SAVE US
Roman
Ruby steht unter Schock: Sie wurde vom Maxton Hall College suspendiert, weil sie eine Affäre mit ihrem Geschichtslehrer haben soll. Von einer Sekunde auf die andere hat sich ihr Traum von einem Studium in Oxford in Luft aufgelöst. Doch das ist nicht alles: Ausgerechnet James scheint für die Fotos, die von ihr und Mr Sutton kursieren, verantwortlich zu sein. Ruby kann es nicht glauben. Sie und James haben so viel miteinander durchgestanden, so viele Hindernisse gemeinsam überwunden – würde er ihr das wirklich antun? Schnell stellt sich allerdings heraus, dass sich dahinter mehr verbirgt, als es zunächst den Anschein hat. Und während Ruby dafür kämpft, trotz allem ihren Abschluss machen zu können, droht James einmal mehr unter den Verpflichtungen gegenüber seiner Familie zu zerbrechen. Sind die Welten, in denen sie leben, doch zu verschieden? Oder können sie einander retten, auch wenn scheinbar alle Zeichen gegen sie stehen?
Für Anna
A Day to be Certain – Gersey
You – Keaton Henson
Surrender – Natalie Taylor
The Tide – Niall Horan
Dream In A Dream – TEN
In My Blood – Shawn Mendes
Fallin’ All In You – Shawn Mendes
The Shortchange – Thomston
Bill Murray – Phantogram
Critical – Jonas Brothers
Doesn’t today feel like a day to be certain?
Certain, yet to decide.
GERSEY, A DAY TO BE CERTAIN
Graham
Mein Großvater hat mich früher immer gefragt: Wenn der Tag kommt, an dem du alles verlierst – was wirst du tun? Ich habe nie ernsthaft über die Antwort auf diese Frage nachgedacht, sondern immer das gesagt, was mir im jeweiligen Moment als Erstes in den Sinn gekommen ist.
Als ich sechs Jahre alt war und mein Bruder meinen Spielzeugbagger absichtlich kaputt gemacht hat, war es: Dann werde ich den Bagger reparieren.
Mit zehn, als wir von Manchester in die Nähe von London gezogen sind, habe ich trotzig gesagt: Dann suche ich mir eben neue Freunde.
Und als meine Mum gestorben ist und ich als Siebzehnjähriger versucht habe, für meinen Dad und meinen Bruder stark zu sein: Wir werden das schaffen.
Selbst damals war Aufgeben keine Option für mich.
Doch jetzt, mit fast vierundzwanzig Jahren, in diesem Büro, in dem ich mich plötzlich wie ein Krimineller fühle, habe ich keine Antwort mehr. Meine Situation kommt mir in diesem Moment ausweglos vor, meine Zukunft ungewiss. Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll.
Ich ziehe die quietschende Schublade des schweren Kirschholzschreibtisches auf und krame die Stifte und Notizblöcke heraus, die im vergangenen Jahr dort ihren Platz gefunden haben. Meine Bewegungen sind langsam, meine Arme bleiern. Dabei muss ich mich beeilen: Ich soll das Gebäude verlassen, bevor die Mittagspause zu Ende ist.
Sie sind mit sofortiger Wirkung suspendiert. Ich untersage Ihnen jeglichen Kontakt zu Schülern der Maxton Hall. Sollten Sie gegen dieses Verbot verstoßen, wird Anzeige gegen Sie erstattet.
Die Stifte fallen mir aus der Hand und landen klackernd auf dem Boden.
Verfluchter Mist.
Ich bücke mich, sammle sie auf und schmeiße sie achtlos zu den restlichen Habseligkeiten, die ich in einem Karton verstaut habe. Es ist ein wildes Durcheinander an Notizen, Lehrbüchern, dem alten Globus meines Großvaters und Unterrichtsmaterial, das ich für morgen kopiert habe und jetzt eigentlich wegwerfen müsste, es aber nicht über mich bringe.
Ich sehe mich in dem Büro um. Die Regale sind leer geräumt, einzig ein paar Papierfetzen auf dem Schreibtisch und die verschmutzte Unterlage lassen darauf schließen, dass ich hier bis vor wenigen Stunden noch Arbeiten korrigiert habe.
Du bist selbst schuld, erklingt eine gehässige Stimme in meinem Kopf.
Ich reibe mir über die pochende Schläfe und kontrolliere danach ein letztes Mal alle Schubladen und Fächer im Schreibtisch. Ich sollte meinen Abschied nicht länger hinauszögern als nötig, aber es kostet mich mehr Kraft, mich von diesem Raum zu lösen, als ich gedacht hätte. Ich habe schon vor Wochen den Entschluss gefällt, mir einen Job bei einer anderen Schule zu suchen, um mit Lydia zusammen sein zu können. Doch es besteht immer noch ein gewaltiger Unterschied darin, das Arbeitsverhältnis zu eigenen Bedingungen zu verlassen oder vom Sicherheitsdienst nach draußen eskortiert zu werden.
Ich schlucke hart und nehme den Mantel von dem hölzernen Garderobenständer. Mechanisch ziehe ich ihn mir über, danach schnappe ich mir den Karton und gehe zur Tür. Ohne mich ein weiteres Mal umzusehen, verlasse ich das Büro.
In meinem Kopf überschlagen sich Fragen: Weiß Lydia es schon? Wie geht es ihr? Wann werde ich sie das nächste Mal sehen? Was soll ich jetzt tun? Wird mich jemals wieder eine Schule als Lehrer einstellen? Was, wenn nicht?
