Dietrich Volkmer

Die Odyssee

Eine Psychologische Reise nach Ithaka

Books on Demand

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Homer, Troja, Odysseus und Ithaka – das sind Begriffe, die wohl die meisten Leser schon einmal gehört haben. Der Name Heinrich Schliemann fällt sicher ebenfalls so manchem ein.

Aber nicht jeder weiss auch, dass die beiden ersten grossen Hauptwerke der abendländischen Dichtkunst, die „Ilias“ und die „Odyssee“ vor rund zweitausendachthundert Jahren entstanden sind, ein unglaubliches Alter für eine Dichtung.

Es ist erstaunlich, dass uns diese Werke bis heute erhalten geblieben sind und von den Schülern, die ein Humanistisches Gymnasium besuchen, noch heute gelesen werden können oder müssen.

Diejenigen, die der altgriechischen Sprache nicht mächtig sind, müssen die Werke des grossen Poeten Homer in verschiedenen Übersetzungen lesen, so wie ich es bei dem Verfassen dieses Buches getan habe.

Man kann dabei nur hoffen, dass die Übersetzer in die Feinfühligkeit der Ausdrucksweise Homers hineinschlüpfen konnten, um uns Lesern einen Eindruck seiner antiken Gedanken zu vermitteln. Sämtliche Übersetzungen sind daher immer ein Kompromiss, denn jede Sprache und jede Zeit hat ihre eigene Farbigkeit. Damit muss man leben.

Ich muss gestehen, dass ich beim wiederholten Lesen immer wieder Passagen in verschiedenen Übersetzungen fand, die vom Inhalt und der Bedeutung relativ ähnlich waren und mir eine Hochachtung vor der – so möchte ich es einmal nennen – psychologischen Raffinesse des antiken Dichters abverlangten.

Ob die aber von den Altphilologen der Schulen und Universitäten auch so gesehen und verstanden werden, vermag ich nur zu hoffen.

Auf jeden Fall hat mir die Lektüre immer wieder Freude bereitet, ja so manchesmal war die Odyssee richtig spannend - man verzeihe mir diesen banalen Vergleich - wie ein Abenteuerroman.

Es ändern sich nämlich nur die Formen, zeitgemäss versteht sich, die Inhalte bleiben stets die gleichen.

Bad Soden, im April 2013

Ithaka

Wenn du auf die Reise nach Ithaka aufbrichst,

wünsch dir, dass der Weg sich lange ziehen möge,

voll Abenteuer, voll Erkenntnis.

Vor Laistrygonen, vor Kyklopen,

vor dem zornigen Poseidon habe keine Angst,

derlei wirst du auf deiner Reise niemals finden,

wenn nur dein Denken hoch, wenn erlesene

Ergriffenheit dir Geist und Körper anrührt.

Den Laistrygonen und Kyklopen,

dem wilden Poseidon wirst du nicht begegnen,

wenn du sie nicht selber in deiner Seele mitschleppst,

wenn deine Seele sie nicht vor dir aufpflanzt.

Und immer habe Ithaka vor deinem Geist.

Dort anzukommen ist deine Bestimmung.

Doch sollst du die Reise ja nicht übereilen.

Es ist besser, sie dauert viele Jahre.

Ithaka schenkte dir die schöne Reise.

Sonst hättest du dich ja nicht auf den Weg gemacht.

Nichts anderes hat es dir mehr zu bieten.

Konstantinos P. Kavafis

Auszüge aus dem Gedicht „Ithaka“,

in „Kavafis- Seferis – Auswahl aus den Gedichten“

Erschienen bei Eridanos, Athen.

Einstimmung

Am Anfang dieses Buches erscheint es angebracht, ein paar Worte über die Motivation zur Betrachtung eines solchen Themas zu verlieren.

Schliesslich haben schon Generationen von Philhellenen und Altphilologen sich an den Reisen und Abenteuern des homerischen Helden berauscht, erfreut oder erquickt, je nach Gemütslage des einzelnen.

Viele hat die intellektuelle Neugier sogar so weit getrieben, dass sie es ganz genau wissen wollten, in welchen geografischen Breiten Homer seinen trojanischen Heimkehrer hat herumirren lassen.

So verglichen sie pedantisch die homerischen Beschreibungen mit ihren Atlanten des mediterranen Raums, immer in der Hoffnung, eine Spur von Odysseus zu finden und einer Trophäe gleich, diese Erkenntnis oder Pseudoerkenntnis unter Kollegen und anderen Suchern hochzuhalten.

