Nektarios Vlachopoulos

NIEMAND WEISS,
WIE MAN
MICH SCHREIBT

LAPPAN

Sein Name ist Nektarios Vlachopoulos und er ist sehr berühmt. Jedenfalls in seinem Freundeskreis. Der Slampoet und Humorist schießt in einem unglaublichen Tempo mit Wörtern um sich – mit gebräuchlichen und eher selten genutzten, manchmal sogar erfundenen – und formt daraus geistreiche, überraschende und lustige Texte.

Zum Glück steht er nicht nur auf der Bühne und spricht, sondern sitzt auch am Schreibtisch und schreibt allerfeinste Vlachopoulos-Texte, die hier in seinem ersten Buch versammelt sind.

Lieber Kunde! Bitte kaufen! Der Autor dieses Buches hat mich mit seinen Texten immer beim Poetry Slam besiegt. Sie sehen also, hier stimmt alles: Storyaufbau, Thema, Pointendichte, Twists.

Und dann noch dieser einprägsame Name.

Torsten Sträter

Niemand weiß, wie man ihn schreibt, was nicht schlimm ist, ich kenne das. Aber Sie sollten wissen, WAS ER WIE schreibt, weil er das sehr gut kann, leicht, trotzdem tief genug, und mit erstaunlich viel ernstem Humor. Und das ist sehr, sehr selten, ich kenne das. Also merken Sie sich endlich den Namen.

Jochen Malmsheimer

Nektarios bedankt sich bei …

Anke für die unglaublich gute Zusammenarbeit,

Katja fürs Aushalten menschlicher Schwächen,

Eli für die inspirierenden Tanzstunden und die fordernden Gespräche,

Tinolein, Tilibert, Andimaus und Helenchen für die Therapie,

Nils, Julian, Nigges, Simon, Anni und Johannes für die elterliche Fürsorge,

der internationalen Generalkonferenz für Maß und Gewicht für die Einführung des metrischen Systems,

allen Käufern dieses Buches für die Finanzierung seines Projektes.*

* Mit jedem gekauften Buch leisten Sie einen kleinen Beitrag zur Entwicklung und Herstellung eines interstellaren Todesstrahls.

Begrüßung

UM ES KURZ ZU MACHEN: Mein Name ist Nektarios Vlachopoulos und ich bin sehr berühmt. Leider wissen das nur die allerwenigsten Menschen. Aber es ist wirklich wahr. Mittlerweile werde ich sogar auf der Straße angesprochen. Neulich kam eine junge Frau zielgerichtet auf mich zugeschritten und sagte: „Entschuldigen Sie mal. Wo geht’s denn hier zum …“, da antwortete ich: „Ja, der bin ich!“ Aber trotz des ganzen Trubels bin ich voll bescheiden geblieben, down to earth, so richtig gemäßigt auf dem Teppich. Deshalb möchte ich den Beginn dieses Buchs nutzen, um das zu tun, was ich am besten kann: mit meinen Defiziten kokettieren. Es ist nämlich so – und ich bin mir sicher, damit bin ich nicht alleine –, dass ich mich in diesen modernen Zeiten irgendwie überfordert fühle. Alles wird immer schneller und komplexer, und ich habe so langsam das Gefühl, dass ich mich selbst nicht mehr kenne. Was erstaunlich ist, denn eigentlich kenne ich mich ja praktisch seit meiner Geburt. Im Grunde genommen sollte ich der weltweit führende Experte für meine Person sein, aber das bin ich nicht. Ich weiß nicht, was ich will. Ich kann keinerlei Entscheidungen treffen. Das ist so eine Art Leitmotiv meines Lebens. Wo immer eine Entscheidung ansteht – ich weiche ihr aus. Deshalb bin ich auch Künstler geworden. Als Künstler hat man nämlich die Möglichkeit, jedes Defizit durch geschickte Rhetorik zu einer Tugend zu verklären. Und genau das möchte ich mit dem ersten Text dieser kleinen Sammlung tun.

Brot oder Spiele?

MANCHMAL FÜHLE ICH MICH wie ein Kind im Körper eines Mannes im Bauch eines Monsters, das sich wünscht, eine Frau zu sein. Ab und zu sehe ich mich als das, was ich zu sein denke, im Körper dessen, was ich abzugeben pflege, und meistens denke ich, bin ich ein Mensch im Körper eines Arsches, der zu einem sehr, sehr dicken Menschen gehört, der Angst vor Entscheidungen hat.

