1.
Überblick: Zuwanderer in der betreuungsgerichtlichen Praxis

1.1 Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland

Weiterführende Literatur:

Meier-Braun, Karl Heinz/Weber, Reinhold, Migration und Integration in Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013.

In der betreuungsgerichtlichen Praxis spielen Zuwanderer – wie überall in der gerichtlichen Praxis und wie in der Gesellschaft insgesamt – eine immer größere Rolle. Hierin spiegelt sich der ständig zunehmende Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung wider.

Ein bedeutender Anteil der Wohnbevölkerung in Deutschland, nämlich fast zehn Prozent besitzt keine deutsche Staatsangehörigkeit. Jeder fünfte Einwohner Deutschlands hat einen Migrationshintergrund. Immerhin 13,3 Prozent der Menschen in Deutschland verfügen über eine eigene grenzüberschreitende Migrationserfahrung.

Statistisch teilt sich die Wohnbevölkerung ohne deutsche Staatsangehörigkeit nach Altersgruppen und wichtigen Herkunftsländern entsprechend der Tabelle auf der Folgeseite auf.

Die größte Ausländergruppe bilden danach mit Abstand die Türken, gefolgt von Polen und Italienern.

Interessanter als die Staatsangehörigkeit, die im Betreuungsverfahren von eher untergeordneter Bedeutung ist,1 sind die Zahlen über die Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Denn die besonderen Herausforderungen, die das Betreuungsverfahren im Umgang mit Zuwanderern stellt, sind ganz unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen.