Ebenso unsinnig erscheint es, dass es Archäologen und sonstige antiquarische Detektive gibt, die partout den biblischen Garten Eden aufspüren wollen. Sie verkennen völlig, dass das Paradies keine geografische Lokalisation hier auf Erden hat – nur vertrackte Erz-Sozialisten glauben noch immer daran, etwas Derartiges hier auf Erden einrichten zu können. Der Garten Eden ist eine religiöse Metapher, ebenso wie die gesamte Schöpfungsgeschichte der Bibel.

Dieses Buch hat sich derartige Intentionen nicht zum Ziel gesetzt.

Mir als Autor ist sogar ziemlich gleichgültig, an welchen Gestaden sich Odysseus mit seinen Mannen und später allein getummelt hat. Ich bin sogar der Meinung, dass diese Versuche der geografischen Lokalisierung dem Werk Homers und seinen Absichten gänzlich abträglich zu sein scheinen.

Ja, ich bin überdies der Ansicht, dass es gar nicht im Interesse Homers – falls es ihn denn als reale Person gegeben hat – gelegen hat, sämtliche Stationen der Reise seines Helden kartografisch genau anzugeben, um damit die detektivisch-intellektuelle Neugier späterer Generationen zu befriedigen.

Wer sich seine Phantasie nicht verbiegen lassen möchte, kann sich diese Art von Literatur getrost ersparen.

Die einzigen „Eckpfeiler“ dieser antiken Abenteuerreise sind und bleiben dann nur Troja und Ithaka.

Wenn wir davon ausgehen müssen, dass die Stationen dieser Reise samt und sonders der Phantasie Homers entsprungen sind, so ist natürlich als Konsequenz dieser Betrachtung die von vielen sicher fast als Sakrileg empfundene Frage berechtigt, ob die beiden eben erwähnten „Eckpfeiler“, nämlich Ausgangspunkt und Ziel, ebenfalls willkürlich gewählt sind und keine historisch belegbaren Aspekte aufweisen.

Jedoch will ich mich zu Beginn des Buches nicht gleich zu weit aus dem Fenster lehnen und die Dinge in aller Ruhe weiter im Detail auf mich und Sie zukommen lassen.

Die „Ilias“ und die „Odyssee“ sind als reine Geschichtswerke weniger von Bedeutung, auch wenn Heinrich Schliemann die „Ilias“ als Motiv für seine archäologischen Recherchen in Troja, dem heutigen Hissarlik, benutzt hat.

Vielmehr erscheinen sie als sagenhafte Ursprungsgebilde einer sich für die Zukunft rüstenden Kultur, die wie keine zweite unser gesamtes abendländisches Wesen initiiert und befruchtet hat.

Erstaunlich ist, da ja soviel Wertvolles unter den Trümmern der Vergangenheit begraben wurde und durch die mit Arroganz gepaarte Ignoranz späterer Jahrhunderte der Vernichtung anheim fiel, dass diese Epen uns bis heute erhalten geblieben sind.

Ich bin kein Altphilologe. Zwar habe ich ein humanistisches Gymnasium besucht, habe aber aus, wie ich damals glaubte, opportunistischen oder rationalen Gründen – wie immer man es aus der Retrospektive betrachten will – als dritte Fremdsprache nach Englisch und Latein die französische Sprache gewählt.

Natürlich gab es die Möglichkeit, am Nachmittag in Form eines Arbeitskreises Altgriechisch zu belegen.

Aber einmal Hand aufs Herz, verehrte Leser beiderlei Geschlechts, geht oder ging es Ihnen nicht auch so: In der Jugend tendiert man leicht zu einer pragmatischen Bequemlichkeit, die sich noch nicht an eventuellen Zukunftsbedürfnissen orientiert, da darüber noch der Schleier des Verborgenen liegt.

So blieb fortan, so möchte ich es heute formulieren, ein weisser Fleck in meiner humanistischen Ausbildung bestehen und ich konnte die Werke Homers, durch die sich damals mein Banknachbar während meiner Französisch-Stunden quälte, nicht im Urtext lesen.

Doch das war noch nicht alles an Defiziten, die mir meine Französisch-Entscheidung einbrachte.

Später, im Erwachsenen-Alter, entdeckte ich meine Liebe für Griechenland mit seinen unzähligen Inseln und entschied mich, das Neugriechisch zu lernen.

Einem Altphilologen fällt das Lesen der fremden Buchstaben natürlich viel leichter als mir, der ich erst einmal mit den neuen Lettern – das zweite Defizit - kämpfen musste.

