Karl König

Abstinenz,
Neutralität und Transparenz

in psychoanalytisch orientierten
Therapien

Impressum

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Klett-Cotta

© 2013 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung

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Alle Rechte vorbehalten

Cover: Philippa Walz, Stuttgart

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94402-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10438-7

Das E-Book basiert auf der 1. Auflage 2005 der Printausgabe.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zur Theorieentwicklung

Zur Entwicklung der Psychoanalyse in den USA, in Großbritannien und in Deutschland

Kleinianer, Interventionstechnik

Gegenpositionen in der Geschichte der Psychoanalyse

Radikale wissenschaftstheoretische Positionen

Paradigmen

Vertikale und horizontale Erweiterungen, abgeschottete Schulen, Ausbrüche oder Grenzverkehr

Integrationsversuche

Hypothesen und ihre Schicksale

Psychoanalyse als angewandte Wissenschaft, Co-Morbidität als Fehlerquelle

Überzeugungen

Die psychoanalytische Identität

Objektivität und Subjektivität:
Was kann ein Therapeut erkennen?

Interpersonaler Konsens nach W. Loch

Direktivität, subjektive Einschätzung durch den Therapeuten

Zur Position von Renik

Renik und Selbstenthüllung

Subjektivität: Was ändert sich, wenn man sie anerkennt?

Interventionsstil und Persönlichkeit des Therapeuten

Trennungen

Subjektivität und Differentialindikation

Ein abgestuftes Plädoyer für Wahrheit in der Psychoanalyse

Subjektivität und Lehranalyse

Abstinenz:
Was darf ein Therapeut dem Patienten geben und was darf er von ihm bekommen?

Warum ist Abstinenz in der Psychoanalyse so wichtig?

Bedürfnisbefriedigung in verschiedenen psychoanalytischen Schulen

Objektivierung und Subjektivierung

Weitere Hinweise zur Befriedigung von Patientenwünschen und -bedürfnissen

Wünsche und vitale Bedürfnisse

Private Wünsche des Therapeuten und ihre Folgen

Fällt Abstinenz leicht oder schwer?

Wünsche und Charakterstrukturen von Patienten

Neutralität in der Therapie –
Nutzen und Möglichkeiten

Verschiedene Formen von Neutralität

Berufliche Rollen und Neutralität

Meine Auffassungen von Neutralität

Was für einen Analytiker wünscht sich ein Patient?

Professionelle Neutralität als Kongruenz zwischen Vorschriften und Verhalten

Aktivität und Passivität

Neutralität und Allparteilichkeit

Weitere Gründe für Verstöße gegen die Neutralität

Übertragungsauslöser statt Anonymität

Projektive Identifizierung und Neutralität

Neutralität in der Beurteilung der Lebensverhältnisse des Patienten

Neutralität des Psychoanalytikers bei der Differentialindikation

Methodenwechsel

Neutralität und Direktivität:
Darf der Therapeut den Patienten lenken?

Fokussierung

Direktivität und Widerstand

Direktives Selegieren in Kurzzeittherapie und Langzeittherapie

Psychotherapie nach dem Coaching-Modell

Normen in der Gruppentherapie

Die Arbeitsbeziehung

Aktuelle Beziehungen und Beziehungen in der Primärfamilie

Direktivität und Neutralität in der Paartherapie

Stationäre Psychotherapie und Direktivität

Direktivität in der analytisch orientierten und in der Verhaltenstherapie

Neutralität und Asymmetrie:
Sind Patient und Therapeut gleichberechtigte Partner in verschiedenen Rollen?

Grundsätzliches zu Asymmetrie und Neutralität

Asymmetrie in Gruppen

Asymmetrie und Expertenwissen

Asymmetrie und Therapeutenstruktur: Eine Übersicht

Mutualität und Arbeitsbeziehung

Arbeitsbeziehung und Expertenwissen

Neutralität und Transparenz:
Was darf und was soll der Patient vom Therapeuten erfahren?

