Einleitung
1
Depression: Innenansicht
Depression ist unerklärbar
Die tausend Gesichter der Depression
Trübe Stimmung
An nichts mehr Freude haben
Sich schuldig oder wertlos fühlen
Schlafstörungen
Mit Widerwillen essen oder sich überessen
Müde und matt
Langsamkeit oder anhaltende körperliche Unruhe
Unentschlossenheit oder Konzentrationsprobleme
Gedanken an den Tod
Andere Depressionssymptome
Depression bei Senioren
Depression bei Kindern
2
Wie können Sie Ihren depressiven Angehörigen unterstützen?
Braucht Ihr depressiver Angehöriger Ihre Unterstützung?
Kontakt halten
Nicht urteilen
Worüber sprechen?
Keine (billigen) Ratschläge erteilen
Dem anderen nicht das Wort aus dem Mund nehmen
Absprachen treffen
Die Partnerbeziehung pflegen
Dem Alkoholkonsum Grenzen setzen
Die frühere Lebensweise aufrechterhalten
Bei der Behandlung unterstützen
Der Spirale depressiver Interaktion entkommen
Einige weitere Empfehlungen
3
Behandlung
Psychotherapie
Welche Psychotherapie ist die beste?
Biologische Formen der Behandlung
Bewegung als Medizin
Antidepressiva
Welche Behandlung ist die beste?
Erst einmal abwarten?
Vier niedrigschwellige Formen der Behandlung
Wenn die Depression nicht vorübergeht
Wenn die Depression zurückkehrt
Schwere Depression
Chronische Depression
Elektroschocktherapie
Ketamin
TMS
4
Helfen, eine adäquate professionelle Hilfe zu finden
Die erste Hürde: Krankheitsbewusstsein
Die zweite Hürde: Hilfe suchen
Die dritte Hürde: Die richtige Diagnosestellung durch den Hausarzt
Die vierte Hürde: Die richtige Behandlung bekommen
Die fünfte Hürde: Den richtigen Therapeuten finden
5
Was bedeutet die Depression Ihres Angehörigen für Sie selbst?
Beunruhigung und Unsicherheit
Verzweiflung
Kummer
Wut
Schuldgefühle
Einsamkeit
Scham
Angst
Positive Gefühle
6
Tipps, um selbst durchzuhalten
Setzen Sie sich zuerst Ihre eigene »Sauerstoffmaske« auf
Seien Sie nicht zu kritisch und überengagiert
Akzeptieren Sie Ihre Gefühle
Rechnen Sie nicht mit Verständnis
Vergeben Sie sich Ihre Fehler
Informieren Sie die Menschen in Ihrer Umgebung
Leben Sie so weit wie möglich in der Gegenwart
Konzentrieren Sie sich auf Probleme, die Sie verändern können
Geraten Sie nicht in soziale Isolation
Nehmen Sie sich jeden Tag Zeit für sich selbst, um etwas Angenehmes zu tun
Achten Sie auf Spannungssignale und nehmen Sie sie ernst
Respektieren Sie die gegenseitigen Unterschiede im Verarbeitungsstil
Holen Sie sich Unterstützung im Glauben
Zitierte Literatur
Benutzte Fachliteratur
Anmerkungen
Sie lesen dieses Buch wahrscheinlich, weil ein Ihnen Nahestehender eine Depression hat. Sie sind nicht der Einzige, der das Schicksal eines Nächsten mit einer Depression erleidet. Jeder fünfte Mensch erlebt in seinem Leben eine Depression. Tatsächlich sind es noch mehr, denn in dieser Statistik nicht enthalten sind die Hunderttausenden von Suchtkranken, die an Depressionen leiden (oder litten) und versuchen, ihre depressive Stimmung durch Alkohol, Drogen oder Medikamente, insbesondere Schlaftabletten und Angstdämpfer, zu bekämpfen. Wenn man bedenkt, dass eine Person im Durchschnitt etwa fünf bis sieben nahe Angehörige (Partner, Kinder, Eltern, Brüder, Schwestern oder beste Freunde) hat, dann ist es fast wie ein Lottogewinn, wenn man es weder als Patient noch als Nächster mindestens einmal in seinem Leben mit einer Depression zu tun bekommt.
Wenn Ihr Partner, Ihr Bruder oder Ihre Schwester, Ihr Kind oder ein Elternteil eine Depression bekommt, werden Sie sich viele Fragen stellen: Was empfindet ein Mensch mit einer Depression? Wie kann ich helfen? Was sollte ich hingegen vermeiden? Wie kann ich meinen an Depression leidenden Angehörigen dazu bringen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen? Und wie finde ich gute Hilfe? Wie sorge ich dafür, dass meine eigene Stimmung nicht darunter leidet und ich selbst durchhalte? Dieses Buch möchte Ihnen helfen, auf diese und ähnliche Fragen Antwort zu finden.
