Buch
Schlafexperte Prof. Dr. Matthew Walker liefert uns ein völlig neues Verständnis dafür, wie wichtig Schlafen ist: So sorgt richtiger Schlaf etwa dafür, dass sich unsere Fähigkeit zu lernen, uns zu erinnern und logische Entscheidungen zu treffen, verbessert. Er reguliert unsere Emotionen, stärkt das Immunsystem, stellt unsere Verdauung ein und steuert unseren Appetit. Träume mildern schmerzhafte Erinnerungen ab und schaffen den nötigen Raum, um Kreativität zu ermöglichen. Auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie seiner jahrzehntelangen Forschungsarbeit und Erfahrung aus der klinischen Praxis erklärt Walker, wie wir den Schlaf nutzen können, um Lernfähigkeit, Stimmung und Energielevel zu verbessern, Hormone zu regulieren, Krebs, Alzheimer und Diabetes vorzubeugen, den Alterungsprozess zu verlangsamen und ein gesundes, langes Leben zu führen.
Autor
Prof. Dr. med. Matthew Walker ist Professor für Neurowissenschaften und Psychologie an der University of California, Berkeley, Direktor des dortigen Schlaflabors sowie ehemaliger Professor für Psychiatrie an der Harvard University. Er hat über hundert wissenschaftliche Studien veröffentlicht. Das große Buch vom Schlaf ist sein erstes Buch.
Prof. Dr. med. Matthew Walker
Das große Buch vom Schlaf
Die enorme Bedeutung des Schlafs
Beste Vorbeugung gegen Alzheimer, Krebs, Herzinfarkt und vieles mehr
Aus dem Amerikanischen
von Annika Tschöpe
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Why We Sleep« bei Scribner, einem Imprint von Simon & Schuster, New York.
Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.
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1. Auflage
Deutsche Erstausgabe Dezember 2018
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © 2017 der Originalausgabe: Matthew Walker
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
KW ∙ Herstellung: IH
ISBN 978-3-641-23239-9
V002
www.goldmann-verlag.de
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Für Dacher Keltner, der mich zu diesem Buch inspiriert hat
Inhalt
Teil 1:
Das, was man Schlaf nennt
1. Schlafen …
2. Koffein, Jetlag und Melatonin:
So wird der Schlafrhythmus beeinflusst
3. Definition und Entstehung von Schlaf:
Zeitdilatation und was wir 1952 von einem Baby gelernt haben
4. Affenbetten, Dinosaurier und Nickerchen mit nur einer Gehirnhälfte:
Wer schläft wie und wie lange?
5. Veränderung des Schlafverhaltens im Laufe des Lebens
Teil 2:
Warum soll man schlafen?
6. Das wussten schon Ihre Mutter und Shakespeare:
So fördert der Schlaf das Gehirn 151
7. Zu extrem für das Guinness-Buch der Rekorde:
Was Schlafmangel mit dem Gehirn macht 187
8. Krebs, Herzinfarkte und verkürzte Lebenszeit:
Was Schlafmangel mit dem Körper macht
Teil 3:
Wie und weshalb wir träumen
9. Mit schöner Regelmäßigkeit psychotisch:
Träumen im REM-Schlaf
10. Träumen als nächtliche Therapie
11. Kreativität im Traum und Traumsteuerung
Teil 4:
Von Schlaftabletten zu einer veränderten Gesellschaft
12. Nächtliche Vorkommnisse:
Schlafstörungen und Tod durch Schlafmangel
13. iPads, Fabriksirenen und Schlummertrunke:
Was hindert Sie am Schlafen?
14. Was dem Schlaf schadet und was ihn fördert:
Tabletten oder Therapie
15. Schlaf und Gesellschaft:
Das machen Medizin und Bildungswesen falsch, und Google und die NASA richtig
16. Eine neue Vision für den Schlaf im 21. Jahrhundert
Fazit: Schlafen oder nicht schlafen
Zwölf Tipps für einen gesunden Schlaf
Bildnachweis
Danksagung
Register
Teil 1:
Das, was man Schlaf nennt
KAPITEL 1
Schlafen ...