Aus der Mathematik waren uns ja wenigstens ein paar griechische Buchstaben bekannt.

Das wars dann aber auch schon.

Denn das Neugriechisch unterscheidet sich vom Altgriechischen erheblich. Möge kein Graecist glauben, dass im heutigen Hellas auch nur einer seine alten Sätze versteht, es sei denn, der Angesprochene ist zufällig Lehrer der Sprache Homers.

In einem meiner Neugriechisch-Lehrbücher fand ich eine herrliche Karikatur zu diesem Thema. An einer Bus-Haltestelle irgendwo in Hellas steht ein typischer Grieche. Da nähert sich mit Rüstung, Helm und Federbusch ein als Alter Grieche verkleideter Mann und spricht den Wartenden an mit dem ersten Satz der „Odyssee“: „Nenne mir Muse die Taten des vielgewanderten Mannes …“ (nach der Übersetzung von Johann Heinrich Voss aus dem Jahr 1793).

Das Gesicht des Neugriechen spiegelt nur herrlich anzusehendes Unverständnis.

Aber trotzdem rafft er sich zu einer wissenden Antwort auf und die ist kennzeichnend: „Aha“ sagt er „deuts(ch)“

Wer sich mit Homer befasst, kommt nicht darum herum, sich mit der geradezu überwältigend grossen Götterund Sagenwelt der Griechen zu befassen.

Es gibt wohl kein Volk auf dieser Welt – damit mir aber niemand kritiklose Vorliebe für das Griechentum vorwerfen kann, reduziere ich die ganze Welt auf den westlichen Kulturkreis – das einen so umfangreichen, ja gewaltigen Sagenschatz angehäuft hat, wie die Griechen in ihrer klassischen Hochphase.

Nun hat nicht jedermann ein Interesse an Sagen, Mythen und Märchen.

Vieles erwirbt man durch die Eltern oder Grosseltern, wenn diese Zugang zu diesen Bereichen hatten oder zumindest akzeptierten.

Ich hatte das Glück, eine Grossmutter zu haben, die auf der einen Seite abergläubisch war, zum anderen aber noch ein wenig über die Sagen ihrer (und letztendlich meiner eigenen) schlesischen Heimat Bescheid wusste.

So hörte ich als Kind häufig von jener sagenhaften Gestalt aus dem Riesengebirge, dem Rübezahl. Er lebt noch immer in meiner Erinnerung als bärtiger Hüne mit einem grossen Stock, auf den er sich stützte und den er auch als Waffe verwenden konnte. Manchmal vermischen sich in meiner Phantasie die Bilder von Rübezahl und Zeus zu einer Person, aber wenn die Vernunft sich einschaltet, muss ich sie jedoch schleunigst wieder trennen, denn man täte dem Göttervater wohl unrecht, würde man ihn, den Blitzeschleuderer und Wolkenversammler vom Olymp, mit Rübezahls Keule ins Riesengebirge versetzen, auch wenn es nur in Gedanken ist.

Die nächste Sage war mit unserer neuen, von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs verfügten Heimat verbunden. Der Silbersee in der Nähe von Bremerhaven, in dem wir als Kinder im Sommer schwammen, sei der Legende nach durch eine Verwünschung, durch einen Fluch entstanden, durch den das Schloss, das dereinst hier stand, mit Mann und Maus für immer im See verschwand. So manchesmal beschlich mich beim Schwimmen im tiefen Wasser ein mulmiges Gefühl, wenn ich daran dachte, dass unter mir die Leichen von Rittern und Burgfräulein am Grund des Sees bis in alle Ewigkeit liegen könnten.

Das nächste Kapitel, das mich etwas näher an dieses Buch-Thema führte, war ein Gespräch in der neunten Klasse mit meiner damaligen Deutsch-Lehrerin Frau Zimmermann. Man sagte ihr nach, sie sei sehr streng, aber sie hatte ein gutes Herz.

Das damalige Gespräch begann mit einer klaren Aussage der Lehrerin. „Dieter, ich empfehle dir einmal das Buch von Peter Bamm „Die unsichtbare Flagge“. Peter Bamm beschreibt darin – er war zuvor als Feuilletonist bei Berliner Zeitungen tätig – seine Eindrücke und Erlebnisse als Arzt an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg.

Das war ein entscheidender Tip für mein späteres Leben und ich bin Frau Zimmermann für diesen Hinweis noch immer dankbar.