Die Botschaft dieses Buches lautet: Sie können viel für Ihren Angehörigen tun – oft sogar mehr als professionelle Helfer. Denn Sie sind für Ihren depressiven Angehörigen nicht nur wichtiger als jene, sondern verbringen auch viel mehr Zeit mit ihm. Mit einem professionellen Helfer wie zum Beispiel einem Psychologen, der Ihren Angehörigen behandelt, hat er meistens weniger als eine Stunde in der Woche Kontakt, während Sie einen großen Teil eines jeden Tages mit ihm verbringen. Ihre Einstellung zu ihm und Ihre Unterstützung können dann entscheidend sein.
Depressionen betreffen nicht nur Ihr Familienmitglied, sondern auch Sie. Eine Depression unterwirft einen Menschen ihren Gesetzen: »Benimm dich unentschlossen, werde passiv, reagiere schnell betroffen, ziehe dich zurück, verliere deine Begeisterung und Lebensfreude.« Dieses andersartige, oft weniger angenehme Verhalten wirkt sich auf Ihre Stimmung aus. Stress, Unverständnis und Irritation können dazu führen, dass Sie die Kontrolle über Ihr eigenes Leben verlieren und sich von Ihrem Familienmitglied entfremden. Es mag Sie nicht überraschen, dass sich drei von vier Betreuenden laut Studien emotional zu sehr belastet fühlen. Wenn Ihr Angehöriger in eine depressive Krise gerät, dann stehen die Beziehungen oft auch unter Druck. Fast jede körperliche und geistige Erkrankung führt dazu, dass sich jemand mehr mit sich selbst und weniger mit dem anderen beschäftigt. Bei einer Depression trifft dies verstärkt zu. Die Art einer Depression lässt jemanden sich nach innen wenden. Das frühere Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen wird gestört. Und die beschränkte Energie, die ein Mensch noch hat, braucht er für seine eigene Genesung. Darüber hinaus entzieht die Depression nicht nur dem Patienten, sondern auch seinen Angehörigen Energie. Gefühle sind ansteckend. Schuldgefühle, Unsicherheit, Ungewissheit über die Zukunft und auch Ärger und Irritationen, das sind alles Gefühle, die den Patienten selbst belasten und auch die Nächsten quälen. Aus all diesen Gründen ist Depression für die Umwelt belastender als andere Zustände.
Dieses Buch versucht, Ihnen Ratschläge und Strategien zu vermitteln, die verhindern können, dass Sie psychisch abgleiten und nicht nur Ihren Angehörigen verlieren, sondern auch sich selbst. Viele dieser Empfehlungen stammen von Menschen, die in derselben Situation sind wie Sie. Das bedeutet nicht, dass alles, was Sie in diesem Buch vorfinden, auch für Sie zutreffend ist oder Sie anspricht. Das muss auch nicht sein: Oft werden Sie schon eine Hoffnung und Perspektive finden, wenn einige Ratschläge dabei sind, die Sie umsetzen können.
In diesem Buch habe ich zugunsten der besseren Lesbarkeit grundsätzlich die grammatikalisch männliche Form gewählt, wenn ich von einem depressiven Angehörigen spreche. Selbstverständlich werden nicht nur Männer depressiv – daher kann immer da, wo »er« steht, auch »sie« gelesen werden.
Huub Buijssen, Tilburg
1
Wie empfindet man eine Depression? Was geht in Kopf und Körper Ihres Partners, Kindes oder Elternteils vor?
Möglicherweise stellen Sie sich diese Frage auch immer wieder, da Sie nicht verstehen können, warum Ihr Angehöriger sich jetzt so anders verhält als früher.
Wenn Sie selbst nie eine Depression hatten, kann Ihnen das Wissen darüber helfen, was Ihr Angehöriger erleidet. Mit diesem Wissen werden Sie mehr Verständnis für ihn aufbringen und ihn auch besser unterstützen können.
Ich werde das Erleben einer Depression zu skizzieren versuchen, indem ich deren Symptome eines nach dem anderen erkläre. Vorsorglich weise ich schon einmal darauf hin, dass dies kein ermunternder Lesestoff ist, und rate Ihnen, lieber nur in Etappen zu lesen: Ein Kapitel in einem Zuge durchzulesen wird Ihrer Stimmung nicht gerade guttun!
Zunächst aber noch zwei Bemerkungen vorweg – die erste, Thema des folgenden Abschnitts, über die Schwierigkeit, treffende Worte für die Beschreibung des Depressionserlebens zu finden, die zweite, Thema des darauf folgenden Abschnitts, über die vielen Gesichter der Depression.
