Sei verflucht, Coco Zamis!
von Uwe Voehl und Christian Montillon
© Zaubermond Verlag 2012
© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"
by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Titelbild: Mark Freier
eBook-Erstellung: story2go
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Todesflug
von Uwe Voehl
Meine Familie war zu Stein geworden.
Vater, Mutter, Georg …
Ich schreckte auf. Erwachte wie aus einem Alptraum. Irritiert sah ich mich um. Es war tiefe Nacht. Ich lag im feuchten Gras und fror.
Etwas war geschehen. Etwas Ungewöhnliches. Es hatte mit meinen Eltern und meinem Bruder zu tun. Groteske Bilder tauchten schemenhaft in meiner Erinnerung auf. Darin sah ich meine Familie zu Stein erstarren, während ich selbst in letzter Sekunde flüchten konnte. Dann erblickte ich einen großen Schatten, der mich forttrug.
War es wirklich ein zum Leben erwachter Gargoyle gewesen – oder hatte mir mein Verstand angesichts des Unfassbaren einen gnädigen Streich gespielt?
Je mehr ich versuchte, mich zu erinnern, desto stärker schob sich etwas davor – wie ein schwarzer Nebel, der immer dichter wurde. Allein das instinktive Wissen, dass ich mich in großer Gefahr befand, war real.
Fröstelnd erhob ich mich. Es war kalt. Zumindest war auch das keine Einbildung! Wenn ich auch nicht wusste, wie ich hierher gekommen war, so befand ich mich doch ohne Zweifel mutterseelenallein in dieser Wildnis.
Es war eine Lichtung, auf der ich mich befand. Von allen Seiten war sie von Wald umschlossen.
Unwillkürlich suchte ich den Himmel ab. Nach einem großen, schwarzen Schatten. Aber nur die vertrauten Sternbilder zwinkerten mir zu.
Ich konzentrierte mich wieder auf die Realität. Aus nicht allzu weiter Entfernung drang Verkehrslärm zu mir hin. Nun, ich hatte wohl keine andere Wahl! Ich musste herausfinden, was passiert war. Also stiefelte ich los und bahnte mir einen Weg durchs Unterholz. Bereits nach kurzer Zeit wurde der Lärm lauter. Fünf Minuten später endete mein Weg an der Seitenbegrenzung einer Autobahn.
Ich wunderte mich, dass hauptsächlich nur eine Richtung befahren war. Auf der entgegengesetzten Spur war kaum ein Lichterpaar zu sehen.
Die Autos fuhren langsam, kaum Schritttempo. Irgendwo weiter vorn musste es zu einem Unfall gekommen sein, der einen Stau nach sich zog. Einige Ungeduldige hupten, als könne ihr Lärm den Stau auflösen.
Ich erblickte ein Hinweisschild. Bis zum Flughafen waren es nur zehn Kilometer. Wieso war ausgerechnet heute so viel los auf der Autobahn? Es hatte fast den Anschein, als würden die Menschen aus Wien flüchten – wie vor einer bevorstehenden Katastrophe.
Wie auch immer, mir kam der Stau gelegen. Er verschaffte mir die Möglichkeit, den Wagen genau auszusuchen, der mich zum Flughafen bringen sollte. Mein Fluchtinstinkt wuchs mit jeder Sekunde.
Die dunkle Mercedes-Limousine mit verspiegelten Fenstern, die langsam an mir vorüberrollte, zog sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. Vor allen Dingen das Diplomatenkennzeichen, das sich unter den grellen Scheinwerfern abzeichnete. Diplomatische Immunität konnte nie schaden, wenn es darum ging, lästigen Fragen und Kontrollen auszuweichen.
Langsam ging ich auf den Mercedes zu und klopfte sacht gegen die Seitenscheibe.
Anstatt aufs Gas zu treten und schnellstens abzuhauen, tat der Fahrer das Dümmste, was er tun konnte: Er sah das hübsche Mädchen, das unter Umständen seiner Hilfe bedurfte, hielt an und öffnete hilfsbereit das Fenster.
Ein Blick durch den schmalen Fensterschlitz genügte, ihn zu hypnotisieren. Als die elektrische Scheibe ganz in der Tür verschwunden war, beugte ich mich hinein. Für die etwa dreißigjährige Frau im Fond bedurfte es ebenfalls nicht mehr als eines Blickes, sie unter Kontrolle zu bringen.
Die Lichtverhältnisse waren miserabel, nur eine winzige Funzel über dem Rückspiegel verbreitete eher Düsternis als Helligkeit. Deshalb erfasste ich auch jetzt erst, dass beide Insassen offensichtlich indischer Herkunft waren. Bei dem Mann schien es sich um den Chauffeur zu handeln. Nur die Orden fehlten an seiner Phantasie-Uniform. Die Frau trug ein blaues Kostüm europäischen Schnitts, darüber ein traditionelles Wickelgewand sowie ein Kopftuch, um wenigstens einigermaßen ihre Tradition zu wahren.
Beide waren willenlos wie Marionetten. Keiner erhob Widerspruch, als ich hinten einstieg, dort war es bequemer. Die Polster waren angenehm weich, fast ein wenig zu weich. Die Sicherheit war trügerisch. Ich durfte mich von ihr nicht einlullen lassen.
»Wohin darf ich Sie bringen?«, erkundigte sich der Chauffeur auf Deutsch. Hinter uns war erregtes Hupen erklungen, wir hielten den stockenden Verkehr noch zusätzlich auf.
»Wohin waren Sie denn unterwegs?«, fragte ich dagegen.
»Zum Flughafen«, gab die Inderin Auskunft.
Ich hatte mich also nicht getäuscht. »Dann fahren Sie auch dorthin.«
Der Chauffeur nickte und beschleunigte wortlos, wie eine Puppe. Oder wie ein Fahrer, der gelernt hatte, den Mund zu halten, wenn es angebracht war.
Bis wir den Flughafen erreichten, würde es noch ein wenig dauern. Das gab mir die Gelegenheit, die Frau ein wenig auszufragen: Sie hieß Arundhati Ghosh und war im diplomatischen Dienst der Indischen Botschaft beschäftigt. Sie war sowieso gerade dabei gewesen, ihre Koffer zu packen, als sie aus dem Radio erfuhr, dass das Gelände um die Griechische Botschaft herum zu meiden sei. Sie hatte sofort an einen terroristischen Anschlag gedacht und sich augenblicklich zum Flughafen bringen lassen.
»Es ist von höchster Wichtigkeit, dass ich heute noch abfliege«, fuhr sie fort. »Ich werde nächste Woche heiraten und kann es mir nicht erlauben, zu spät zu meiner eigenen Hochzeit zukommen.«
Ich war enttäuscht. Eigentlich hatte ich gehofft, dass sie mir hätte erzählen können, was sich in Wien unterdessen ereignet hatte. Nun stellte sich heraus, dass sie davon wenig mitbekommen hatte und nur die Sorge, ihren Flug nicht rechtzeitig zu erwischen, getrieben hatte.