Als ich noch ein Junge war, da war ich nicht besonders alt. Und trotzdem hatte die Welt um mich herum die lästige Angewohnheit, mir Entscheidungen abzuverlangen. Jeder musste Flagge zeigen und sich auf eine Seite stellen: Lamy oder Pelikan, Nintendo oder Sega, Hip Hop oder Nu Metal. Da ich immer ein bisschen hinterher war, setzte ich auf KaWeCo, Atari und Matthias Reim, also eher so die Richtung Nu Metal, glaube ich. So richtig cool fand das aber keiner. Ich weiß noch, wie ich weinend und winselnd im Kaufhaus lag und die Aufmerksamkeit der gesamten Belegschaft auf mich zog, nur, um am nächsten Tag mit einem Eastpak Rucksack auf dem Rücken und einem 4you-Ranzen am Bauch in die Schule zu gehen. Beliebt war ich trotzdem nicht. Als ich mich zwischen Esther und Ramona entscheiden musste, entschied ich mich zuerst für Ramona, dann für Esther und alle beide sich gegen mich.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass eine Option erst dann zur falschen Entscheidung wird, wenn ich sie getroffen habe. Fußballmannschaften verlieren nicht nachdem, sondern weil ich auf sie gesetzt habe. In Mailand gilt eine Modeerscheinung als überholt, wenn ich ihr folge, und 2009 habe ich griechische Staatsanleihen gekauft.

Entscheidungen sind nichts für mich. Entscheidungen führen zu Resultaten. Resultate führen zu Konsequenzen. Konsequenzen holen dich ein und lassen dich ganz übel für deine Entscheidungen büßen. Was ich auch tue, ich treffe die falsche Entscheidung. Und wenn ich doch mal die richtige Entscheidung treffe, dann wünschte ich mir, ich hätte die falsche getroffen. Bei falschen Entscheidungen endet der Leidensweg wenigstens. Die ergriffene Maßnahme wird als Irrtum abgestempelt und als wertvoller Erkenntniszuwachs im großen Aktenschrank der Lebensweisheiten archiviert. Fertig. Richtige Entscheidungen hingegen bringen einen noch weiter voran und konfrontieren einen mit noch mehr Entscheidungen, also noch mehr potenziellen Fehlentscheidungen. Da soll sich noch einer wundern, dass ich Angst vor Entscheidungen hab.

Held oder Niete, Geld oder Liebe, Brot oder Spiele. Alles ist viel einfacher, wenn man sich einfach mal nicht entscheidet. Einfach mal Fleisch und Fisch essen, Fußball gucken und ein Buch lesen, Männer und Frauen lieben, Männer und Frauen nicht verstehen, Alkohol trinken und die Form wahren.

Think reserviert, wähl’ vier aus drei!

Trink Wein auf Bier und Bier auf Wein!

Warum an einen Schwachsinn glauben,

wenn wir alle Religionen anbeten können?

Beten wir zu

Buddha Yoda Juno Wotan

Jahwe Jesus Venus Rhenus

Allah Brama Rama Rah Mars

Satan Nanna Gaia Maia

Mao Tao Shao Khan

Shiva Krishna Kali Shakti

Horus Kronos Loki Odin

Isis Thor Osiris Bör

Jupiter und Lucifer.

Viel zu lange haben wir uns dem versklavenden Joch der Vernunft unterworfen. Wir wollen der profanen Ratio entsagen. Einigen wir uns auf Kompromisslosigkeit!

Lasst uns offen und ehrlich lügen, fleißig gammeln und platonisch ficken! Feiern wir eine Orgie der Enthaltsamkeit, versinken wir in weltlich-vegetarische Gelüste. Lassen wir uns zu einem Fleischsalat der Entzückung verwursten! Wir sind der Döner mit allem und extra Käse! Die gemischte Tüte für 2 Mark beim Bäcker deiner Kindheit! Nieder mit bescheidenen Entscheidenden! Nieder mit Schwarz-Weiß, ab jetzt ist alles grau und gelb und rot und lila-blassblau-grün-kariert und schwarz und weiß grell und bunt. Aber alles grau!

Unentschlossenheit eröffnet neue Perspektiven! Kein Mensch ist mündig! Hier und heute möchte ich von euch ein ganz klares „Jein!“ hören.

Seid ihr meiner Meinung? Jein!

Wollt ihr den Neubeginn? Jein!

Soll alles genau so bleiben, wie es ist? Jein!

Wir fordern alles! Wir fordern nichts!