Es ist eine nahezu unlösbare Aufgabe zu beschreiben, wie man eine Depression empfindet. »Erfahrene Psychiater sagen, dass man bei langer Erfahrung eine Schizophrenie einigermaßen nachvollziehen könne, eine tiefe von innen heraus aufsteigende Depression, eine Melancholie, dagegen könne man nicht nachfühlen« (Manfred Lütz 2009).
Selbst Schriftsteller, die eine Depression erlitten haben, spüren immer wieder, dass Worte für die Beschreibung des Erlebens einer Depression nicht ausreichen.
Dazu der Schriftsteller und Experte Matt Haig:
Es ist schwer, jemanden zu erklären, was eine Depression ist, der noch nie eine hatte.
Es ist, als würde man einem Alien das Leben auf der Erde erklären. Es fehlen einfach die Bezugspunkte.
Man muss sich mit Metaphern helfen.
Du steckst in einem Tunnel fest.
Du bist tief unter Wasser.
Du brennst lichterloh.
Vor allem ist da die Intensität.
Sie sprengt die normale Skala der Emotionen.
(Matt Haig 2016)
Depression fällt in ein Erfahrungsgebiet, für das Worte nicht ausreichen. Es ähnelt einem Gelände, das von einem unüberwindlichen Zaun eingegrenzt wird, an dem ein Schild hängt mit der Aufschrift: EINTRITT VERBOTEN FÜR NORMALE KOMMUNIKATION. Der Schriftsteller William Styron (vor allem durch das verfilmte Buch Sophies Entscheidung bekannt), der im Alter eine Depression bekam, drückte es so aus: »Das Leiden, das eine schwere Depression mit sich bringt, ist für Nichtbetroffene unvorstellbar. Für die meisten Menschen, die darunter gelitten haben, ist ihre Schrecklichkeit so überwältigend, dass es praktisch nicht auszudrücken ist« (William Styron 2010).
Dieses Buch benutzt Worte zur Vermittlung; die Beschreibung der Depression kann daher nicht anders als unzulänglich sein. Denn wenn es sogar jenen Schriftstellern, die selbst eine Depression erlebt haben, nicht gelingt, treffend auszudrücken, wie man sich damit fühlt, wäre es für mich – der weder Schriftsteller ist noch eine Depression erlebt hat – anmaßend, eine Depression von innen heraus beschreiben zu wollen. Ich werde jedoch versuchen, das Erleben einer Depression aufgrund meiner Kenntnis und Erfahrung als Psychologe und anhand der Fachliteratur zu skizzieren. Um den Lesern einen möglichst lebensechten Eindruck der Krankheit zu verschaffen, werde ich hier und da Patienten zitieren, die ich behandeln durfte, Aussagen von bekannten und weniger bekannten Patienten aus Zeitungen und Zeitschriften wiedergeben und Zitate aus Romanen anführen.
Keine einzige Depression ist genau wie die andere. Die Depression ist ein Syndrom, d. h. ein Krankheitsbild, das sich aus dem Zusammentreffen verschiedener charakteristischer Symptome ergibt.
Von den neun Symptomen aus dem unten stehenden Kasten müssen wenigstens fünf vorhanden sein und zusätzlich mindestens eines der beiden ersten Symptome.
Merkmale einer depressiven Störung
• Trübe, niedergedrückte Stimmung; Gefühl von innerer Leere
• Verlust von Interesse und Lebensfreude
• Gefühle von Wertlosigkeit oder Schuldgefühle
• Schlafstörungen
• Verringerter oder größerer Appetit oder deutliche Gewichtsveränderung
• Energiemangel oder Müdigkeit
• Trägheit oder im Gegenteil anhaltende körperliche Unruhe
• Konzentrationsprobleme oder Entscheidungsunfähigkeit
• Wiederholte Gedanken an den Tod oder an Selbsttötung
Ihr Angehöriger muss also nicht unter sämtlichen Erscheinungen leiden, die Teil einer Depression sein können. Vielleicht hat er keine Schlafprobleme, ist aber sehr wohl schwunglos und sehr niedergeschlagen. Mit den neun Symptomen der Depression sind zahllose Kombinationen möglich. Es können sogar zwei Patienten eine Depression haben, ohne dass auch nur ein einziges Symptom bei ihnen übereinstimmt. Das liegt unter anderem auch daran, dass bestimmte Symptome sich auf gegensätzliche Weise äußern können: Man kann zu wenig oder im Gegenteil zu viel schlafen, abnehmen oder zunehmen, wenig Appetit oder gerade mehr haben, träge oder erregt sein, Konzentrationsstörungen haben oder entscheidungsunfähig sein.
