ARTHUR SCHOPENHAUER
wird 1788 in Danzig geboren. Eine Kaufmannslehre bricht er ab, um zunächst Naturwissenschaften, dann Philosophie zu studieren. Er promoviert 1813; fünf Jahre später, im Alter von nur 30 Jahren, veröffentlicht er sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. 1820 beginnt er seine Dozententätigkeit in Berlin, muss diese jedoch bald wieder aufgeben. Es folgen Reisen nach Italien, eine über ein Jahr andauernde Krankheit und Aufenthalte in Berlin, bis er sich schließlich 1833 als Privatgelehrter in Frankfurt niederlässt. Von hier aus veröffentlicht er die beiden Preisschriften Über die Freiheit des menschlichen Willens und Über das Fundament der Moral unter dem gemeinsamen Titel Die beiden Grundprobleme der Ethik. Erst in seinen letzten Lebensjahren finden seine Werke wachsende Anerkennung. 1860 stirbt Schopenhauer an den Folgen einer Lungenentzündung.
»Er war ein Aufsässiger – im Vergleich zu ihm
war Marx nur auf kleine Reformen aus.
Nicht Marx, Schopenhauer ist in einem sehr ernsten
Sinne subversiv.«LUDWIG MARCUSE
Jemand sagte einmal: »Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation.«. Das bedeutet wohl, dass der Umgang mit dem Schimpfwort, die Rhetorik und die Kunst des Streitens, in gewisser Weise zu den Kriegskünsten der modernen Zivilisation zählen. Leider lernen wir auch nur entweder viel zu spät oder zu selten, dass es nicht immer kühle Logik und Rationalität sind, die über den Ausgang einer Debatte oder eines Streits entscheiden. Arthur Schopenhauer lehrt uns in diesem kleinen, aber feinen Buch die schmutzigen – aber wohl notwendigen – Tricks und Kniffe der Streitkunst.
Es gehört wohl zu den schmerzlichsten Erfahrungen im intellektuellen Leben, dass man einsehen muss, das Logik und kühle Rationalität allein wenig ausrichten. Immer wieder macht man die Erfahrung, dass nicht immer derjenige auch die Diskussion gewinnt, der die besten Argumente vorbringt. Manchmal muss man rhetorische Tricks und Kniffe anwenden, das Publikum auf seine Seite ziehen, seinen Gegenüber in Wut versetzen, abschweifen, vergessen machen, was eigentlich wichtig war, um in einer Diskussion die Oberhand zu behalten. Wer diese »Waffen« nicht einsetzt, oder zumindest nichts von ihrer Existenz weiß, wird dort ins Hintertreffen geraten und seinen Standpunkt nicht verteidigen können, wo dieser vielleicht sogar der richtige oder bessere ist.
Schopenhauers kleines, aber umso lehrreicheres Buch über die Kunst zu Streiten stellt hierzu eine unverzichtbare Hilfe und eines der wichtigsten Werke der philosophischen Rhetorik und Argumentationstheorie dar. Unterhaltsam und pointiert verrät uns der wohl streitlustigste und polemischste Denker der Philosophiegeschichte, wie man auch ohne gute Argumente als Sieger vom Platz geht. Vor allem sei dabei eine Sache nicht vergessen: Streiten kann und soll auch Spaß machen.
Die Kunst, Recht zu behalten
und Philosophische Beleidigungen
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»Man muss sich auch nicht mit jedem in eine
Disputation einlassen und nicht mit dem, welchen
man gerade trifft, eine Übung anstellen.
Denn mit manchen Personen muss die Erörterung
notwendig schlecht ausfallen; denn wenn man
überhaupt den Versuch, mit einem durchaus Geübten
zu disputieren, vermeidet, so ist dies zwar billig, aber
doch nicht gerade anständig.