Haben Sie in der vergangenen Woche genug Schlaf bekommen? Können Sie sich noch erinnern, wann Sie zuletzt ohne Wecker ganz ausgeruht aufgewacht sind und nicht sofort eine Dosis Koffein brauchten? Wenn die Antwort auf eine dieser Fragen »Nein« lautet, sind Sie in bester Gesellschaft. Zwei Drittel der Erwachsenen in industrialisierten Ländern schlafen nicht wie empfohlen acht Stunden pro Nacht.1
Diese Tatsache wird Sie sicher nicht überraschen, die Folgen dagegen vielleicht schon. Wer dauerhaft weniger als sechs oder sieben Stunden pro Nacht schläft, zerstört sein Immunsystem, sodass sich das Krebsrisiko mehr als verdoppelt. Die Schlafdauer hat maßgeblichen Einfluss darauf, ob ein Mensch an Alzheimer erkrankt oder nicht. Unzureichender Schlaf – selbst ein geringfügiger Mangel, der nur eine Woche andauert – beeinträchtigt den Blutzuckerspiegel so stark, dass sich eine Vorstufe eines Diabetes feststellen lässt. Verkürzter Schlaf erhöht die Wahrscheinlichkeit für verstopfte und spröde Arterien, was langfristig zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfällen und kongestiver Herzinsuffizienz führen kann. Schon Charlotte Brontë wusste: »Ein aufgewühlter Geist ist ein schlechtes Ruhekissen«, und tatsächlich werden alle bedeutenden psychiatrischen Leiden, zum Beispiel Depressionen, Angstzustände und Suizidgefahr, bei Schlafstörungen schlimmer.
Vielleicht haben Sie schon einmal festgestellt, dass Sie größeren Appetit verspüren, wenn Sie müde sind? Das ist kein Zufall. Bei Schlafmangel steigt die Konzentration eines körpereigenen Hormons, das Hungergefühle hervorruft, während ein anderes Hormon, das Sättigung signalisiert, unterdrückt wird. Obwohl Sie eigentlich satt sind, verspüren Sie dann das Verlangen, mehr zu essen. Sowohl Erwachsene als auch Kinder, die unter Schlafmangel leiden, nehmen damit zuverlässig zu. Solange Sie zu wenig schlafen, bleibt jeder Diätversuch fruchtlos, da Sie dann in erster Linie schlanke Körpermasse und nicht etwa Fett verlieren.
Diese breite Palette an gesundheitlichen Folgen erklärt einen erwiesenen Zusammenhang: Je weniger man schläft, desto kürzer das Leben. Der Grundsatz »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin« ist deshalb nicht besonders ratsam, denn wer sich daran hält, stirbt früher und beeinträchtigt noch dazu die Qualität des (verkürzten) Lebens. Schlafmangel ist wie ein Gummiband: Er lässt sich zwar eine Zeit lang ausdehnen, doch irgendwann ist das Ende erreicht. Leider ist der Mensch die einzige Spezies, die sich selbst ganz gezielt am Schlafen hindert, ohne dass dies erkennbare Vorteile mit sich bringt. Die Missachtung unseres Bedürfnisses nach Schlaf hat in zwischenmenschlicher und finanzieller Hinsicht einen hohen Preis und betrifft alle Aspekte des Wohlbefindens und vieles, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Und zwar so sehr, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Schlafmangel in Industrienationen mittlerweile zur Epidemie erklärt hat.2 Es ist kein Zufall, dass in den Ländern, in denen die Schlafdauer im vergangenen Jahrhundert besonders drastisch gesunken ist, zum Beispiel in den USA, im Vereinigten Königreich, in Japan, Südkorea und in Deutschland sowie in etlichen anderen westeuropäischen Staaten, auch die bereits erwähnten Erkrankungen und psychischen Störungen besonders weit verbreitet sind.
Wissenschaftler wie ich selbst drängen Ärzte mittlerweile schon dazu, Schlaf regelrecht zu »verordnen«. Einen harmloseren und angenehmeren medizinischen Ratschlag kann man sich kaum vorstellen. Allerdings ist damit keineswegs gemeint, dass mehr Schlafmittel verordnet werden sollten – ganz im Gegenteil, denn die möglichen Folgen dieser Medikamente sind alarmierend.