Darüber hinaus kann auch die Intensität der Erscheinungen je nach Person variieren. Man kann in höherem oder geringerem Maß Essprobleme, leichte oder schwere Konzentrationsprobleme haben und so weiter. Und die Intensität der Gefühle beeinflusst das Erleben direkt: Trübe Stimmung ist bei einer leichten Depression von ganz anderer Art als bei einer schweren. Im ersten Fall kann der Betroffene noch weinen – im zweiten ist er so erstarrt, dass er nicht einmal mehr seinen Trübsinn wirklich spüren kann.
Und schließlich erlebt auch noch jeder die Beschwerden auf eine andere Art. Der eine findet es schrecklich, sich nicht richtig konzentrieren zu können – ein anderer regt sich darüber kaum auf, quält sich jedoch stark damit, den Menschen seiner unmittelbaren Umgebung zur Last zu fallen.
Jede Depression ist also anders. Man kann gewissermaßen sagen, dass es so viele Depressionen wie Depressionspatienten gibt. Es ist gut, sich dies klarzumachen, ehe Sie die weitere Beschreibung der Symptome lesen.
Neben dem Verlust der Genussfähigkeit ist eine niedergeschlagene Stimmung eines der Hauptmerkmale einer Depression; so wird die Krankheit auch mit dem Begriff »krankhafter Trübsinn« bezeichnet. Ein Betroffener wird das Wort »trübsinnig« wahrscheinlich nicht benutzen, sondern eher Umschreibungen wählen wie etwa: »Ich fühle mich schrecklich mies«, »Ich sitze in einem tiefen Loch«, »Ein Grauschleier liegt über allem«, »Es ist, als liege eine dunkle Decke über mir« oder »Ich kann den Weg zum Licht und zur Fröhlichkeit nicht mehr finden«.
Der Trübsinn muss nicht tagein, tagaus auf ein und dieselbe Weise in Erscheinung treten. In den meisten Fällen ist die Depressivität morgens heftiger als abends. Ein depressiver Mensch hat dann jeden Tag große Startprobleme; er würde sich am liebsten die Decke über die Ohren ziehen und liegen bleiben.
Manchmal trifft jedoch genau das Gegenteil zu: Man fühlt sich morgens besser und gleitet stimmungsmäßig ab, je weiter der Tag fortschreitet. Diese im Laufe des Tages steigende oder fallende Stimmung wird in der Fachliteratur als »Tagesschwankung« bezeichnet. Da dies eines der wenigen Symptome ist, das nur bei einer depressiven Erkrankung auftritt, werden Psychotherapeuten und Psychiater immer danach fragen, wenn sie eine Depression vermuten.
Zu Beginn dieses Kapitels habe ich erwähnt, dass Sie sich wahrscheinlich immer wieder fragen, was Ihr depressiver Angehöriger fühlt. Möglicherweise hielten Sie diese Frage für unangebracht, da Sie bei dem Wort »Depression« automatisch an eine Phase in Ihrem eigenen Leben denken, in der Sie es selbst schwer hatten, und darum zu wissen meinen, was in Ihrem depressiven Angehörigen vorgeht. Sollte Ihre Stimmung in jener Periode jedoch wegen eines traurigen Ereignisses in Ihrem Leben gesunken sein, so haben Sie eine Periode der Trauer durchlebt. In diesem Fall war Ihre Reaktion normal und hatte mit einer Depression nichts zu tun.
Der Trübsinn einer Depression ist nicht zu vergleichen mit dem Trübsinn der Trauer und ebenso wenig mit dem Trübsinn einer depressiven Verstimmung, die wir alle einmal durchmachen. Ein Mensch mit einer schweren Depression empfindet vor allem Leere.
Wie dieser Schüler, Protagonist im Roman Normal People:
Alles überkam ihn. Die Heulkrämpfe, die Panikattacken. Und es schien alles von außen zu kommen, nicht von innen. Im Inneren fühlte er nichts. Es schien, als sei er aus dem Gefrierschrank gekommen und an der Oberfläche schnell aufgetaut und geschmolzen, während das Innere noch steinhart war. Irgendwie zeigte er mehr Emotionen als je zuvor, während er gleichzeitig weniger fühlte, nichts empfand.