Doch ich kann die Antworten darauf jetzt auf keinen Fall ergründen. Stattdessen dränge ich die in mir aufsteigende Panik zurück und gehe durch den Flur in Richtung Sekretariat, um meinen Schlüsselbund abzugeben. Schüler laufen an mir vorbei, manche von ihnen grüßen mich freundlich. Ein schmerzhaftes Stechen erfüllt meinen Bauchraum. Nur mit Mühe schaffe ich es, ihr Lächeln zu erwidern. Es hat mir großen Spaß gemacht, hier zu unterrichten.
Ich biege in den Flur des Sekretariats, und mit einem Mal fühlt es sich an, als hätte mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet. Ich bleibe so abrupt stehen, dass mich jemand von hinten anrempelt und sich murmelnd entschuldigt. Doch ich höre kaum hin – mein Blick ist auf den hochgewachsenen, rotblonden jungen Mann gerichtet, dem ich diese ganze Situation zu verdanken habe.
James Beaufort verzieht keine Miene, als er mich erblickt. Im Gegenteil, er sieht vollkommen unbeteiligt aus – als hätte er nicht gerade mein Leben zerstört.
Ich wusste, wozu er in der Lage ist. Und mir war klar, dass es keine gute Idee ist, ihn gegen mich aufzubringen. »Er und seine Freunde sind unberechenbar«, hat Lexington mich an meinem ersten Tag an der Schule gewarnt. »Nehmen Sie sich in Acht.« Ich habe seinen Worten kaum Beachtung geschenkt, weil ich damals bereits die andere Seite der Geschichte kannte. Lydia hatte mir erzählt, wie sehr dieser Junge unter dem Erbe seiner Familie leidet, wie verschlossen er sich selbst seiner Zwillingsschwester gegenüber gibt.
Im Nachhinein fühle ich mich so dumm, nicht vorsichtiger gewesen zu sein. Ich hätte wissen müssen, dass James für Lydia alles tun würde. Wahrscheinlich ist mein beruflicher Ruin in seinem Tagesablauf nicht mehr als eine Lappalie.
Neben James steht Cyril Vega, den ich glücklicherweise nie unterrichten musste. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen wäre, eine professionelle Fassade aufrechtzuhalten. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, erscheint ein Bild von ihm und Lydia vor meinen Augen. Wie sie gemeinsam die Schule verlassen und in einen Rolls-Royce steigen. Wie sie miteinander lachen. Wie er sie in den Arm nimmt und tröstet, während ich das nach dem Tod ihrer Mutter nie konnte.
Nach einem kurzen Moment beiße ich die Zähne fest zusammen und setze meinen Weg fort, den Karton unter den Arm geklemmt. Ich schließe die Hand fester um den Schlüssel in meiner Manteltasche, je näher ich den beiden komme. Sie haben das Gespräch, das sie geführt haben, unterbrochen und beobachten mich, ihre Gesichter zwei harte, undurchdringliche Masken.
Vor der Tür zum Sekretariat bleibe ich stehen und wende mich an James. »Bist du jetzt zufrieden?«
Er gibt keine Reaktion von sich, was die Wut in meinem Inneren weiter hochkochen lässt.
»Was habt ihr euch dabei nur gedacht?«, frage ich und sehe ihn auffordernd an. Wieder antwortet er nicht. »Ist euch eigentlich klar, dass ihr mit euren kindischen Streichen Existenzen zerstört?«
James wechselt einen Blick mit Cyril, und seine Wangen nehmen einen leichten Rotton an – genau wie bei seiner Schwester, wenn sie wütend wird. Die beiden sehen sich so verdammt ähnlich, dabei könnten sie meiner Ansicht nach kaum unterschiedlicher sein.
»Sie sind derjenige, der sich vorher hätte Gedanken machen müssen«, speit Cyril.
Seine Augen funkeln noch wütender als die von James, und mir kommt der Gedanke, dass sie vermutlich gemeinsam den Plan entwickelt haben, mich von der Schule schmeißen zu lassen.
Cyrils Blick lässt keinen Zweifel daran, dass er derjenige ist, der von uns beiden die Macht hat. Er kann alles mit mir machen, ganz gleich, ob ich älter bin als er. Er hat gewonnen, und er weiß es auch. Der Sieg steht ihm ins Gesicht geschrieben und spiegelt sich in seiner stolzen Haltung wider.
Ich stoße ein resigniertes Lachen aus.
»Es überrascht mich, dass Sie noch lachen können«, fährt er fort. »Es ist vorbei. Sie sind entlarvt – ist Ihnen das eigentlich klar?«
Ich schließe die Hand um den Schlüsselbund, so fest, bis die kleinen Metallzähne in meine Haut schneiden. Glaubt dieser reiche Bengel wirklich, ich wüsste das nicht? Ich wüsste nicht, dass es niemanden interessieren wird, wann und wo Lydia und ich uns kennengelernt haben? Dass uns niemand glauben wird, wenn wir beteuern, uns vor meiner Zeit an der Maxton Hall bereits gekannt und geliebt zu haben? Und wir unsere Beziehung in dem Moment beendet haben, als wir wussten, dass ich ihr Lehrer sein würde? Natürlich weiß ich das. Ab sofort und für alle Zeit werde ich der widerliche Typ sein, der während seiner Anfangszeit als Lehrer eine Affäre mit einer Schülerin hatte.
Bei dem Gedanken wird mir schlecht.
