Ischtar #2
von Abraham Merritt
Der Umfang dieses Buchs entspricht 170 Taschenbuchseiten.
Die letzte Fahrt des Schiffes der Götter
Aus seiner eigenen Zeit und Welt in eine andere Dimension geschleudert, durchquert John Kenton mit dem Schiff der Götter ruhelos die Meere einer fremden Welt.
Sein Schicksal ist eng mit dem der Ischtar-Priesterin Sharane verknüpft, denn sie ist die Frau, die Kenton liebt. Und als Sharane in die Hände Klaneths, des Priesters des Totengottes Nergal, fällt, zögert John Kenton keinen Augenblick, den Kampf um Sharanes Befreiung aufzunehmen.
Schauplatz dieses Kampfes ist die Insel der Zauberer und die Residenz des Königs der zwei Tode.
Dies ist der zweite, abschließende Teil des berühmten Merritt-Romans, der als Markstein der internationalen Fantasy-Literatur gilt. Der erste Teil erschien unter dem Titel SCHIFF DER ISCHTAR.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
Originaltitel: THE SHIP OF ISHTAR – 2. Teil
Aus dem Amerikanischen von Lore Straßl
© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
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Dies ist der zweite und abschließende Teil des berühmten und von der amerikanischen Leserschaft begeistert aufgenommenen Romans The Ship of Ishtar von Abraham Merritt. Es ist eines jener Werke, die nicht altern – weder bisher noch in den kommenden fünfzig Jahren. In derselben Zeitlosigkeit, die das Schiff umgibt, scheint auch das Buch gefangen zu sein – eine Eigenart übrigens fast aller Romane Merritts. Die meisten wurden bis in die siebziger Jahre regelmäßig neu aufgelegt. Unter diesem Aspekt betrachtet, mutet es seltsam an, dass Merritt dem deutschen Leser so lange unbekannt blieb. Lediglich Burn Witch, Burn erschien bisher in deutscher Sprache.
John Kenton, ein Forscher und Abenteurer, erhält von seinem Kollegen Forsyth, dessen Babylon-Expedition er finanziert hat, einen seltsamen Block zugesandt, der wie Stein aussieht, sich jedoch bei näherer Untersuchung als ein künstliches, ihm unbekanntes Material entpuppt. In der babylonischen Inschrift vermag er die Namen Zarpanit und Alusar zu entziffern. Als er sich mit Meißel und Hammer daran zu schaffen macht, zerfällt der Block zu Staub. Vor ihm steht ein goldenes, mit Juwelen besetztes Schiff, auf dem sich kleine Figuren befinden. Es zerfällt in zwei Hälften, ein ebenholzschwarzes Achterdeck und ein elfenbeinweißes Bugdeck. Vertraut mit den alten Legenden weiß er, dass er Ischtars Schiff vor sich hat. Wie hypnotisch, wie magisch, zieht ihn das Schiff an. Sein Zimmer löst sich auf. Er befindet sich plötzlich auf dem Schiff.
Dort wird er Zeuge des übernatürlichen Kampfes zweier Gottheiten, nämlich Nergals, des Totengottes, und Ischtars, der Göttin der Liebe und der Rache. Sie kämpften nicht direkt miteinander, sondern durch Klaneth, den Priester Nergals, und Sharane, die Priesterin Ischtars. Priester und Priesterin verhöhnen einander. Klaneth und seine Akolythen beschwören den Totengott, und eine wallende Schwärze beginnt auf Ischtars Teil des Schiffes überzuquellen. Doch Sharane stößt in Ischtars goldenes Horn, und Ischtars Macht drängt die bedrohliche Schwärze zurück. Die Menschen selbst können eine unsichtbare Barriere in der Mitte des Schiffes nicht überschreiten.
Als Sharane Kenton schließlich wahrnimmt, verschwimmt alles, und Kenton befindet sich wieder in seinem Zimmer.
Diesmal bereitet sich Kenton vor. Er kleidet sich in Gewänder, die er von seinen früheren Forschungsreisen in Persien mitgebracht hatte, darunter auch einen blauen Umhang und eine seltsame Klinge, die beide mit silbernen Schlangen verziert sind.
Als er erneut auf das Schiff stürzt, befindet er sich nahe Sharanes Deckhaus. Sie hält ihn seiner Kleidung wegen für einen Boten Nabus, des Gottes der Weisheit. Sie erzählt ihm die Geschichte des Schiffes.