»Tut mir leid, ich hatte wirklich nur den einen Gedanken: mein Flugzeug nicht zu verpassen.«
Ich deutete auf das Radio vorne im Wagen. »Wie steht es damit? Bringen Sie denn nichts in den Nachrichten?«
»Nein, merkwürdig. Seitdem wir auf der Autobahn sind, empfangen wir keinen einzigen Sender mehr.«
Ich konnte nur hoffen, dass alles nicht so schlimm war, wie ich es allmählich befürchtete. Aber solange Schwechat den normalen Flugverkehr noch aufrecht erhielt, schöpfte ich Hoffnung, weit genug zu fliehen.
Ihr Ziel war Kalkutta und ihr Ticket kam mir wie gerufen. Es war sogar Erster Klasse. Ebenso wie ihr Diplomatenausweis und ihre Kleidung. Indien schien mir für den Anfang weit genug entfernt zu sein, um eine Zeitlang unterzutauchen und neue Kräfte zu sammeln. Und der Gefahr zu entgehen, vor der dein Instinkt dich warnt. Was ist bloß geschehen?
Ghosh besaß nur ein Ticket. Das Schicksal ihres Chauffeurs kümmerte sie offenbar nicht, der sollte selbst zusehen, wie er zurechtkam. So gesehen war es nur ausgleichende Gerechtigkeit, wenn die Diplomatin bei ihm blieb. Kein Grund, mir deshalb Vorwürfe zu machen.
Als die Limousine zwanzig Minuten später eine der Tiefgaragen des Flughafens erreichte, stieg ich als Arundhati Ghosh aus. Das Kostüm hatte ich ihr gelassen, nicht jedoch den Sari und das Kopftuch.
Und während ich mit ihrer Reise- und der Handtasche zum Aufzug ging, der mich zum Terminal bringen würde, fuhr die Limousine wieder zurück in die Indische Botschaft. Genau so, wie ich es befohlen hatte.
Auf dem Flughafen war sprichwörtlich die Hölle los.
Überall befanden sich lärmende, verzweifelte Menschen. Ein Stimmengewirr, ein Tohuwabohu, das seinesgleichen suchte. Sämtliche Schalter, an denen man mit allen Mitteln versuchte, einen Flug zu ergattern, waren heillos überfüllt. Lange Schlangen bildeten sich davor, vorausgesetzt, man reihte sich überhaupt noch hintereinander. Menschen drängten an die Terminals und versuchten einen Platz in irgendeiner Maschine zu bekommen.
Es herrschte das pure Chaos. Geradezu apokalyptische Zustände, als gehe bald die Welt unter. Und das Schlimmste war, niemand konnte garantieren, ob dies nicht tatsächlich bald der Fall sein würde.
In der Schalterhalle türmte sich das Gepäck, Kinder weinten, die ihre Eltern im Gewühl verloren hatten, Lautsprecherstimmen ertönten, die niemand verstand, und einige Hunde bellten sich gegenseitig an, die ihre Besitzer selbstredend ebenfalls nicht zurücklassen wollten.
Ich hielt einen vorüberhastenden Bediensteten an und hypnotisierte ihn. Es war ein junger Bursche. Er wirkte verwirrt.
»Was ist hier eigentlich los?«, verlangte ich zu wissen.
»Die Leute wollen alle fort. Egal, wohin. Irgendetwas muss in der Wiener Innenstadt passiert sein. Ein paar erzählen völlig phantastische Geschichten, dass die Menschen dort reihenweise zu Stein erstarrt seien. So ein Unsinn …«
Wieder tauchten in den Fetzen meiner Erinnerung meine Eltern auf. Erstarrt zu Stein. Im nächsten Moment wurde der Gedanke bereits wieder überdeckt von dem Fluchtinstinkt, der mir einhämmerte, so schnell wie möglich zu fliehen.
Ich ließ den jungen Mann ziehen und schaute mich nach meinem Schalter um. Beim Check-In gab es keine Probleme, obwohl das Gesicht auf dem Diplomatenausweis nicht mit meinem identisch war. Ein wenig Hypnose ließ die Beamten sozusagen beide Augen zudrücken, und ich dankte dem Schicksal nicht zum ersten Mal für diese Gabe.
Dennoch schien es eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis ich als eine der Ersten in der Maschine nach Kalkutta saß: eine Boeing 747, ein Jumbo-Jet.
Sogar einen Fensterplatz hatte ich, obwohl ich sogar einen wackligen Hocker im Frachtraum akzeptiert hätte. Ich saß in der dritten Reihe von vorn, die gleichzeitig die letzte Reihe der Ersten Klasse war. Ghoshs Handtasche, deren Inhalt – insbesondere ihr Geld und die Kreditkarten – hilfreich sein würden, legte ich auf den Sessel neben mich.
Während die anderen Passagiere in den drei Klassen von den immerzu lächelnden Stewardessen in traditionellen Saris an ihre Plätze geleitet wurden, blickte ich nach draußen. Der Himmel war von blinkenden Lichtern erfüllt: landende und startende Flugzeuge, einige kleinere Privatmaschinen mochten ebenfalls darunter sein.
Ich fühlte mich noch immer benommen. Präzise konnte ich es nicht beschreiben, doch mir war wie in einem Zustand zwischen Tag und Traum. Nicht schlafend, aber auch noch nicht wach.
Dort!
Ich hatte etwas aus den Augenwinkeln bemerkt. Sofort fuhr mein Kopf herum, ging mein Blick in Richtung der Tragfläche des Flugzeuges schräg hinter mir.
Einen Schatten.
Als ich genauer hinsah, war dort jedoch nichts. Jedenfalls nichts, was nicht dorthin gehörte. Nur die riesige Turbine, die wie die anderen bald eingeschaltet werden würden, um uns hinweg zu tragen, ans andere Ende der Welt.
Allmählich siehst du Gespenster!, sagte ich zu mir. Dennoch musterte ich noch eine Weile die Tragfläche, in der Hoffnung, doch noch etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Aber was immer ich meinte, dort gesehen zu haben, es tauchte nicht wieder auf.
Ich gab für mich Entwarnung. Vielleicht war es jemand vom Bodenpersonal gewesen, höchstwahrscheinlich hatte mir meine Phantasie einen Streich gespielt.
Tief atmete ich durch und sackte dann in meinem Sitz zurück. Entwarnung zu geben, bedeutete hingegen nicht, sorglos durchs Leben zu streifen. Ich sah mir meine Mitreisenden an.