Transparenz und asymmetrische Beziehung

Transparenz in der interaktionellen Therapie

Ich-Funktionen und ihre Beeinflussung

Interaktionelle Therapie, »Erbarmen« und Respekt

Nähe und Therapeutenstruktur: Eine Übersicht

Beabsichtigte und unbeabsichtigte Transparenz

Auswirkungen von Transparenz

Kanäle der Transparenz

Schamgefühle und Transparenz

Mentalisierung und Transparenz des Therapeuten

Therapeutenverhalten und Elternverhalten

Momente der Begegnung

Normen in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie

Dosierung der Interventionen und Transparenz in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie

Erbe und Umwelt

Grundsätzliches zu Erbe und Umwelt

Relationale Theorien und das Erbe-Umwelt-Problem

Hermeneutik und Biologie: Ein falscher Gegensatz

Integrationsversuche von Mitchell und Kernberg

Gegenübertragungsanalyse und Programme

Ausblick

Literaturverzeichnis

Register

Vorwort

In diesem Buch geht es um einen Themenkreis, der unter Psychoanalytikern immer wieder Gegenstand lebhafter Diskussionen ist: Abstinenz, Neutralität und Transparenz.

Die Psychoanalyse ist in einer Zeit entstanden, als Wundinfektionen und Infektionen bei Geburten die medizinische Fachwelt beschäftigten. Freud hat mehrere Jahre als Physiologe gearbeitet. Im Labor geht es immer wieder darum, störende Einflussfaktoren, »Dreckeffekte«, wie es im Laborjargon heißt, zu vermeiden oder unter Kontrolle zu bringen. Im ersten Traum der Psychoanalyse, dem Irma-Traum, geht es um eine Spritze, die möglicherweise »nicht rein« war. Der Träumer, Freud, macht sich darum Sorgen.

Neutralität und Anonymität des Analytikers sollten verhindern, dass der Patient in seinen Übertragungsmöglichkeiten beeinflusst wurde. Der Therapeut sollte keine spezifischen Übertragungsauslöser bieten. Um objektive Befunde zu gewinnen, sollte er auf den analytischen Prozess keinen richtunggebenden Einfluss nehmen. Abstinenz des Patienten bedeutete seinen Verzicht auf Wunscherfüllungen, die seiner Therapie schaden und das Erreichen ihrer Ziele behindern würden. Abstinenz des Therapeuten bedeutete einen Verzicht auf die Erfüllung eigener Wünsche, die die Therapie behindern und dem Erreichen ihrer Ziele im Wege stehen würden.

In der amerikanischen Ich-Psychologie wurde die Forderung nach Neutralität auf die Spitze getrieben. Der Psychoanalytiker hatte sich als Wissenschaftler zu verhalten, und dazu gehörte eine Neutralität, die subjektive Einflüsse nicht wirksam werden lässt. Noch zu Freuds Lebzeiten wurden aber alternative Positionen vertreten, insbesondere durch Ferenczi.

Unter relationalen Psychoanalytikern wird eine Gruppe von Analytikern verstanden, die ihre therapeutische Arbeit auf die Beziehungen zwischen dem Patienten und dem Therapeuten konzentrieren: geklärt werden soll, was sich in Interaktionen zwischen beiden abspielt. Im Sinne einer Zwei-Personen-Psychologie geht es um den Anteil beider am aktuellen Geschehen.

Die Relationisten sehen sich in einem Gegensatz zu Vertretern der amerikanischen Ich-Psychologie, die sich in der Sicht der Relationisten auf die Psyche des Patienten konzentrieren und im Sinne einer sogenannten Ein-Personen-Psychologie die Klärung der psychischen Prozesse im Patienten durch einen neutralen Therapeuten erreichen wollen. Die Relationisten bestreiten hingegen, dass sich ein Therapeut überhaupt neutral verhalten kann.

Die relationistische Position wird überwiegend von Analytikern außerhalb der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung vertreten bis auf wenige Ausnahmen wie z. B. Owen Renik, einem Kritiker der Ich-Psychologie.

Heute beginnt sich eine indikationsbezogene Differenzierung durchzusetzen. Abstinenz im Sinne eines Verweigerns von Triebbefriedigung ist bei Neurosen nach wie vor erforderlich; allerdings wird die Abstinenz für verschiedene Triebwünsche unterschiedlich definiert. Unter Neutralität versteht man heute ein professionelles, dem Patienten und der therapeutischen Aufgabe angepasstes Verhalten des Therapeuten, der auf die Erfüllung privater Wünsche verzichtet.

Bei den so genannten Frühstörungen geht es darum, dass innere Objekte, also die inneren Bilder vom Gegenüber, nachreifen. Nicht ausgereifte Objektbilder lösen intensive, unvereinbare Gefühle aus und werden daher in archaischer Weise in »gut« und »böse« aufgespalten. Sie können nicht als realitätsnahe Modelle für den Umgang mit Erwachsenen im Alltag dienen.