Zarpanit war einst die Hohepriesterin Ischtars, mit Sharane an ihrer Seite. Alusar war der Hohepriester Nergals. Doch die beiden begingen die Sünde, einander zu lieben und darüber die Götter zu vergessen. Zur Strafe schufen die Götter dieses Schiff und verbannten die beiden darauf. Die unlöschbare Flamme der Liebe sollte ihnen zur ewigen Qual werden, denn eine unsichtbare Mauer trennte sie voneinander. Obwohl Nabu gewarnt hatte, dass die Flamme der Liebe unlöschbar sei, benutzten die Götter ihre Priester für ihre eigene Fehde. Als sie von ihnen Besitz ergriffen und gegeneinander stürmten, war die Flamme so stark, dass Zarpanit und Alusar einander an der Barriere in die Arme fielen und küssten. Sie stürzten tot zu Boden und das Wüten der Götter erfüllte den Kosmos.
Nergal bemächtigte sich des Priesters Klaneth, und Ischtar ihrer Priesterin Sharane. Die Fehde der Götter ging über den Tod der beiden Liebenden hinaus.
Seither segelt das Schiff in der Zeitlosigkeit einer fremden Dimension und ist steter Kampfplatz der Götter.
Erneut wird Kenton in seine eigene Welt zurückgeworfen. Er liebt Sharane und betet zu den Göttern, dass sie ihn wieder auf das Schiff holen mögen.
Diesmal gelangt er auf Nergals Hälfte und gerät in Klaneths Hände. Es kommt zum Kampf. Er wird überwältigt. Gigi, der Trommler, rettet sein Leben. Kenton wird an der Seite des Wikingers Sigurd ans Ruder gekettet. Er gewinnt Sigurds Vertrauen und kann auch Gigi und den Perser Zubran als Freunde gewinnen. Gemeinsam können sie die Herrschaft des schwarzen Priesters brechen, dem allerdings die Flucht über Bord gelingt.
Nun ist Kenton Herr des Schiffes und Sharane sein. Als sie die Statue Nergals ins Meer werfen, verfinstert sich der Himmel und große Blasen steigen aus den Tiefen des Meeres empor, in denen sich schwarzgekleidete Krieger befinden, die über die Wellen auf das Schiff zukommen. Sharane ruft Ischtar zur Hilfe. Wieder steigen Blasen auf, aus denen Mädchen treten. Die Krieger vergessen den Kampf, verschmelzen mit den Mädchen und werden Gischt des Meeres.
Viele Tage segeln sie unbehelligt über den fremden Ozean. Sharane wird Kentons Weib und ihre Liebe scheint so stark wie einst Zarpanits und Alusars.
Dann taucht Klaneths Schiff auf. Während des ungleichen Kampfes gelingt es dem schwarzen Priester, Sharane gefangenzunehmen. Kenton wird erneut in seine Welt zurückgeschleudert. Verzweifelt versucht er auf das Schiff zurückzugelangen. Aber diesmal ist es schwerer. Die Kameraden auf dem Schiff hören seine verzweifelten Rufe. Sie antworten, rufen beschwörend den Namen Sharanes …
„Wolf! Wir fühlen deine Nähe. Komm zu uns, Wolf – Sharane, Sharane!“
Die gespenstischen Umrisse sprangen ihm entgegen, umhüllten ihn, packten ihn, pflückten ihn aus dem Raum!
Und während sie ihn umklammerten, vernahm er das Tosen eines ungeheuren Wirbelsturms, der ihn erfasste und mit sich riss.
Und wieder stand er auf dem Schiff Gigi drückte ihn an seine Brust. Sigurds Hände lagen auf seinen Schultern. Zubran umklammerte, mit dem Arm um Gigis Rücken, Kentons Hände.
„Wolf!“, brüllte Gigi, während Tränen die Furchen seines Gesichts entlang rannen. „Wo warst du? Wo, im Namen aller Götter, bist du nur gewesen?“
„Das ist jetzt nicht mehr wichtig, Gigi!“, schluchzte Kenton. „Ich bin zurück, Gigi! Dem Himmel sei Dank! Ich bin zurück!“
Die Schwäche übermannte Kenton schließlich doch. Die Verwundungen und seine ungeheure Willensanstrengung hatten ihm die letzte Kraft entzogen. Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Diwan in Sharanes Kabine. Sein Verband war erneuert worden. Die drei Männer und vier von Sharanes Mädchen blickten auf ihn herab. Kein Vorwurf war in ihren Mienen zu lesen, nur Neugier, gemischt mit unübersehbarer Ehrfurcht.