Den Kopf im Sand, den Weg zum Ziele

sind wir nicht eins, wir sind ganz viele

Pan-homo-bi-heterophile

und fordern deshalb Brot und Spiele.

So. Das war erst mal das kleine Warm-Up. Einfach mal, um das Eis zwischen uns zu brechen. Damit ihr seht, dass ich auch nur ein normaler Mensch mit normalen Problemen bin. Vielleicht erzähle ich aber noch ein paar biographische Details zu meiner Person.

Pre-life-crysis

DER IMMENSE Leistungsdruck und der ständige Konkurrenzkampf hatten meine Psyche bereits zermürbt, bevor man mir die Chance gab, eine zu entwickeln. Man erwartet ganz schön viel von jemandem, der lediglich aus einem Zellkern und einem zappelnden Schweif besteht. Es galt sich gegen 150 Millionen Mitbewerber auf nur eine beschissene Stelle durchzusetzen. Als ich dann im Sommer 1985 bis in die mütterliche Eizelle vordrang, war ich nur noch ein Schatten meiner selbst. Obwohl ich mit meiner Lebensführung alles erreicht hatte, was ich überhaupt hätte erreichen können, stellte ich mir die Frage, ob ich denn überhaupt ein Leben führte. Ich hatte nichts. Keine Hobbys. Keine Freunde. Ganz im Gegenteil: Ich galt als introvertiert, freudlos und eigenbrötlerisch. Ich geriet immer tiefer in die Isolation. Ich litt unter Atemproblemen, Appetitlosigkeit und Klaustrophobie. Während ich vergeblich nach Luft rang, kamen die Wände zusehends näher. Hinzu kamen gravierende familiäre Probleme. Ich hatte es nicht leicht als Fötus eines unverheirateten Ehepaares und litt zudem zunehmend an Depressionen, Leistungsdruck und Burn-out. In meiner schwärzesten Stunde spielte ich mit dem Gedanken an Suizid, verwarf diesen aber wieder, da ich nicht über die motorischen Fertigkeiten verfügte. Stattdessen fing ich an, mich auf mich selbst zu konzentrieren. Ich investierte meine Energie in die Fortbildung meiner Kompetenzen, sodass ich im Mai 1986, nicht zuletzt dank meines Psychotherapeuten, diese turbulente Lebensphase überstand und zur Welt kam. Der Rest würde vermutlich ein Kinderspiel werden …

Wie sich bald herausstellte, sollte der Rest meines Lebens doch nicht so einfach vonstatten gehen, wie ich mir das als unbeschwertes Putzerl so ausgemalt hatte. Man sieht es mir vielleicht nicht auf den ersten Blick an, aber ich habe eine harte Kindheit hinter mir. Ich bin quasi in einem echten Problembezirk groß geworden, nämlich im Kraichgau. Das klingt erst einmal komisch, aber der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, Oberderdingen, liegt genau auf der Grenze zwischen Baden und Württemberg. Und wer sich ein bisschen mit lokalen Rivalitäten auskennt, der weiß: Die Gelbfießler und die Sauschwaben, die verstehen sich nicht. Also überhaupt nicht. Das ist ein echtes Krisengebiet. Das volle Programm: Minenfelder, Stacheldraht, Selbstschussanlagen, Experten sprechen vom sogenannten Nahwestkonflikt. Das war schon in meiner Schulzeit so. Auf dem Schulhof regierte der blanke Hass. Meine Mitschüler hatten alle genau die gleichen Sachen an, sie sprachen alle auf die gleiche Weise und hatten alle Nachnamen wie „Häge“, „Hertle“, „Häberle“, „Schäferle“. Ich konnte diese Menschen überhaupt nicht auseinanderhalten, aber aus irgendeinem Grund haben die sich auf den Tod gehasst. Man ist auf den Pausenhof gekommen und es wurden sofort Kinderlieder skandiert: „Ein Baum! Ein Strick! Ein Schwabengenick!!“ So war das damals. Aber für die nächste Geschichte ist eigentlich nur relevant, dass ich – nach schwierigem Start – gegen Ende meiner Schulzeit der Coolste in der Klasse war. Dann habe ich irgendwann das Metier gewechselt – ich war nicht mehr Schüler, sondern Lehrer. Deutschlehrer, um genau zu sein. Zweieinhalb Jahre lang. Und in dieser Zeit war es mir sehr wichtig, weiterhin der Coolste in der Klasse zu sein. Ich fürchte, ich habe nie ganz in meine Rolle als Autoritätsperson reingefunden. Das wurde mir spätestens auf einer Studentenparty bewusst.