Ohne die beiden eines weiteren Blickes zu würdigen, gehe ich ins Sekretariat. Ich nehme den Schlüssel aus meiner Jackentasche, knalle ihn auf den Tresen und mache auf dem Absatz kehrt. Als ich wieder an den Jungs vorbeigehe, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Cyril James ein Handy in die Hand drückt. »Danke dafür, Mann«, höre ich ihn sagen, dann wende ich den Blick ab und gehe, so schnell ich kann, in Richtung Ausgang. Nur am Rande nehme ich wahr, dass James hinter mir laut wird.
Jeder Schritt schmerzt, jeder Atemzug kommt mir wie eine unlösbare Aufgabe vor. Ein Rauschen tritt in meine Ohren, das nahezu alle Geräusche übertönt. Das Lachen der Schüler, ihre hallenden Schritte, das Knarzen der doppelflügeligen Tür, durch die ich Maxton Hall verlasse und ins Ungewisse trete.
Ruby
Ich fühle mich wie betäubt.
Als die Busfahrerin mir sagt, dass wir bei der Endstation angekommen sind, weiß ich einen Moment lang überhaupt nicht, was das bedeutet – bis mir klar wird, dass ich aussteigen muss, wenn ich nicht den gesamten Weg zurück nach Pemwick fahren will. Ich habe keinerlei Erinnerung an die letzte Dreiviertelstunde, so sehr war ich in Gedanken versunken.
Meine Gliedmaßen fühlen sich schwer und kribbelig zugleich an, als ich die Stufen nach unten gehe und nach draußen trete. Ich klammere mich mit beiden Händen an den Gurten meines Rucksacks fest, als könnten sie mir Halt geben. Leider hilft mir das nicht, dieses Gefühl loszuwerden. Als wäre ich in einem Wirbelsturm gefangen, aus dem es kein Entkommen gibt, und wüsste nicht länger, wo oben oder unten ist.
Das alles kann nicht wirklich passiert sein. Ich kann nicht von der Schule geworfen worden sein. Meine Mutter kann nicht wirklich glauben, ich hätte eine Affäre mit einem Lehrer. Mein Traum von Oxford kann sich gerade nicht in Luft aufgelöst haben.
Ich glaube, ich verliere den Verstand. Mein Atem geht immer schneller, und meine Finger verkrampfen sich. Ich spüre, wie Schweiß meinen Rücken hinunterläuft, gleichzeitig habe ich auf dem gesamten Körper eine Gänsehaut. Mir ist schwindelig. Ich schließe die Augen und versuche, meine Atmung wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen.
Als ich sie öffne, habe ich schon nicht mehr das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Zum ersten Mal, seit ich aus dem Bus ausgestiegen bin, nehme ich meine Umgebung wahr. Ich bin drei Stationen zu weit gefahren und befinde mich am anderen Ende von Gormsey. Unter normalen Umständen würde ich mich furchtbar über mich selbst ärgern. Doch stattdessen fühle ich mich beinahe erleichtert, denn ich kann jetzt auf gar keinen Fall nach Hause. Nicht, nachdem Mum mich so angesehen hat.
Es gibt nur einen Menschen, mit dem ich in dieser Sekunde sprechen möchte. Einen Menschen, dem ich bedingungslos vertraue und der genau weiß, dass ich so etwas niemals tun würde.
Ember.
Ich laufe los in Richtung der örtlichen Highschool. Bis zum Schulschluss kann es nicht mehr lange dauern, denn ein paar jüngere Schüler kommen mir bereits entgegen. Eine Gruppe von Jungs versucht, sich gegenseitig von dem schmalen Gehweg in die Büsche zu schubsen. Als sie mich sehen, halten sie kurz inne und gehen dann mit gesenktem Kopf an mir vorbei, als hätten sie Angst, dass ich sie jeden Moment für ihr Verhalten zurechtweisen könnte.
Je näher ich der Gormsey Highschool komme, desto merkwürdiger fühle ich mich. Vor zweieinhalb Jahren bin ich selbst auf diese Schule gegangen. Ich vermisse die Zeit zwar nicht, aber jetzt wieder hier zu stehen, kommt mir vor wie ein Ausflug in die Vergangenheit. Nur dass sich damals niemand in meine Richtung umgedreht und mich angestarrt hat, weil ich die Schuluniform einer Privatschule trage.
Ich gehe die letzten Stufen zur Eingangstür nach oben. Die Wände des Gebäudes, die vermutlich einmal weiß verputzt waren, sind vergilbt, an den Fenstern blättert der Lack ab. Es ist nicht zu übersehen, dass in den letzten Jahren keine Gelder in diese Schule geflossen sind.
Ich schiebe mich an den Schülern vorbei, die mir aus dem Inneren entgegenströmen, und versuche, unter den vielen Gesichtern ein bekanntes zu finden. Es dauert nicht lange, bis ich ein Mädchen mit zwei eng am Kopf geflochtenen Zöpfen entdecke, das zusammen mit einem Jungen die Schule verlässt.
»Maisie!«, rufe ich ihr zu.
Maisie bleibt stehen und sieht sich suchend um. Als sie mich erkennt, hebt sie fragend die Augenbrauen. Sie bedeutet ihrem Freund, kurz zu warten, und schlängelt sich dann zu mir durch. »Ruby«, begrüßt sie mich. »Hey. Was gibt’s?«
»Weißt du, wo Ember ist?«, frage ich. Meine Stimme klingt vollkommen normal, und ich frage mich, wie das sein kann, wo gerade alles in mir zerbrochen ist.