„Es muss ein merkwürdiger Ort sein, der dich zu sich zieht, Wolf“, flüsterte Gigi. „Denn schau, die Verletzung quer über meiner Brust ist verheilt, auch Sigurds Schwertwunden sind es – doch deine sind so frisch, als wären sie dir erst vor einem Augenblick geschlagen worden.“
Kenton sah, dass von Gigis hässlicher Verletzung tatsächlich nur eine rote Narbe geblieben war.
„Auch war es eine merkwürdige Art, uns zu verlassen, Blutsbruder“, warf der Wikinger ein.
„Bei Ormuzds Feuer!“, rief der Perser. „Es war genau die richtige Art! Und es war gut so! König Cyrus lehrte uns, dass ein kluger Feldherr weiß, wann er sich zurückziehen muss, um seine Truppen zu retten. Und dein Rückzug, Freund, war meisterhaft! Ohne ihn wären wir jetzt nicht hier, um dich wieder willkommen zu heißen!“
„Es war kein Rückzug!“, flüsterte Kenton schwach. „Es geschah ohne meinen Willen.“
„Nun ja“, der Perser schüttelte ein wenig zweifelnd den Kopf. „Was immer es auch war, es rettete uns auf jeden Fall. Einen Augenblick hielten die Hunde des schwarzen Priesters dich hoch, und einen Herzschlag später wurdest du zum Schatten! Und dann – war auch der Schatten verschwunden!“
„Wie die Meute, die dich gehalten hatte, aufheulte und die Schwänze einzog!“, lachte Zubran. „Und jene, die gegen uns anstürmten, ebenfalls. Zurück auf die Bireme verkrochen sie sich, trotz Klaneths Verwünschungen. Große Furcht erfüllte sie, Kamerad – und ich muss gestehen, einen Augenblick mich ebenfalls. Dann tauchten ihre Ruder ins Wasser und sie brausten davon. Selbst nachdem sie verschwunden waren, konnten wir noch Klaneths Fluchen hören.“
„Sharane“, krächzte Kenton. „Was haben sie mit ihr gemacht? Wohin haben sie sie verschleppt?“
„Nach Emakhtila, auf die Insel der Zauberer, glaube ich“, erwiderte Gigi. „Sie hat nichts zu befürchten, Wolf. Der schwarze Priester will euch beide. Sie zu foltern, ohne dass deine Augen es sehen oder sie zu morden, ohne dass du ihre Qualen miterlebst, wäre keine Rache für Klaneth. Nein, solange du nicht in seinen Händen bist, ist Sharane sicher genug.“
„Vielleicht nicht gerade zufrieden oder glücklich, aber sicher ganz gewiss“, fiel nun auch der Perser ein.
„Drei ihrer Mädchen nahmen sie mit ihr im Netz gefangen“, brummte Sigurd. „Drei töteten sie. Diese vier blieben zurück, als du verschwandest.“
„Sie haben auch Satalu, mein Goldstück“, stöhnte Gigi. „Und dafür wird mir Klaneth bezahlen, wenn ich ihn in die Hände bekomme.“
„Die Hälfte der Sklaven fiel dem Zusammenprall mit der Bireme zum Opfer“, fuhr der Wikinger fort. „Die geborstenen Ruder drangen in ihre Rippen und brachen ihre Rücken. Andere starben später. Der Schwarzhäutige, den wir zum Aufseher machten, ist ein Mann wie nicht so schnell einer! Er kämpfte gegen jene, die zum Ruderdeck heruntersprangen und löschte so manchem das Lebenslicht aus. Aber nun haben wir nur noch acht statt der zweimal sieben Ruderer. Der Nubier sitzt an einem davon – als freier Mann. Sobald wir zu neuen Sklaven kommen, wird er wieder zum Aufseher und er soll seinen Dank erhalten.“
„Ich erinnere mich jetzt“, murmelte Gigi. „An jenem Tag, als ich dich auf Klaneths Deck über die Reling zog, hast du noch aus den Wunden geblutet, die dir Sharanes Mädchen geschlagen hatten. Unsere dagegen waren lange Zeit schon verheilt. Und jetzt bist du wieder mit den alten Wunden da, die noch ganz frisch sind. Wahrhaftig, es muss ein merkwürdiger Ort sein, wohin du gehst, Wolf. Gibt es dort keine Zeit?“
„Es ist eure eigene Welt“, antwortete Kenton. „Die Welt, aus der ihr alle gekommen seid.“
Während sie ihn noch sprachlos anstarrten, sprang er vom Diwan auf.