Lehrertext

ES IST FREITAGABEND und ich habe mich überreden lassen, auf diese Studentenparty zu gehen, auch wenn ich im Grunde genommen gar kein Student mehr bin und mittlerweile die schummrige Atmosphäre einer Bar mit echten Gläsern den grellen Leuchtstoffröhren und beschrifteten Plastikbechern meines alten Studentenwohnheims vorziehe. Und ich merke schon bald, dass das Ganze eine denkbar schlechte Idee war.

„Du bist echt spießig geworden!“, sagt mein ehemaliger Mitbewohner Mölli, der sich mit seinem vierten angebrochenen Studium, seinen kaum noch voneinander trennbaren Dreadlocks und seinem bald dreizehnjährigen Aufenthalt in Zimmer 702 völlig zurecht für überhaupt nicht spießig hält.

„Wieso spießig?“, frage ich, während ich meinen mitgebrachten Rotwein in meinem mitgebrachten Rotweinglas schwenke und bedächtig daran nippe.

„Na ja! Es ist schon halb zwölf und … früher hättest du um diese Uhrzeit schon vom Balkon gepinkelt, ein Mädchen geküsst, dich mit einem Jurastudenten angelegt und den Feueralarm ausgelöst.“

„Ich lasse es inzwischen halt gelassener angehen“, antworte ich gelassen und schiele missgünstig zu einer Gruppe Unternehmensjuristen, die man unschwer an ihren ordentlich gescheitelten Haaren, den teuren Poloshirts, den bunten Chinohosen und an ihren mitgebrachten Rotweingläsern erkennen kann.

Ich lasse Mölli mal eben Mölli sein und versuche mich unter das Volk zu mischen, wobei ich mein Rotweinglas schuldbewusst gegen eine Dose lauwarmes 5,0 Original-Pils eintausche.

Der DJ ist ein anderer als zu meiner Zeit, die Playlist ist dieselbe. Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass es noch ungefähr eine Stunde dauern wird, bis betrunkene Maschinenbauingenieure sich hinter den PC setzen werden, um David Guetta und die Black Eyed Peas durch die Ärzte und System of a Down zu ersetzen.

Ich gehe so lange auf den Balkon und borge mir eine Zigarette von einem Mädchen, das ein Piercing in der Nase trägt. Als ich sie um Feuer bitte, fragt sie mich weder, ob ich denn wenigstens selber rauchen könne, noch kündigt sie an, dass die Gasrechnung folgen werde. Das finde ich sympathisch.

„Und? Was studierst du eigentlich?“, fragt sie mich, und ich zögere einen kleinen Augenblick.

15 Stunden zuvor:

„Herr Vlachopoulos!“

„Ja, Ferhat?“

„Kann ich kurz aufs Klo?“

„In fünf Minuten ist Pause. Kann das nicht warten?“

„Aber ich muss Groß, Herr Vlachopoulos …“

„Meinetwegen, dann geh halt.“

Als Slampoet habe ich mich immer gefreut, wenn mich Menschen auf der Straße wiedererkannten und auf meine Arbeit ansprachen. In meinen sieben Jahren als Bühnenpoet ist das dreimal passiert. Seit ich Lehrer bin, hat meine Prominenz zumindest in meiner Stadt ein ganz neues Level erreicht.

„Herr Vlachopoulos, isch hab Sie in Fitnesstudio gesehen.“

„Das war ich nicht“, lüge ich.

„Amina koyim, isch hab doch gesagt, der war des nischt.“

„Doch, isch hab Sie auf Hantelbank geseh’n. Sie haben kein Luft mehr gekriegt. Sie hatten genau die gleischen gepunkteten Socken an wie jetzt.“

„Schlagt das Buch auf Seite 72 auf!“, rette ich mich wie immer, und wie immer schlägt niemand das Buch auf Seite 72 auf.

„Welsche Seite sollen wir aufschlagen?“

„72.“

Kurze Pause.

„Äh. Welsches Buch sollen wir aufschlagen?“

„Das Deutschbuch.“

Leerer Blick. Kurze Pause.

„Äh. Was sollen wir machen?“

„Das Deutschbuch aufschlagen. Auf Seite 72.“

Etwas längere Pause.

„Herr Vlachopoulos! Isch hab mein Deutschbuch nisch dabei.“

„Dann guck bei deinem Nachbarn rein!“, sage ich.

Kurzer Augenkontakt mit dem Nachbarn, wieder Pause.

„Herr Vlachopoulos! Isch hass den!“