Ausländische Bevölkerung am 31.12.2014

Staatsangehörigkeiten

Insgesamt

Davon im Alter von … bis unter … Jahren

Durchschnittliches

unter 20

20 bis 45

45 bis 65

65 und mehr

Insgesamt

8 152 968

1 114 428

4 148 412

2 070 278

819 850

39,3

Europa

6 394 914

810 358

3 130 015

1 711 909

742 632

40,7

EU-28

3 672 394

418 733

1 838 456

1 037 175

378 030

40,6

Polen

674 152

79 063

393 347

182 811

18 931

37,1

Italien

574 530

61 397

246 806

190 053

76 274

43,3

Rumänien

355 343

55 315

238 225

56 511

5 292

32,3

Griechenland

328 564

40 917

135 384

99 558

52 705

43,5

Kroatien

263 347

20 159

112 643

78 638

51 907

46,3

Bulgarien

183 263

33 636

112 560

34 194

2 873

32,6

EU-Kandidatenländer

1 940 883

266 858

908 133

488 671

277 221

41,4

Türkei

1 527 118

179 934

722 034

398 400

226 750

42,3

EWR-Staaten/Schweiz

46 031

2 618

16 439

16 349

10 625

49,2

Sonstiges Europa

735 606

122 149

366 987

169 714

76 756

38,6

Russische Föderation

221 413

32 339

117 346

52 112

19 616

38,7

Kosovo

184 662

49 978

95 612

31 324

7 748

31,9

Bosnien und
Herzegowina

163 519

21 649

71 397

47 993

22 480

42,2

Afrika

363 745

66 431

223 506

61 089

12 719

33,0

Amerika

245 674

23 202

133 746

67 257

21 469

39,9

Asien

1 074 988

196 426

625 221

215 319

38 022

33,8

Australien und Ozeanien

14 767

1 180

9 072

3 237

1 278

38,9

Staatenlos, ungeklärt, ohne Angabe, kontinentübergreifend

58 833

9 042

17 055

7 206

2 136

30,3

Quelle: Statistisches Bundesamt nach Daten des Ausländerzentralregisters2

Bevölkerung mit Migrationshintergrund3 2013

Alter von … bis unter … Jahren

Bevölkerung in 1 000

insgesamt

ohne Migrations-
hintergrund

mit Migrationshintergrund im engeren Sinne

zusammen

Deutsche

Ausländer

mit

ohne

mit

ohne

eigene(r) Migrationserfahrung

Insgesamt

81 913

65 570

16 343

5 059

3 914

5 860

1 511

unter 5

3 289

2 123

1 166

23

973

44

126

05 bis 10

3 425

2 255

1 170

35

940

70

125

10 bis 15

3 777

2 641

1 136

64

767

99

206

15 bis 20

4 125

2 991

1 134

130

574

158

272

20 bis 25

4 887

3 751

1 136

300

310

332

194

25 bis 35

9 991

7 465

2 526

874

201

1 161

290

35 bis 45

11 014

8 426

2 588

934

99

1 352

204

45 bis 55

13 434

11 214

2 219

1 043

29

1 097

51

55 bis 65

10 705

9 025

1 681

783

14

865

18

65 bis 75

9 241

8 262

979

452

6

507

15

75 bis 85

6 097

5 601

496

332

/

155

7

85 bis 95

1 830

1 722

108

84

/

22

/

95 und mehr

99

94

5

/

/

/

/

Durchschnittliches Alter

44,2

46,4

35,5

47,2

12,4

43,9

23,5

Quelle: Statistisches Bundesamt nach Daten des Mikrozensus4

Auffällig ist, dass die für die betreuungsgerichtliche Praxis besonders relevante Altersgruppe der über 65jährigen im Vergleich mit dem Anteil dieser Altergruppe unter Deutschen vergleichsweise klein ist, was sich aber innerhalb der verschiedenen Zuwanderergruppen stark unterscheidet. Auch sind die 65jährigen mit Migrationshintergrund eine der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppen Deutschlands. Insgesamt liegt das Durchschnittsalter der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei 35,5 Jahren und damit etwa 11 Jahre unter dem Durchschnittsalter der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund von 46,4 Jahren.

Von der zugewanderten Wohnbevölkerung von insgesamt etwas über 10 Millionen Menschen5 haben mehr als die Hälfte eine Aufenthaltsdauer von mehr als 20 Jahren. Insgesamt stellt sich die Aufenthaltsdauer wie folgt dar:

Zuwanderer

Mit Angaben zur Aufenthaltsdauer

Aufenthaltsdauer von … bis unter … Jahren

Durchschnittliche Aufenthaltsdauer

unter 6

6 – 8

8 – 9

9 – 15

15 – 20

20 – 40

40 und mehr

10 490

10 359

1 375

310

196

1 581

1 463

3 871

1 564

22,5

Quelle: Statistisches Bundesamt nach Angaben des Mikrozensus6 (Angaben in 1 000)

In den Großstädten ist der Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund besonders hoch, Tendenz weiter steigend.

In Frankfurt (Main) haben inzwischen (2014) etwa 45 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund. In Nürnberg, Stuttgart, München, Düsseldorf, Köln, Hannover und Duisburg liegt der Anteil zwischen 30 und 40 Prozent. Hamburg, Bremen und Berlin erreichen noch Anteile zwischen 25 und 30 Prozent.7

Die formale Bildung und die soziale Situation ist bei Personen mit Migrationshintergrund schlechter als bei Personen ohne Migrationshintergrund. Während von den Personen ohne Migrationshintergrund etwa 84 Prozent über einen Schulabschluss verfügen, sind es unter den Personen mit Migrationshintergrund lediglich etwa 64 Prozent.8 Bei Personen mit Migrationshintergrund befindet sich ein deutlich höherer Anteil in den unteren Gruppen des Haushaltseinkommens als bei Personen ohne Migrationshintergrund – zudem liegt die Haushaltsgröße, also die Zahl der Personen, die sich ein Haushaltseinkommen teilen, im Schnitt deutlich höher.9

Der statistisch erfasste Gesundheitszustand bzw. die statistisch erfassten Erkrankungen unterscheiden sich bei Personen mit Migrationshintergrund nur wenig von dem Gesundheitszustand von Personen ohne Migrationshintergrund, wobei hier offen bleiben muss, inwieweit eine mögliche geringere Neigung von Zuwanderern, Ärzte aufzusuchen, hier die Statistik verzerrt. Insgesamt lässt sich sagen, dass in unteren Altersgruppen (bis 45 Jahre) Zuwanderer etwas weniger krank sind und in den Altersgruppen ab 45 Jahre etwas häufiger erkranken. Die Abweichungen sind jedoch insgesamt gering.10