(Sally Rooney 2018)
Als ich einen meiner depressiven Patienten fragte, was er fühle, sagte er: »Wenn man sich aus einem bestimmten Grund sehr trübsinnig fühlt, ist das schlimm. Aber dann fühlt man wenigstens noch etwas. Bei einer (schweren) Depression fühlt man nichts, und das ist um vieles schlimmer. Es ist, als stehe eine gläserne Wand zwischen mir und meinen Gefühlen.« Es dauerte eine Weile, ehe ich verstand, was er damit meinte. Ich begriff es erst – ein wenig! –, als mir eine Erinnerung an ein Jahre zurückliegendes Ereignis zu Hilfe kam:
Mit siebenundzwanzig Jahren verliebte ich mich in Nelleke, ein Mädchen, das sechs Jahre jünger war als ich und Niederländisch studierte. Wir freundeten uns an, doch leider zog sie zwei Monate später von Nijmegen – wo auch ich wohnte – nach Amsterdam. »Diese Stadt passt besser zu mir, man kann dort mehr machen«, erklärte Nelleke. Von da an hatten wir eine Wochenendbeziehung. Jeden Freitag oder Samstag, wenn wir einander sahen, kam es mir vor, als sei ich für sie ein Fremder, so befangen verhielt sie sich in den ersten Stunden. Erst nach längerem körperlichem Kontakt (das heißt nach dem Liebesakt) taute Nelleke auf und schien sich wieder wohlzufühlen. Ich schrieb ihr immer wiederkehrendes, offensichtliches Unbehagen ihrer Schüchternheit zu und der Tatsache, dass sie – wohl wegen der sechs Jahre Altersunterschied – ein wenig zu mir aufsah. »Du bist viel weiter als ich«, sagte sie hin und wieder. Nach einem Jahr beendete Nelleke aus diesem Grund die Beziehung (sie ließ es mich mit einem achtzeiligen Brief wissen; ihre Verlegenheit war zu groß, als dass sie es mir hätte sagen können). Einige Wochen davor hatte sie mir etwas anvertraut, das ich nicht verstand und das mich damals merkwürdigerweise nicht alarmierte: Als ich sie eines Abends fragte, woher die vielen kleinen roten Flecken an der Innenseite ihres linken Armes rührten, sagte sie, es seien Brandwunden. »Ehe ich dich kennenlernte, hatte ich Perioden, in denen ich mich mit Zigaretten verbrannte.« Als ich fragte, warum sie das getan habe, erklärte sie: »Um etwas zu fühlen.«
Was sie mit diesem Satz gemeint hatte, verstand ich erst, als Jahre später jener oben erwähnte depressive Patient von der »gläsernen Wand« zwischen sich und seinen Gefühlen sprach. Ehe ich Nelleke kennenlernte, war sie depressiv gewesen. Und auch während wir befreundet waren, war sie noch nicht ganz davon genesen, denn auch zu jener Zeit hatte sie noch nicht wirklich Zugang zu ihren Gefühlen. Daher rührte die jede Woche wiederkehrende Unbehaglichkeit zwischen uns.
Stellen Sie sich einmal vor, Ihr größter Wunsch oder ein lange gehegter Traum von Ihnen erfüllte sich und Sie könnten darüber kein Fünkchen Glück empfinden – mehr noch: Sie blieben völlig gleichgültig.
Sie werden verstehen, warum ich Sie bitte, dieses Gedankenexperiment zu vollziehen. Es hilft Ihnen, einen wichtigen Aspekt oder ein Symptom der Depression kennenzulernen: nicht mehr genießen zu können. Selbst Dinge, die man früher sehr wohl genießen konnte – ein strahlend sonniger Tag, eine interessante Begegnung, eine heiße Dusche, ein Kind, das einen Streich spielt –, können einen Menschen, der an einer Depression leidet, kaltlassen. Es ist, als sei sein Herz gefroren.
Dadurch, dass der Betroffene nichts mehr genießen kann, freut er sich auch auf nichts. Er hat keine Sehnsüchte mehr. Er atmet, isst und schläft wohl noch, doch sein Leben steht still. Um anderen zu verstehen zu geben, was er empfindet, benutzt er vielleicht Ausdrücke wie »Ich habe zu nichts mehr Lust«, »Ich muss mich zu allem zwingen«, »Nichts geht mehr von allein«, »Ich bin wie ein Roboter: Ich tue wohl noch etwas, aber ich empfinde nichts mehr dabei«, »Ich langweile mich immer«, »Früher ging ich pfeifend zur Arbeit, jetzt muss ich mich jedes Mal dazu zwingen«, »Ich kann nicht mehr lachen, ich habe an nichts mehr Spaß«. Ein Mann, der seit Ewigkeiten zu allen Spielen seines Fußballklubs ging, kann dies plötzlich unterlassen, da Fußball ihm jetzt »nichts mehr bedeutet«.
Ein 58-jähriger Journalist drückt es so aus:
Die Gitarre, seit Jahrzehnten mein Begleiter, setzt in der Ecke Staub an. Der Akku der Kamera, mit der ich früher die Welt bereiste, ist seit Wochen nicht mehr aufgeladen. Der Wunsch zu reisen – in den Wahnsinn einer asiatischen Stadt einzutauchen, vom rauen Skandinavien überwältigt zu werden, mich am 4-Jahreszeiten-Gezwitscher der Italiener zu erlaben – ist erloschen.