Aus Bewunderung für die umfassende allgemeine und humanistische Bildung von Peter Bamm wurde daraus eine Liebe zu all seinen folgenden Büchern und zur klassischen griechischen Antike.

Um nur einige seiner Bücher zu erwähnen: „Die Küsten des Lichts“, „Frühe Stätten der Christenheit“ und „Alexander oder Die Verwandlung der Welt“.

Seine sämtlichen Werke haben neben den Büchern von Nikos Kazantzakis noch immer einen Ehrenplatz in einem meiner Bücherregale.

Wer für Griechenland schwärmt, besucht früher oder später die Stätten seiner Sehnsucht.

Es muss nicht immer so verklärt sein, wie zu Zeiten Goethes, Schillers oder Winkelmanns, als bei allen Philhellenen der Satz kursierte „Das Land der Griechen mit der Seele suchen“.

Aber ein wenig Nostalgie ist und war schon dabei.

Eine Unmenge von Reisen führte uns auf das griechische Festland, aber viel mehr noch auf die griechischen Inseln.

Bei all diesen Besuchen reiste im Kopf die Antike immer mit und ich denke, dass es gerade diese Erinnerungen waren, die mich oft ein Auge zudrücken liessen über aktuelle, meist finanzielle Unvollkommenheiten – so möchte ich es einmal höflich-nachsichtig umschreiben – der griechischen Jetzt-Zeit.

Diese Zeilen schreibe ich auf einem Schiff, das uns von der Insel Santorin zur Insel Naxos bringen soll. Wer denkt dabei nicht an Ariadne und an Theseus, dessen Vater Aigeus wiederum durch seinen Enttäuschungssturz von den Klippen Athens sich bis heute im Namen Ägäis verewigte.

Es ist fast gefährlich, sich in der griechischen Sagenwelt zu bewegen – immer wieder erliegt man der Versuchung abzugleiten.

Die Begeisterung für die erste grosse Dichterin des Abendlandes, der Poetin Sappho (sie lebte um 600 v. Chr.) von der Insel Lesbos, führte zu einer viermaligen Reise auf diese Insel und sogar zu einem Buch mit dem Titel „Die Insel der Sappho – Ostägäische Impressionen“ (Neuer Titel: „Lesbos - Die Insel der Sappho“).

Natürlich konnten auch Enttäuschungen nicht ausbleiben.

So geschehen auf der Insel Kythera.

Hier sollte sich nämlich das Versprechen der Aphrodite erfüllen. In Kleinasien stellten sich die drei Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite bei der ersten Miss-Wahl der Weltgeschichte dem Urteil des trojanischen Prinzen Paris, der allerdings zu dieser Zeit noch als Viehhirte tätig war.

Wie sollte sich der arme Kerl auch anders entscheiden, beim Versprechen der Liebesgöttin, ihrem gekonnten Augenaufschlag, ihren geschwungenen Lippen und – auch das muss man berücksichtigen – ihrem herrlichen entblössten Busen – als ihr den Siegesapfel der Zwietracht-Göttin Eris zu überreichen.

Und Götter halten Wort.

Auf der Insel Kythera war der Aphrodite ein Tempel geweiht.

Hier sollte sich die Prophezeiung erfüllen.

Paris, inzwischen als Sohn wieder am trojanischen Hof aufgenommen, trat eine Reise an, die ihn auch nach Kythera führte und er gedachte an eben jenem Tempel ein Opfer darzubringen.

Die fein gesponnenen Fäden der Aphrodite begannen ihre Wirkung zu entfalten.

Am Königshof von Sparta war der Hausherr Menelaos auf Reisen. Seine Frau Helena, auch bekannt unter dem Namen „Die schöne Helena“, die schönste Frau der damaligen Zeit, langweilte sich und fuhr auf dem Peloponnes gen Süden und setzte nach Kythera über, um ebenfalls der Aphrodite ihre Aufwartung zu machen.

Paris sah sie und verliebte sich in sie. Sie wohl auch in ihn.

Sonst hätte sie bei der späteren Entführung vom Hof in Sparta erheblich mehr Widerstand geleistet.

Um es kurz zu machen: Der Raub der Helena war der Anlass für den Trojanischen Krieg, in dem schlussendlich auch die Hauptperson dieses Buches, unser Held Odysseus, entscheidend verwikkelt erst wurde und dann war.

Zu gern hätte ich diesen für ein antikes Epos so wichtigen Tempel oder was von ihm übrig geblieben war mit eigenen Augen gesehen.