Für die Betreuungspraxis ist die Gruppe der Flüchtlinge in besonderer Weise relevant. Die Zuwanderung von Flüchtlingen nimmt infolge politischer Krisen, Bürgerkriege und auch wirtschaftlicher Not immer mehr zu. Ein Ende oder eine nennenswerte Verlangsamung der Flüchtlingsmigration ist derzeit nicht absehbar. 2014 kamen rund 173.000 Flüchtlinge nach Deutschland11, Tendenz deutlich steigend.12 Es ist davon auszugehen, dass die Flüchtlingsmigration in den nächsten Jahren die Struktur der Bevölkerung mit Migrationshintergrund nachhaltig verändern wird. Es ist zwar derzeit noch schwer zu prognostizieren, welcher Anteil der Flüchtlinge dauerhaft in Deutschland bleiben wird, tendenziell wird aber ein hoher Anteil von Flüchtlingen aus dem vorder- und zentralasiatischen Raum, in geringerem Ausmaß auch aus Afrika, die deutsche Gesellschaft prägen. Gerade Flüchtlinge stellen das Betreuungsgericht vor besondere Herausforderungen, da sie häufig vor ihrem Fluchthintergrund mit Traumata und hierdurch bedingten psychischen Erkrankungen Deutschland erreichen.13

1.2 Zuwanderung und ihre psychischen Folgen

1.2.1 Soziologische Modelle von Zuwandererintegration

Weiterführende Literatur:

Petrus Han, Soziologie der Migration. 3. Aufl. Stuttgart 2010, S. 5–123.

Annette Treibel, Migration in modernen Gesellschaften. Weinheim und München 5. Aufl. 2011

An dieser Stelle können nicht die verschiedenen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Theorien der Migration und der Integration von Migranten wiedergegeben werden. Sie folgen ganz unterschiedlichen Ansätzen, indem sie Integrations- oder Assimilationskonzepte verfolgen, sich mit den Vorurteilen der Aufnahmegesellschaft und der Zuwanderer beschäftigen, handlungs- oder strukturtheoretische Schwerpunkte setzen, Integration kulturell, ökonomisch oder strukturell begreifen. Einige besonders prägende soziologische Theorien sollen jedoch kurz angesprochen werden, da sie die strukturelle Basis aufzeigen, die zu bestimmten psychischen Folgen der Migration führt.

Erste Forschungen über die Eingliederung von Migranten wurden in den zwanziger Jahren in der sich entwickelnden amerikanischen Stadtsoziologie betrieben. Es ist kein Zufall, dass sich diese Forschung gerade in Chicago so stark entwickeln konnte, hatte doch Chicago in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jährlich Zehntausende von Zuwanderern aus Europa aufgenommen und so seine Einwohnerzahl von 1850 bis 1930 mehr als verhundertfacht (1850: 30.000 Einwohner, 1930: 3,3 Millionen).

Eines der Werke der Chicago-Schule, „The City“ von Park, Burgess und McKenzie aus dem Jahr 1925 wurde zu einem Klassiker der Integrationsforschung. Die Autoren legen den Focus auf die Effekte von Migration für die aufnehmende Gesellschaft. Der erste Schritt zur Integration von Zuwanderern ist danach die Bildung ethnischer Kolonien in den schlechteren Wohnvierteln. Diese stellen eine Eingliederungshilfe dar. Die Siedlungstendenz geht dann in die besseren Wohnviertel. Bereits die nächste Generation wohnt deutlich besser als die vorherige. Ethnische Kolonien werden von der zweiten Generation nicht mehr oder nur noch deutlich weniger gebildet.

Für die weitere Migrationsforschung wurden auch die Werke von Park bedeutend, in denen er die Theorie des race-relations-circle, eines modellhaften Verlaufs von Assimilation, entwickelte.14

Parks Grundkonzept ist die Assimilation von Migranten, das heißt die totale Vermischung („fusion“) mit der Einwanderungsgesellschaft. Er betont die Notwendigkeit einer Assimilationspolitik, da die Einwanderer ein hohes Unruhepotential mit sich brächten, welches die demokratische Gesellschaft der USA gefährde. Die Assimilationspolitik solle den Einwanderern einen Zeitraum zugestehen, in dem sie alte mit neuen Gewohnheiten verbinden sollten. Dies gälte jedoch nicht für das „culturally undeveloped material“ der Schwarzen, Indianer, Mexikaner und Slumbewohner.15

Ein weiterer Meilenstein der Integrationsforschung war Tafts Stufenmodell der Assimilation.16 Taft versteht Assimilation als zweiseitigen Prozess des Zuwanderers und der Aufnahmegesellschaft und kommt also dem nahe, was wir heute als Integration bezeichnen.