»Guten Abend.«
Neben mir im Gang stand ein unsicher lächelnder junger Mann. Seine Blicke huschten über meinen Körper, und seinen Augen nach schien ihm zu gefallen, was er dort sah. Als sich unsere Blicke trafen, errötete er leicht. Ich hatte ihn ertappt.
»Vandermar«, stellte er sich mit einem kurzen Nicken vor. »Professor Kai Vandermar.«
Er war noch ziemlich jung für einen Professor, mochte irgendwo in den Dreißigern sein, hatte einen Drei-Tage-Bart und dunkelblondes Haar, das auf der Stirn schon ein wenig schütter wurde. Er trug einen legeren Jeansanzug und machte auf den ersten Blick einen recht sympathischen Eindruck.
»Ich … ich habe diesen Platz hier …«, entschuldigte er sich und deutete auf meinen Nachbarsitz, auf den ich die Handtasche gelegt hatte.
»Verzeihung.« Ich verstaute die Tasche im Gepäcknetz vor mir.
Bevor er sich setzte, reichte mir Vandermar die Hand, die ich anstandshalber annahm. Er legte nicht allzu viel Kraft in den Händedruck, doch er fühlte sich auch nicht an, als habe man ein leblos schlaffes Stück Fleisch ergriffen. Dazu lächelte er und deutete einen Diener an. Gut erzogen war der Bursche auch noch.
»Und Ihr Name …?«
»Nennen Sie mich Coco«, antwortete ich. »Das ist ein … Spitzname. Alle nennen mich nur Coco.«
»Ah …« machte er wissend und wusste doch nicht das Geringste. Mit einem Seufzer ließ er sich in seinen blauschwarzen Sitz fallen. »Sie sind Inderin?«
»Ich arbeite für die Botschaft.«
Kurz musterte er mich und fragte sich wahrscheinlich, ob ich für den diplomatischen Dienst nicht ein wenig jung war. Doch er sprach seine Frage nicht aus.
»Haben Sie eine Ahnung, was in Wien los ist?« Offenbar versuchte er Smalltalk zu betreiben, was ich zurzeit allerdings weniger gebrauchen konnte. »Niemand ist hier in der Lage, einem eine vernünftige Auskunft zu geben. Ich habe diesen Flug schon vor Wochen gebucht. Zum Glück!«
»Ich habe diesen Termin auch schon seit einigen Tagen, aber trotzdem bin ich nicht unglücklich, dass er ausgerechnet heute ist und nicht erst in ein paar Tagen.« Ein schiefes Grinsen legte sich auf sein Gesicht. »Wie unhöflich von mir, ich habe Ihnen gar nicht verraten, weshalb ich nach Indien will.«
»Urlaub vermutlich.«
»Ich bitte Sie … Nur ein Trottel würde ausgerechnet jetzt, wenn es am heißesten ist, dort Urlaub machen. Nein« – seine Stimme wurde um eine Nuance höher – »ich bin Professor für Geschichte. Indische Altertümer.«
»Archäologe also …«
»Nicht ganz. Archäologie ist nur mein Steckenpferd. Ich mag auch mehr die Praxis vor Ort, als die graue Theorie.«
»Sie haben Ihren Beruf verfehlt, Herr Professor.«
»Und nennen Sie mich bitte nicht Herr Professor:« Demonstrativ senkte er Schultern und Kopf. »So nennt mich nur meine Mutter.«
»Sie muss mächtig stolz auf ihren Sprössling sein …«
Vielsagend winkte er ab. Dies war offenbar ein Thema, über das er nicht gerne sprach.
»Sie sind also auf einer Expedition?«, wollte ich wissen. Vandermar gelang es tatsächlich, meine Neugier zu wecken. Sein offenes Wesen und seine Art gefielen mir.
»Könnte man so sagen …«
Ich kam nicht dazu, nachzufragen, welche Geheimnisse er dem indischen Subkontinent zu entreißen gedachte.
»Vandermar!«
Die Stimme irgendwo hinter uns ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Dann hatte er sich sofort wieder unter Kontrolle oder versuchte es zumindest.
»Vandermar!«, ertönte es erneut, diesmal drängender. »Wo stecken Sie, verdammt?«
Kleinlaut richtete sich der Professor auf und wandte sich um, verließ die sichere Deckung seines Platzes. Auch mich interessierte, wer meinen Nachbarn so einschüchterte.
Soeben betrat der anonyme Rufer die Erste Klasse. Der Mann war nicht nur sehr groß, sondern schien fast ebenso breit zu sein. Kaum schaffte er es, ohne sich in die Seite drehen zu müssen, durch das Schott. Er mochte Mitte fünfzig sein, hatte eine Halbglatze und wirkte bereits auf den ersten Blick unausstehlich. Kleine Schweinsäuglein funkelten zwischen den Fettwülsten seines Gesichts. Das weiße Hemd, das er über den Stretchhosen trug, troff vor Schweiß, ständig wischte er ihn sich von der hummerroten Stirn, was seiner Laune keineswegs förderlich war.
»Verdammt, Vandermar, warum geben Sie nicht Bescheid, wenn ich Sie rufe?«, polterte er.
»Herr Held, ich versichere Ihnen …«
»Papperlapapp«, wischte der den Einwand hinweg. »Tun Sie nicht so, als würde es Ihnen gefallen, dass ich mitkomme. Ich weiß, Sie würden am liebsten Ihr eigenes Süppchen kochen und sich auf meine Kosten einen schönen Lenz machen.« Das Knurren, das er dem Professor entgegenschickte, deutete darauf hin, seine Vorfahren waren offenbar noch nicht allzu lange von den Bäumen gestiegen.
Ächzend ließ sich Held in den Sitz auf der anderen Seite des Gangs plumpsen. Dann wandte er sich wieder dem Professor zu: »Habe ich Ihnen nicht ausdrücklich gesagt, Sie sollen Plätze direkt nebeneinander für uns buchen?«
Das war also der Grund seines Zorns.
»Das habe ich doch«, erwiderte mein Nachbar lasch. Er hatte mein vollstes Mitgefühl. Ich hätte ebenfalls nicht direkt neben einem Ekelpaket wie Held sitzen wollen.
»Ich traue Ihnen nicht, Vandermar. Ich weiß, Sie versuchen mich zu bescheißen. Aber das können Sie meinetwegen mit jemandem versuchen, der genauso lahmarschig ist wie Ihre Kollegen an der Uni. Aber nicht mit mir!«
Phrasen! Er traktierte ihn weiter mit Worthülsen, auf die ich nicht weiter zu achten versuchte.
Stattdessen beobachtete ich ein wenig die anderen Passagiere, die nach und nach die Kabine betraten. Vorne rechts, auf der mir abgewandten Seite, ließ sich soeben ein junges Paar nieder. Beide mochten in den Zwanzigern sein, die verliebten Blicke, die sie sich zuwarfen, waren eindeutig zweideutig. Offensichtlich befanden sich die beiden noch in den Zwitterwochen.