Leider, soweit zu der Enttäuschung, haben wir ihn nicht gefunden und es gab auch keinen Einheimischen, der uns einen entscheidenden Tip geben konnte.

Eine spätere Reise, eine Studienwanderreise, sollte uns endlich auf die Insel des Odysseus führen.

Sie begann auf Korfu, führte bei Igoumenitsa wieder aufs Festland und danach auf die Insel Lefkas.

Von dort ging es endlich weiter per Schiff zum lang ersehnten Ziel.

Während der ganzen Überfahrt hatte ich nur Augen für das, was uns erwartete.

Es ist immer ein aufregendes Gefühl, auf etwas zuzusteuern, etwas sehnsüchtig zu erwarten, voller Vorfreude und Spannung, ob sich das im Inneren aufgebaute Bild mit dem wirklich Vorzufindenden zur Deckung bringen lässt oder ob eine Enttäuschung bevorsteht. Eine Art Kribbeln im Bauch, wenn man es einmal profan schildern darf.

Ausser der Insel Ithaka hatte ich dieses spannungsgeladene Gefühl nur beim ersten Besuch auf der Osterinsel, die von ebenso vielen, aber völlig anders gearteten Mythen durchdrungen ist.

Am kleinen Hafen von Fríkes im Norden der Insel erwartet uns Venos mit dem einzigen Linienbus der Insel. Ein alter Mercedes-Bus, aber er versichert sogleich, dass er einen neuen Bus bestellt habe. Beim nächsten Besuch von Ithaka steuert er bereits ein neueres Exemplar. Mit diesem Bus führt er nämlich einige Male täglich den Linienverkehr zwischen Vathi und dem Norden der Insel durch. Ab und zu holt er zwischendurch auch mal eine Reisegruppe ab. Unser Reiseleiter Kostas kennt ihn schon länger.

Nun waren wir endlich auf dieser Insel, auf der Homer seinen Helden starten und nach langen Irrfahrten wieder ankommen lässt.

Nun möchte man ausrufen: „Odysseus, fahr endlich von Troja los wie alle anderen Achaier“.

Aber Geduld, Geduld, noch ist er gar nicht losgefahren. Noch sitzt er auf Ithaka und weiss nichts von den Eskapaden eines Paris und hat gerade voller Freude die Geburt seines ersten Kindes, eines Sohnes natürlich, erlebt.

Wenn jemand heimkehren will, wenn er seine heimatlichen Gefilde wieder sehen will, dann muss er erst einmal aufbrechen, muss die Anker lichten, muss Abschied nehmen – und was dann passiert, liegt in den uneinsehbaren Entscheidungen der Götter.

Also, Odysseus, brich auf, lasse Ithaka erst einmal am Horizont versinken, sonst muss dieses Buch hier sein Ende finden.

Unbefangen auf Ithaka

Was waren es für herrliche Zeiten für Odysseus!

Er war der Herrscher der Insel; manche sprechen ihm sogar so etwas wie eine Königswürde zu.

Bei einer so kleinen Insel immerhin schon ein grandioser Titel, denn im Hinblick auf die frühe Zeit dürfte die Einwohnerzahl nicht allzu üppig gewesen sein.

Aber in Anbetracht dessen dass wir es letztendlich mit einem Helden zu tun haben, der in der „Ilias“ bereits den Anstoss zum Sieg der Achaier gab und im zweiten Epos Homers die Titelfigur abgibt, wollen wir alles akzeptieren, was zu seiner dichterischen Erhöhung beiträgt.

Die Mutter Antikleia und der Vater Laërtes sind stolz auf ihren Sohn.

Ihre Schwiegertochter Penelope hat ihnen gerade zum Status Grosseltern verholfen. Telemachos ist auf die Welt gekommen und damit hat Ithaka einen Thronfolger in Aussicht.

Doch die Idylle ist trügerisch.

Die Götter haben einiges in ihrem unerforschlichen Planungsprogramm, dass diesen Frieden in Bälde erheblich stören sollte.

Denn das einzig Konstante in jeglicher Entwicklung ist die Veränderung.

Keiner der Helden dieser Welt glänzte durch das Hocken und Harren am eigenen Herd, sondern stets durch den Mut zum Aufbruch, durch Taten und durch die Inkaufnahme einer Veränderung oder Wandlung oder gar durch den Mut zum Risiko.

Im Prinzip ist Odysseus für eine Veränderung seines Lebens nicht eingestellt und auch nicht bereit.