»Ich dachte, Ember ist krank«, antwortet Maisie mit gerunzelter Stirn. »Sie ist heute nicht in der Schule gewesen.«
»Was?«
Das kann nicht sein. Ember und ich haben heute früh das Haus zur selben Zeit verlassen. Wenn sie nicht in der Schule gewesen ist – wo zum Teufel ist sie hingegangen?
»Sie hat mir geschrieben, dass sie mit Halsschmerzen im Bett liegt.« Maisie zuckt mit den Schultern und wirft einen Blick über die Schulter zu ihrem Freund. »Wahrscheinlich ist sie einfach zu Hause, und ihr habt euch verpasst. Hör zu, ich habe jetzt eine Verabredung. Wäre es okay, wenn ich …?«
Ich nicke schnell. »Klar. Danke.«
Sie winkt mir noch einmal zu, dann geht sie die Treppe nach unten und hakt sich bei ihrem Begleiter unter. Ich sehe den beiden hinterher, während meine Gedanken sich überschlagen. Wenn Ember heute Morgen Halsschmerzen gehabt hätte, hätte ich das mitbekommen. Sie sah nicht krank aus und hat sich auch nicht seltsam verhalten. Beim Frühstück war alles wie immer.
Ich krame mein Handy aus der Tasche. Drei verpasste Anrufe von James werden auf dem Display angezeigt. Ich lösche die Benachrichtigung mit heißen Wangen.
Ich bin derjenige, der die Fotos gemacht hat, erklingt seine Stimme in meinem Kopf, doch ich versuche, das schwere Gefühl in meiner Brust zu ignorieren. Ich gehe in meine Favoriten und klicke auf Embers Namen. Es klingelt, also ist ihr Handy nicht ausgeschaltet. Allerdings geht sie selbst nach dem zehnten Klingeln nicht ran. Ich lege auf und öffne dann eine neue Nachricht.
Bitte melde dich. Ich muss dringend mit dir reden.
Ich schicke sie ab und stopfe das Handy zurück in die Tasche meines Blazers, dann gehe ich die Treppe nach unten und drehe mich ein letztes Mal zur Schule um. Ich komme mir unglaublich fehl am Platz vor. Es besteht kein Zweifel, dass ich hier nicht mehr hingehöre. Aber dasselbe trifft jetzt auch auf Maxton Hall zu.
Ich gehöre nirgendwo mehr hin, schießt es mir durch den Kopf.
Mit diesem Gedanken verlasse ich das Schulgelände. Ohne darüber nachzudenken, biege ich links ab und gehe die Hauptstraße entlang in die Richtung unseres Wohnviertels, auch wenn unser Zuhause der letzte Ort ist, an dem ich jetzt sein möchte. Ich würde es nicht ertragen, wenn Mum mich noch einmal so enttäuscht ansieht, wie sie es in Lexingtons Büro getan hat.
Das, was geschehen ist, spielt sich in Dauerschleife in meinem Kopf ab. Immer und immer wieder höre ich die Stimme des Rektors. Wie er mir mit wenigen Worten meine gesamte Zukunft genommen hat, alles, worauf ich seit Jahren hingearbeitet habe.
Während ich an einer Reihe von Cafés und kleinen Läden vorbeikomme, dringen Gesprächsfetzen der Schüler an mein Ohr, die sich vor und nach mir auf dem Heimweg befinden. Sie sprechen über Hausaufgaben, regen sich über Lehrer auf oder lachen über etwas, was in der ersten Pause passiert ist. Wie betäubt realisiere ich, dass ich niemanden mehr habe, mit dem ich solche Gespräche führen kann. Mir bleibt nichts anderes übrig, als hier langzugehen, mich von der Sonne verspotten zu lassen mit der tiefen Gewissheit, dass es in meinem Leben nichts mehr gibt. Keine Schule, keine Familie, keinen Freund.
Tränen steigen in meine Augen, und ich versuche vergeblich, sie wegzublinzeln. Ich brauche meine Schwester. Ich brauche jemanden, der mir sagt, dass alles wieder gut werden wird, auch wenn ich selbst nicht daran glauben kann.
Gerade als ich wieder mein Handy herausholen will, kommt neben mir auf der Straße ein Auto zum Stehen. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass es ein dunkelgrünes, klappriges Gestell mit rostigen Felgen und schmutzigen Fenstern ist. Ich kenne niemanden, der ein solches Auto fährt, also gehe ich weiter, ohne ihm Beachtung zu schenken.
Doch der Wagen folgt mir. Ich drehe mich zur Seite, um ihn genauer anzusehen, als auf der Fahrerseite das Fenster heruntergekurbelt wird.
Mit dem Gesicht, das dahinter zum Vorschein kommt, habe ich auf keinen Fall gerechnet. Überrascht halte ich inne.
»Ruby?«, fragt Wren. Anscheinend sehe ich genauso schrecklich aus, wie ich mich fühle, denn Wren kneift die Augen zusammen und beugt sich ein Stück aus dem Fenster, um mich genauer ansehen zu können. »Alles okay bei dir?«
Ich presse die Lippen fest aufeinander. Wren Fitzgerald ist so ziemlich der Letzte, mit dem ich jetzt sprechen möchte. Schon gar nicht, wenn ich genauer darüber nachdenke, warum er mich so ansieht. Mit Sicherheit hat mein Rauswurf in Maxton Hall schon die Runde gemacht. Eine Woge unangenehmer Hitze überkommt mich, und ich gehe weiter, ohne ihm zu antworten.