Auf der anderen Seite saßen zwei Inder. Der eine, etwa sechzig, war möglicherweise ein Geschäftsmann oder Politiker, der andere, Ende zwanzig, schien dessen Leibwächter zu sein. Er trug das auffällig-unauffällige Schwarz dieser Branche. Nur die Sonnenbrille fehlte, und die Pistole war ihm vermutlich – hoffentlich! – bei den Zollkontrollen abgenommen worden.
Drei Frauen kamen in die Erste Klasse, die zusammengehörten. Sie sprachen miteinander Französisch, kicherten und scherzten. Ihre offensichtlich gute Laune schien der ganzen Situation nicht angemessen. Zwei von ihnen setzten sich vor Held, der dritten verging das Scherzen sofort, denn sie hatte das zweifelhafte Vergnügen, sich neben Held drängen zu müssen. Natürlich, die Plätze waren großzügig angeordnet, dennoch gab es Angenehmeres, als zwischen dem dicken Mann und dem Fenster eingeschlossen zu sein.
Alles in allem ganz normale Menschen, von denen keine Gefahr für mich ausgehen würde. Doch dann betrat noch jemand die Kabine.
Ich spürte die seltsame Aura sofort, als die Person in meine Nähe kam.
Abrupt riss ich den Kopf in ihre Richtung.
Im Eingang entdeckte ich ein indisches Mädchen, das höchstens fünfzehn Jahre alt war. Sie war schmal gebaut, fast knochig, hatte dunkle Haut und langes, schwarzes Haar, das ihr bis über die Schultern ging. Was mir besonders an ihr auffiel, waren nicht die Jeans und das rote T-Shirt mit nichtssagendem Aufdruck, sondern der weiße Verband, den sie über den Augen trug.
Sie war blind und ließ sich von einer etwa dreißigjährigen Frau, die hinter ihr ging, führen.
Dieses Mädchen, fast noch ein Kind, zog sofort meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Eine leise Stimme irgendwo in meinem Hinterkopf sagte mir, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Wir beide waren ziemlich unterschiedlich, gleichzeitig aber auch ausgesprochen ähnlich.
Sie war mehr, als sie auf den ersten Blick zu sein schien. Sie war parapsychologisch begabt. Mehr konnte ich auf die Schnelle nicht feststellen, auch nicht ihre Gabe ergründen.
Von der Inderin hinter ihr ließ sie sich mit sanften Berührungen auf der Schulter und gelegentlich geflüsterten Worten nach vorne lotsen.
Fast als laufe sie gegen eine unsichtbare Mauer, blieb das Mädchen direkt zwischen Vandermar und Held stehen. Ruckartig wandte sie den Kopf nach links, und obwohl sie einen Verband um die Augen trug, obwohl sie nicht sehen konnte, traf mich ihr imaginärer Blick zielgenau. Sie spürte, wie ich sie anstarrte, auch wenn sie vermutlich nicht den Grund dafür erahnte.
»Ich heiße Indira«, sagte sie unterkühlt zu mir. »Da es Sie offenbar interessiert – ich bin blind.«
»Das … das habe ich vermutet«, sagte ich einigermaßen schlagfertig. Dennoch war ich verblüfft.
»Ich wurde letzte Woche hier in Wien operiert, aber die Ärzte konnten mir mein Augenlicht nicht zurückgeben.« Sie schien mir gar nicht zugehört zu haben, hatte nur gespürt, begafft zu werden, was ihr aus verständlichen Gründen nicht gefiel. Wahrscheinlich war sie in ihrem Leben schon viel zu oft begafft worden. »Sind Sie jetzt zufrieden?«
So genau hätte ich es gar nicht wissen wollen. Ich schwieg und hoffte, dass diese verdammte Maschine endlich abhob. Indira und ihre Begleiterin gingen weiter und vorbei. Während sich das blinde Mädchen auf den Platz vor mir setzte, ließ sich die Inderin neben ihr nieder. Mir leuchtete zwar nicht ganz ein, was eine Blinde mit einem Fensterplatz anfangen sollte, aber vermutlich bezahlten ihre Eltern die Tickets, deshalb verstand es sich auch von selbst, dass ihr Kind den bevorzugten Platz erhielt. Selbst wenn sie dieses Privileg nicht nutzen konnte.
Inzwischen hatte es Held geschafft, nicht nur unsere ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sondern auch die der Stewardessen. Zwei von ihnen kamen zu ihm und baten ihn höflich, freundlich und nett lächelnd, jedoch auch bestimmt, er möge sich beruhigen und anschnallen, der Start stehe unmittelbar bevor.
Neben mir hörte ich ein erleichtertes Aufseufzen, als der Glatzkopf missmutig schwieg und sich von einer der Stewardessen helfen lassen musste, den Gurt über den Bauch zu spannen.
Ich schnappte einen teils entschuldigenden, vor allem aber hilfesuchenden Blick von Vandermar auf.
»Gelegentlich ist er … etwas schwierig.«
Das hatten sowohl ich als auch das halbe Flugzeug bereits festgestellt.
Die 747 war längst in der Luft und ließ Wien-Schwechat hinter sich, als ich aufstand. Im Flugzeug war Ruhe eingekehrt.
Niemand schien zu bemerken, wie ich auf den Gang trat. Ich folgte meinem vagen Gefühl. Mein Weg führte mich nach vorn, zur Pilotenkanzel. Sie zog mich fast magisch an, wie in Trance bewegten sich meine Füße vorwärts.
Das Schott war nicht verriegelt, ich öffnete es und …
Ein Korridor erstreckte sich vor mir. Düster, aus obsidianem Stein gehauen und fensterlos. Ein archaisches Bauwerk, das erkannte ich sofort; Lampen würde man hier vergebens suchen. Er musste sich unter der Erde befinden, modriger Gestank schlug mir entgegen wie wenn man einen Kellerraum betrat, der seit langem nicht gelüftet worden war.
Vielleicht hätte ich auch einfach umkehren sollen, ich konnte es nicht, sosehr ein Teil von mir auch danach verlangte.
Es war dunkel, ich konnte kaum etwas erkennen. Dafür wurde das geringste Geräusch, das ich verursachte, mannigfaltig von den Wänden reflektiert. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Währenddessen hielt ich beide Arme weit zu den Seiten hin ausgestreckt, sodass meine Fingerspitzen die gegenüberliegenden Wände berühren konnten.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an die widrigen Lichtverhältnisse und entdeckten links von mir etwas an der Wand. Es handelte sich um eine Fackel in einer entsprechenden, metallenen Halterung. Spinnweben hingen klebrig von ihr hinunter.