Zur Entstehung eines reifen Objektbildes in der Beziehung zum Therapeuten, eines Objektbildes, das dem Patienten dann als Muster für erwachsene Beziehungen dient, kann Transparenz verhelfen, im Sinne dosierter Mitteilungen des Analytikers über sein Erleben, seine Ansichten und seine Handlungsimpulse.

Hier teilt der Therapeut Persönliches nicht mit, um sich selbst emotional zu entlasten oder eigene Wünsche zu befriedigen und auch nicht, um die Neugier des Patienten zu stillen. Er will etwas in der Beziehung Patient-Therapeut verändern, von dem er annimmt, dass es dem Patienten auch in anderen Beziehungen nützen wird.

Ich danke wieder allen Patienten, die sich mir anvertraut haben, und allen Ausbildungskandidaten, mit denen ich in der Supervision zusammengearbeitet habe. Für anregende Diskussionen danke ich den Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich im Krankenhaus für psychogene und psychosomatische Erkrankungen Tiefenbrunn, am Lou-Andreas-Salomé-Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie in Göttingen und an der Abteilung für klinische Gruppen-Psychotherapie der Universität Göttingen gearbeitet habe, besonders Herrn Med. Dir. Dr. med. Mohammad Ardjomandi, Herrn Dipl. Psych. Dr. rer. pol. Johann Biskup, Herrn Prof. Dr. med. Franz Heigl †, Frau Prof. Dr. med. Anneliese Heigl-Evers †, Frau Dipl. Psych. Gerlinde Herdieckerhoff-Sanders, Herrn PD Dr. med. Reiner Kreische, Herrn Prof. Dr. phil. Falk Leichsenring, Herrn Prof. Dr. med. Ulrich Rüger, Herrn PD Dr. med. Hermann Staats, Herrn Prof. Dr. med. Ulrich Streeck MA, und Herrn Prof. Johannes Zauner †. Herrn Dr. med. Andreas Dieckmann, Berlin danke ich für anregende Diskussionen anlässlich eines Besuchs in seiner Großgruppe. Herrn Dr. phil. Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta danke ich wieder für die sehr angenehme und anregende Zusammenarbeit und Frau Susanne Held-Hummler für das sorgfältige Redigieren des Manuskriptes.

Frau Martina Eibach half mir beim Suchen von Literatur und bei der Strukturierung des Manuskripts von den Vorarbeiten bis zu dessen Fertigstellung. Frau Elisabeth Beucke beschaffte Literatur und half beim Erstellen des Literaturverzeichnisses, dem Abgleichen der einzelnen Kapitel und Abschnitte und bei der Endredaktion. Frau Doreen Peter kam in den letzten Wochen der Arbeit am Manuskript hinzu. Sie half ebenfalls beim Abgleichen des Manuskripts und bei der Endredaktion. Allen danke ich für ihre sehr kompetente Mitarbeit in angenehmer Arbeitsatmosphäre. Frau Erika Dzimalle danke ich für das gewohnt zuverlässige Schreiben des Manuskripts in mehreren Versionen. Meiner Frau, Dr. med. Gisela König, meinem Sohn, Dr. med. Peter König, und seiner Frau, Dr. phil. Inke König, danke ich für ihr Interesse, für kritische Stellungnahmen und anregende Diskussionen.

Zur Theorieentwicklung

Zur Entwicklung der Psychoanalyse in den USA, in Großbritannien und in Deutschland

Die Psychoanalyse in den Vereinigten Staaten wurde, jedenfalls innerhalb der Amerikanischen Psychoanalytischen Gesellschaft, lange durch die ich-psychologische Schule in der Nachfolge von Hartmann, Kris und Loewenstein beherrscht. Ihre prominentesten Vertreter sind heute Rangell, Smith und Wallerstein, wobei die letzten beiden anderen Sichtweisen gegenüber offener sind als der konservative Rangell. Psychoanalytiker der interpersonellen Schule, die sich zentral mit der aktuellen Beziehung zwischen Patient und Psychoanalytiker befasst, arbeiteten am William-Alanson-White-Institut in New York. Viele sind Mitarbeiter des Postdoctoral Program of Psychoanalysis der New York University. Zu den interpersonell ausgerichteten Psychoanalytikern gehören die Relationisten. Bekannte Vertreter dieser Richtung sind Aron und der früh verstorbene Mitchell. Levenson ist ein konservativer Interpersonalist in der Nachfolge von Sullivan. Auch die relationalen Psychoanalytiker, z. B. Mitchell, der aber Elemente der britischen Objektbeziehungstheorie berücksichtigt, beziehen sich auf Sullivan.