Aber kann man wirklich mit Fug und Recht sagen, dass zu wenig Schlaf das Leben kosten kann? Ja, allerdings – zumindest in zwei Fällen. Zum einen gibt es eine sehr seltene genetische Störung, die mit progressiver Schlaflosigkeit einhergeht und im mittleren Lebensabschnitt erstmals auftritt. Nach einigen Monaten können die Erkrankten überhaupt nicht mehr schlafen. In dieser Phase haben sie bereits viele grundlegende Gehirn- und Körperfunktionen eingebüßt. Bislang gibt es keine Mittel, die diesen Patienten zum Schlafen verhelfen. Nach zwölf bis achtzehn Monaten ohne Schlaf sterben die Erkrankten. Diese – zugegeben äußerst seltene – Störung macht deutlich, dass Schlafmangel zum Tod führen kann.
Zum anderen hat es oft tödliche Folgen, wenn sich jemand, der nicht genug geschlafen hat, ans Steuer eines Kraftfahrzeugs setzt. Müdigkeit am Steuer ist Jahr für Jahr für Hunderttausende von Verkehrsunfällen und Todesopfern verantwortlich. Und in diesem Fall bringen die Unausgeschlafenen nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Mitmenschen in Gefahr. In den Vereinigten Staaten verliert jede Stunde ein Mensch sein Leben durch einen Unfall, der mit Müdigkeit zusammenhängt. In Deutschland sind etwa 20 Prozent der schweren Verkehrsunfälle auf die Übermüdung des Fahrers zurückzuführen. Es sollte uns sehr zu denken geben, dass mehr Autounfälle auf Schläfrigkeit zurückzuführen sind als auf Alkohol und Drogen zusammen!
Dass unsere Gesellschaft den Schlaf nicht richtig würdigt, ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Wissenschaft lange Zeit nicht erklären konnte, wieso er überhaupt so wichtig ist. Schlaf blieb eines der großen biologischen Geheimnisse. Vor dem unzugänglichen Reich des Schlafs versagen alle Methoden, mit denen die großen Probleme der Wissenschaft angegangen werden – Genetik, Molekularbiologie und leistungsstarke Digitaltechnik. Die klügsten Köpfe, darunter der Nobelpreisträger Francis Crick, der die leiterförmige Struktur der DNA entdeckte, der berühmte römische Lehrer und Rhetoriker Quintilian und selbst Sigmund Freud versuchten vergeblich, den geheimen Code des Schlafs zu entschlüsseln.
Um sich vor Augen zu führen, wie wenig die Wissenschaft einst zu diesem Thema wusste, stellen Sie sich bitte Folgendes vor: Ihr erstes Kind wurde gerade geboren, im Krankenhaus kommt die Ärztin ins Zimmer und sagt: »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben einen gesunden Jungen zur Welt gebracht. Die ersten Untersuchungen sind abgeschlossen, und alles sieht in Ordnung aus.« Sie lächelt zuversichtlich und wendet sich zur Tür. Dann jedoch dreht sie sich noch einmal um und fügt hinzu: »Nur eines noch. Von nun an und für den Rest seines Lebens wird Ihr Kleiner immer wieder in einen komaartigen Zustand verfallen. Manchmal kann es so wirken, als sei er tot. Und während sein Körper reglos daliegt, ist sein Kopf oft voll mit unglaublichen, bizarren Halluzinationen. Dieser Zustand wird ein Drittel seines Lebens ausmachen, und ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wieso das so ist oder wozu es dient. Alles Gute!«
Erstaunlicherweise war das bis vor sehr kurzer Zeit die Realität: Ärzte und Wissenschaftler hatte keine logische oder umfassende Antwort auf die Frage, weshalb wir schlafen. Die Funktionen der drei anderen grundlegenden Bedürfnisse im Leben – Essen, Trinken und Fortpflanzung – sind dagegen bereits seit vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten bekannt. Den vierten wichtigen biologischen Trieb, der im gesamten Tierreich zu finden ist – den Schlaftrieb –, konnte die Wissenschaft jedoch jahrtausendelang nicht ergründen.
Befasst man sich aus evolutionärer Sicht mit der Frage, warum wir schlafen, so wird die Verwirrung nur noch größer. Aus welcher Perspektive man es auch betrachtet, Schlaf scheint das dümmste aller biologischen Phänomene zu sein. Wenn man schläft, kann man keine Nahrung beschaffen. Man kann keine sozialen Kontakte pflegen. Man kann keinen Partner suchen und sich nicht fortpflanzen. Man kann den Nachwuchs nicht ernähren oder schützen. Schlimmer noch: Im Schlaf ist man Feinden hilflos ausgeliefert. Daher zählt Schlafen eindeutig zu den unerklärlichsten Verhaltensweisen des Menschen.