Ich nahm die Fackel von dem Gestell und zündete sie mit dem Feuerzeug an. Problemlos ließ sie sich entzünden. Das Material war knochentrocken, der hölzerne Griff spröde. Knisternd tauchte das Feuer den steinernen Korridor in flackerndes Licht und warf gespenstische Schatten an die Wände. Ich versuchte sie zu ignorieren und ging weiter.
Kurz darauf kam ich an eine Abzweigung. Der Weg geradeaus endete, dafür bog er nach rechts und nach links ab. Ohne zu wissen, ob es die richtige Entscheidung war, bog ich in den linken Gang ein. Grundlos, ein Tunnel sah genauso aus wie der andere. Nur wenige Meter später erreichte ich eine Kreuzung. Zaghaft versuchte ich mit der Fackel in die einzelnen Stollen zu leuchten, ohne das Geringste zu erkennen. Überall nur obsidianes Gestein, zu allen Seiten, sogar auf dem Boden.
Gelegentlich entdeckte ich winzige Ritzen. Es schien so, als sei dieses Labyrinth nicht aus dem Fels gehauen worden, wie ich vermutet hatte. Vielmehr schien es aus großen, massiven Blöcken zu bestehen, sodass sich die Schnittstellen nur an den Übergängen befanden. Mörtel als Füll- und Haltematerial war nicht zu ertasten, es schien keiner benutzt worden zu sein. Fast, als habe man die mächtigen Steinblöcke ineinander gesteckt. Die Erbauer mussten einer sehr alten, archaischen Kultur angehört haben; das Bauwerk machte auf mich den Eindruck von Ewigkeit. Ein wenig erinnerte es mich an eine ägyptische Pyramide, doch das mochte täuschen.
Ich ging weiter, geradeaus. Bis die nächste Abzweigung eine Entscheidung von mir erwartete.
Es schien tatsächlich ein Labyrinth zu sein, begriff ich, während ich aufs Geratewohl nach rechts abbog. Wohin es führte – keine Ahnung. Doch ich war mir im Klaren, es musste ein Ziel haben, einen Mittelpunkt.
Ständig kamen neue Kreuzungen und Abzweigungen. Gelegentlich ging ich geradeaus oder wenn dieser Weg versperrt war, mal nach links, mal nach rechts. Sich immer nur für die eine Richtung zu entscheiden, hätte bedeutet, mich im Kreis zu bewegen, obwohl das vielleicht nicht das Schlimmste gewesen wäre. So hätte ich vielleicht wieder den Ausgang erreicht.
Ich hatte mich verirrt, und da es kein Zurück gab, blieb mir nur noch die sprichwörtliche Flucht nach vorn.
Nach unzähligen Tunneln endete der Gang vor mir. Keine Abzweigung, ich befand mich in einer Sackgasse.
Unmittelbar vor mir befand sich eine Tür. Oder eher ein Zugang. Eine etwas hellere Felsenplatte, die sich von dem Obsidian ein wenig abhob. Die Schnittstellen waren deutlich zu erkennen, stellte ich fest, während ich mit der Fackel an der Platte entlang fuhr. Doch es gab keinerlei Details. Keine Zeichen, keine Inschriften, nichts.
Es schien sich um einen einfachen Drehmechanismus zu handeln, und – sie war unverschlossen!
Gleichzeitig drängte sich mir das unbestimmte Gefühl auf, es wäre besser, sie nicht zu öffnen.
Die Türplatte war erstaunlich leicht, mühelos ließ sie sich beiseiteschieben. Es handelte sich tatsächlich um eine Art Drehtür. Als der Spalt breit genug für mich war, schlüpfte ich hindurch.
Plötzlich wurde mir schwindlig, und um ein Haar wäre ich auf die Knie gesunken. Mit der Schulter lehnte ich mich rückwärts gegen die Wand und schloss für einen Moment die Augen, musste verschnaufen.
Die Fackel in der Rechten schien schwerer zu werden, so schwer, dass ich sie kaum noch halten konnte. Das lag allerdings nicht an der Fackel, sondern an mir. Mir war, als habe man mir einen Zapfhahn in den Körper getrieben und meine Energie würde abgesaugt werden. Das beruhte nur auf Einbildung, natürlich, doch dieses Wissen machte es mir keineswegs einfacher.
Schuld daran war die Ausstrahlung, die gleich einer unbändigen Flutwelle über mich schwappte und mich unter sich begrub, kaum dass ich den Raum betrat. Eine Aura des puren Bösen.
Es dauerte einige Sekunden, bis es mir gelang, den ersten Schock zu überwinden. Der Wahnsinn war präsent, fast greifbar. Was immer mich hier erwartete, es würde womöglich die schlimmsten Alpträume in den Schatten stellen und zur Bedeutungslosigkeit degradieren.
Mein erster Eindruck hatte mich nicht getäuscht, stellte ich fest. Ich befand mich tatsächlich in einer Kammer. Das war allerdings nur die halbe Wahrheit: Es handelte sich offenbar um eine Grabkammer.
Direkt vor mir, an der gegenüberliegenden Wand, sah ich auf einem niedrigen, steinernen Podest einen offenen Sarkophag. Die Gestalt darin war von meiner Position aus nicht zu erkennen, doch es musste sich um eine besondere Person gehandelt haben, denn der Sarg bestand aus Gold, Edelsteinen und Gemmen. Zahlreiche Facetten blitzten im Schein der Fackel und verliehen mir einen vagen Eindruck seiner Pracht. Er war der letzten Heimstatt eines Kaisers oder Hohepriesters würdig, einer mächtigen Persönlichkeit.
Von genau dort kam jene Aura des puren Schreckens!
Eine Ausstrahlung, die mich auslaugte, zutiefst entsetzte und mir die Kehle zuschnürte. Ich hatte Mühe, Luft zu holen, hatte für einen Sekundenbruchteil das Gefühl, jemand habe mir von hinten eine Schlinge um den Hals gelegt und würde sie nun genüsslich langsam zuziehen, um meine Qualen möglichst hinauszuzögern. Das gab sich wieder; mühsam pumpte ich die muffige Luft in meine Lungen, und seltsamerweise schmeckte sie köstlich.
Ebenso sehr wie ich abgestoßen, fast angewidert wurde, wurde ich magisch davon angezogen.
Es gelang mir, mich zusammenzureißen und halbwegs aufrecht in Richtung des Sarges zu torkeln. Mit jedem Schritt schwoll das bedrohliche Gefühl an. Das Unheil war fast greifbar, wahrscheinlich hätte es selbst ein Mensch ohne meine besonderen Fähigkeiten gespürt und als grauenerregend empfunden.
Der Tote darin war ein Mann. Seine Haut wirkte aufgedunsen und pergamenten, Leichenflecken waren darauf zu erkennen. Wie lange er schon tot war, erschloss sich mir nicht. Allzu lange konnte es aber noch nicht sein, dafür war der Verwesungsprozess nicht weit genug fortgeschritten. Trotzdem – der Gestank, der davon ausging, ließ mich würgen.