(Arno Haijtema 2019)
Der berühmte Wiener Psychiater Sigmund Freud hat viele Behauptungen aufgestellt, über die wir heute mitleidig den Kopf schütteln. Er hat uns jedoch auch zahlreiche Einsichten geschenkt, die auch heute noch ihre Gültigkeit haben. Eine seiner Entdeckungen, die bis heute aufrechterhalten wird, handelt vom Unterschied zwischen Trauer und Depression. Ein Trauernder kennt auch Seelenschmerz, Trübsinn und Verzweiflung, doch bei einem Menschen mit einer Depression kommt noch etwas hinzu: Er leidet an einem übergroßen Gefühl von Minderwertigkeit und einer starken Neigung zu Selbstmitleid. Eine Depression bewirkt, dass man alles durch eine schwarze Brille sieht, zuallererst sich selbst. Der Betroffene hat ein geringes Selbstwertgefühl; im schlimmsten Fall ekelt er sich vor sich selbst. Ihn bewegen Gedanken wie »Ich bin nichts wert«, »Ich kann nichts«, »Ich bin so wertlos, dass ich wünschte, jemand anders zu sein – jeder, außer mir selbst«.
Hat er einen Erfolg gehabt, ist er geneigt, diesen dem Zufall oder dem Glück zuzuschreiben. Einen Fehler jedoch rechnet er sich unweigerlich selbst an: »Da sieht man ja, dass ich es nicht kann.« Und so denkt er, selbst wenn ihn nach Meinung seiner Mitmenschen nicht die geringste Schuld trifft. (Man beachte, dass Menschen, die sich in ihrer Haut wohlfühlen, genau das Gegenteil tun: Erfolge schreiben sie eigenen Qualitäten und eigenem Einsatz zu, Versagen eher einem dummen Pech, den Umständen oder anderen Menschen.)
Ein Mensch mit einer Depression denkt nicht nur negativ über seine Leistungen, sondern auch über seinen Körper: »Ich bin viel zu dick/hässlich/unattraktiv.« Auch seine Eigenschaften sieht er negativ: »Ich bin dumm/langweilig/pessimistisch.« Sein geringes Selbstwertgefühl kann sich auch auf moralische Eigenschaften beziehen: »Ich bin ein schlechter Mensch/nicht vertrauenswürdig/egoistisch/nutzlos.« Das Ergebnis all dieser negativen Urteile kann schließlich sein, dass er sich als völlig misslungen ansieht; er meint, nichts aus seinem Leben gemacht zu haben.
Auch der berühmte niederländische Schriftsteller Simon Vestdijk – von dem gesagt wurde, er könne »schneller schreiben, als Gott lesen« könne – wurde mehr als einmal von einer depressiven Phase geplagt. Über seine Gefühle von Wertlosigkeit während einer dieser Episoden schrieb er:
Im Februar bekam ich eine Depression. Es war genauso wie beim ersten Mal […] [Ich] versank in die unerträglichste Verzweiflung, mit einem besonders heftigen Schuldgefühl, da ich dies nicht selbst hatte verhindern können, zum Beispiel durch den »Willen«, den mein Vater in den höchsten Tönen gepriesen hatte. Ich hatte bewiesen, dass ich völlig gesund war, in der Schule hatte ich arbeiten können wie kein anderer – und jetzt doch dieses elende Gefühl in Körper und Seele, und alles noch deutlicher, ausgeprägter als zuvor: […] nicht mehr arbeiten können, nie mehr arbeiten können, ein quälendes Minderwertigkeitsgefühl, da ich mit niemandem darüber sprechen und nirgends Schicksalsgenossen entdecken konnte.
(Simon Vestdijk 1975)
Etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung haben regelmäßig Schlafprobleme. Vielleicht gehören Sie selbst auch dazu. Doch auch wenn Sie nicht dazugehören, werden Sie sicher manchmal schlecht oder zu wenig geschlafen haben. Wie haben Sie sich danach gefühlt? Für die meisten von uns gilt, dass wir uns dann durch den Tag schleppen müssen. Schlafforscher haben die Folgen einer schlechten Nachtruhe mit einem Kater durch zu ausgiebigen Alkoholgenuss verglichen. Für viele Menschen gilt daher, dass ihr Glücksgefühl zu einem wichtigen Teil mit der Qualität ihres Schlafes zusammenhängt. Nach einer guten Nachtruhe fühlen sie sich gut, nach einer schlechten Nachtruhe eben nicht. Stellen Sie sich jetzt einmal vor, Sie schliefen nicht nur ein einziges Mal schlecht, sondern wochenlang. Wenn Sie sich davon einen Begriff machen können, so können Sie sich wieder ein wenig besser in einen Menschen mit einer Depression hineinversetzen.