Jeder einzelne dieser Gründe – und erst recht alle zusammen – hätte die Evolution dazu bewegen müssen, Schlaf oder alles, was diesem Phänomen ähnelt, zu verhindern. Ein Schlafforscher meinte dazu: »Wenn Schlaf keine lebenswichtige Funktion erfüllt, ist er der größte Fehler, den die Evolution jemals gemacht hat.«3
Dennoch hat der Schlaf bis heute Bestand. Unerschütterlich. Jede bislang erforschte Spezies schläft.4 Diese schlichte Tatsache verdeutlicht, dass der Schlaf schon mit dem ersten Leben auf diesem Planeten oder zumindest kurz danach entstanden sein muss. Dass er sich danach im Laufe der gesamten Evolution durchgesetzt hat, bedeutet, dass er erhebliche Vorteile mit sich bringen muss, die gegenüber den offensichtlichen Gefahren und Nachteilen deutlich überwiegen.
Letztendlich war »Weshalb schlafen wir?« die falsche Frage. Diese Formulierung implizierte, dass es eine einzelne Funktion geben musste, einen heiligen Gral des Sinns für unseren Schlaf, nach dem wir suchten. Die Theorien stützten sich zum Teil auf Logik (um Energie zu schöpfen), zum Teil auf absonderliche Annahmen (zur Sauerstoffsättigung der Augäpfel), zum Teil auf psychoanalytische Aspekte (ein Zustand des Unbewussten, in dem wir unterdrückte Wünsche erfüllen).
Dieses Buch wird zeigen, dass die Wahrheit ganz anders liegt: Schlaf ist unendlich komplexer, weitaus interessanter und in beunruhigender Weise viel wichtiger für die Gesundheit. Schlaf erfüllt eine breite Palette an Zwecken, Plural – er liefert zahllose Vorzüge, die sowohl unserem Gehirn als auch unserem Körper zugutekommen. Jedes einzelne Organ und jeder Prozess im Körper scheint vom Schlaf zu profitieren (beziehungsweise zu leiden, wenn wir nicht ausreichend schlafen). Dass wir jede Nacht so vielfältige gesundheitliche Vorteile genießen, sollte uns nicht überraschen. Schließlich sind wir zwei Drittel unseres Lebens wach und erledigen in dieser Zeit nicht nur eine Sache, sondern vollbringen Myriaden von Leistungen, die unser Wohlergehen und unser Überleben sichern. Warum also sollte der Schlaf – und die fünfundzwanzig bis dreißig Jahre, die wir im Schnitt zeitlebens damit zubringen – nur eine einzige Funktion erfüllen?
In den letzten zwanzig Jahren hat uns eine wahre Explosion von Entdeckungen erkennen lassen, dass der Evolution keineswegs ein grober Schnitzer unterlaufen ist, als sie den Schlaf ersann. Schlaf bringt vielfältige Vorteile für die Gesundheit mit sich, die Sie sich alle vierundzwanzig Stunden ganz mühelos neu verordnen können. (Leider verzichten viele Menschen darauf.)
Im Gehirn fördert der Schlaf zahlreiche Funktionen, darunter unsere Fähigkeit, Dinge zu lernen, uns zu erinnern und logische Entscheidungen zu treffen. Schlaf dient unserer psychischen Gesundheit, indem er unsere emotionalen Schaltkreise im Gehirn neu kalibriert, sodass wir soziale und psychische Herausforderungen am nächsten Tag mit kühlem Kopf meistern können. Mittlerweile verstehen wir sogar immer besser, was es mit den rätselhaftesten und kontroversesten aller bewussten Erlebnisse auf sich hat: mit den Träumen. Träume bieten jeder Spezies, die das Glück hat, sie zu erleben – auch dem Menschen – einzigartige Vorteile. So liefern sie unter anderem ein beruhigendes neurochemisches Bad, das schmerzliche Erinnerungen lindert, sowie eine virtuelle Realität, in der das Gehirn Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen lässt, um die Kreativität zu fördern.