Aber wer kann sich als Mensch schon gegen die hehren Pläne der Götter wehren?

Eine Frau war indirekt der Katalysator für alles folgende. Frauen spielen überhaupt im Leben von Odysseus später noch wichtige Rollen auf seinen geschwungenen Erlebenspfaden.

Wie bereits angedeutet, Helena hat ihren Gatten Menelaos schmählich hintergangen und ist einem jugendlichen trojanischen Prinzen gefolgt.

Ob freiwillig oder entführt oder eine Mischung aus beidem, lassen wir erst einmal dahingestellt.

So etwas kann in der damals männlich dominierten Welt der alten Griechen nicht ungesühnt bleiben.

Eine gewaltige Rache, die nach den dichterischen Vorstellungen Homers den gesamten, damals bekannten Erdkreis erschüttern und in Mitleidenschaft ziehen sollte, ist angesagt.

Agamemnon aus dem Haus der Atriden und Bruder des Menelaos trommelt die griechischen Fürsten und Herrscher zu einem Feldzug gegen die Stadt des Frauenräubers zusammen.

Dass die schöne Helena nicht brutal entführt, sondern ein wenig aktive Mithilfe betrieben haben könnte, lag für diese antiken Machos ausserhalb ihrer diesbezüglich etwas eingeschränkten psychologischen Erkenntnismöglichkeiten.

Das Wort Ehre stand hoch im Kurs und die Waffen waren das einzige Medium zur Wiederherstellung dieses Ehrverlustes.

Agamemnon sandte nun seine Botschafter aus, um die Griechen über diese infame Ehrverletzung zu informieren und sie für das Mitmachen des Waffenganges zu motivieren.

Das Wort „motivieren“ ist dabei fast beschönigend formuliert, es wurde im Grunde von jedem „anständigen“ Griechen ohne Wenn und Aber erwartet, dass er seine Waffen aus dem Schrank nahm und sich Agamemnons Armada anschloss.

Auch der Herrscher von Ithaka zählte zum Kreis derjenigen Umworbenen, die sich diesem Appell nur schwerlich entziehen konnten, denn auch er hatte irgendwann einmal ein Versprechen zum Schutz der Helena abgegeben.

Wie aber soll er sich aus diesem Zwiespalt zwischen ehrenhaftem Beteiligtsein-Müssen und absoluter Lustlosigkeit retten?

Nur weil eine Frau die eheliche Treue nicht so genau nahm! Auch wenn sie zehnmal die Gemahlin eines griechischen Herrschers war.

Um sich über sein zukünftiges Schicksal zu orientieren, suchte er den Seher Halithersis auf. Dieser riet ihm von einer Fahrt nach Troja ab. Seine Begründung: Vor zwanzig Jahren würde er kaum zurückkehren, niemand würde ihn dann wiedererkennen und er würde all seine Gefährten verlieren.

Zwanzig Jahre unfreiwillig von der Heimat entfernt und dann mit einer derartigen Prophezeiung – wer macht das schon gern?

Deutsche Kriegsgefangene, die über zehn Jahre in Russland ausharren mussten, können davon ein Lied singen.

Nun: Homer nennt Odysseus nicht umsonst den Listenreichen.

Und so grübelt Odysseus darüber nach, wie er am besten dem trojanischen Feldzug entkommen und daheim bei Penelope und seinem neugeborenen Sohn Telemachos bleiben kann.

Er beschliesst als nicht zurechnungsfähig zu gelten – so würde man es heutzutage formulieren. In so mancher deutscher Übersetzung ist sogar das Wort wahnsinnig angeführt, aber so weit wollen wir gar nicht gehen.

Angeblich verbreitete sich diese Kunde auch ohne die modernen Medien wie Internet und Mobiltelefon in Windeseile durch ganz Hellas.

Agamemnon und Menelaos trauten diesem Gerücht jedoch nicht, zudem wollten sie nur ungern auf einen ihrer fähigsten Führer verzichten.

So sandten sie ihren tüchtigsten, intelligentesten und augenscheinlich ebenso listenreichen Rekrutierer gen Ithaka.

Was bekam Palamedes, so war sein Name, dort zu sehen?

Ein unglaubliches Schauspiel.

Odysseus war beim Pflügen. Aber nicht nach herkömmlicher Manier mit zwei Ochsen, sondern mit einem Gespann aus Ochse und Esel – eine für griechische Verhältnisse äusserst merkwürdige Kombination.