Hinter mir wird eine Autotür zugeschlagen, kurz darauf kann ich schnelle Schritte hören. »Ruby, warte!«
Ich halte an und schließe die Augen. Dann nehme ich einen, zwei, drei tiefe Atemzüge. Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie durcheinander ich gerade bin und was in mir vorgeht, bevor ich mich zu Wren umdrehe.
»Du siehst aus, als würdest du jeden Moment umkippen«, sagt er mit gefurchter Stirn. »Brauchst du Hilfe?«
Ich schnaube leise. »Hilfe?«, krächze ich. »Von dir?«
Daraufhin presst Wren die Lippen fest aufeinander. Er sieht kurz zu Boden, dann wieder hoch. »Alistair hat mir erzählt, was passiert ist. Das ist echt scheiße.«
Ich versteife mich und wende den Blick ab. Also ist es genau, wie ich gedacht habe. Die Sache hat sich schon in der Schule rumgesprochen. Einfach großartig. Ich betrachte die Fassade eines Fitnesscenters auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Einige Leute trainieren auf Laufbändern, andere stemmen Gewichte von sich. Vielleicht sollte ich mich darin verkriechen. Dort findet mich bestimmt niemand.
»Großartig«, murmle ich.
Ich will mich wieder von ihm wegdrehen und weitergehen, doch irgendetwas lässt mich zögern. Vielleicht ist es die Tatsache, dass Wren nicht in einer Limousine hier langgefahren ist, sondern in einem Auto, das so aussieht, als würde es jeden Moment auseinanderfallen. Vielleicht ist es der Blick in seinen Augen, der ernsthaft und aufrichtig wirkt und nicht, als würde er sich einen Spaß mit mir erlauben. Vielleicht ist es aber auch die Tatsache, dass wir uns hier in Gormsey gegenüberstehen – dem letzten Ort, an dem ich mit jemandem wie Wren Fitzgerald gerechnet hätte.
»Was machst du eigentlich hier?«
Wren zuckt mit den Schultern. »Ich war zufällig in der Gegend.«
Ich hebe eine Augenbraue. »In Gormsey. Zufällig.«
»Hör zu«, wechselt Wren das Thema. »Ich weigere mich zu glauben, dass James etwas damit zu tun hat.«
»Hat er dich geschickt, um mir das einzureden?«, frage ich mit bebender Stimme.
Wren schüttelt den Kopf. »Nein. Aber ich kenne James. Er ist mein bester Freund. Er würde so etwas nicht tun.«
»Es sind Bilder, die aussehen, als würde ich mit einem Lehrer knutschen, Wren. Und James hat zugegeben, sie gemacht zu haben.«
»Vielleicht hat er sie gemacht. Aber das heißt nicht, dass er sie auch an Lexington geschickt hat.«
Ich presse die Lippen zusammen.
»James würde das nicht tun«, sagt Wren eindringlich.
»Wieso bist du dir da so sicher?«, frage ich.
»Weil ich weiß, wie James für dich empfindet. Er würde nie etwas tun, was dir schadet.«
Er sagt das mit einer solchen Gewissheit, dass meine Gedanken und Gefühle aufs Neue aufgewirbelt werden. Würde es die Dinge ändern, wenn James die Fotos nicht eingereicht hat? Aber warum hat er sie überhaupt gemacht?
»Ich will selbst wissen, was es mit der ganzen Sache auf sich hat«, sagt Wren. »Ich fahre jetzt zu ihm. Komm mit mir, Ruby. Dann kannst du dich selbst davon überzeugen.«
Ich starre Wren an. Es liegt mir auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er den Verstand verloren hat. Doch ich zögere.
Dieser Tag hat seinen absoluten Tiefpunkt schon erreicht. Es kann nicht schlimmer werden, denn ich habe nichts mehr zu verlieren.
Ich ignoriere die Alarmglocken, die in diesem Moment in meinem Kopf zu schrillen beginnen. Ohne weiter darüber nachzudenken, gehe ich zu Wrens rostigem Wagen und steige ein.
Lydia
Die Nachricht, dass Graham suspendiert wurde, hat sich wie ein Lauffeuer in der gesamten Maxton Hall verbreitet. Es war unerträglich, vor der Schule zu stehen und darauf zu warten, dass Percy mich endlich abholt, zumal ich weder James noch Ruby erreicht habe – von Graham ganz zu schweigen. Bei dem Gedanken, wie er sich gerade fühlen muss, wird mir schlecht, und es macht mich wahnsinnig, nicht zu wissen, wie es ihm geht.
Als ich schließlich zu Hause ankomme, gehe ich direkt in mein Zimmer und versuche erneut, ihn zu erreichen. Dieses Mal nimmt er ab, und ich schnappe erleichtert nach Luft.
»Graham?«
»Ja.« Seine Stimme ist tonlos.
»Es tut mir so leid«, platze ich raus, während ich in meinem Zimmer auf und ab laufe. Mein ganzer Körper ist mit Adrenalin geladen, und mein Herz pocht schnell und heftig gegen meinen Brustkorb. »Es tut mir so leid. Das habe ich nicht gewollt.«
Ich kann Graham scharf einatmen hören. »Es ist nicht deine Schuld, Lydia.«
Doch, das ist es. Es ist meine Schuld, dass Graham und Ruby von der Schule geflogen sind. »Ich werde heute Nachmittag zu Rektor Lexington fahren und das aufklären. Alles wird wieder gut, glaub mir. Ich werde die Schuld auf mich nehmen und …«
»Lydia«, unterbricht er mich sanft.