Deshalb darf man nicht leicht mit jedem, den man
trifft, Erörterungen beginnen; denn sie müssen
notwendig schlecht ausfallen, da auch die, welchen es
nur um die Übung zu tun ist, sich nicht immer
enthalten können, die Erörterung in streitsüchtiger
Weise zu führen.«
Aristoteles
EINLEITUNG
Logik und Dialektik
Eristische Dialektik
Basis aller Dialektik
Anmerkungen
KUNSTGRIFFE
PHILOSOPHISCHE BELEIDIGUNGEN
Editorische Notiz und Nachbemerkungen:
Ein kurzes weiterführendes Literaturverzeichnis der Rhetorik und Argumentationstheorie
Logik und Dialektik wurden schon von den Alten als Synonyme gebraucht, obgleich λογιζεσϑαι, überdenken, überlegen, berechnen, und διαλεγεσϑαι, sich unterreden, zwei sehr verschiedene Dinge sind. Den Namen Dialektik (διαλεκτικη [Dialektik], διαλεκτικη πραγματεια [dialektische Lehre], διαλεκτικος ανηρ [dialektischer Mensch]) hat (wie Diogenes Laertius berichtet) Plato zuerst gebraucht: und wir finden, daß er im Phädrus, Sophista, Republik Buch VII usw. den regelmäßigen Gebrauch der Vernunft, und das Geübtsein in selbigem darunter versteht. Aristoteles braucht τα διαλεκτικα im selben Sinne; er soll aber (nach Laurentius Valla) zuerst λογικη im selben Sinne gebraucht haben: wir finden bei ihm λογικας δυσχερειας, i. e. argutias [d. h. der Scharfsinn der Rede], προτασιν λογικην [das logisch Vorangestellte / Prämisse], αποριαν λογικην [logische Aporie = ein auswegloser bzw. unlösbarer Widerspruch am Beginn einer Untersuchung]. – Demnach wäre διαλεκτικη älter als λογικη. Cicero und Quintilian brauchen in derselben allgemeinen Bedeutung Dialectica und Logica. Cicero in Lucullo: Dialecticam inventam esse, veri et falsi quasi disceptatricem. – Stoici enim judicandi vias diligenter persecuti sunt, ea scientia, quam Dialecticen appellant, Cicero, Topica, Kap. 2. [Die Dialektik sei erfunden worden, um ein Richter (zwischen) der Wahrheit und Unwahrheit zu sein. – Denn die Stoiker haben diesen zu urteilen, jener Wissenschaft, welche sie Dialektik nennen, gewissenhaft verfolgt; Cicero, Tropica, Kap. 2.] – Quintilian: itaque haec pars dialecticae, sive illam disputatricem dicere malimus [daher dieser Teil der Dialektik, wenn wir nicht vorziehen diesen als Disputierkunst (= Kunst ein wissenschaftliches/philosopisches Streitgespräch zu führen) zu bezeichnen]: letzteres scheint ihm also das lateinische Äquivalent von διαλεκτικη. (So weit nach Petri Rami dialectica, Audomari Talaei praelectionibus illustrata, 1569.) Dieser Gebrauch der Worte Logik und Dialektik als Synonyme hat sich auch im Mittelalter und der neuern Zeit, bis heute, erhalten. Jedoch hat man in neuerer Zeit, besonders Kant, »Dialektik« öfter in einem schlimmern Sinne gebraucht als »sophistische Disputierkunst«, und daher die Benennung »Logik« als unschuldiger vorgezogen. Jedoch bedeutet beides von Haus aus dasselbe und in den letzten Jahren hat man sie auch wieder als synonym angesehn.
