Hannelore Goos

Paulchen wird stark

Ein Kerzenritual zur Wunscherfüllung

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Inhaltsverzeichnis

Ein Schwur vor dem Spiegel

Paulchen stand vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer seiner Eltern. Nackt. Er sah sich sein Gegenüber von oben bis unten an und seufzte. Nichts. Nur Knochen und Haut. Was hatte seine Mutter neulich scherzhaft gesagt: „Wir können ihn ja immer noch als Modell an <Brot für die Welt> ausleihen.“ Das war kein Witz. An ihm war nichts dran, vor allem keine Muskeln. Er wollte gern stark sein, so stark wie die Jungen im Schulbus, die ihn immer schubsten. Die waren eigentlich kaum größer, aber stärker, so viel stärker!

Der Junge ließ enttäuscht den Kopf hängen und trabte zurück ins eigene Zimmer. Während er sich anzog, ging ihm sein Spiegelbild nicht aus dem Kopf. Bodybuilding – das wäre was. Da könnte er sich die Muskeln antrainieren, die ihm fehlten. Aber schon beim Überlegen wusste er, dass daraus nichts würde.

Als vor ein paar Wochen ein Sportcenter im nächsten Ort aufmachte, hatte er sich gleich Prospekte geholt. Sein Vater hatte nur kurz einen Blick darauf geworfen und geseufzt: „Zu teuer, mein Junge.“ Die Eltern hatten erst vor ein paar Monaten das Haus gekauft, in dem sie jetzt wohnten und das Geld war knapp. Außerdem, trainieren musste man regelmäßig, und wer sollte ihn in den Nachbarort fahren? Der Bus hinüber geht nur morgens und abends und für das Fahrrad war die Landstraße zu gefährlich. „Alles Mist!“ schimpfte Paulchen in Gedanken.

Während dieser Überlegungen hatte er sich angezogen, T-Shirt und Hose, und überlegte, was er jetzt tun sollte. Der erste Tag der Sommerferien fing ja gut an.

Ohne nachzudenken war er zurück vor den Spiegel gelaufen. Auch mit Kleidern sah er nicht anders aus. Aber plötzlich packte ihn die Wut. Er wollte stark sein! Er wollte richtige Muskeln haben! Er wollte sich von niemand im Schulbus mehr herumschubsen lassen!

Sechs Wochen Ferien lagen vor ihm, und die wollte er nützen. Und das war wie ein Schwur: ‚Am Ende der Ferien werde ich nicht mehr derselbe sein wie jetzt!‘ schwor er seinem Spiegelbild. Und rannte die Treppe hinunter zum Frühstück.

Omas Vermächtnis

Im Haus war es seltsam still. Paulchens Eltern mussten natürlich arbeiten, denn nur Schüler und Lehrer haben sechs Wochen Sommerferien. Seine Vater war wie alle Tage im Büro, das war normal. Aber wenn er sonst aus der Schule kam, war seine Mutter schon wieder aus dem Bäckerladen zurück, in dem sie halbtags als Verkäuferin arbeitete. Um so merkwürdiger kam ihm jetzt das leere Haus vor. Was sollte er allein tun? Nach draußen konnte er nicht, denn ein Blick durchs Fenster ließ strömenden Regen sehen, und überhaupt, alle seine Freunde, mit denen er sonst spielte, waren verreist. Das würden langweilige Tage werden, bis seine Eltern auch Urlaub hatten.

Letztes Jahr war er in den großen Ferien zwei Wochen bei seiner Oma gewesen, einer strengen alten Dame, die ganz allein in einem großen Haus mit einem wunderschönen Blumengarten gelebt hatte. Das Jahr hindurch blühte es bei ihr und die Nachbarn in dem kleinen Dorf, wo sie gewohnt hatte, sagten immer: „Wir brauchen gar nicht zur Bundesgartenschau, Oma Kochs Blumengarten ist viel schöner!“

Paulchen fand die Blumen ja auch ganz nett, aber Oma hatte immerzu etwas zu tun für ihn, wenn er dort war: Abgestorbene Blüten an einem Busch abschneiden, wo sie nicht mehr hinaufreichte, Kompost mit dem schweren Schubkarren von einer Seite des Gartens zur anderen fahren, die Anzuchttöpfe fürs nächste Jahr sauber aufstapeln, die Ränder der grasbewachsenen kleinen Sitzfläche mit der Schere beschneiden, und vieles mehr. Bei Oma gab es immer Arbeit, aber sie bemerkte das gar nicht, denn sie war auch ständig am Werkeln und kannte kein Ausruhen.