»Ruby ist auch suspendiert worden. Sie hat das absolut nicht verdient. Ich kann nicht zulassen, dass sie für etwas bestraft wird, was sie gar nicht getan hat.«
»Lydia, ich …« Bevor er den Satz beenden kann, wird das Handy aus meiner Hand gerissen. Vor Schreck stoße ich einen kleinen Schrei aus und fahre herum.
Dad steht mir gegenüber und sieht mich aus kalten Augen an. Er senkt den Blick auf das leuchtende Display meines Handys. Dann hebt er einen Finger und beendet den Anruf.
»Hey! Was …?«, fange ich an.
»Du wirst nie wieder mit diesem Lehrer sprechen«, unterbricht mich mein Vater mit eisiger Stimme. »Hast du das verstanden?«
Ich öffne den Mund, aber die Kälte in Dads Stimme und der zornige Blick in seinen Augen halten mich davon ab, auch nur ein Wort zu sagen.
Er weiß Bescheid.
Dad weiß von Graham und mir.
Oh Gott.
»Dad …«, flüstere ich verzweifelt.
Bei dem Wort verzieht er das Gesicht zu einer beinahe schmerzvollen Grimasse. »Wenn deine Mutter noch am Leben wäre, würde sie sich für dich schämen.«
Er sagt das so ruhig, dass es eine Sekunde dauert, bis die Worte in ihrer vollen Bedeutung zu mir durchdringen. Sie treffen mich wie ein Schlag, und ich weiche ein Stück von ihm und seinem Zorn zurück. »Lass es mich bitte erklären, Dad, es ist wirklich nicht, wie du denkst. Graham und ich kannten uns schon vorher, wir …«
Plötzlich reißt mein Vater seinen Arm hoch und schmettert das Handy mit voller Wucht gegen die Wand. Es zersplittert in seine Einzelteile und landet in schwarzen Scherben und Plastikteilen verstreut auf dem Boden. Fassungslos starre ich ihn an.
»Ich sage es dir ein letztes Mal: Du wirst nie wieder mit diesem Mann sprechen. Hast du das verstanden?« Mittlerweile bebt seine Stimme vor Wut.
»Ich versuche doch gerade, dir zu erklären, dass es …«
»Ich will deine Erklärungen nicht hören, Lydia«, fährt er dazwischen.
Ich hasse es, wenn er so ist. Dass er mich nicht anhören möchte, obwohl er genau weiß, dass ich etwas zu sagen habe.
»Ich habe nicht mit allen Mitteln deinen guten Ruf gewahrt, nur damit du gleich die nächste leichtsinnige Entscheidung triffst. Das wird ab sofort aufhören, verstanden?«
Es fühlt sich an, als hätte mir jemand Eiswasser ins Gesicht geschüttet. Ich brauche einen Moment, bis ich meine Stimme wiederfinde. »Was meinst du damit – meinen guten Ruf gewahrt?«
Dads Gesichtsausdruck verhärtet sich. »Ich habe dafür gesorgt, dass der Name dieser Familie nicht noch mehr Schaden nimmt. Du solltest froh darüber sein, statt mich so anzusehen.«
Meine Kehle ist wie zugeschnürt. »Du warst das?«, krächze ich heiser. »Du hast die Bilder an Rektor Lexington gegeben?«
Dads kalte Augen sind auf mein Gesicht geheftet. »Ja.«
Ich habe das Gefühl, mir fehlt die Luft zum Atmen. Übelkeit steigt in mir auf, und der Raum beginnt sich zu drehen. Mit einer Hand greife ich nach dem Stuhl vor mir, um mich abzustützen.
Mein eigener Vater ist schuld daran, dass Graham seinen Job verloren hat und James’ Freundin suspendiert worden ist.
»Wieso hast du das getan?«, flüstere ich.
Das Bedürfnis, ihm meine Situation zu erklären, ist zu Staub zerfallen. In mir ist nur noch Platz für Ungläubigkeit – und für unsägliche Wut, die sich von Sekunde zu Sekunde schneller in meinen Adern ausbreitet.
»Weil du diese Familie zerstören könntest – ist dir völlig egal, was du mit deinem rücksichtslosen Verhalten aufs Spiel gesetzt hast? Bedeutet dir diese Familie nichts?«, fragt mein Vater.
»Familie? Du kümmerst dich doch einen Scheißdreck um diese Familie!«, fauche ich und balle die Hände zu Fäusten. Meine Arme zittern, und ich habe das Gefühl, jeden Moment zu explodieren. »Das Einzige, was dich interessiert, ist Geld. Wie es James und mir seit Mums Tod geht, ist dir scheißegal. Und jetzt stehst du vor mir und verlangst von mir, froh darüber zu sein, dass du meinen Freund von der Schule hast schmeißen lassen?«
Dads Nasenflügel blähen sich bei dem Wort »Freund« kurz auf, ansonsten ist in seinem Gesicht keine Regung zu erkennen. »Ich würde noch mehr tun, um den Namen dieser Familie zu retten.«
Seine ruhige Stimme macht mich wahnsinnig. Mein Atem kommt immer schneller, und ich kralle die Nägel so fest in die Handinnenflächen, dass ich mit Sicherheit bald blute.
»Du solltest mir dankbar sein, Lydia«, fügt er hinzu.
Meine Wut erreicht ihren Höhepunkt. Ich kann die Worte nicht mehr zurückhalten, sie sprudeln unkontrolliert aus mir heraus. »Du hast ihn vielleicht von der Schule geworfen, aber du kannst ihn nicht aus meinem Leben streichen!«, schreie ich mit voller Kraft.