Gleichzeitig begriff ich, die Aura des Wahnsinns und des Bösen stammte nicht von dem Toten selbst, sondern von der Maske, die seine obere Gesichtshälfte bedeckte.
Sie bestand aus einem dunklen Material, wahrscheinlich Metall, und sie verbarg lediglich die Augen- und die Stirnpartie der Leiche. Ihre Nase lag ebenso frei wie der Mund und die Ohren. Ein vertikal zulaufender Dorn führte vom Ansatz der Maske über der Nasenwurzel, zwischen den Augen hindurch, um am oberen Rand zu enden. Die Augenöffnungen waren nicht einsehbar; ein rötlicher Schleier lag darüber.
Der Anblick der Maske ließ mir heiße und kalte Schauder über den Rücken jagen. Der Kloß in meinem Hals wurde größer, und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen, in dem nichts außer bedrückende Schwärze herrschte. Fast war mir, als würde ich einem Psychopathen gegenüberstehen. Voll bizarrer Logik und grotesken Absichten, deren Einvernehmen mich fast erschlug.
Obwohl ich Mühe hatte, nicht die Besinnung zu verlieren, wusste ich, es war noch nicht vorüber, noch längst nicht. Ich musste herausfinden, wer der Tote war.
Dicht trat ich an den Sarkophag heran. Die Schmerzen nahmen noch weiter zu. Meine Beine drohten einzuknicken, fast meinte ich, boshafte Gremlins würden mir Spieße ins Gehirn treiben und sie darin umdrehen.
Es half alles nichts, ich musste mir Gewissheit verschaffen. Vorsichtig legte ich die Fackel auf den Rahmen des Sargs und griff nach der Maske …
»Miss Coco! Miss Coco!«
Kai Vandermar stand über mir, als ich die Augen aufschlug, einen erstickten Laut auf meinen Lippen. Das Herz hämmerte mir in der Brust und war bis in den Schläfen zu spüren. Alles tat mir weh, alles brannte in mir wie auf einen Scheiterhaufen gefesselt.
»Sie haben geschrien«, erklärte er, während ich ihn entgeistert ansah, als sei er nicht von dieser Welt. »Sie haben …«
»Ich habe geschlafen«, stellte ich fest und sah mich konsterniert um. Kein Zweifel, ich musste wirklich geträumt haben. Ich befand mich wieder in der 747, von einer Grabkammer war ebenso wenig etwas zu sehen wie von dem Sarkophag oder dem Toten mit der bizarren Maske.
»Ja, Sie haben geschlafen.« Vandermar wirkte besorgt – um mich besorgt »Haben Sie schlecht geträumt?«
»Nein, nein«, wehrte ich ab – und verharrte!
Ein eiskalter Blitz jagte in meinen Kopf und zerriss mein Innerstes in zwei Teile. Schlaff sackte ich im Sitz zurück und hielt mir die Schläfen, in denen sich erneut die Gremlins zu schaffen machten, diesmal allerdings nicht mit Spießen, sondern mit Presslufthämmern.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Ihm blieb mein miserabler Zustand nicht verborgen.
»Danke, nein.« Seine Fürsorge ehrte ihn, momentan brauchte ich jedoch nur meine Ruhe und niemanden, der mich mit Fragen durchlöcherte. Es dauerte eine Weile, bis die Schmerzen ein wenig nachgelassen hatten. Dann erst wagte ich es, aufzustehen.
Ich erntete von meinem Platznachbar einen fragenden Blick.
»Toilette«, murrte ich, konnte jedoch nicht verhindern, dass Vandermar sich ebenfalls erhob und mich bei der Hand nahm. Er befürchtete, ich könnte stürzen. Man sagte so schön und treffend: Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Ich schien mich mit meinem ersten Eindruck in Vandermar nicht getäuscht zu haben.
»Keine Sorge, ich will nicht mit hinein«, meinte er mit schiefem Grinsen, wehrte meinen Widerspruch mit einer entschiedenen Geste ab und führte mich die wenigen Meter dorthin.
Sosehr mir Gesellschaft momentan auch zuwider war, ich versuchte ein dankbares Lächeln. Ich musste nicht wirklich zur Toilette, sondern brauchte lediglich ein wenig Wasser, um mich frisch zu machen. Vielleicht half mir das, wieder annähernd klar zu denken. Deshalb ließ ich die Tür auch einen Spalt offen, und ganz Gentleman postierte sich der Geschichtsprofessor davor wie ein Eunuch, der darüber wachte, dass die Frauen des Sultans wirklich nur intimen Kontakt mit dem Sultan selbst hatten.
Der Blick in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken verriet mir, ich fühlte mich nicht nur erbärmlich, ich sah auch so aus. Dunkle Ränder hatten sich um meine Augen gelegt, die Augen selbst waren ein wenig rot unterlaufen. Meine Haut war ungesund blass, doch das war nicht das Schlimmste. Mein Kreislauf machte soeben einen doppelten Salto rückwärts.
Schwer stützte ich mich mit beiden Händen auf das Waschbecken. Ich brauchte ein wenig Ruhe und viel Schlaf. Ob er viel nützen würde, musste sich erst erweisen, doch miserabler als der von eben konnte er kaum werden.
Rasch drehte ich das Wasser auf, fing es mit beiden Händen auf und benetzte mir damit das Gesicht.
Die Kühle schien mir gut zu tun, erinnerte mich daran, dass ich noch lebte. Vor allem meine Augen erholten sich zusehends durch das Wasser, das den Stress und die Erschöpfung allmählich von mir abzuspülen schien.
»Alles in Ordnung?«, vernahm ich Vandermars Stimme von draußen. Noch immer spitzte er die Ohren, um notfalls helfend einzugreifen.
»Was wollen Sie in Indien?«, wechselte ich das Thema, ohne das Wasser abzustellen. Mein Körper absorbierte es fast wie ein ausgedörrter Schwamm; meine Lebensgeister kehrten zurück, auch wenn es auf der ganzen Welt nicht genügend Wasser gab, um mich in Topform zu bringen. »Ausgrabungen?«
»Ich sagte doch, ich bin kein Archäologe. Ich bin auf der Suche nach« – kurz verstummte er – »nach einem ganz speziellen Kultobjekt.«
»Über das Sie mir natürlich nichts sagen dürfen.«
»Ich halte das für keine allzu gute Idee …«
»Weshalb? Ist dieser Gegenstand so sensationell, oder sind Ihre Nachforschungen illegal?«
Humorlos lachte er auf. »Ersteres, meine Liebe. Definitiv Ersteres. Man benötigt nur für Ausgrabungen eine Genehmigung. Nicht dafür, seine neugierige Nase in Dinge zu stecken, von denen viele nicht wissen, dass es sie überhaupt gibt.«
»Und dafür haben Sie sich mit Held ins Bett gelegt.« Sanfter Vorwurf klang in meiner Stimme.