Depressionen gehen fast immer mit Schlafproblemen einher. Die häufigste Klage ist, dass man sehr früh erwacht und dann nicht mehr einschläft. Manche Betroffenen liegen stundenlang wach und grübeln, ehe sie in den Schlaf fallen, und erwachen dann nach einigen Stunden schon wieder. Andere wachen immer wieder auf und haben den Eindruck, niemals eine gute Nacht zu verbringen. Wieder andere schlafen fast gar nicht oder – um es vorsichtiger auszudrücken – scheinen nur sehr wenig zu schlafen.
Eine Schlafstörung kann sich aber auch im Gegenteil äußern: Der Betroffene geht früh schlafen und steht spät auf. Es kann sogar geschehen, dass ein depressiver Mensch auch tagsüber noch schlafen will: Wenn er schläft, spürt er den Trübsinn eine Weile nicht und kann die Leere seines Lebens vergessen.
Wenn Sie mit einem depressiven Menschen zusammenleben, kann sowohl das kurze, unruhige Schlafen als auch das endlos lange Schlafen unangenehm für Sie sein. Der kurze, unruhige Schlaf kann Ihre eigene Nachtruhe stören, das lange Schlafen Ärger hervorrufen (»Gehst du schon wieder ins Bett?«).
Für eine Weile dachte ich, es läge daran, dass ich nicht genug in der Auswahl meiner Ernährung variierte. Aber jetzt tue ich es und doch schmeckt das Essen, das ich selbst zubereite, wie Pappe, zu salzig oder zu fad. Die Nudeln sind nicht gar oder zu weich. Die Frucht zu bitter, das Gemüse faserig, der Wein zu sauer oder zu schwer.
(Arno Haijtema 2019)
Eine Depression kann auch mit einer Veränderung des Essverhaltens einhergehen. Oft hat der Betroffene weniger Appetit als früher. Das Essen schmeckt ihm auch viel weniger. Wenn das Leben keine Freude macht, ist auch das Essen kein Genuss. Überdies essen wir ja, um am Leben zu bleiben. Ein depressiver Mensch isst (viel) weniger, oft nur mit Widerwillen. Das führt manchmal zu einem deutlichen Gewichtsverlust. Die Folge kann ein schlechtes oder ungesundes Aussehen sein.
Auch hier kann das Gegenteil eintreten. Der Betroffene isst möglicherweise mehr – als müsse die Nahrung die geistige Leere, die er innerlich fühlt, beseitigen. Aus dem Essen wird dann manchmal geradezu Fressen. Vor allem Menschen mit einer Winterdepression oder einer bipolaren Störung (einer manisch-depressiven Depression) haben oft die Neigung, mehr zu essen, als gut für sie ist.
Auch das Verdauungsmuster ist manchmal gestört. Der Betroffene hat Probleme mit Durchfällen oder Verstopfung. Das Magen-Darm-System ist bei vielen Menschen ein Barometer der Seele.
Eine häufig auftretende Erscheinung der Depression ist eine übermächtige Müdigkeit. Diese ist jedoch ganz anders als die Müdigkeit, die man nach einem harten Arbeitstag oder einer starken körperlichen Anstrengung empfindet. Nach einer langen Fahrradtour oder einer strammen Bergwanderung etwa fühlt man sich »angenehm müde«. Man weiß, warum man müde ist, man weiß auch, dass die Müdigkeit durch Ausruhen vorübergeht.
Bei einer Depression entspricht die Müdigkeit nicht der vorhergehenden Anstrengung. Die Spannkraft ist verschwunden. Die Müdigkeit scheint zum Teil der Person geworden zu sein und verschwindet auch nicht nach einer erholsamen Nacht in einem komfortablen Bett. Die früher straff gespannte Sehne ist jetzt so schlaff und dünn wie ein Baumwollfädchen. Eine Depression kann die frühere Vitalität auf mysteriöse Weise aus Körper und Kopf sickern lassen. Selbst Tätigkeiten, die wenig Energie erfordern – die Windel des Kindes wechseln, Geschirr spülen, einen Fahrradschlauch flicken –, können dann schon zur Erschöpfung führen. Daher ist manchmal das Einzige, zu dem der Betroffene noch fähig ist, die Aufrechterhaltung einer Scheintätigkeit.
Auch die eigene Körperpflege bewältigt ein an Depression leidender Mensch kaum noch oder gar nicht mehr. Diese mangelnde Eigenfürsorge ist – ebenso wie der Rückzug aus sozialen Kontakten – keine bewusste Entscheidung. Der Kranke will sehr wohl, schafft es aber nicht.
Im Falle einer mäßigen bis schweren Depression ist auch die Aufrechterhaltung von Kontakten eine Aktivität, die viel von dem Betroffenen verlangt. Es kann schon zu viel sein, ans Telefon zu gehen oder auf die Türklingel zu reagieren, und erst recht, selbst die Initiative zu ergreifen und Kontakte zu pflegen.