„Wir müssen nach Emakhtila!“, rief er. „Wir müssen Sharane finden! Sie befreien!“ Da spürte er, wie seine Seite wieder aufriss und das Blut herausquoll. Erschöpft sank er auf den Diwan zurück.
„Nicht ehe deine Wunden verheilt sind!“, sagte Gigi streng und begann, den sich rot färbenden Verband abzunehmen. „Außerdem müssen wir auch das Schiff reparieren und uns neue Rudersklaven beschaffen. Und jetzt bleib ruhig liegen, Wolf. Klaneth wird Sharane nichts antun, solange er noch hofft, auch dich zu bekommen. Dessen bin ich mir ganz sicher. Also mach dir keine unnötigen Sorgen.“
Warten war für Kenton das Schlimmste. Durch seine Verwundungen hier fest gekettet zu sein, während der schwarze Priester – trotz aller gegenteiligen Versicherungen Gigis – sich auf grausame Weise an Sharane rächen mochte! Schon der Gedanke war unerträglich. Hohes Fieber übermannte ihn. Seine Verletzungen waren ernster, als er gedacht hatte. Gigi pflegte ihn aufopfernd.
Allmählich ließ das Fieber nach und während Kenton sich langsam erholte, erzählte er den Freunden von ihrer verlorenen Welt, was alles sich dort in den Jahrhunderten zugetragen hatte, während sie auf dem zeitlosen Ozean segelten. Er berichtete von den modernen Maschinen, von den Kriegen, von Gesetzen und Gebräuchen.
„Keine Langschiffe mehr, die durch die Meere rudern! Keine Wikinger!“, seufzte Sigurd. „Nein, das ist nicht mehr meine Welt. Es ist wohl das beste für Sigurd, Tryggs Sohn, den Rest seiner Tage hier zu leben.“
Der Perser nickte. „Das ist auch keine Welt mehr für mich“, pflichtete er dem Nordmann bei. „Ich möchte dort nicht sein. Mir gefällt eure Art der Kriegsführung nicht, und ich könnte sie auch nicht lieben lernen.“
Selbst Gigi hatte seine Zweifel. „Ich glaube nicht, dass es mir dort gefallen würde“, murmelte er. „Die Sitten und Gebräuche scheinen mir so anders. Und wenn ich bedenke, dass du sogar bereit warst, Ketten und den Tod auf dich zu nehmen, um deiner Welt zu entfliehen und du keine Zeit verschwendest, wieder zu dieser zurückzukehren …“
„Die neuen Götter sind mir zu dumm“, gab Zubran seine Meinung kund. „Sie tun nichts. Bei den Neun Höllen, die Götter hier sind auch nicht gerade, wie ich sie gern hätte, aber zumindest tun sie etwas. Obgleich es vielleicht besser ist, nichts zu tun, als immer wieder die gleichen Dummheiten zu begehen“, murmelte er nachdenklich.
„Ich werde mich auf einer dieser Inseln niederlassen“, erklärte Sigurd, „nachdem wir Kentons Weib befreit und den schwarzen Priester erschlagen haben. Ich werde mir auch eine Gefährtin nehmen, eine starke Walküre, die mir viele Kinder gebiert. Ich werde ihnen beibringen, wie man Schiffe baut und dann machen wir die Meere unsicher wie in den guten alten Zeiten. Skoal den Drachen, die durch Rans Gewässer ziehen, mit den roten Raben auf ihren Segeln und den schwarzen krächzend voraus. Skoal!“
Fragend blickte er Kenton an. „Sag, Blutsbruder, wirst du deine Hütte neben meiner bauen? Und wenn Zubran und Gigi sich Weiber nehmen und Kinder haben und mit denen, die sich uns anschließen werden – bei Odin, wir könnten alle große Jarls in dieser Welt sein!“
„Nein, das ist nicht nach meinem Geschmack“, wehrte der Perser ab. „Schon deshalb nicht, weil es zu lange dauert, starke Söhne großzuziehen, damit sie mit uns kämpfen. Nein, nachdem wir mit Klaneth abgerechnet und Sharane zurückgebracht haben, werde ich nach Emakhtila zurückkehren, wo es genügend Männer gibt, die schon erwachsen sind. Es wäre traurig, wenn ich keine Unzufriedenen finden würde, die zur Rebellion bereit sind. Und sind ihrer nicht genug – nun, was ist leichter, als Unfrieden zu säen? Ich bin ein tüchtiger Krieger, das hat mir König Cyrus selbst gesagt. Mit einer Armee von Unzufriedenen werde ich dieses Priesternest erobern und über Emakhtila herrschen! Danach würde ich dir raten, vorsichtig zu sein, ehe du dich an meine Schiffe wagst, Sigurd!“
So unterhielten sie sich und erzählten Kenton Dinge aus ihrem Leben, die für ihn nicht weniger fremdartig als seine Geschichten für sie waren. Schließlich verheilten auch seine Wunden, bis nur noch rote Narben zurückblieben und Kraft flutete in seine Adern zurück.