»Nicht wirklich.« Das war ein wunder Punkt, ich hörte es ihm an. »Aber gelegentlich heißt es, die Faust in der Tasche zu ballen und freundlich zu sein, wenn einen das voranbringt.«
Als ich das Wasser abdrehte, tauchte sofort sein Kopf in dem Türspalt auf.
»Und?« Eingehend musterte er mich. Das Resultat schien ihn nicht wirklich zu überzeugen, obwohl es mir besser ging. »Soll ich Ihnen eine Kopfschmerztablette besorgen? Oder einen doppelten Whisky …?«
»Nein, danke«, schüttelte ich den Kopf und drängte mich an ihm vorbei, wieder zu meinem Platz hin.
Plötzlich war da etwas! Ich konnte mir nicht genau sagen, was, es war lediglich ein Schatten, der durch das gesamte Flugzeug und auch mich huschte. Für einen Moment meinte ich, die Zeit würde angehalten werden. Alles ringsum schien zu gefrieren, doch das war lediglich ein tumbes Gefühl in mir, das nicht der Realität entsprach. Wahrscheinlich nur eine Sinnestäuschung …
Vor mir sah ich, wie Indira aufstand und ihren Kopf in alle Richtungen wandte, als blicke sie sich um, was aufgrund ihrer Blindheit gar nicht möglich war.
Irgendwie konnte sie mich spüren, ich wusste das, denn ihr imaginärer Blick blieb auf mir ruhen.
»Haben Sie das eben gemerkt?«, fragte sie mich.
Ich hatte es mir also nicht eingebildet.
»Weißt du, was das war?« Ich duzte Indira. Immerhin war ich nur wenig älter als sie.
»Nein, keine Ahnung. Vielleicht hat es auch gar nichts mit uns zu tun.«
»Ja, vielleicht …«, murmelte ich und setzte mich wieder hin. Vielleicht aber auch nicht.
»Ich hätte dich wirklich in Wien lassen sollen, damit du genauso zu Stein wirst wie die anderen.« Die Fingerspitzen von Asmodis rechter Hand berührten nachdenklich die der linken. Er war zornig über die Ereignisse, die aus dem Zaum gelaufen waren. Ein anderes Gefühl als der Zorn existierte nicht in ihm; er gab sich ihm bereitwillig hin und zelebrierte ihn fast wie ein Ritual.
Skarabäus Toth schien geradezu prädestiniert dafür zu sein, diesen Zorn an ihm auszulassen.
Böse funkelte Asmodi den Schiedsrichter an. »Du weißt, Coco Zamis ist die Flucht aus Wien geglückt?«
»Ja, das ist mir bekannt«, nickte Toth bestätigend.
»Und?« Dieses eine Wort klang wie ein Peitschenhieb direkt in Toths Gesicht.
»Keine Sorge, ich habe mich darum gekümmert. Wie du es befohlen hast.« Er wirkte unerwartet zuversichtlich: eine Klapperschlange, die jederzeit zuschlagen konnte. »Ich bezweifle, dass die Hexe Kalkutta erreicht.« Und mit diabolischem Grinsen fügte er hinzu: »Lebend, meine ich …«
Weiterhin misstrauisch blitzte der Herr der Finsternis sein bleiches Gegenüber an. Aber er erkundigte sich nicht, was Toth vorhatte. Es war unter seiner Würde.
Asmodi grinste süffisant in sich hinein, während er dem spindeldürren Dämon mit einer ärgerlichen Geste bedeutete, ihm aus den Augen zu gehen.
Mein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Mir wollte nicht mehr einfallen, wie mir die Flucht gelungen war. Diese Überlegungen wühlten mich so sehr auf, dass ich trotz meiner Müdigkeit nicht schlafen konnte.
Und dann kam er in die Erste Klasse!
Er musste aus der Executive-Klasse stammen, und allein seine Anwesenheit ließ mich alles andere vergessen.
Es handelte sich um einen durchschnittlich gebauten Inder, ein Sikh. Er trug einen altmodischen Anzug aus braunem Cord, der sich durch seine Bequemlichkeit und nicht seine modische Eleganz auszeichnete. Auch er trug den für seine Religion typischen Turban sowie den eindrucksvollen Vollbart. Ein normaler Mann, wie es sie zu Tausenden gab, wären da nicht seine Augen gewesen.
Seine Augen schienen zu leuchten, und seine Bewegungen waren geschmeidig wie die eines Tigers, der sich durchs Gestrüpp des Dschungels seinen Weg bahnte. Wahrscheinlich fiel das nur mir auf, denn ich sah hinter die Fassade. Er war ein Mitglied der Schwarzen Familie.
Eindeutig, es bestand nicht der geringste Zweifel daran.
Ich wandte mich demonstrativ zum Fenster, damit er mein Gesicht nicht sah, und schlang mein Kopftuch sorgfältiger um mich herum. Danach tat ich, als würde ich schlafen.
Allzu lange würde mein Versteckspiel nicht funktionieren, bald würde er mich entdecken. Er konnte mich ebenso spüren wie ich ihn. Was das bedeutete, vermochte ich nicht abzuschätzen. Ob es sich um einen Freund oder einen Feind handelte, keine Ahnung. Ich kannte diesen Sikh nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen, da war ich mir sicher.
Seine magische Ausstrahlung war wie ein pechschwarzer Schatten in einer sonnendurchfluteten Landschaft. Seltsam, er hätte mir beim Einchecken aufgefallen sein müssen. Aber vermutlich gab es dafür aber eine simple Erklärung, versuchte ich mir einzureden.
Leise unterhielt er sich mit den drei Frauen. Sie flüsterten lediglich, um die dösenden Passagiere nicht zu stören, dementsprechend konnte ich auch nur Gesprächsfetzen aufschnappen. Es schien sich um einen kleinen medizinischen Notfall zu handeln. Ich erahnte mehr den Zusammenhang, als dass ich ihn verstand. Sein Bruder habe sich für den Schlaf die Ohren mit Silikon-Stöpseln verschlossen. Etwas musste dabei jedoch schief gelaufen sein, vermutlich hatte er sich nicht genau an die Gebrauchsanweisung gehalten. Jedenfalls bekam er die Stöpsel nicht mehr heraus, und der Sikh suchte nach jemandem, der eine Pinzette besaß und es sich zutraute, die beiden Corpus delicti zu entfernen.
Fast hätte ich laut gelacht angesichts so viel Dämlichkeit, doch ich musste mich weiter versteckt halten.
