EISNEBEL
Autobiographie 3. Teil
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Ernst Meißner und dessen Elfe
Was das ist, Eisnebel?
Gibt´s eigentlich nur im Eismeer. Sind lauter winzig kleine Eiskristalle. Eisigkalt.
Der Mann, die Frau, das Kind, der Fischverkäufer, der Pastor und sein Hund, sie alle erfrieren, wenn der Eisnebel sie anweht.
Das ist Fakt, Vegefakt!
Der ist so schlimm, dieser Nebel, hier in Vegesack, daß er nur mit blödeln zu ertragen ist. Wenn überhaupt.
Man sieht ihn nicht. Er weht auch nicht, und ist keine vierzig Grad kalt, wie im Eismeer.
Hängt nur so rum und erkältet die Seelen der Menschen, vieler Menschen jedenfalls. Auch meine Seele hat er schon erkältet. Drum meidet meine Elfe mich, hat keine Lust sich bei mir anzustecken. Es ist ein Elend!
*
Doch zweimal die Woche, Dinstags und Donnerstags, ist alles anders, erholen sich viele Seelen im Chorgesang.
Und meine Elfe ist dann auch dabei, und singt mit. Und ich glaube auch die Stimmen noch anderer Elfen zu hören!
Ein bisschen Himmel zaubern hundert Kinderstimmen in diese sonst so triste Menschenwelt.
Und erst auf Spiekeroog! Aber das ist später. So ungefähr, sieht die Großwetterlage über Bremens Norden aus.
*
Die Schule? Ein einziges Ärgernis. Zu Hause? Noch schlimmer! Also erst mal die Schule: Unter dem Spruch, über dem Schuleingang; „Du lernst fürs Leben, nicht für die Schule“ müßte auch noch; „Kein Zugang für Elfen“ stehen.
Und doch, etwas elfenhaftes schimmert immer wieder in Herrn Schindlers Kunstunterricht auf. Deshalb hab ich diesen Lehrer, und seinen Unterricht, wohl auch so gern. Der Rest der Klasse allerdings, döst nur dem Unterrichtsende entgegen.
Der Matheunterricht geht ja noch, von meinen Noten abgesehen.
Englisch? Kann das Sprachgestümper von Lehrer und Schülern nicht ausstehen.
Französisch? Einfach nur langweilig.
Latein? Deklinieren, konjugieren, frustrieren und Vokabeln büffeln:
Galina – war´s das Huhn?
Agricola – der Bauer?
Orbs, orbis – der Halbkreis, des Halbkreises?
Kann für nichts garantieren, kann alles falsch sein, wenn ich so an meine Noten denke!
Biologie? Federn eines Vogels zählen. Wie viele Wasserflöhe verzehrt eine Kaulquappe täglich? Die Namen der Knochen eines Menschenskeletts habe ich mir gar nicht erst gemerkt, mit Ausnahme des Schlüsselbeines. Fühlt sich so gut an, und klingt so geheimnisvoll, wie Schlüssel zu … verrat ich noch nicht.
*
„rrrrrrrrriiiiiiing!“
Dreizehn Uhr, die Schule ist aus und ich hab zehn Pfennige verdient. Zehn Pfennige bekomme ich an jedem Schultag für eine kleine Flasche Milch.
Habe Wasser aus der Leitung getrunken. Auf dem Weg zu Fuß nach Hause verdiene ich noch zehn Pfennige Bußgeld. Es sind nur vier Kilometer von Vegesack bis Blumenthal.
Und zehn Pfennige sind viel Geld, wenn man gerade siebzehn geworden ist und kein Taschengeld bekommt. Und das kam so: Mein Vater gab mir fünfzig Pfennige Taschengeld die Woche. Ich mußte aber auflisten wofür ich es ausgab. Als mein Vater die Liste:
30 Pfennige Kino
5 Pfennige eine Kugel Vanilleeis
15 Pfennige eine Tüte Bonbons
dann überprüfte und mit saurer Mine deklarierte, daß ich das Geld zum Fenster rausgeschmissen hätte, übergab ich das Papier dem Herdfeuer. Das hat sich gefreut, und mir ein kleines Stückchen Freiheit zurückgegeben.
Für die Launen meines Vaters sind aber wohl nicht nur das Knotentau und seine katholische Vergangenheit verantwortlich, er trinkt auch so viel. Allerdings kein ordinäres Bier. Solches trinken Holzfäller und Pferdeknechte. Auch keinen Bohnenkaffee. Den trinkt meine Mutter, weil sie genußsüchtig und unmoralisch ist. Bohnenkaffee kaufen? Verboten! Doch manchmal kommt ein Päckchen aus Hamburg an. Was da drin ist? Ein von Oma selbstgehäkelter Topflappen, selbst gestrickte Wollsocken und … BOHNENKAFFEE!!! Und meistens hat Opa (der Hundsfott, der meinem Vater seine Tochter nicht geben wollte und eine Geliebte hat, als ob … schweigen wir lieber) noch einen Fünfmarkschein mit reingetan. Von dem gibt meine Mutter mir immer heimlich was ab. Mein Vater also, trinkt viel: Muckefuk, Brennesseltee, Wermuttee und jede menge Frust in sich hinein. Oh weh!