Und um diesen Effekt noch zu verstärken warf Odysseus nicht gewöhnlichen Samen in die Furchen, sondern warf Salz über seinen Kopf hinweg in die Erde.

Palamedes, ein wie bereits gesagt ebenso listiger Geselle wie Odysseus, sah sich dieses Spektakel eine Weile an und durchschaute den Schwindel alsbald sehr schnell.

Eine ebenso aufmerksame und hoffnungsvolle Beobachterin war Penelope, die den kleinen Telemachos auf dem Arm trug.

Um Odysseus zu überführen, entriss Palamedes der entsetzten Penelope den Säugling und legte ihn direkt in die Ackerfurche vor das Gespann von Odysseus.

Da gab der Herrscher von Ithaka resignierend auf und schloss sich mit seinen Mannen der Streitmacht des Agamemnon an.

Aber diese Überlistung hat Odysseus dem Palamedes nie verziehen. Denn letzterer besass einen guten analytischen Verstand, der in manchen späteren Entscheidungen vor Troja dem Odysseus entgegenstand.

Aber diese Zwistigkeiten gehören zum eigentlichen Krieg, der uns nur am Rande interessieren soll.

So gänzlich am Rande wiederum auch nicht, denn immerhin ist das Ende dieses Krieges der zeitliche Startpunkt der zehnjährigen Heimfahrt des Odysseus, von Homer in seinem gewaltigen Epos der „Odyssee“ beschrieben.

Wer hat Schuld am Trojanischen Krieg?

Jedes Ereignis, in das menschliche Schicksale eingewoben sind, scheint stets einen – nicht immer vordergründig sichtbaren – Auslöser zu haben.

Der Mensch ist von seiner intellektuellen Ausbildung her so geformt (könnte man auch verformt sagen?), dass er bei solchen Ereignissen immer die Schuldfrage auf die Bühne stellt.

Schuld und Ursache sind augenscheinlich auf gewisse Weise miteinander verknüpft.

Die Frage nach der Ursache ist eines der schwierigsten und manchmal auch frustrierendsten Kapitel des intellektuellen und naturwissenschaftlichen Denkens.

Denn jede Ursache hat wiederum eine vorausgegangene Ursache und wenn man bei diesen Fragestellungen nicht rechtzeitig auf die Bremse tritt, landet man relativ schnell in uralten Zeiten, ja sogar beim biblischen Sündenfall. Beim rein naturwissenschaftlichen Abklären ginge es sogar noch weiter.

Daher schliessen wir bei der Frage nach der eigentlichen „Ursache“ für den Trojanischen Krieg an der Stelle, sobald die Götter mit ihrem nicht hinterfragbaren Entschlüssen ins Spiel kommen.

Den Raub der schönen Helena haben wir schon ins Kalkül einbezogen.

Aber auch diese Entführung hatte ihre Vorgeschichte, ihren Auslöser.

Aphrodite hatte dem armen, ob der blendenden Schönheit der drei Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite etwas verwirrten Paris bei ihrem Sieg in der ersten Schönheitsköniginnenwahl der Weltgeschichte die schönste Frau der Welt versprochen – und auch gehalten.

Diese Episode wiederum hat ebenfalls ein „Davor“.

Es ist die oft zitierte Hochzeit der Meeresgöttin Thetis mit dem Helden Peleus, aus deren Ehe einer der berühmtesten Gestalten der griechischen Sagenwelt hervorgehen sollte: Achilles.

Zu dieser Hochzeit war alles eingeladen, was olympisch Rang und Namen hatte. Von Zeus angefangen bis hin zu weniger bedeutsamen Göttern, Halbgöttern, Nymphen und was sonst noch das griechische Pantheon bevölkerte.

Ob die Brüder des Zeus, Poseidon und Hades, ebenfalls den erlauchten Kreis bereicherten, konnte ich aus keiner Anwesenheitsliste entnehmen, es spielt auch für den Fortgang der Geschichte keine wesentliche Rolle.

Die alles auslösende Entscheidung war, dass Zeus der Göttin Eris, zuständig für Zank und Zwietracht, keine Einladung zukommen liess. Es sollte nämlich ein Fest voll Harmonie und Einracht werden.

Eris sann auf Rache, in ihrem Sinn natürlich.

Sie nahm einen goldenen Apfel und ritzte die Worte hinein: Der Schönsten.

Mit einem maliziösen Lächeln öffnete sie die Tür des Saales und warf den Apfel unter die Festgemeinde.

Die Folgen dieser Tat waren gewaltig, denn dieser Apfel kullerte direkt an den Tisch, an dem sich Hera, Athene und Aphrodite angeregt unterhielten und die neuesten Klatschgerüchte von Göttern und Sterblichen austauschten. Auch Göttinnen scheinen so einige menschliche Schwächen zu haben.

Oder haben die Menschen diese Eigenarten von ihnen übernommen? Wer weiss?

Kaum hatte dieses feminine olympische Trio die Inschrift auf dem Apfel gelesen, war es vorbei mit der Harmonie und vor allem der Vorbildlichkeit, was gerade in Anwesenheit von Sterblichen besonders peinlich war.

Jede der drei erhob alleinigen Anspruch auf den Apfel. Die Lautstärke der Damen eskalierte, von den Nachbartischen schaute man schon etwas neugierig, wenn nicht gar indigniert herüber. Auch Zeus blickte darob in diese Richtung, zog die Stirn leicht in Falten und als der Disput einfach kein Ende fand, stellte er sein Glas Ambrosia energisch auf den Tisch und ging zu den streitlustigen Damen hinüber.

Kurz liess er sich den Sachverhalt schildern. Dann hub er an: „Meine Damen, wir sitzen hier unter Sterblichen! Wie können wir fortan Respekt und Verehrung erwarten, wenn ihr euch hier benehmt wie Weiber aus den verlassensten Dörfern des Peloponnes? Ich werde einen wohlgebauten Jüngling aussuchen, der über diese Streitfrage entscheiden soll. Und jetzt gebt bitte Ruhe, wie es sich für unsereins geziemt!“

Wenn Blicke töten könnten! Aber das Trio der olympischen Schönen würdigte sich fortan keines Blickes mehr und setzte sich an andere Tische.

Hier fand also der Trojanische Krieg seinen Beginn, das heisst, an dieser Stelle endet zugleich unsere Suche nach den Ursachen, sonst müssten wir noch das So-Sein und das Überhaupt-Sein der Götter hinterfragen.

Die Kette führt also von der Hochzeit mit dem Apfel der Eris über die Miss-Wahl (obwohl es mir für antike Ereignisse als unziemlich erscheint, Anglizismen zu verwenden, möge man es mir an dieser Stelle nachsehen), das Versprechen der Aphrodite, den Raub der schönen Helena, zur Sammlung der Achaier vor Aulis bis hin zum Beginn des Krieges gegen Troja.

Homer lässt sich über die Hinreise von Odysseus mit den Edlen seiner Insel bis nach Troja mit keinem Wort aus.

Er ist einfach mit den anderen Achaiern da und nimmt zehn Jahre an den Eroberungsversuchen der Griechen bis zum Fall der Stadt teil.

Die Frauen um Odysseus

Emanzipierte Frauen müssten eigentlich stolz auf Odysseus sein – denn die Damenwelt spielt in der Odyssee eine nicht unwesentliche Rolle.

Die Mutter Antikleia tritt nicht so sehr in den Vordergrund. Sie stirbt aus Gram über den vermeintlichen Verlust ihres einzigen Sohnes. Odysseus begegnet ihr bei seinem Abstieg in den Hades.

Eine viel exponiertere Rolle spielt die Amme Eurykleia, die Odysseus von Kind auf betreut hat und ihn später nach seiner Ankunft auf Ithaka als erste wiedererkennt.

Was den meisten unbekannt ist: Bevor Odysseus seine Frau Penelope fand, reihte er sich in Schar der Freier um die Schöne Helena ein.

Die Wahl fiel jedoch nicht auf ihn mit seinem kleinen Königreich Ithaka, sondern Menelaos von Sparta machte das Rennen um die schönste Frau der damaligen Welt.

Um ihre Herkunft ranken sich mehrere Geschichten.

Eine besagt, der Göttervater Zeus war wieder einmal auf der Suche nach den Schönen der Welt. Diesmal war Leda die Auserkorene. Da er keine andere Chance sah, sich ihr zu nähern, verwandelte er sich in einen Schwan und verführte die Schöne. Aus dem Schwanenei entsprangen Helena und ihr Bruder Polydeukes.

Ihr Vater Tyndareos – offenbar hatte er die Tochter als seine eigene akzeptiert – entschloss sich, Helena zu verheiraten. Ihre Schönheit hatte sich in ganz Griechenland herumgesprochen und so reisten die Adligen aus ganz Hellas mit grossen Geschenken an. Der Vater war überrascht ob der Menge und wusste, wenn er die Tochter einem gab, würde er es sich mit allen anderen verderben.