»Und ob ich das kann.« Dad dreht sich um und will das Zimmer verlassen.
Aber ich bin noch nicht fertig.
»Nein, kannst du nicht. Ich bin nämlich schwanger.«
Er bleibt auf dem Absatz stehen. Wie in Zeitlupe dreht er sich zu mir zurück. »Was?«
Ich recke das Kinn trotzig vor. »Ich bin schwanger. Von Graham.«
Es ist seltsam, seine Reaktion zu beobachten. Einen Moment lang sieht er mich nur an und blinzelt mehrmals hintereinander – wie der merkwürdig dreinblickende Mann auf diesem GIF, das seit Monaten im Umlauf ist. Dann beginnen seine Schultern zu zucken, als würde es ihm schwerfallen, eine gleichmäßige Atmung beizubehalten, und rote Flecken bilden sich auf seinen Wangen, seiner Stirn und seinem Hals.
Ich dachte eigentlich, ich hätte alle Formen von Dads Zorn bereits kennengelernt. James und ich haben früh gelernt, die kleinsten Regungen in seiner Mimik und seiner Haltung richtig zu deuten und uns rechtzeitig aus dem Staub zu machen.
Doch so wie in diesem Moment habe ich ihn noch nie gesehen.
Sein Blick liegt auf mir, eine Sekunde, noch eine, und ich mache langsam einen Schritt zurück, weil ich nicht einschätzen kann, was passieren wird. Aber zu meiner Überraschung macht Dad kehrt und verlässt mein Zimmer ohne ein weiteres Wort.
Die Tür knallt er so heftig zu, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. Ich presse mir eine Hand auf den Brustkorb und atme tief durch. Mein Puls rast, ich kann mein Herz unter meiner Hand wummern spüren.
Keine zehn Sekunden später geht die Tür plötzlich wieder auf – so schwungvoll, dass der Knauf gegen die Wand knallt und dort mit Sicherheit eine Delle hinterlässt. Mein Vater kommt zurück ins Zimmer und baut sich vor mir auf.
»Weiß er es?«, fragt er so leise, dass ich ihn kaum verstehe.
Die Frage trifft mich völlig unvorbereitet, und ich brauche mehrere Sekunden, bis ich es schaffe, den Kopf zu schütteln. »Nein, ich …«
»Gut«, unterbricht mich Dad. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, schreitet er mit großen Schritten durch mein Zimmer. Er reißt die Tür zu meinem begehbaren Kleiderschrank auf und betritt den kleinen Raum. Ich höre ein lautes Rumpeln.
Ich hechte zur Tür und starre meinen Vater an, der offensichtlich gerade einen meiner großen Reisekoffer von der oberen Ablage des Schrankes heruntergezogen hat. Gerade greift er nach einer Reisetasche, die er geräuschvoll auf den Boden daneben feuert. Er tritt den Deckel des Koffers mit dem Fuß auf und fängt anschließend an, wahllos Kleidungsstücke aus den Regalen und von den Bügeln zu reißen und sie hineinzuwerfen.
»Was tust du da?«
Dad reagiert nicht. Wie im Wahn greift er nach T-Shirts, Blusen, Hosen, Unterwäsche, Taschen und Schuhen. Seine Haare stehen durch die ruckartigen Bewegungen in alle Richtungen ab, die Flecken auf seinem Gesicht und dem Hals werden immer dunkler. Selbst als der Koffer voll ist, hört er nicht auf, und die Sachen landen in einem unordentlichen Haufen auf der Tasche und dem Boden daneben.
»Dad, was machst du denn?«, schreie ich und trete einen Schritt nach vorn, um ihn dazu zu bringen aufzuhören. Ich greife nach seinem Arm, aber er reißt sich los. Die Wucht seiner Bewegung lässt mich zurücktaumeln, und nur gerade so schaffe ich es, mich mit einer Hand am Türrahmen festzuhalten.
In dem Moment platzt James ins Zimmer.
»Was ist hier los?«, fragt er. Sein Blick ist besorgt, als er mich von oben bis unten mustert, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Dann entdeckt er Dad in meinem Schrank, und seine Augen weiten sich.
»Was machst du da, Dad?«, fragt er.
Dad fährt auf dem Absatz herum und deutet auf James. »Du wusstest davon?«, fragt er.
James runzelt die Stirn. »Wovon?«
»Was frage ich überhaupt. Natürlich wusste er davon«, murmelt Dad zu sich selbst. Einen Moment lang betrachtet er das Chaos, das er um sich herum angerichtet hat, dann beugt er sich runter und beginnt kurzerhand, die Klamotten, die neben dem Koffer gelandet sind, mit gewaltvollen Bewegungen in die Reisetasche zu stopfen.
»Wofür packst du meine Sachen, Dad?«, frage ich heiser.
»Du ziehst sofort aus.«
Eine Welle von Übelkeit überrollt mich. »Was?«, keuche ich.
James legt eine Hand auf meinen Rücken, wie um mir zu zeigen, dass er bei mir ist.
»Wir hatten in diesem Jahr schon mit genug Schlagzeilen zu kämpfen. Ich lasse nicht zu, dass das Wohl meines Unternehmens gefährdet wird, nur weil du so dumm bist und dich von einem Lehrer schwängern lässt!« Die letzten Worte brüllt Dad in meine Richtung.
Ich rücke näher an James heran, und seine Hand verkrampft sich an meinem Rücken. Ich kann förmlich spüren, wie viel Willenskraft es ihn gerade kostet, sich zurückzuhalten.
Seine Stimme klingt bemüht ruhig, als er versucht, auf unseren Vater einzugehen. »Du kannst nicht einfach so tun, als wäre das nicht passiert.«
Dad zerrt am Reißverschluss der Reisetasche. Ein Stück Stoff hat sich darin verkeilt, und ein unschönes Ratschen erklingt. Ich zucke zusammen.
»Und ob ich das kann«, ächzt er und schließt die Tasche mit einem heftigen Ruck. Dann wendet er sich dem Koffer zu. Er stemmt ein Knie auf den Deckel, während er den Reißverschluss zuzieht. »Du fährst zu deiner Tante. Und zwar sofort. Niemand darf von deinen … deinen Umständen erfahren.«
Ich schnappe keuchend nach Luft. »W-was?«
»Das kannst du nicht machen«, sagt James.
Dad hält inne und sieht uns an. Es ist ein beinahe groteskes Bild, wie er da auf meinem silbernen Koffer kniet, schwer atmend, mit zerzausten Haaren und verschwitztem Hemd. »Ich bin der Einzige, der in diesem Haus noch bei Verstand ist. Glaubst du wirklich, dass ich dich so …« Er deutet auf meinen Bauch. »… weiter diese Familie repräsentieren lasse? Hast du eine Ahnung, welches Licht das auf uns wirft? Auf Beaufort?«
»Darum geht es dir?« James’ Stimme bebt. »Nur darum?«
»Natürlich. Worum denn sonst?«
»Es sollte dir um deine Tochter gehen, verdammt!«
Dad schnaubt. »Sei nicht so naiv, James.« Sein eiskalter Blick landet auf mir. »Du hättest dir vorher überlegen müssen, wo deine Prioritäten liegen, Lydia. So bist du für diese Familie nicht tragbar.«
Die Wände meines Zimmers bewegen sich auf mich zu. Ich schwanke gegen James und kralle mich an ihm fest.
»Du kannst Lydia nicht ins Exil schicken und so tun, als würde sie nicht existieren«, sagt James aufgebracht. Ich spüre, wie seine Hand auf meinem Rücken zittert.
Dad steht auf und reißt den Koffer hoch. Mit hochrotem Kopf nimmt er ihn am Griff, schnappt sich die Reisetasche und kommt dann mit strammen Schritten auf uns zu.
James stellt sich ihm in den Weg.
»Geh zur Seite, James.«
»Selbst wenn du Lydia wegschickst, spätestens in ein paar Monaten wird die Öffentlichkeit Wind davon bekommen. Es wird nichts ändern, du zerstörst bloß unsere Familie!«
Eine Sekunde vergeht. Dann lässt Dad die Reisetasche fallen, hebt die Hand und …
Meine Reaktion ist instinktiv.
Ich werfe mich vor James, als Dad zuschlägt. Er trifft mich an der Wange und am Ohr, so fest, dass mein Kopf herumgerissen wird und schwarze Punkte vor meinen Augen erscheinen. In meinen Ohren ist ein Rauschen, das immer lauter und heftiger wird, und plötzlich weiß ich nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich verliere das Gleichgewicht und versuche nach etwas zu greifen, was mich aufrecht halten kann. In dem Moment, in dem James’ Arme mich auffangen, wird mir schwarz vor Augen.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als ich wieder zu Bewusstsein komme. Sekunden oder doch Minuten? Ich glaube, ich liege auf dem Boden. Laute Stimmen dringen an meine Ohren und verstärken den Schmerz in meinem Kopf. Das Pochen in meiner Schläfe wird mit jeder Sekunde heftiger. Ich versuche, die Augen zu öffnen.
Jemand kniet neben mir und schüttelt sanft meine Schulter. James. Er sagt meinen Namen mehrmals hintereinander und klingt mit jedem Mal ein bisschen verzweifelter.
Ich blinzle, und allmählich nimmt meine Umgebung wieder feste Umrisse an. Ich liege vor der Tür meines begehbaren Kleiderschranks. James hat mich auf seinen Schoß gebettet und streichelt meine Arme. Seine Augen sind weit aufgerissen, aber als er sieht, dass ich wieder bei Bewusstsein bin, stößt er einen erleichterten Seufzer aus. Neben uns steht Dad und sieht auf uns herunter, noch immer den Koffer in einer Hand. Vielleicht bilde ich es mir ein, aber ich meine, auch in seinem Blick Erleichterung aufblitzen zu sehen. Allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn im nächsten Moment zieht er sein Handy aus der Hosentasche, drückt eine Taste und hebt den Hörer ans Ohr.
Er sieht mir in die Augen, als er ohne jegliche Intonation sagt: »Percival? Kommen Sie bitte in den ersten Stock und tragen die Taschen aus dem Zimmer meiner Tochter in den Wagen. Lydia wird heute noch ausziehen.«
Dann wendet er den Blick von James und mir ab, steigt über die Taschen hinweg und geht aus dem Zimmer.
Es fühlt sich an, als würde jemand die Hände um meinen Hals legen und zudrücken. Ich fahre mit den Fingern vorsichtig über die Stelle, an der er mich getroffen hat, und kann die Tränen nicht länger zurückhalten.
»Es wird alles gut«, flüstert James und hält mich fest. »Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das hin.«
Allerdings glaube ich, dass mich mein Bruder zum ersten Mal in unserem Leben nicht vor dem beschützen kann, was auf mich zukommt.