Es ist Schade, daß »Dialektik« und »Logik« von Alters her als Synonyme gebraucht sind, und es mir daher nicht recht frei steht, ihre Bedeutung zu sondern, wie ich sonst möchte, und »Logik« (von λογιζεσϑαι, überdenken, überrechnen, – von λογος, Wort und Vernunft, die unzertrennlich sind) zu definieren, »die Wissenschaft von den Gesetzen des Denkens, d. h. von der Verfahrungsart der Vernunft« – und »Dialektik« (von διαλεγεσϑαι, sich unterreden: jede Unterredung teilt aber entweder Tatsachen oder Meinungen mit: d. h. ist historisch, oder deliberativ), »die Kunst zu disputieren« (dies Wort im modernen Sinne). – Offenbar hat dann die Logik einen rein apriori, ohne empirische Beimischung bestimmbaren Gegenstand, die Gesetze des Denkens, das Verfahren der Vernunft (des λογος), welches diese, sich selber überlassen, und ungestört, also beim einsamen Denken eines vernünftigen Wesens, welches durch nichts irregeführt würde, befolgt. Dialektik hingegen würde handeln von der Gemeinschaft zweier vernünftiger Wesen, die folglich zusammen denken, woraus sobald sie nicht wie zwei gleichgehende Uhren übereinstimmen, eine Disputation, d. i. ein geistiger Kampf wird. Als reine Vernunft müßten beide Individuen übereinstimmen. Ihre Abweichungen entspringen aus der Verschiedenheit, die der Individualität wesentlich ist, sind also ein empirisches Element. Logik, Wissenschaft des Denkens, d. i. des Verfahrens der reinen Vernunft, wäre also rein apriori konstruierbar; Dialektik großen Teils nur a posteriori aus der Erfahrungserkenntnis von den Störungen, die das reine Denken durch die Verschiedenheit der Individualität beim Zusammendenken zweier Vernünftiger Wesen erleidet, und von den Mitteln, welche Individuen gegeneinander gebrauchen, um jeder sein individuelles Denken, als das reine und objektive geltend zu machen. Denn die menschliche Natur bringt es mit sich, daß wenn beim gemeinsamen Denken, διαλεγεσϑαι, d. h. Mitteilen von Meinungen (historische Gespräche ausgeschlossen) A erfährt, daß B’s Gedanken über denselben Gegenstand von seinen eigenen abweichen, er nicht zuerst sein eignes Denken revidiert, um den Fehler zu finden, sondern diesen im fremden Denken voraussetzt: d. h. der Mensch ist von Natur rechthaberisch; und was aus dieser Eigenschaft folgt, lehrt die Disziplin, die ich Dialektik nennen möchte, jedoch um Mißverstand zu vermeiden, »Eristische Dialektik« nennen will. Sie wäre demnach die Lehre vom Verfahren der dem Menschen natürlichen Rechthaberei.
Eristische Dialektik1 ist die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, daß man Recht behält, also per fas et nefas [auf jede (rechte oder unrechte) Weise].2 Man kann nämlich in der Sache selbst objective Recht haben und doch in den Augen der Beisteher, ja bisweilen in seinen eignen, Unrecht behalten. Wann nämlich der Gegner meinen Beweis widerlegt, und dies als Widerlegung der Behauptung selbst gilt, für die es jedoch andre Beweise geben kann; in welchem Fall natürlich für den Gegner das Verhältnis umgekehrt ist: er behält Recht, bei objektivem Unrecht. Also die objektive Wahrheit eines Satzes und die Gültigkeit desselben in der Approbation der Streiter und Hörer sind zweierlei. (Auf letztere ist die Dialektik gerichtet.)
Woher kommt das? – Von der natürlichen Schlechtigkeit des menschlichen Geschlechts. Wäre diese nicht, wären wir von Grund aus ehrlich, so würden wir bei jeder Debatte bloß darauf ausgehn, die Wahrheit zu Tage zu fördern, ganz unbekümmert ob solche unsrer zuerst aufgestellten Meinung oder der des Andern gemäß ausfiele: dies würde gleichgültig, oder wenigstens ganz und gar Nebensache sein. Aber jetzt ist es Hauptsache. Die angeborne Eitelkeit, die besonders hinsichtlich der Verstandeskräfte reizbar ist, will nicht haben, daß was wir zuerst aufgestellt, sich als falsch und das des Gegners als Recht ergebe. Hienach hätte nun zwar bloß jeder sich zu bemühen, nicht anders als richtig zu urteilen: wozu er erst denken und nachher sprechen müßte. Aber zur angebornen Eitelkeit gesellt sich bei den Meisten Geschwätzigkeit und angeborne Unredlichkeit. Sie reden, ehe sie gedacht haben, und wenn sie auch hinterher merken, daß ihre Behauptung falsch ist und sie Unrecht haben; so soll es doch scheinen, als wäre es umgekehrt. Das Interesse für die Wahrheit, welches wohl meistens bei Aufstellung des vermeintlich wahren Satzes das einzige Motiv gewesen, weicht jetzt ganz dem Interesse der Eitelkeit: wahr soll falsch und falsch soll wahr scheinen.