* *
Frühling? Im Eisnebel erstickt!
Kurz nach sechs. Bin hellwach. Neben mir Eckarts ruhiges atmen. Strecke mich. Arme, Beine, Rücken. Diese Stunde gehört mir. Mir ganz allein.
Turnschuhe, Turnhose, Hemd. Haustür verschlossen. Überhaupt sind Türen viel zu laut, in der Stille der Nacht.
Das Fenster aber ist offen. Leise, wie ein Dieb gleite ich von der Fensterbank in eine dunkle Welt.
Über mir die Sterne. Weit hinter dem Kirchturm dort unten, ein fahler Schimmer am Horizont.
Klagende Nachtvogelstimme. Aus der großen Buche schwebt sie herab zu mir und das Kopfsteinpflaster, über das mich meine Füße tastend tragen.
Leverkenbarg heißt die kleine Straße. Lerchenberg. Früher sollen Lerchen hier gesungen haben. Jetzt miauen hier lauter Katzen rum, sollte Kattenbarg heißen. Katzenberg.
Die Lüder Clüver Straße lauf ich hinab. Am Bahnhof vorbei, in den Tunnel unter den Bahngleisen durch, an der träge dahinfließenden Aue entlang.
Im Nachtdunkel nebeln die alten Gemäuer der Wasserburg vorbei. Das Holz der kleinen Brücke rumpelt dumpf unter meinen darüber hin eilenden Füßen.
Den Galgenberg hoch, tragen sie mich an der spukigen Burg Wall vorbei über offenes Feld. In schnellem Rhythmus federn meine Füße über taufeuchtes Gras. Unter mir gleitet es dahin. Büsche, vereinzelt Birken lösen sich aus formlosem Grau, schweben vorüber.
Rötlich färbt sich der Himmel über dem Wald. Goldener Schein leuchtet in den Laubkronen der Buchen auf, fällt schräg in das Walddunkel herab und bleibt lichtfleckig an hochgewachsenen Stämmen hängen.
Wie Säulen eines Tempels, tragen die Stämme der Buchen ihr Blätterdach über sich. Tiefe Stille. Nur das puckern meines Herzens, das flüstern meines Atems und … eine verträumte leise Vogelstimme und … mit einmal weiß ich; dieser Wald ist Gottes eigene Kirche – weit, weit weg von der Erdenmenschenwelt.
Aber wo ist er nur, mein Freund, der Liebe Gott? Hat er mir nicht versprochen wiederzukommen, wenn ich in das Herz seiner Schöpfung schaue?!
Aber wie soll das denn gehen?, so wie ich lebe! Nicht mal meine Elfe kennt mich mehr! Mit viel Glück erscheint sie man gerade noch zweimal die Woche – Dinstags und Donnerstags von sechszehn bis achtzehn Uhr!
Wenn das so weitergeht … aber daran darf ich ja nicht mal denken! Nicht mal im Traum! Wenn ich es mir mit ihr nicht ganz verderben will! Irgendwas muß jetzt geschehen! Irgendwas! Jetzt gleich!
Da, der Baumstamm. Schlank ragt er in den Himmel auf. Da muß ich hoch. Wenn Gott schon nicht zu mir kommt, will ich ihm wenigstens ein Stückchen entgegen klettern.
Silbrig schimmernde Rinde. Wie Schlangenschuppenhaut. Oder die eines Welses, mit schrumpeligen Rautenschuppen. Weich und glatt fühlen sie sich an. Etwas rau an den Rändern, und seltsam lebendig.
Absprung vom Waldboden. Umarme den Baum. Klammer mit den Beinen, strecke mich hoch, krümme mich wie eine wandernde Raupe und zieh die Beine nach.
Mühelos gleite ich aufwärts. Fühle mich, wie eine Schlange, über die Schuppenrinde gleiten. Behende, und schnell.
Es ist, wie wandern in verbotenem Land. Im Reich der Vögel, des Windes und luftiger Wesen. Hoch über der Erde. Ein erregendes Gefühl des leicht seins, wie ich runter schau aus der Baumkrone auf den Waldboden, tief dort unten. Dann, ich weiß
nicht wie, überkommt mich ein Rausch. Laß mich zurück zur Erde nieder und klettere gleich wieder einen Baum hoch, und noch einen. Muß die Erdenschwere immer wieder neu überwinden.