Ich habe einen Termin beim Friseur, vor dem ich mich jetzt schon fürchte, obwohl er noch drei Stunden entfernt ist. Wie soll ich mit meiner überschwänglichen Friseuse plaudern, wo es mich schon grenzenlose Mühe kostet, meinen Mund zu einem Lächeln zu verziehen? Mein Gesicht ist gleichzeitig wachsweich und versteinert. Die Muskeln streiken.
(Martha Manning 1996)
Sicher sind Sie schon einmal in einem Gewässer von etwa ein bis eineinhalb Meter Tiefe gelaufen. Dann wissen Sie, dass das Vorwärtskommen in flachem Wasser viel mühsamer ist, als normal an Land spazieren zu gehen. Stellen Sie sich nun einmal vor, Sie wären in einem Schwimmbad, das nicht mit Wasser, sondern mit Sirup gefüllt ist. Wie viel Energie würde es Sie dann kosten, voranzukommen? Ich werfe diese Frage auf, weil ein depressiver Mann einmal zu mir sagte, so erlebe er seine Depression: wie das Waten durch Sirup.
Eines der Symptome der Depression – Energiemangel – geht also auch mit Langsamkeit einher. Manche Fachleute meinen, die psychomotorische Hemmung, eher »Retardierung« (wörtlich: »Verlangsamung«), sei der Kern einer Depression. Sie verweisen dabei auf »Niedergeschlagenheit« oder »sich down fühlen« – Worte, mit denen depressive Menschen ihren Gemütszustand auszudrücken versuchen. Nach Ansicht dieser Fachleute drückt ein depressiver Mensch mit solchen Worten sehr treffend aus, dass er sich als »am Boden fixiert« empfindet, zu Aktivitäten kaum oder gar nicht imstande. Und wenn es ihm dann doch gelingt, eine Aktivität zu entfalten, dann geschieht dies oft nur mit vermindertem oder halbem Tempo. So kann also ein schwer depressiver Mensch tatsächlich das Gefühl haben, durch Sirup gehen zu müssen.
Die Langsamkeit bleibt nicht auf die Bewegung beschränkt, sondern umfasst auch das Denken. So sagte ein depressiver Politiker: »Mein Denktempo ist auf ein Niveau reduziert, das erheblich niedriger liegt als mein normales Denktempo« (Ger Klein 1994). Wenn Sie also Ihrem depressiven Angehörigen eine Frage stellen, kann es geschehen, dass die Antwort erst erfolgt, wenn Sie sie schon gar nicht mehr erwarten.
Es ist gut möglich, dass ein depressiver Mensch selbst nicht bemerkt, dass er im Denken langsamer geworden ist, erst recht, wenn sich die Depression sehr langsam in sein Leben eingeschlichen hat. Auch den Menschen, die täglich mit ihm umgehen, fällt es dann oft nicht auf: Die Veränderung hat sich unbemerkt vollzogen. Doch Personen, die ihn lange nicht gesehen oder gesprochen haben, registrieren es sofort. Sie nehmen wahr, dass er langsamer und monotoner als früher spricht und sich langsamer bewegt. Sie sehen ihn gewissermaßen wie in Slow Motion.
Während er selbst langsamer geworden ist und sich nur voranzuschleppen scheint, hat der depressive Mensch das Gefühl, die Zeit selbst sei langsamer. Es kommt ihm vor, als enthalte eine Minute nicht sechzig Sekunden, sondern mindestens doppelt so viele.
Ähnlich wie Hundejahre richten sich die Minuten der Depression nach einer künstlichen Zeitvorstellung. Ich weiß noch, wie ich erstarrt im Bett lag und weinte, weil ich sogar Angst vor dem Duschen hatte, zugleich indes genau wusste, dass es nichts Schlimmes ist. Immer wieder durchlief ich im Geiste die einzelnen Schritte eines Besuchs im Bad: Du drehst dich um und setzt die Füße auf den Boden, du stehst auf, du gehst von hier zum Bad, du öffnest die Tür des Badezimmers, du gehst bis zum Rand der Wanne, du öffnest den Wasserhahn, du stellst dich unter den Wasserschwall, du seifst dich ein, du spülst dich ab, du trittst hinaus, du trocknest dich ab, du gehst zum Bett zurück. Zwölf Teile, die mir genauso schwer erschienen wie ein Gang an den Kreuzwegstationen entlang.
(Andrew Solomon 2001)
In manchen Fällen tritt aber statt Langsamkeit und psychomotorischer Hemmung das Gegenteil ein: Unruhe, ein gespanntes Gefühl im ganzen Körper, vor allem in den Muskeln. So sagte ein depressiver Mann mir vor Kurzem: »Wenn ich nicht zusammengerollt auf dem Sofa liege, muss ich ständig rastlos auf und ab gehen. Ich schaukele verzweifelt in meinem Schaukelstuhl.«