Jedoch hat selbst diese Unredlichkeit, das Beharren bei einem Satz, der uns selbst schon falsch scheint, noch eine Entschuldigung: oft sind wir anfangs von der Wahrheit unsrer Behauptung fest überzeugt, aber das Argument des Gegners scheint jetzt sie umzustoßen; geben wir jetzt ihre Sache gleich auf, so finden wir oft hinterher, daß wir doch Recht haben: unser Beweis war falsch; aber es konnte für die Behauptung einen richtigen geben: das rettende Argument war uns nicht gleich beigefallen. Daher entsteht nun in uns die Maxime, selbst wann das Gegenargument richtig und schlagend scheint, doch noch dagegen anzukämpfen, im Glauben, daß dessen Richtigkeit selbst nur scheinbar sei, und uns während des Disputierens noch ein Argument, jenes umzustoßen, oder eines, unsre Wahrheit anderweitig zu bestätigen, einfallen werde: hiedurch werden wir zur Unredlichkeit im Disputieren beinahe genötigt, wenigstens leicht verführt. Diesergestalt unterstützen sich wechselseitig die Schwäche unsers Verstandes und die Verkehrtheit unsers Willens. Daraus kommt es, daß wer disputiert, in der Regel nicht für die Wahrheit, sondern für seinen Satz kämpft, wie pro ara et focis [für Altar und Herd], und per fas et nefas verfährt, ja wie gezeigt nicht anders kann.
Jeder also wird in der Regel wollen seine Behauptung durchsetzen, selbst wann sie ihm für den Augenblick falsch oder zweifelhaft scheint.3 Die Hilfsmittel hiezu gibt einem jeden seine eigne Schlauheit und Schlechtigkeit einigermaßen an die Hand: dies lehrt die tägliche Erfahrung beim Disputieren; es hat also jeder seine natürliche Dialektik, so wie er seine natürliche Logik hat. Allein jene leitet ihn lange nicht so sicher als diese. Gegen logische Gesetze denken, oder schließen, wird so leicht keiner: falsche Urteile sind häufig, falsche Schlüsse höchst selten. Also Mangel an natürlicher Logik zeigt ein Mensch nicht leicht; hingegen wohl Mangel an natürlicher Dialektik: sie ist eine ungleich ausgeteilte Naturgabe (hierin der Urteilskraft gleich, die sehr ungleich ausgeteilt ist, die Vernunft eigentlich gleich). Denn durch bloß scheinbare Argumentation sich konfundieren, sich refutieren lassen, wo man eigentlich Recht hat, oder das umgekehrte, geschieht oft; und wer als Sieger aus einem Streit geht, verdankt es sehr oft, nicht sowohl der Richtigkeit seiner Urteilskraft bei Aufstellung seines Satzes, als vielmehr der Schlauheit und Gewandtheit, mit der er ihn verteidigte.
Angeboren ist hier wie in allen Fällen das beste4: jedoch kann Übung und auch Nachdenken über die Wendungen, durch die man den Gegner wirft, oder die er meistens gebraucht, um zu werfen, viel beitragen, in dieser Kunst Meister zu werden. Also wenn auch die Logik wohl keinen eigentlich praktischen Nutzen haben kann: so kann ihn die Dialektik allerdings haben. Mir scheint auch Aristoteles seine eigentliche Logik (Analytik) hauptsächlich als Grundlage und Vorbereitung zur Dialektik aufgestellt zu haben und diese ihm die Hauptsache gewesen zu sein. Die Logik beschäftigt sich mit der bloßen Form der Sätze, die Dialektik mit ihrem Gehalt oder Materie, dem Inhalt: daher eben mußte die Betrachtung der Form als des allgemeinen der des Inhalts als des besonderen vorhergehn.
Aristoteles bestimmt den Zweck der Dialektik nicht so scharf wie ich getan: er gibt zwar als Hauptzweck das Disputieren an, aber zugleich auch das Auffinden der Wahrheit (Topik, I, 2); später sagt er wieder: man behandle die Sätze philosophisch nach der Wahrheit, dialektisch nach dem Schein oder Beifall, Meinung Andrer (δοξα) Topik, I, 12. Er ist sich der Unterscheidung und Trennung der objektiven Wahrheit eines Satzes von dem Geltendmachen desselben oder dem Erlangen der Approbation zwar bewußt; allein er hält sie nicht scharf genug auseinander, um der Dialektik bloß letzteres anzuweisen.5 Seinen Regeln zu letzterem Zweck sind daher oft welche zum ersteren eingemengt. Daher es mir scheint, daß er seine Aufgabe nicht rein gelöst hat.6