In anderen Körperregionen frischt der Schlaf unseren Vorrat an Abwehrkräften auf, sodass wir bösartige Tumoren bekämpfen, Infektionen verhindern und Krankheiten aller Art abwehren können. Im Schlaf wird der Stoffwechsel durch die Abstimmung von Insulin und Blutzuckerspiegel in Ordnung gebracht. Zudem reguliert der Schlaf unseren Appetit und sorgt für ein gesundes Körpergewicht, da wir, wenn wir gut ausgeruht sind, eher zu gesunder Nahrung greifen statt zu unüberlegten Snacks. Ausreichend Schlaf lässt das Mikrobiom im Darm gedeihen, das so maßgeblichen Anteil an unserer Ernährungsgesundheit hat. Und genügend Schlaf ist untrennbar mit der ordnungsgemäßen Funktion unseres Herz-Kreislauf-Systems verknüpft, denn er senkt den Blutdruck und sorgt für ein gesundes Herz.
Ausgewogene Ernährung und ausreichend Bewegung sind lebenswichtig, das steht außer Frage. Mittlerweile gilt Schlaf jedoch als überragende Größe in diesem gesundheitsrelevanten Dreigestirn. Nur eine Nacht Schlafmangel hat weitaus dramatischere Folgen für die körperliche und geistige Gesundheit als zu wenig Nahrung oder Bewegung. Weder auf natürlichem Wege noch durch Medikamente lässt sich ein Zustand erreichen, in dem Körper und Geist in jeder Hinsicht so effektiv in Ordnung gebracht werden wie im gesunden Schlaf.
Die umfassenden neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema Schlaf bedeuten, dass wir nicht mehr überlegen müssen, wozu der Schlaf gut ist. Wir müssen uns vielmehr fragen, ob es irgendwelche biologischen Funktionen gibt, denen ausgiebiger Nachtschlaf nicht zugutekommt. Viele Tausend Studien legen nahe, dass das tatsächlich nicht der Fall ist.
Diese Renaissance der Wissenschaft vermittelt eine eindeutige Botschaft: Schlafen ist das allerbeste Mittel für die Gesundheit unseres Gehirns und unseres Körpers – die stärkste Waffe von Mutter Natur. Leider sind die deutlichen Hinweise auf die Risiken, die zu wenig Schlaf für den Einzelnen und die Gesellschaft mit sich bringt, der Öffentlichkeit bislang noch nicht ausreichend bekannt. Das ist ein drastisches Versäumnis der aktuellen Gesundheitsdebatte. Deshalb soll das vorliegende Buch diese Lücke mit wissenschaftlich korrekten Daten schließen und hoffentlich spannende Erkenntnisse liefern. Es soll bewirken, dass wir den Schlaf künftig zu schätzen wissen und nicht mehr vernachlässigen.
Ich sollte vielleicht betonen, dass ich persönlich den Schlaf liebe (nicht nur meinen eigenen, obwohl ich strikt darauf achte, dass ich Nacht für Nacht acht Stunden schlafen kann). Ich liebe alles, was den Schlaf ausmacht und was er bewirkt. Ich liebe es, sämtliche Aspekte zu erforschen, die zu diesem Thema noch nicht bekannt sind. Ich liebe es, die überwältigenden Vorteile des Schlafs publik zu machen. Ich liebe es, neue Methoden zu entdecken, die die Menschheit wieder mit dem Schlaf versorgen, den sie so dringend braucht. Diese Liebe währt nun schon über zwanzig Jahre, seit Beginn meiner Forschungskarriere als Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School, und auch heute, da ich Professor für Neurowissenschaften und Psychologie an der University of California, Berkeley, bin, ist sie noch lange nicht erloschen.
Allerdings war es keine Liebe auf den ersten Blick. An die Schlafforschung bin ich durch Zufall geraten. Ich hatte nie die Absicht, dieses esoterische Randgebiet der Wissenschaft für mich in Beschlag zu nehmen. Mit achtzehn Jahren begann ich ein Studium am Queen’s Medical Centre in England, einem wundervollen Institut in Nottingham, an dessen Fakultät großartige Hirnchirurgen lehrten. Irgendwann stellte sich heraus, dass die Medizin nicht das Richtige für mich war, da sie sich mehr auf Antworten konzentriert – ich jedoch war von Fragen fasziniert. Eine Antwort war für mich schlichtweg der Schritt zur nächsten Frage. Ich beschloss, Neurowissenschaften zu studieren, und nach meinem Abschluss erwarb ich mit Unterstützung eines Stipendiums des Medical Research Council in London einen Doktortitel in Neurophysiologie.