Er unterscheidet verschiedene Stadien bzw. Dimensionen des Integrationsprozesses:

Stadien der Eingliederung von Wanderern nach Taft17

Stadium/Dimension

interner Wandel

externer Wandel

Wissen über die kulturellen Eigenarten der Aufnahmegesellschaft, kulturelles Lernen

vermeintliches Wissen

tatsächliches Wissen

Einstellung zur Aufnahmegesellschaft

positive Einstellungen zu

  • den Mitgliedern
  • den Normen
  • der eigenen Mitgliedschaft in der Aufnahmegesellschaft

aktive Bemühungen des Zuwanderers um Interaktion mit Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft

Beteiligung an deren Aktivitäten

Mitgliedschaft in der Aufnahmegesellschaft

Einstellungen zur Herkunftsgesellschaft/
Zuwanderergruppe

negative Einstellungen zu

  • den Mitgliedern
  • den Normen
  • der eigenen Mitgliedschaft in der Herkunftsgesellschaft/Zuwanderergruppe

Rückzug aus Interaktionen mit Mitgliedern der Zuwanderergruppe

Beteiligung an deren Aktivitäten

Mitgliedschaft in der Herkunftsgesellschaft/Zuwanderergruppe

Rollenannahme, „Akkommodation“

Konformität zu den vermuteten Rollenerfordernissen in der Aufnahmegesellschaft

Konformität zu den tatsächlichen Rollenerfordernissen in der Aufnahmegesellschaft

Soziale Aufnahme

vermutete Aufnahme in die Aufnahmegesellschaft hinsichtlich von Primärbereichen

tatsächliche Aufnahme in die Aufnahmegesellschaft

Gruppenmitgliedschaft, „Identifikation“

Selbstidentifikation als Mitglied der Aufnahmegesellschaft

Identifikation des Zuwanderers als Mitglied der Aufnahmegesellschaft durch

die Aufnahmegesellschaft,

die Zuwanderergruppe und

die Herkunftsgesellschaft

Konvergenz der Normen, „Kongruenz“

vermutete Kongruenz der eigenen mit den Normen der Aufnahmegesellschaft

tatsächliche Kongruenz der eigenen mit den Normen der Aufnahmegesellschaft

Für die deutsche Integrationsforschung prägend wurde zunächst der strukturtheorische Ansatz Hoffmann-Nowotnys,18 in dem er von einem Modell der Spannungen ausgeht, die im Laufe des Integrationsprozesses an Kraft verlieren. Heute einflussreicher ist das 1980 entwickelte Modell Essers,19 das auf einen handlungstheoretischen Ansatz zurückgreift. Er führt alle sozialen Prozesse, Systemerfordernisse und Funktionen auf das interessengeleitete Handeln und Lernen von Individuen zurück.20 Migration ist zunächst mit Desozialisation der Migranten verbunden: Die bisherige Bezugswelt, ihre Rollenverflechtungen und Alltagsroutinen werden aufgegeben. Zwangsläufig folgen Prozesse der Resozialisation, die Esser als Eingliederung bezeichnet.

Formen der Assimilation nach Esser21

Assimilationsform

Spezifische Variable

kognitive Assimilation
(Wissens-Dimension)

Sprache, Fertigkeiten, Verhaltenssicherheit, Regelkompetenz für Gestik und Gebräuche, Normenkenntnis, Situationserkennung

Identifikative Assimilation
(Wert-Dimension)

Rückkehrabsicht, Einbürgerungsabsicht, ethnische Zugehörigkeitsdefinition, Beibehaltung ethnischer Gebräuche, politisches Verhalten

Soziale Assimilation
(Interaktions-Dimension)

Formelle und informelle ethnische Kontakte, De-Segregation, Partizipation an Einrichtungen des Aufnahmesystems

strukturelle Assimilation
(Institutions-Dimension)

Einkommen, Berufsprestige, Positionsbesetzung, vertikale Mobilität, De-Segregation