Aus deutscher und wohl auch aus englischer Perspektive erscheint vieles, was die relationalen Psychoanalytiker in den USA neu einführten, im Grunde bekannt. Mitchell integrierte Aspekte der in Großbritannien entstandenen Objektbeziehungstheorie von Fairbairn, Guntrip und Winnicott in die relationelle Psychoanalyse.

In Deutschland orientierten sich Psychoanalytiker beider Fachgesellschaften, der DPG und der DPV (Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft und Deutsche Psychoanalytische Vereinigung) lange an dem Technik-Lehrbuch von R. Greenson (1967), der Aspekte der Objektbeziehungs-Theorie implizit in seine Auffassung von Psychoanalyse integrierte.

In Europa gab es, im Unterschied zu den USA, nie eine die Institute beherrschende Form der Psychoanalyse, wozu die Dreiteilung des Londoner Instituts beigetragen hat.

Gegen die interpersonelle Psychoanalyse behaupten sich in den USA die Auffassungen von Kernberg, der sich zur Aufgabe gesetzt hat, Aspekte der Ich-Psychologie und Aspekte der Objektbeziehungs-Theorie zu verbinden. Er kann als ein Pionier gelten, der den Entwicklungen unseres Faches eine neue Richtung gewiesen hat, indem er eine Synthese zwischen verschiedenen Aspekten psychoanalytischer Theoriebildung ermöglichte.

Kleinianer, Interventionstechnik

Das technische Vorgehen der Kleinianer unterscheidet sich erheblich von dem anderer Psychoanalytiker. Insbesondere spielt die Aufhebung der Kindheitsamnesie kaum eine Rolle, weil die unbewussten Phantasien, von denen angenommen wird, dass sie aus der Kindheit stammen, unter Benutzung der Kleinianischen metaphorischen, körpernahen Sprache direkt angesprochen werden. Wenn man das therapeutische Vorgehen der Kleinianer dem Schichtenmodell von Sandler und Sandler (1985) zuzuordnen versucht, in dem infantiles Unbewusstes und Gegenwartsunbewusstes unterschieden werden, kann man sagen, dass das Gegenwarts-Unbewusste von den Kleinianer umgangen wird. Erschlossene unbewusste Phantasien, die dem infantilen Unbewussten zugeordnet werden können, werden über Metaphern direkt angesprochen.

Annemarie Sandler hat 2004 in Lindau in ihrem Vortrag »Übertragung und Gegenübertragung« versucht, das infantile Unbewusste mit dem performativen Gedächtnis gleichzusetzen; das Gegenwarts-Unbewusste mit dem deklarativen Gedächtnis. Die Kleinianer würden also in erster Linie das performative Gedächtnis ansprechen.

Sie kümmern sich wenig um Abwehrmechanismen, die das infantile Unbewusste abriegeln. Sie konzentrieren sich auf Abwehrmechanismen, die sich interpersonell äußern; z.B. Introjektion, Projektion und projektive Identifizierung. Verdrängung wird durch die Anwendung der metaphorischen Sprache umschifft.

Balint (1968) hat die körpernahe Metaphernsprache der Kleinianer als »mad language« bezeichnet. So mag sie zunächst wirken. Wenn der Patient aber die »mad language« gelernt hat, haben die Äußerungen des Analytikers für ihn einen Sinn und er merkt, dass sie etwas bei ihm auslösen und verändern können.

Die zeitgenössischen Kleinianer um Betty Joseph propagieren allerdings eine neue Art des technischen Vorgehens, die mit den Empfehlungen von Gill (1982) bezüglich eines direkteren und stärker fokussierenden Umgangs mit der Übertragung Ähnlichkeit hat.

Auch Melanie Kleins ursprüngliches Konzept der projektiven Identifizierung hat sich bei den Kleinianern gewandelt. Ein interaktioneller Anteil der projektiven Identifizierung wird akzeptiert. (Melanie Klein hat sich ja nicht darum gekümmert, wie ein Analysand im Analytiker bestimmte Gefühlsempfindungen hervorruft).

Die Selbstpsychologie von Kohut und seinen Nachfolgern, von manchen der relationistischen Richtung zugerechnet, hat in den USA und in Deutschland Verbreitung gefunden. Auf sie soll hier nicht näher eingegangen werden.

Gegenpositionen in der Geschichte der Psychoanalyse

In der Geschichte der Psychoanalyse geschah und geschieht es immer wieder, dass Psychoanalytiker sich gegen etwas gestellt und ihre Theorien gegen andere Theorien entwickelt haben. Das führte zu radikalen Positionen. In den USA richtete sich die Psychoanalytische Vereinigung gegen die Ausbildung von Psychologen und musste erst durch einen Prozess dazu gezwungen werden, sie zuzulassen. Wenn sich die Relationisten gegen zentrale, von den amerikanischen Ich-Psychologen vertretene Theoriestücke Freuds wenden, tun sie das auch aus einer Gegenposition zur früher bestehenden, jetzt aufgelösten Dominanz der Ich-psychologischen Richtung in den USA. Die Kleinianische Form der Psychoanalyse hat sich gegen die Sexualität als zentralen motivierenden Faktor gerichtet, indem sie die Oralität in den Mittelpunkt stellte.

Aus Gegenpositionen könnten fruchtbare Kompromisse entstehen. Leider wurden im Verlaufe der Entwicklung der Psychoanalyse Kompromisse mit den Positionen Adlers und Jungs; mit den Positionen der Kulturalisten wie Karen Horney, Fromm und Frieda Fromm-Reichmann sowie mit den Interpersonalisten in der Nachfolge von Sullivan durch Ausgrenzung behindert. Auch heute wird die Bildung von Kompromissen, die der Wahrheit näher sind als Extrempositionen, durch ein hartnäckiges Verteidigen der gegensätzlichen Positionen verhindert. So sind Interpersonalisten wie Levenson und Aron in ihrer Ablehnung der Berücksichtigung biologischer Aspekte der Psychoanalyse ähnlich radikal wie es die Ich-Psychologen in der Ablehnung der interpersonalistischen Konzepte früher waren und zum Teil noch sind. Erst in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts hat sich in den USA ein Dialog entwickelt.

Dass Verständigung schwer fällt, hat vielleicht damit zu tun, dass der Psychoanalytiker sich während seiner Arbeit in eine persönliche, intime, aber nicht private Beziehung mit einem anderen Menschen begibt und daher Überzeugungen braucht, die den Emotionen standhalten, die sein Patient in ihm hervorruft. Vielleicht ist auch ein religiöses Bedürfnis im Spiel, der Wunsch, etwas zu glauben, das der eigenen Arbeit Sinn gibt.

Wenn die eigenen Positionen in Frage gestellt werden, dann wird auch die Identität dessen gefährdet, der sie eingenommen hat. Am radikalsten wurden immer Neuerungen bekämpft, die etwas mit dem Selbstverständnis der Menschen zu tun hatten.

Radikale wissenschaftstheoretische Positionen

Manche wissenschaftstheoretischen Positionen, auf die sich psychoanalytische Autoren beziehen, etwa Objektivismus oder Konstruktivismus, sind inkompatibel. Umso mehr wundert man sich darüber, dass auf sie in den USA so Bezug genommen wird, als ob diese Positionen die einzig möglichen seien und es nur noch darum gehe, ihre Inhalte in der Praxis anzuwenden. Man gewinnt den Eindruck, dass die Wissenschaftstheoretiker von den Psychoanalytikern in ähnlicher Weise als Autoritäten und Verkünder nicht hinterfragbarer Wahrheiten missbraucht werden wie Psychoanalytiker das oft mit Freud gemacht haben. Der Missbrauch Freudscher Schriften zur Begründung von Aussagen, die anders begründet werden sollten und vielleicht auch könnten, wird durch einen Missbrauch der Wissenschaftstheorie abgelöst, wobei die radikalsten Positionen offenbar einen besonderen Grad von Attraktivität haben. Es wird ein »radikaler Intersubjektivismus« und ein »radikaler Konstruktivismus« vertreten.

Paradigmen

Vor allem in den USA ist es üblich geworden, von Paradigmen (z. B. vom interpersonellen Paradigma und vom ichpsychologischen Paradigma) zu sprechen, wenn es um psychoanalytische Schulen geht. Spezzano (1993) hat dargelegt, dass es sich dabei nicht um Paradigmen im Sinne von Kuhn (1970) handeln kann, weil die von Kuhn angeführten Kriterien nicht erfüllt sind. Zwar folgen bestimmte Gruppierungen in ihren Publikationen einem bestimmten Paradigma, oder sie stellen es zumindest in den Vordergrund ihrer theoretischen Überlegungen; es gibt aber keine kodifizierten Handlungsanweisungen.

Tatsächlich ist bei Befragungen (vgl. Spezzano 1993) herausgekommen, dass sich die meisten Psychoanalytiker in den USA eklektisch verhalten, auch wenn sie sich einer Gruppierung von Analytikern zugehörig fühlen, die ein bestimmtes Modell vertritt. Spezanno bringt Beispiele dafür, dass Ich-Psychologen sich in manchem ähnlich verhalten wie Kleinianer, obwohl sie sich selbst nie als solche bezeichnen würden.

Auf einem Kongress über Projektion, Identifizierung und projektive Identifizierung in Jerusalem 1984 bezog sich Sandler (1987) auf die bekannte Anekdote von dem Juden, der auf eine einsame Insel verschlagen wird und dort zwei Synagogen baut: eine, in der er betet, und eine andere, die er nie betreten würde; selbst wenn sein Leben davon abhinge.

Dass es unter Psychoanalytikern zahlreiche nicht zugestandene Gemeinsamkeiten gibt, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen: Selbst die unvertraute Lacansche Richtung der Psychoanalyse wurde mir plausibel, als ich an einem Workshop mit Lacanianern teilnahm. Ich gewann den Eindruck, dass sich die Lacanianer in ihrer Praxis von der meinen viel weniger unterschieden als ich erwartete. Ähnliche Erfahrungen werden von Psychoanalytikern immer wieder berichtet.

Vertikale und horizontale Erweiterungen, abgeschottete Schulen, Ausbrüche oder Grenzverkehr

Psychoanalytiker neigen dazu, ihre Patienten und die Arbeit mit ihnen aus nur einer Perspektive zu betrachten. Was links und rechts von ihrem Standpunkt geschieht und was andere Psychoanalytiker zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machen, bleibt unbeachtet.

Man könnte das als ein Scheuklappen-Phänomen bezeichnen. Scheuklappen verhindern, dass Pferde durch das, was rechts und links von ihrem Kopf geschieht, irritiert werden und dann »scheuen«, d. h. die andressierte Kontrolle verlieren.

Ein bleibender Konsens kann wohl nie erreicht werden, weil sich aus Weiterentwicklungen in den verschiedenen Schulen der Psychoanalyse immer neue offene Fragen ergeben, die in einem Austausch zwischen den Schulen gelöst werden könnten. Gäbe es nur eine Schule, wären die Fragen vielleicht nicht aufgetaucht. Die Psychoanalyse wäre dann so steril, wie sie es im Bereich der amerikanischen Ich-Psychologie lange Zeit war und im Bereich der klassischen Melanie Kleinschen Schule immer noch ist.

Schulrichtungen, die sich nach rechts und links abschotten, während sie ihre Kräfte auf den Bau eines theoretischen Turmes konzentrieren, der sich immer weiter von seinen Fundamenten entfernt, bleiben in dem Turm eingesperrt und verlieren auf den höheren Ebenen der Abstraktion auch den Kontakt zur empirischen Basis. Man gewinnt schließlich den Eindruck, der Turm schwebe in der Luft.

Die Angehörigen einer derart isolierten Schule machen diese Entwicklung entweder mit, oder sie sehen sich trotzdem auf der horizontalen Ebene um; dann aber nicht im Sinne eines kollegialen Austauschs, sondern als Überläufer: Sie wechseln in eine andere Schule. Es kommt zu einem Ausbruch statt zu einem Grenzverkehr. Man hört dann oft, die frühere Schule sei ganz schlecht und die neue sehr gut. Ein interkollegialer Austausch dagegen hätte zu etwas geführt, das besser wäre als die beiden ursprünglichen Schulen und von dem beide profitieren könnten: der »Dissident« und die Schule, zu der er jetzt gehören möchte.

Kreative Köpfe in einer steril gewordenen psychoanalytischen Schule, die einen Ausweg aus der Sterilität suchen, finden teilweise auch selbst neue Ansätze, die es noch nicht gegeben hat; weder in der eigenen noch in einer anderen Schule. Hier ist allerdings zu fragen, wie weit es sich nicht um neue Bezeichnungen für alte Begriffe handelt, den sprichwörtlichen »alten Wein in neuen Schläuchen«. Originelle Ansätze haben überlebt, z.B. die amerikanische Selbstpsychologie; viele sind nicht bekannt geworden, oder man hat sie bald vergessen.

Integrationsversuche

In den USA haben Wallerstein (1988) und Smith (2000) versucht, das Gemeinsame an verschiedenen, theoretisch unterschiedlich begründeten Techniken zu sehen.

Wallerstein sieht es im ähnlichen Handeln in einer spezifischen Situation, die durch das psychoanalytische Setting bestimmt ist, wozu auch die Rollenvorschriften für Analysand und Patient gehören. Das passt zu der Erfahrung, dass man sich mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Schulen leicht verständigen kann, wenn es um die konkrete Arbeit mit dem Patienten geht.

Dazu steht allerdings die Untersuchung von Pulver (1987) im Widerspruch, der Transkripte von Analysen an Analytiker verschiedener Schulen verteilte und große Unterschiede fand. Diese Unterschiede kommen zum Teil daher, dass die Analytiker als Vertreter verschiedener Schulen angesprochen wurden, und dass sie deshalb die eigenen impliziten Theorien (Sandler 1983) weniger zur Anwendung brachten als die offiziell von ihnen vertretenen. Die Unterschiede vergrößerten sich, weil die Beurteilungen von den publizierten Theorien so stärker beeinflusst wurden als die therapeutische Praxis.

Hypothesen und ihre Schicksale

Fonagy und Target (2003) weisen in ihrem Buch über psychoanalytische Entwicklungspsychologie mehrfach darauf hin, dass Annahmen der verschiedenen psychoanalytischen Schulen, die zunächst unplausibel erschienen, durch Untersuchungen im Bereich der akademischen Psychologie bestätigt werden.

Ähnliches kann feststellen, wer sich mit der Geschichte der Naturwissenschaften beschäftigt. Dass eine Wissenschaft Hypothesen generiert und Theorien entwickelt, die sich später als falsch erweisen, spricht nicht gegen diese Wissenschaft. Eine Problematik der Psychoanalyse liegt darin, dass sie das Junctim-Postulat von Freud (1926, S. 293f) zu einem Glaubensbekenntnis machte, indem sie postulierte, Psychoanalysieren sei die einzige Möglichkeit zu forschen.

Die Annahme, der Psychoanalytiker könne Erkenntnisse nur in Psychoanalysen gewinnen, und diese Erkenntnisse seien hinreichend, kam einem Beharrungsvermögen der Psychoanalytiker entgegen, die meist unlustig waren, mit anderen Wissenschaftszweigen zu kooperieren und daraus Forschungsmethoden zu entwickeln, deren Ergebnisse außerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft anerkannt würden.

Der Positivismus-Streit in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war auch ein Streit zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern. Geisteswissenschaftler haben keinen positivistischen Wissenschaftsbegriff, obwohl heutzutage in den Geisteswissenschaften (z. B. in der Linguistik) nach positivistischen Kriterien geforscht wird. Der Positivismus-Streit, bei dem es im Grunde um eine Konkurrenz von Weltanschauungen ging, passte in die Zeit der sechziger und siebziger Jahre. Die Psychoanalyse wurde als Begründungsmöglichkeit für weltanschauliche Annahmen gesehen und herangezogen. Auch wegen ihrer revolutionären Qualitäten wurde sie geschätzt. Heute wird der Verlust eines revolutionären Impetus im Bereich der Psychoanalyse beklagt.

Gegenwärtig schlägt das Pendel nach der positivistischen Richtung aus, denn die Kostenträger verlangen von der Psychoanalyse Beweise ihrer Wirksamkeit, die sie auch liefern kann und liefert, wobei Methoden angewandt werden, die positivistischen Kriterien und positivistischer Kritik standhalten.

Psychoanalyse als angewandte Wissenschaft, Co-Morbidität als Fehlerquelle

Vergleicht man die Psychoanalyse mit den Naturwissenschaften, wird deutlich, dass der Vergleich mit Grundlagenwissenschaften wie Biologie, Psychologie, Physik oder Chemie nicht passt. In der Psychoanalyse wird Wissenschaft angewandt, daneben spielt aber Praxiserfahrung eine Rolle. Sie wird im Umgang mit Patienten gewonnen, wobei theoretische Vorstellungen in impliziter und in ausformulierter Art die Beobachtung und die Interpretation des Beobachteten leiten, ähnlich wie die Physik in den Ingenieurswissenschaften berücksichtigt und angewandt wird, ohne dass sich die Konstruktion eines Autos aus der Physik ableiten ließe.

Allgemeine Gesetzmäßigkeiten können nicht in einer einzelnen Psychoanalyse gefunden werden. Dazu sind Beobachtungen in mehreren Therapien erforderlich. Die Hoffnung, aus einer einzigen Psychoanalyse Gesetzmäßigkeiten ableiten zu können, hat zu Fehlannahmen geführt, indem z.B. Phänomene, die außerdem bei einem Patienten mit einem bestimmten Krankheitsbild auch vorkamen, dem Krankheitsbild zugerechnet wurden. Dieses Phänomen der Co-Morbidität tritt bei vielen psychischen Krankheitsbildern auf: Ähnlich wie Persönlichkeitsstrukturen so gut wie nie rein vorkommen, findet man, sofern man danach fragt oder sucht, bei fast allen Patienten mit einer psychogenen Symptomatik weitere Symptome, die im Erleben des Patienten zwar nicht im Vordergrund stehen, aber Krankheitswert haben.

Beim Aufklären der Psychodynamik, die bestimmten Krankheitsbildern zugrunde liegt, ist also die Untersuchung einer großen Zahl von Fällen notwendig, was ein Analytiker in einer Einzelpraxis kaum durchführen kann. Gefragt sind Kliniken und Polikliniken, oder es werden Untersuchungen von mehreren kooperierenden Psychoanalytikern in Einzelpraxen durchgeführt.

Überzeugungen

Die Heftigkeit der Diskussionen um die Subjektivität des Analytikers lässt sich innerhalb der Psychoanalyse aus der quasi-religiösen Färbung erklären, die die Psychoanalyse in vielen Ländern, insbesondere in den USA, nach dem Tode Freuds angenommen hat. Im Kontrast zu dieser Einstellung, für die es von entscheidender Wichtigkeit ist, dass man dem wahren Glauben anhängt, wirkt die Ansprache des Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung Wildlöcher (2002) entlastend. Die Unterschiede zwischen den Schulen hält er für fruchtbar. Sie müssten nicht überwunden werden, sie förderten die Diskussion. Wildlöcher kann den Schulenstreit wohl auch deshalb ruhiger betrachten, weil er außer seiner Identität als Psychoanalytiker eine weitere Identität als Universitätspsychiater und ehemaliger Leiter einer großen psychiatrischen Klinik hat. Den psychoanalytischen Universitätslehrer verlangt es nicht so dringend wie den Psychoanalytiker, der nur an Instituten oder in Verbindung mit Instituten arbeitet, nach der so genannten »psychoanalytischen Identität«. Psychoanalytiker wie Wildlöcher, die auch als Ärzte und Wissenschaftler tätig sind, können auf eine gesicherte »Identität als Psychoanalytiker« verzichten, vor allem wenn es sich um eine Identität handelt, die nur durch das Befolgen von Glaubenssätzen aufrechterhalten werden kann.

Die psychoanalytische Identität

Thomä (2004) sieht in der Forderung nach einer »psychoanalytischen Identität« der Psychoanalytiker ein veraltetes Konzept, das die Weiterentwicklung der Psychoanalyse behindert, da es auf Glaubenssätzen beruht und die Akzeptanz der Psychoanalyse in der Scientific Community erschwert.

Um der Scientific Community anzugehören, muss man nicht notwendig positivistische Wissenschaftskriterien akzeptieren. Auch im Bereich der Wissenschaftstheorie gibt es Kontroversen, und zu verschiedenen Wissenschaftszweigen passen unterschiedliche Theorien. Notwendig ist aber, dass man als Psychoanalytiker seine wissenschaftliche Position kennt oder eine Vorstellung davon hat, weshalb die Psychoanalyse mit keiner bis jetzt entwickelten wissenschaftstheoretischen Auffassung völlig zur Deckung gebracht werden bzw. aus keiner bisher vertretenen wissenschaftstheoretischen Position außerhalb der Psychoanalyse ganz verstanden werden könne.

Eine solche Position ist riskant, aber legitim. Riskant insofern, als aus anderen wissenschaftlichen Positionen argumentiert werden könnte, damit sei die Psychoanalyse bis auf weiteres als unwissenschaftlich zu bezeichnen. Legitim insofern, als sich wissenschaftstheoretische Annahmen in der Vergangenheit geändert haben und kein Grund für die Annahme besteht, dass sie sich in der Zukunft nicht verändern werden. Wenn sie sich aber verändern können, dann ist es auch nicht ausgeschlossen, dass die Veränderungen in einer von der Psychoanalyse erwarteten oder geforderten Richtung gehen.

Umgekehrt könnte es sein, dass sich die Psychoanalyse künftigen wissenschaftstheoretischen Entwicklungen anpasst, so dass Psychoanalyse und Wissenschaftstheorie sich treffen.

Objektivität und Subjektivität: Was kann ein Therapeut erkennen?

Interpersonaler Konsens nach W. Loch