Bei den drei Frauen war er an die richtige Adresse geraten. Sie seien Krankenschwestern, behaupteten sie. Eine von ihnen war gern bereit, dem Sikh aus seiner misslichen Lage zu helfen, allerdings nicht diejenige, die den Platz neben Held hatte. Der lag schnarchend vor ihr in seinem Sitz. Sein Bauch erinnerte mich frappierend an die schwimmende Insel bei Sindbad der Seefahrer, die sich dann als Wal entpuppte.
Die Krankenschwester nahm ihre Tasche und erhob sich, was der Kohlenäugige mit einem dankbaren und auch etwas beschämten Lächeln quittierte.
Plötzlich hielt er inne! Er stand da, steif wie ein Brett. Sein Körper spannte sich an, die Hände wurden zu Fäusten, und seine Augen sahen sich forschend um. Er sandte all seine Sinne aus und lauschte in sich hinein.
Er hatte mich gespürt!
Wie in Zeitlupe wanderte sein Kopf in alle Richtungen, suchte mit prüfendem Blick zu allen Seiten nach dem Ausgangspunkt der dunklen Aura, die er empfing.
Kaum wagte ich zu atmen, ein Kloß bildete sich in meinem Hals, und nur mühsam konnte ich mir verkneifen, die Zeit zu dehnen. Es hätte mir nichts gebracht, ich konnte nicht aus dem Flugzeug fliehen und hätte mich dem Sikh dadurch endgültig verraten.
Sein Blick schien undurchdringlich zu sein, finster wie die Nacht. Nichts schien man davor verbergen zu können. Und doch, er streifte mich lediglich – um dann auf Indira zu ruhen.
Kurz zögerte er und stellte sich vermutlich dieselbe Frage, die ich mir bei der Begegnung mit dem blinden Mädchen gestellt hatte. Zunächst vermutete auch er, sie müsse der Schwarzen Familie angehören, doch diese Theorie hielt dem zweiten, genaueren Blick nicht stand. Ein Lächeln umspielte schließlich seine von dem mächtigen Bart umrahmten Mundwinkel, als er für sich Entwarnung gab. Indira war niemand, die ihm Schwierigkeiten bereiten konnte. Dann wandte er sich wieder der Krankenschwester zu und geleitete sie nach oben zu seinem ungeschickten Bruder, direkt an mir vorbei.
Bei Licht besehen war es absurd. Es war sogar völlig unmöglich, dass es mir gelungen war, mich vor ihm zu verbergen. Ebenso, dass ich ihn beim Einchecken nicht bemerkt hatte. Vor allem aber kannte ich nicht nur diesen Sikh nicht, ich kannte überhaupt keinen Sikh-Clan der Schwarzen Familie in Indien.
Hier stimmte so einiges nicht!
»Das war ich«, vernahm ich eine tonlose Stimme aus der Reihe vor mir. Indira sprach Deutsch. »Ich habe seine Aufmerksamkeit von dir abgelenkt und auf mich gezogen.«
Kurz unterdrückte ich einen Fluch, dann beugte ich mich durch die beiden Sessel der mittleren Reihe. Indiras Anstandsdame schlief tief und fest, doch das blinde Mädchen war hellwach. Obwohl sie den Verband trug, war ich der felsenfesten Überzeugung, sie konnte mich sehen. Vielleicht sogar besser als jeder andere hier an Bord.
»Ich weiß jetzt, du hast mich nicht angestarrt wegen meiner Augen«, erklärte sie leise. »Vorhin, als ich hier reingekommen bin, hast du gespürt, ich bin … anders.«
»Ja, das bist du«, bestätigte ich.
»Deshalb hast du mich so angesehen. Und du bist auch anders.«
Leugnen hätte wohl wenig gebracht, also beschränkte ich mich wenigstens darauf, es nicht zuzugeben und schwieg.
»Was bist du?«
»Eine Hexe.« Seltsamerweise kamen mir diese Worte mühelos von den Lippen. Fast, als würden wir beide uns seit langem kennen und uns vertrauen. Intuitiv wusste ich, dass von dem Mädchen keine Gefahr ausging. Mitunter war es einfach richtig, bei der Wahrheit zu bleiben.
»Und dieser Mann?«
»Er ist eine Art Zauberer.«
»Ihr habt sehr ähnliche Ausstrahlungen. Nur seine … seine ist irgendwie anders.«
»Wahrscheinlich weil er ein Mann ist.«
»Nein, das ist es nicht«, schüttelte sie kaum erkennbar den Kopf. »Irgendwie … ist er böse?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ja, vielleicht auch nein. Deshalb ist es besser, wenn er nicht weiß, dass ich hier bin.«
»Bist du böse?«
Diese Frage stellte ich mir selbst.
»Wie kommst du darauf?«, wich ich aus.
»Hexen sind böse, sagt man.«
»Es gibt auch gute Hexen. Und es gibt Hexen, die ein bisschen von allem sind, genau wie Menschen. Allerdings gibt es auch Hexen und Zauberer, die wirklich nur böse sind.«
»So wie dieser Mann.«
»Eventuell … Wie immer du das auch gemacht hast, ich danke dir dafür.«
»Ich wollte nur mit dir quitt werden, weil ich dich so angefaucht hab.« Ein Lächeln blitzte bei ihr durch. »Deshalb verrate ich auch niemandem, wer du wirklich bist.«
»Okay.« Mehr sagte ich nicht. Es erübrigte sich, mich dumm, naiv und unwissend zu stellen. Indira wusste genau, sie hatte es nicht mit der Diplomatin Arundhati Ghosh zu tun, sondern überhaupt mit keiner Inderin. Ansonsten hätte sie wohl auch kaum Deutsch mit mir gesprochen.
»Ich bin blind geboren worden«, erklärte sie. »Aber dafür sehe ich andere Dinge, die vielen verborgen bleiben.«
Das hatte ich auch schon festgestellt.
»Du bist auf der Flucht. Du läufst vor jemandem davon.«
»Ja«, gestand ich, obwohl ich das Mädchen nicht hypnotisieren konnte, damit ich in ihrem Gedächtnis ausgelöscht wurde. Trotzdem hatte ich keine Angst, mein Geheimnis würde bei ihr sicher sein. Schön, wenn man zur Abwechslung nicht jedem misstrauen musste, die eigene Familie eingeschlossen. »Aber ich kann dir nicht sagen, wovor.«
»Kannst du nicht, oder willst du nicht?«
»Ich habe …« Erneut spürte ich den Kloß im Hals, als wolle er mich zum Verstummen bringen. »Ich habe es vergessen.«
Ja, das hatte ich. Und mit jeder Meile, die wir uns Kalkutta näherten, meinte ich, immer mehr Details würden durch das Sieb meines Gedächtnisses fallen und verloren gehen. Hatte mich jemand hypnotisiert? Ich fand keine Antwort darauf.