Während meiner Promotion verfasste ich die ersten richtigen wissenschaftlichen Beiträge im Bereich der Schlafforschung. Ich untersuchte die Muster der elektrischen Gehirnwellen bei älteren Erwachsenen, die an beginnender Demenz litten. Entgegen der landläufigen Meinung gibt es nicht nur eine Art von Demenz. Die Alzheimer-Krankheit ist zwar am weitesten verbreitet, aber nur eine von vielen Formen. Aus verschiedenen Behandlungsgründen ist es wichtig, so früh wie möglich zu ermitteln, an welcher Art von Demenz ein Mensch leidet.
Ich machte mich also daran, die Aktivität der Gehirnwellen meiner Patienten im wachen und schlafenden Zustand zu messen. Meine Hypothese lautete, es müsse eine einzigartige, ganz bestimmte Gehirnsignatur geben, die vorhersagen kann, welchen Untertyp von Demenz eine Person entwickeln wird. Die Messungen im Tagesverlauf waren nicht eindeutig und ließen keine klar erkennbare Signatur feststellen. Nur im nächtlichen Ozean der schlafenden Gehirnwellen vermittelten die Aufzeichnungen ein klares Bild des traurigen Schicksals meiner Patienten. Diese Entdeckung bewies, dass der Schlaf durchaus als neuer Lackmustest in der Frühdiagnostik in Frage kam, da er deutlich machte, welche Art von Demenz bei den Betroffenen entstehen würde.
So begann meine Leidenschaft für den Schlaf. Wie alle guten Antworten hatte mich auch diese zu weiteren faszinierenden Fragen geführt, zum Beispiel: Wurde die Krankheit, an der meine Patienten litten, durch Schlafstörungen schlimmer, und waren diese sogar für einige besonders drastische Symptome wie Gedächtnisverlust, Aggressivität, Halluzinationen oder Wahnvorstellungen verantwortlich? Ich las alles, was ich in die Finger bekommen konnte, und stellte etwas fest, das ich kaum glauben konnte: Niemand wusste genau, wieso der Mensch Schlaf braucht und was der Schlaf bewirkt. Meine eigene Frage zur Demenz konnte ich nicht beantworten, solange diese grundlegende Ausgangsfrage nicht geklärt war. Folglich beschloss ich, den Code des Schlafes zu knacken.
Meine Forschungen zur Demenz legte ich deshalb vorerst auf Eis und befasste mich im Rahmen einer Postdoktorandenstelle, die mich über den Atlantik führte, mit einem der größten Rätsel der Menschheit – einer Frage, an der die besten Wissenschaftler gescheitert waren: Warum schlafen wir? Mit echter Naivität und ohne Hybris war ich davon überzeugt, dass ich in zwei Jahren die Antwort finden müsste. Das ist nun zwanzig Jahre her. Knifflige Fragen scheren sich nicht darum, was einen Forscher motiviert, sondern zeigen uns ganz deutlich, was eine echte Herausforderung ausmacht.
Heute, nach zwei Jahrzehnten eigener Forschung sowie Tausenden von Studien anderer Labors in aller Welt, liegen uns viele Antworten vor. Diese Entdeckungen haben mir wunderbare, spannende und unerwartete Exkursionen in der Welt der Wissenschaft und in anderen Bereichen ermöglicht, für die ich sehr dankbar bin – so war ich Schlafberater für verschiedene Mannschaften aus der NBA, der NFL und der Premier League, durfte mit Pixar Animation, Regierungsbehörden und bekannten Technologie- und Finanzunternehmen arbeiten, an mehreren Fernsehsendungen und Dokumentationen mitwirken und diese mitgestalten. Diese Erkenntnisse zum Thema Schlaf werden Ihnen zusammen mit vielen ähnlichen Entdeckungen meiner Kollegen aus der Schlafforschung überdeutlich zeigen, wie lebenswichtig der Schlaf ist.
Eine letzte Anmerkung zum Aufbau dieses Buches. Die Kapitel sind logisch angeordnet und spannen in vier Hauptteilen einen narrativen Bogen.
Teil 1 entmystifiziert das betörende Phänomen, das wir Schlaf nennen, und erklärt, was Schlaf ist und was nicht, wer schläft, wie viel geschlafen wird, wie der Mensch schlafen sollte (aber nicht schläft) und welche Veränderung das Schlafverhalten im Laufe eines Lebens sowie im Kindesalter durchmacht, mit allen Vor- und Nachteilen.
Teil 2 erläutert die guten, die schlechten und die tödlichen Aspekte von Schlaf und Schlafmangel. Wir werden darauf eingehen, welch erstaunliche Vorteile der Schlaf für Gehirn und Körper hat, und feststellen, dass er tatsächlich eine Allzweckwaffe für Gesundheit und Wohlbefinden ist. Dann geht es darum, inwiefern und weshalb zu wenig Schlaf eine Fülle von Gesundheitsbeschwerden und Krankheiten mit sich bringt und letztendlich tödliche Folgen hat – einen eindringlicheren Weckruf zum Thema Schlaf kann es nicht geben.
Teil 3 führt uns vom Schlaf in die phantastische Welt der Träume – mit wissenschaftlichen Erklärungen. Wir blicken in die Köpfe Träumender und erfahren, wie Träume Nobelpreisträger auf Ideen bringen, die die Welt verändern, ob man Träume tatsächlich steuern kann oder nicht und ob so etwas überhaupt sinnvoll wäre.
In Teil 4 setzen wir uns zunächst an die Bettkante und untersuchen zahlreiche Schlafstörungen, darunter Schlaflosigkeit. Ich werde die offensichtlichen und weniger offensichtlichen Gründe darlegen, aus denen es so vielen von uns schwerfällt, jede Nacht erholsamen Schlaf zu finden. Dann folgt ein offenes Wort zu Schlaftabletten, das sich nicht auf Hörensagen oder Markenbotschaften, sondern auf wissenschaftliche und klinische Daten stützt. Anschließend erläutere ich neue, unbedenklichere und wirkungsvollere arzneimittelfreie Therapien, die den Schlaf fördern. Von der Bettkante geht es zum Schlaf in der Gesellschaft, und wir erfahren, welch ernüchternde Wirkung Schlafmangel im Bildungswesen, in der Medizin und im Gesundheitswesen sowie in der Wirtschaft hat. Die vorliegenden Fakten räumen mit der Überzeugung auf, mit langen Wachphasen ohne ausreichend Schlaf ließen sich Ziele in einem dieser Bereiche effektiv, sicher, rentabel oder ethisch erreichen. Am Ende dieses Buches liefere ich mit aufrichtig optimistischer Hoffnung verschiedene Ratschläge, mit denen die Menschheit den Schlaf bekommen kann, der ihr so sehr fehlt – eine neue Vision des Schlafes im 21. Jahrhundert.
Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie dieses Buch nicht unbedingt von vorne nach hinten durchlesen müssen. In den meisten Fällen kann jedes Kapitel für sich stehen und bleibt trotzdem schlüssig. Deshalb können Sie dieses Buch gerne komplett oder in Teilen, häppchenweise oder am Stück lesen, ganz, wie es Ihnen gefällt.
Zum Abschluss möchte ich mich von jeder Verantwortung freisprechen. Wenn Sie beim Lesen schläfrig werden oder wenn Ihnen dabei gar die Augen zufallen, wird mich das anders als andere Autoren nicht aus der Bahn werfen. Angesichts des Themas und Inhalts dieses Buches muss ich das sogar ausdrücklich befürworten. Da ich um die Zusammenhänge zwischen Schlaf und Erinnerungsvermögen weiß, fasse ich es als Kompliment auf, wenn Sie, meine Leser, dem Drang nicht widerstehen können, das Gelesene besonders gut abzuspeichern, indem Sie einschlafen. Also nur keine Hemmungen, nicken Sie beim Lesen getrost nach Belieben ein. Ich nehme Ihnen das keineswegs übel. Im Gegenteil, es würde mich sehr freuen!
1 Sowohl die Weltgesundheitsorganisation als auch die National Sleep Foundation geben für Erwachsene eine durchschnittliche Schlafdauer von acht Stunden pro Nacht vor.
2 Sleepless in America. National Geographic, http://channel.nationalgeographic.com/sleepless-in-america/episode/sleepless-in-america.
3 Dr. Allan Rechtschaffen.
4 Kushida, C. Encyclopedia of Sleep, Band 1 (Elsevier, 2013).