In der weiteren migrationswissenschaftlichen Diskussion tauchte dann der Gedanke der Binnenintegration auf. Er wurde für die weitere Migrationsforschung zwar nicht so zentral, spielt aber bei der Beurteilung der psychologischen Folgen der Migration eine bedeutende Rolle. Er klingt bereits bei Park an und wurde erstmals 1982 von Elwert22 ausformuliert. Elwert meint, eine stärkere Integration fremdkultureller Einwanderer in ihre eigenen sozialen Zusammenhänge innerhalb der aufnehmenden Gesellschaft sei häufig ein positiver Faktor für ihre Integration in die aufnehmende Gesellschaft. Denn bestehende Machtungleichgewichte beinhalten eine Definitionsmacht der Einheimischen, die auf dauerhafte Stigmatisierung der Zuwanderer angelegt ist. Sie wirken deshalb integrationshinderlich. Folglich ist es sinnvoll, wenn die Außenseitergruppe Gegenmacht erzeugt. Dies kann vor allem durch starke Binnenintegration erfolgen. Diese hat insgesamt drei Funktionen:

Binnenintegration dient so gesehen einer Stärkung der Selbsthilfestrukturen. Allerdings muss die Binnenintegration auf ein Leben in der aufnehmenden Gesellschaft ausgerichtet sein. Es darf also nicht zu sozialer Isolation kommen24 . Neuere Untersuchungen haben die Binnenintegrationsthese von Elwert empirisch bestätigt.25

1.2.2 Psychologie der Migration

Weiterführende Literatur:

Petrus Han, Soziologie der Migration. 3. Auflage Stuttgart 2010, S. 198–232

Wieland Machleidt/Andreas Heinz (Hrsg.), Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie, München 2011, S. 1–90.

Grenzüberschreitende Migration bedeutet immer einen radikalen Wechsel der eigenen Lebensumstände. Der Migrant gibt in der Regel sein soziales Bezugssystem fast völlig auf. Im Falle einer Gruppenmigration können Teile des Bezugssystems erhalten bleiben, zumeist ist der Migrant aber gezwungen, in einem lang andauernden Prozess neue Bezugssysteme zu entwickeln, neue Bindungen und Zugehörigkeiten zu schaffen und sich in die Aufnahmegesellschaft einzufinden.

Dabei werfen beide Aspekte – das Verlassen der alten Kultur und des alten Bezugssystems einerseits und die Eingliederung in ein neues Bezugssystem anderseits ihre eigenen Schwierigkeiten auf.

Die Aufgabe bisheriger Sozialzusammenhänge durch die Auswanderung hat fast traumatischen Charakter. Es wird deshalb in der Migrationsforschung gern unter den Labels der Entwurzelung und Desozialisierung thematisiert.

Jedes Sozialsystem lebt von Generalisierungen, von Codes, nach denen soziales Verhalten und Kommunikation funktioniert und die bei der Komplexität moderner Gesellschaften unverzichtbar sind, weil sie die Orientierung vereinfachen. Der Migrant verlässt diesen Rahmen, der bisher bei der Interaktion und Erlebnisverarbeitung Sicherheit gegeben hat. Damit wird die Verhaltenssicherheit grundlegend erschüttert und zwar solange, bis sich die Migranten in der neuen Realität zurechtfinden – bis sie Strukturen und Codes der Aufnahmegesellschaft verstehen und durch dieses generalisierte Verständnis in der Lage sind, die komplexe Realität der Aufnahmegesellschaft zu verstehen und ihre Strukturen für sich zu nutzen. Die Entwurzelung dauert also so lange an, bis die Wurzeln des Migranten neuen Halt gefunden haben.

Neben dem schwierigen Prozess des Begreifens der Strukturen und dem Aneignen von Verhaltenskonventionen und Codes der aufnehmenden Gesellschaft kommt der Sprache eine zentrale Bedeutung zu. Denn Sprache ist nicht nur das wichtigste Kommunikationsmittel, sondern definiert den Sprechenden auch als Teil einer Sprachgemeinschaft. Zudem dient Sprache auch der Selbstdefinition, indem individuelle persönliche Ausdrucksweisen, sei es bei der Wortwahl oder der Artikulation zum Bestandteil des Persönlichkeitsbildes werden.26 Sprache vermittelt zudem ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl, das Sicherheit gibt. Die Aufgabe dieser Sicherheit im Migrationsprozess bedeutet zugleich einen Ausschluss vom alltäglichen kommunikativen Austauschprozess im Herkunftskontext und eine Aufgabe der Teilhabe an der sich weiter entwickelnden Wissens- und Erfahrungsgemeinschaft, zu der der Migrant bislang gehörte.27

Migration bedeutet zudem auch einen Bruch in der Identität des Migranten. Die sozialen Rollen, die der Migrant einnimmt, verändern sich meist völlig. Häufig muss auch der ursprüngliche Beruf aufgegeben werden.