Und dort, eine Hainbuche. Armdick, schlank, hoch, sehr hoch! Nur mit den Händen hangle ich mich den dünnen Baum rauf, bis er sich sachte neigt und mit mir auf den Waldboden zu schwebt. Dabei lösen sich meine Hände vom Holz. Geben den schlanken Baum frei, daß er sich mit leisem rauschen seiner Blätter wieder aufrichtet, und sinke auf den Waldboden zu der weich unter meinen Füßen federt.
Spüre meine Beine nicht mehr, meine Arme, meinen Körper. Fühle nur, wie ein leichter Wind mir übers Gesicht streicht, wie ich schwerelos über das Land dahinfliege.
Und träume von Susan und unseren Elfen. Und der Schwalbe und davon, wie fern das alles jetzt ist. Und daß es sich in einem Eisnebel verbirgt der sich vielleicht irgendwann einmal auflösen wird.
Doch jetzt, im Eisnebel erstarrt? Erkältet schon, daß mich fröstelt, aber noch nicht ganz erstarrt. Erinnerung und Sehnsucht sind mir geblieben. Sehnsucht nach Wärme und Nähe in dieser kalten Menschenwelt.
Auch wenn sie nicht mehr mit mir spricht, meine Elfe, höre ich doch noch ihre Stimme. Wenn sie mitsingt, im Chor, fühle ich daß sie in meiner Nähe ist.
Und ihre letzten Worte, als sie noch mit mir sprach: sie werden uns nicht mehr finden, nicht wissen wo wir sind. Ja! Diese Stunde gehört mir. Mir ganz allein!
Soll ich dich jetzt mitnehmen, nach Hause, an den Frühstückstisch? Und dann in die Schule, und morgen und übermorgen und jeden Tag?
Ich seh schon – schüttelst den Kopf, hast auch keine Lust. Aber vielleicht zum Chor? Ja? Wann denn, heute oder Donnerstag? Ist dir egal? Na, von mir aus gleich heute.
Wir stimmen an ein Lied von Christian Morgenstern: Km 21
Ein Rabe saß auf einem Meilenstein
und rief Ka – em – zwei – ein,
Ka – em – zwei – ein.
Der Werhund lief vorbei, im Maul ein Bein
der Rabe rief Ka – em – zwei – ein, Ka – em – zwei – ein.
Vorüber zottelte das Zapfenschwein,
der Rabe rief und rief Ka – em – zwei – ein.
„Er ist besessen!“ – kam man überein.
„Man führe ihn hinweg von diesem Stein!“
Zwei Hasen brachten ihn zum Kräuterdachs.
Sein Hirn war ganz verstört und weich wie Wachs. Noch sterbend rief er (denn er starb dort) sein
Ka – em – zwei – ein, Ka – em – Ka – em – zwei – ein.
Was das denn soll, dieses Lied, dieser blöde Text?
Oh, so blöde finde ich den gar nicht. Ich finde ihn eher sehr traurig. Denn mit dem Zapfenschwein bin ich ja wohl gemeint, wie ich so am Leben vorüberzottele. Und, hast du dich auch wiedererkannt?
Ach komm, das ist doch wirklich ganz leicht! Nein, nicht der Werhund, auch nicht der Kräuterdachs, der Rabe bist du ja wohl, der Meilenstein dein Leben.
Was auch immer vorbeikam, nichts hat dich rühren und aus deinem Trott bringen können. Tagein tagaus das gleiche; Ka – em – zwei – ein, Ka – em – zwei – ein.
So kann man nicht leben, so kann man nur sterben. Und nun bist du tot und kannst dir aussuchen was du jetzt sein möchtest … ist das dein ernst? Eine Kellerassel? … Mensch, paß doch auf wo du hintrittst!
Arme kleine Assel! Nun bist du mausetot und kannst nicht mal mehr weiterlesen. Ja, so schnell kann´s kommen. Ich aber lebe noch. Und würde so gerne lieben und geliebt werden. Und zottele nur so vorbei, am Leben. Ich armes Zapfenschwein!
Und der arme Rabe Km 21 war ein sehr deutscher Rabe. Die allermeisten Deutschen sind ja so, wie dieser Rabe war.
Vielleicht war er sogar europäisch, oder gar menschlich überhaupt. Morgensterns Rabe.
Wirkliche Raben sind ja aber ganz anders, wenn es wahr ist, was mein Freund, die Bombe Gott mir erzählt hat.
Sie lieben und werden geliebt, und kennen den Eisnebel nicht. Und sie alle haben eine Elfe, wenn auch meine Elfe die Wahrheit gesprochen hat. Wäre ich doch nur solch ein wirklicher Rabe! Und kein armes Zapfenschwein!
* * *
Wieder Sommer. Ein ganzes Jahr dahin gefröstelt. Mein siebzehntes Lebensjahr dahin! Meine Elfe hat sich längst ganz von mir zurückgezogen. Nur die Sehnsucht nach ihr, ist mir noch Geblieben.
Und die wird auch nicht weniger, wenn ich ihre Stimme höre, im Chor, und die Stimme von Ernst Meißners Elfe und noch zwei, drei andere Elfenstimmen.
Wessen Elfen das wohl sind? Und wenn ich es wüßte; sie würden mich doch nicht beachten, eisnebelerkältet wie ich bin, wo doch schon meine eigene Elfe nichts mehr von mir wissen will. Und Susans Elfe? Und Susan? Was wollen die mit einem armseligen Zapfenschwein?! Sie würden mich ja nicht einmal mehr wiedererkennen!
In England, als ich innendrin tot war, hab ich wenigstens noch rebelliert – mit meiner Zwille – ach Scheiße!
Und jetzt? Ja, das war im Winter, als mir ein Buch in die Hände fiel: „Die weiße Rose“ Es erzählt vom Leben und Lieben und Sterben der Sophie Scholl, ihres Bruders und dreier Freunde – in der Eisnebelorkanzeit.
Seltsam; es heißt aber, daß nicht alle Deutschmenschenseelen eingefroren sind, in jener Zeit. Daß, gerade in diesem schrecklichen Orkan, überall im Land, wie zu Wasser, in der Luft und an den Kriegsfronten eine nie zuvor da gewesene Mitmenschlichkeit aufblühte, und daß viele Menschen dabei ihren Elfen begegnet sind, die sie allerdings, so wie ich ja auch, später dann fast alle wieder verloren haben.
Wahrscheinlich sind Sophie, ihr Bruder und die drei Freunde damals auch ihren Elfen begegnet. Sie alle hatten die gleiche Vision; die Menschen im Lande aufzuklären über den in aller Heimlichkeit stattfindenden Holocaust, und den Wahnsinn des Krieges.
Ein Geheimbund entstand. Fünf junge Menschen tauften ihn „Weiße Rose“ und gaben ihm das Emblem einer fünfblättrigen Rosenblüte. Damit unterzeichneten sie ihre Flugblätter, in denen sie zum Widerstand gegen die Naziherrschaft aufriefen.
Sophie wähnte sich allein, oben im Treppenhaus der Universität in München, als sie ihre Flugblätter auf die Treppen hinunterfliegen ließ. Der Hausmeister hat Sophie dabei ertappt, und angezeigt.
Der Untersuchungsrichter versuchte Sophie in ihrer Gesinnung umzustimmen, sie vor der Todesstrafe zu bewahren. Doch gelang es ihm nicht. Sie wurde enthauptet.
Dieses Buch, „Die weiße Rose“, nahm mich gefangen. Und aus ihm kam Sophie auf mich zu, in mich hinein, mit ihrer Elfe. Sie verwandelten mich.
Ich begann in zwei Welten zu leben. In der alten Welt, als Zapfenschwein, in der neuen, als unsichtbares Phantom mit sechs Augen – vier Menschenaugen und zwei Elfenaugen.
Sophie und ihre Elfe sprachen nicht mit mir. Sie waren irgendwie ich geworden, und wir schauten gemeinsam auf die Welt. Wie sich ein Bär in seine Höhle verkriecht, wenn der Winter kommt, haben wir uns in mich verkrochen. Verborgen und geborgen warteten nun auch wir darauf, daß es Frühling wird.
* * * *
Und der kam mitten im Sommer, und das kam so:
Nein, ich träume nicht. Auch ist mir gar nicht warm an den Füßen. Die Decke ist verrutscht. So, so geht´s wohl, und die ganze Nacht kein Auge zu gekriegt. Mal schlapperts über mir, mal an der Seite; wupp, schlapp, wupp, schlapp. Man schläft schlecht, die erste Nacht im Zelt. Und ich kann´s noch gar nicht glauben, daß ich wirklich hier, hier auf dieser Insel bin!
Als wir gestern Nachmittag an einem warmen Sommersonnentag aus den Bussen stiegen, wehte eine leichte, nach Tang, Schlick, Salz und Fisch duftende Brise vom Meer her über die ruhig in dem kleinen Hafen liegenden Fischkutter, und die dicht aneinandergedrängten Häuser von Neuharlingersiel hinweg, zu uns herüber. Und dort, in der Ferne, mitten im Wattenmeer, lag wie eine schlafende Schlange, in bläulichen Dunst gehüllt, geheimnis- und verheißungsvoll, die Insel Spiekeroog.
Als unsere Fähre an der Insel festmachte, empfingen uns Ernst Meißner und die „Großen“ Choraner. In einem weiten Dünental haben sie unser Zeltlager errichtet.
Ausgediente Armeezelte stehen im Halbkreis um eine Sandfläche, über der die Chorfahne weht.