Andererseits war ihm dort nie langweilig gewesen, obwohl es weder Fernsehen noch Computerspiele gab, die hatten ihm gar nicht gefehlt. Jeden Tag hatte er mit Geschäftigkeit verbracht und abends war er müde ins Bett gefallen. Wenn er so zurückdachte, war ihm, als sei er bei Oma Koch in ein früheres Jahrhundert versetzt worden. Aber Oma Koch war nicht mehr da. So richtig verstanden hatte er nie, wie das gekommen war. Es war irgendwie merkwürdig gewesen, ausgerechnet am 30. Oktober, in der Schule hatten sie im Englischunterricht über Halloween geredet, da rief Oma plötzlich am Spätnachmittag an, sie sollten doch herauskommen, die Anderen seien auch schon da. Die Anderen, das waren seine Tanten Charlotte und Elisabeth mit ihren Männern und Kindern. Es war ihm gleich komisch vorgekommen, dass Tante Charlotte mitten in der Woche die fast 150km zu Oma gefahren war. Und als Paulchen mit seinen Eltern ankam, war sogar Mutters Bruder da, Onkel Eberhard, ein eigenbrötlerischer Junggeselle, der sonst noch nicht einmal zu Weihnachten oder Geburtstagen in der Familienrunde zu sehen war! Oma hatte alle angerufen und alle waren gekommen.

Der Tisch war wie immer zum Abendbrot gedeckt, es gab Omas berühmten Kartoffelsalat und Regensburger Würste, alle erzählten sich gegenseitig Neuigkeiten und redeten wie immer durcheinander. Paulchen saß zwischen seinen Tanten und Onkel, Neffen und Nichten, aß Kartoffelsalat und Würstchen und fühlte sich komisch, so, als sollte er krank werden. Sein Herz klopfte und ihm war mulmig, als hätte er etwas angestellt. Als das Essen vorbei war, verteilte Oma die Nüsse der diesjährigen Ernte von ihrem großen Nussbaum. Das hatte sie bei ihrem Rundruf als Grund für das Treffen genannt, die Nüsse rechtzeitig für die Weihnachtsbäckerei zu verteilen. Und dann ging es schnell ans Abschiednehmen, denn einige hatten ja noch einen sehr weiten Weg nach Hause.

Paulchen war mit seinen Eltern der letzte, den sie beim Abschied umarmte, und er hörte sie noch leise übern Gartenzaun murmeln: „Schön, dass ich euch alle noch einmal gesehen habe!“, aber da war er schon im Auto und Vater fuhr los.

Am nächsten Morgen war Oma tot. Paulchens Mutter hatte anrufen wollen, und, als niemand sich meldete, eine von Omas Nachbarinnen alarmiert. Die fand Oma dann friedlich in ihrem Bett eingeschlafen. Jetzt gab es keine Ferienarbeit für Paulchen mehr. Omas Grundstück mit allem darauf war verkauft, und von ihrem Anteil hatten seine Eltern das neue Haus angezahlt, in dem sie jetzt wohnten. Von Oma war die Erinnerung geblieben, die Bilder in Fotoalben und ein paar Kisten mit Büchern, die keiner zu verkaufen gewagt hatte: „Bücher verkauft man nicht!“ war eines von Omas eisernen Gesetzen gewesen, wenn Sachen für den Flohmarkt zusammengesucht wurden. Und ihre Kinder hatten sich auch nach ihrem Tod nicht getraut, gegen dieses Gebot zu verstoßen. Sie hatten die Bücher unter sich aufgeteilt, je nach ihren Interessen, und der Rest war bei Paulchens Eltern gelandet, die in ihrem Haus Platz dafür hatten.

Paulchen kannte die Kisten, genau sieben Umzugskisten, so schwer, dass die Möbelpacker geschimpft hatten. Jetzt standen sie in einer Ecke des „Hobbyraum“ genannten Kellers, wo sonst noch allerlei selten Gebrauchtes aufbewahrt wurde: die Gartenmöbel im Winter, ein alter Vogelkäfig, ein Bücherregal, das nach dem Umzug noch keinen festen Platz gefunden hatte, alte Blumenübertöpfe, und noch allerlei Dinge, die zu schade zum Wegwerfen schienen.

Während Paulchen sich mit der Pad-Maschine einen Kaffee braute und das von Mutter vorbereitete Frühstücksbrot kaute, ging ihm dies alles durch den Kopf, und da war ihm klar, was er mit den leeren Ferienvormittagen anfangen konnte: Omas Bücher! Nie hatte er sie sich richtig angesehen, beim Aufteilen waren auch nur die Erwachsenen dabei, und er wusste gar nicht, was da eigentlich in den Kisten schlummerte. Vielleicht eine Komplettausgabe von Karl May? Oma war eigentlich alt genug gewesen, um so etwas zu besitzen. Nun, er würde es herausfinden. Vielleicht wurden diese Ferien ja doch nicht so langweilig, wie er erst gedacht hatte.

Fast eine Enttäuschung

Kaum hatte Paulchen den letzten Bissen seines Frühstücksbrotes mit dem Kaffee heruntergespült, da war er auch schon auf der Kellertreppe. Unten war es duster.