Der zweite Schritt nach der Desozialisierung ist dann die Resozialisierung in der Aufnahmegesellschaft, die Assimilation, Akkulturation oder Integration.

Migration geht zunächst mit Fremdheitserfahrungen einher – bei der aufnehmenden Gesellschaft und beim Zuwanderer.

Jede Migration ist von zwei Grundgefühlen begleitet, der Hoffnung auf ein besseres Leben einerseits und der Angst vor dem Unbekannten andererseits. Beide Gefühle treten unabhängig von dem Motiv der Migration auf. Sie sind also bei Kriegsflüchtlingen ebenso anzutreffen wie bei Arbeitsmigranten oder bei ausländischen Ehepartnern, die zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin nach Deutschland ziehen.28

Unabhängig davon, wie im konkreten Fall die Erwartungen an das aufnehmende Land sind, lassen sich die Phasen des Migrationsprozesses nach Sluzki 29 idealtypisch wie folgt einteilen: Nach einem Interesse an der Migration und einer gewissen Angst lässt sich nach erfolgter Migration zunächst eine Phase des freudigen Erwartens und des Interesses an der aufnehmenden Kultur beobachten. Sie ist von einem enormen „Objekt-Hunger“ und einer großen Bereitschaft zur Auf- und Übernahme erwünschter kultureller Objekte und von intensiven Integrationsbemühungen geprägt.

Es folgt die Phase der kritischen Integration. Sie ist von Angst vor dem Fremden, der Auseinandersetzung mit dem Fremden und der Trauer um im Rahmen der Migration erlittene Verluste geprägt. Sie ist deshalb emotional eher schwierig. Es kommt zu Enttäuschungen, zu einem Unverständnis des Wertesystems und der Kommunikationsweise der Mehrheitsgesellschaft. Diese Phase der Resozialisierung ist von einem Akkulturationsstress geprägt. Der Zuwanderer muss sich in dem neuen sozialen Umfeld neu orientieren, die Funktionsweise der Kommunikation in der Aufnahmegesellschaft verstehen und sich in deren Struktur zurechtfinden. Auch die eigene soziale Rolle muss gefunden werden. Langfristig muss eine neue Identität entwickelt werden.

Je nach Migrationssituation können diese Anforderungen unterschiedliche Hürden bedeuten. Der Flüchtling, der in einer Sammelunterkunft untergebracht ist, hat in aller Regel schlechtere Chancen, sich im neuen Umfeld zurechtzufinden als ein Migrant, der im Rahmen des Familiennachzuges in ein schon stabilisiertes Lebensumfeld seines Familienangehörigen eintritt.

Dieser Akkulturationsstress ergibt sich aus einer dauerhaften Überforderungssituation. Da die alten Strategien zur Problemlösung im neuen Umfeld nicht taugen und neue Problemlösungsstrategien noch nicht zur Verfügung stehen, sind Migranten eigentlich permanent in ihren individuellen Ressourcen überbeansprucht. Ein psychosoziales Wohlbefinden auf Basis einer emotionalen Sicherheit kann deshalb zunächst nicht gefunden werden.30 In welcher Zeit es wiedererlangt werden kann, ist – abhängig von inneren und äußeren Faktoren – äußerst unterschiedlich. Manche Migranten erlangen es nie.

Folglich ist die Vulnerabilität, also die Anfälligkeit für psychische und psychosomatische Erkrankungen, in der Resozialisierungsphase besonders hoch.31

1.2.3 Dimensionen der Überforderung von Migranten

Der Akkulturationsstress und die Überforderung der Zuwanderer haben viele Ursachen und viele Dimensionen.

In Anlehnung an Hausotter/Schouler-Ocak32 lassen sich folgende Ursachen der Stressbelastung und Überforderung der Migranten ausmachen: