit einer Fähre übersetzen und uns nach Nantes begeben. Hier sollen wir auf unseren Kontakt treffen, einen Mann namens Teejay. Grandma hat beiläufig erwähnt, dass er ein freier Transportunternehmer ist, der uns persönlich mit seinem Drehflügler bis nach St. Petersburg bringen würde.

Während wir auf einer Bank vor der Kathedrale von Nantes sitzen und uns von der Sonne wärmen lassen, beobachten wir einige jugendliche Adlige, die sich mit Steambikes rücksichtslos einen Weg durch die flanierenden Menschen bahnen und sich ein Rennen liefern. Mir juckt es in den Fingern, selbst so ein Gefährt auszuprobieren, doch obwohl ich Grandma mehr als einmal gebeten habe, mir eins zu kaufen, hat sie doch immer abgelehnt. Zu gefährlich, meint sie. Etwas für Dummköpfe, hat sie gesagt, die sich unbedingt den Schädel irgendwo anstoßen wollen. So ein Steambike fahre doppelt so schnell wie ein gutes Rennpferd laufen könne, und ich solle die Finger davon lassen. Man sollte kaum glauben, dass mich Grandma tatsächlich als ihren Agenten einsetzt.

Ich springe auf, als die Jugendlichen – die tatsächlich Dummköpfe oder Ignoranten zu sein scheinen – eine ältere Lady rammen und lachend weiterrasen, obwohl die alte Dame zu Boden stürzt.

»Wir sollen kein Aufsehen erregen«, warnt mich Alf und zwirbelt seinen mörderischen Schnauzer, den er im Augenblick trägt.

Aus meinen Ohren strömt mindestens so viel Dampf wie aus den mit diesem angetriebenen Rädern, doch bevor ich eine Dummheit begehen kann, schwebt elegant ein Drehflügler von der Größe einer Pferdebahn herbei und setzt so knapp vor den Übeltätern auf, dass all ihre Bremskunst versagt. Sie verreißen ihre Lenker und schlittern haltlos über den Rasen, bis sie an den eisernen Kufen des Drehflüglers zum Stehen kommen.

Die Tür öffnet sich und eine kleine, kurvige Person springt heraus. Die bis zu den Knien reichenden Stiefel landen nur wenige Zoll vom Gesicht des ersten Jugendlichen entfernt. Ein Schwall von zornigem Französisch ergießt sich über die Jungs, und noch bevor meine Augen über die enganliegende, schwarze Hose im Reiterstil und die von einem breiten Gürtel gehaltene Lederjacke zu dem Gesicht des Drehflüglerkommandanten wandern können, erkenne ich, dass sich in dem ungewöhnlichen Aufzug trotz allem eine Frau befindet. Eine äußerst ärgerliche Frau. Während mein gesprochenes Französisch bestenfalls adäquat ausfällt, kann ich dennoch alles verstehen. Einige der Schimpfwörter, welche die Frau benutzt, treiben selbst mir die Schamesröte ins Gesicht, wie ich an der Hitze in meinen Wangen bemerke.

Alf lächelt amüsiert, als sich die blaublütigen Feiglinge vor der kleinen Frau wegducken, ihre Dampfräder aufheben und sich von dannen schleichen wie geprügelte Hunde. Grigori Jefimowitsch starrt mit offenem Mund und macht keine Anstalten, sich zu erheben und der gestürzten Lady behilflich zu sein.

Ich streiche mir über mein schmutzigblondes Haar, das ich alle vierundzwanzig Stunden mit einer Tinktur von Professor Andrew nachfärben muss, und eile zum Schauplatz des Geschehens, ohne Alfs Seufzen zu beachten. Ich komme im gleichen Moment bei der Lady an wie die Fliegerin, doch ich schlage sie um den Bruchteil einer Sekunde, als ich vor ihr die Hand ausstrecke, um der Dame aufzuhelfen.

»Diese Rüpel«, zetert sie leise auf Französisch.

Ich nicke bestätigend. »In der Tat, Madame, ein unerhörtes Verhalten. Zum Glück hat ihnen diese junge Dame Benehmen beigebracht.«

»Ich bin keine Dame«, sagt die Fliegerin und zieht die langen, bis zu den Ellenbogen reichenden Handschuhe aus, um sie ärgerlich gegen ihre Wade zu klatschen. »Aber da es die anwesenden Herren ja nicht schafften, ihrer Pflicht nachzukommen, bin ich eingesprungen.« Sie funkelt mich mit großen Bernsteinaugen an, als sei ich dafür verantwortlich, bevor sie sich wieder an das Opfer der Jugendlichen wendet. »Geht es Ihnen gut, Madame? Ich könnte Sie auch zur nächsten Ambulanz bringen – geht ganz schnell.«

Die alte Frau schüttelt den Kopf. »Es war nur der Schreck, ich bin vollkommen unverletzt.« Sie lächelt unvermittelt scheu wie ein junges Mädchen. »Der neuen Mode sei Dank!«

Erst jetzt fällt mir auf, dass auch sie Beinkleider trägt, die wie die Pluderhosen der arabischen Prinzen aus 1001 Nacht aussehen. Sie hat es eilig, von uns fortzukommen; sicherlich ist sie auf dem Weg in ein Café, um mit anderen Damen ein Kaffeekränzchen abzuhalten. Jetzt wird sie einiges erzählen können.

»Ihre Fertigkeiten im Führen dieses Fluggeräts sind beeindruckend, Mademoiselle«, sagt Alf und verbeugt sich vor ihr.

Sie muss den Kopf in den Nacken legen, um uns ansehen zu können. Sicher, Alf ist über sechs Fuß hoch und ich stehe ihm in nicht viel nach, aber dieses kleine Persönchen hat genug Feuer für uns zwei. Sie runzelt die Stirn und ich erwarte beinahe, dass sie uns ebenso anfährt wie die Burschen, doch sie tut etwas Unerwartetes. Sie zieht die lederne Kappe vom Kopf und enthüllt glänzende, mahagonifarbene Locken, die bis zum Kinn fallen und ihr Gesicht umschmeicheln. Meine Aufmerksamkeit wird auf ihre schmalen Finger gelenkt, die in der Kappe herumwühlen und einen zerknitterten Zettel hervorziehen.

Sie liest einige Sekunden und blickt wieder auf. »Na, wenigstens seid ihr pünktlich!«, sagt sie ungnädig.

»Pünktlich?«, wiederhole ich.

»Ich bin Teejay«, stellt sie sich vor. »Und wenn ihr Eddy Christians und Alfred Bond samt eines Burschen mit unaussprechlichem Namen seid, habt ihr mich für einen Flug nach St. Petersburg gebucht.«

»Sie sind gar kein Mann«, stelle ich vorwurfsvoll fest.

»Na, wenigstens mit seinen Augen stimmt alles.« Sie wendet sich ab. »Im Oberstübchen scheint ja einiges im Argen zu liegen«, murmelt sie, immerhin laut genug, dass wir es verstehen.

Alf beißt auf die Spitze seines gewichsten Schnurrbartes; zweifellos, um ein Lachen zu unterdrücken.

»Was ist jetzt? Wollt ihr dieses Jahr noch zur Weltausstellung? Falls nicht, können wir auch hierbleiben und warten – in vier Jahren soll sie wieder in Paris stattfinden.«

Ich setze mich in Bewegung. »Würden Sie uns auch 1889 noch befördern, Mademoiselle Teejay?«, frage ich so galant wie möglich.

Sie stoppt und dreht sich so abrupt herum, dass ich fast in sie hineinlaufe. Ihre Augen verengen sich. »Hör mal, Freundchen. Ich bin keine Mademoiselle und auch keine Lady. Ich bin Captain dieses Drehflüglers, und ihr könnt mich entweder Captain Jermaine nennen oder Teejay. Aber nicht Mademoiselle oder ähnlichen Nonsens. Verstanden?«

Es dämmert mir in diesem Moment, aber ich bin es so gewohnt, den Idioten zu spielen, dass es mir auch dieses Mal nicht schwerfällt.

»Warum Teejay?«, wundere ich mich laut.

Sie verdreht die Augen und stülpt die Lederkappe wieder über ihre widerspenstigen Haare. Die Fliegerbrille wandert über die Augen und ich bedaure, das Feuer in ihnen nicht mehr sehen zu können.

Ich bekomme es wenigstens zu hören. »Tee-Jay«, erklärt sie langsam. »Ich heiße Teena Jermaine, aber im Frachtgeschäft kann man es sich nicht leisten, weiblich zu sein, also habe ich anfangs einen Strohmann vorgeschickt, der im Namen von Captain Jermaine die Aufträge reingeholt hat. Wenn ein Vertrag erst einmal abgeschlossen ist, tritt keiner mehr zurück, nur weil er mit einer Frau verhandelt hat. Comprendre?«

Eigentlich finde ich, der Mann solle für den Lebensunterhalt einer Frau sorgen, aber ich fürchte, Teena – Teejay – legt nicht allzu viel Wert auf meine Meinung. Und da ich im Moment ein bürgerlicher Maschinenwart bin, der mit seinem Chef, dem Ingenieur Bond, auf dem Weg zur Weltausstellung ist, kann ich mir eine liberale Denkweise leisten und nicke nur, als ich hinter ihr in den Drehflügler klettere. Gott rette die Königin, aber mit diesem Hintern kann kein Mensch, der nicht völlig blind ist, sie für einen Mann halten. Ich muss mich abwenden, bevor ich zu sabbern anfange und renne prompt in ein eisernes Gestänge, das sich neben der Tür befindet.

Teejay seufzt nur, und Alf und Grigori tun es ihr gleich.

»Hinsetzen und anschnallen.« Sie deutet auf lederüberzogene Sitze.

Es sind vier, in Zweierreihen angeordnet. Sie gleitet in den vordersten auf der linken Seite und zieht zwei über Kreuz liegende Gurte über ihren Oberkörper. Ich muss aufpassen, sie nicht anzustarren – die Jacke, die sie trägt, ist dünn, und durch die Riemen werden ihre weiblichen Attribute betont.

Ich beeile mich, den Platz neben ihr in Beschlag zu nehmen und muss eine kindliche Aufregung unterdrücken. Ich fliege gern, von mir aus kann es nicht hoch oder schnell genug sein.

»Seid ihr zum ersten Mal in einem Drehflügler?«

Ich nicke, während ich aus dem mit Metall umrahmten Fenster starre.

»Gut, dann sperrt die Ohren auf, es gibt ein paar Regeln. Erstens: Ich bin der Captain, und was immer der Captain anordnet, wird gemacht. Und zweitens: keine Panik, verstanden?«