Seit vielen Schlafzeiten schon, während er langsam gesundete, waren sie versteckt in einer schwer zugängigen Höhle auf einer der goldenen Inseln vor Anker gelegen. Obgleich sie hier sicher schienen vor Verfolgern oder neugierigen Augen, hatten sie das Schiff ganz nahe an ein Steilufer gebracht, das in unendliche Tiefe abfiel. Die Ruder waren eingezogen. Die fedrigen Zweige der dicht stehenden Bäume hingen weit herab und verdeckten das darunterliegende Schiff.
Als Kenton wieder einmal erwachte, fühlte er sich stark und gesund. Er erhob sich und spazierte zum Steuerruder, neben dem sich Gigi, Sigurd und der Perser auf dem Deck ausgestreckt hatten und sich unterhielten. Zum hundertsten Mal blieb er neben dem eigenartigen Kompass stehen, der dem Rudergänger die Richtung in dieser merkwürdigen Welt finden half, die weder Sonne, Mond und Sterne noch Osten, Westen, Norden oder Süden kannte. In ein Holzgestell war eine silberne Schale eingelassen, die eine klare Kristallscheibe bedeckte. Um den Rand der Schale befanden sich sechzehn rote keilschriftartige Symbole. Eine Nadel hob sich aus der Mitte des scharlachfarbigen Schalengrunds. Von ihr gingen zwei schlangenförmige blaue Zeiger aus. Der größere, das wusste Kenton, wies immer nach Emakhtila, die Insel, zu der – wenn Gigi recht hatte – der schwarze Priester Sharane geschleppt hatte. Der kleinere deutete auf das jeweils nächstgelegene Land.
Zum hundertsten Mal fragte er sich, welche rätselhaften Strömungen sie in dieser pollosen Welt bewegten, welche magnetische Anziehung die verstreuten Inseln auf den kleinen und welche Emakhtila auf den großen Zeiger hatten. Eine stärkere jedenfalls als der Nordpol auf die Kompassnadeln der Erde.
Und während er die Silberschale noch betrachtete, war ihm, als drehe die kleine blaue Schlange sich in ihrem Teich und legte sich parallel mit der größeren, so dass beide auf die Insel der Zauberer deuteten.
„Ein Omen!“, rief er. „Seht doch! Sigurd! Gigi! Zubran! Seht!“
Sie sprangen auf und beugten sich über den Kompass. Aber in dem kurzen Augenblick, der seit seinem Ruf vergangen war, hatte der kleine Zeiger sich wieder bewegt und deutete wie zuvor auf die Insel, an der sie angelegt hatten.
„Ein Omen?“, fragten sie erstaunt. „Was für ein Omen?“
„Beide Zeiger wiesen nach Emakhtila!“, erklärte er ihnen aufgeregt. „Auf Sharane! Sie befindet sich in Gefahr. Es war ein Omen – eine Aufforderung! Wir müssen sofort aufbrechen. Schnell, Gigi, Sigurd, lasst uns ablegen. Wir fahren nach Emakhtila.“
Sie blickten ihn zweifelnd an, dann erneut den Kompass und schließlich einander.
„Ich sage euch doch, ich habe es gesehen!“, versicherte ihnen Kenton ungeduldig. „Es war kein Fieberwahn! Ich bin wieder völlig in Ordnung. Sharane ist in Gefahr! Wir müssen sofort zu ihr!“
„Pssst!“ Gigi hob warnend eine Hand und lauschte intensiv, ehe er durch den Laubvorhang schaute.
„Ein Schiff!“, flüsterte er und zog den Kopf zurück. „Es fährt in die Bucht ein. Die Mädchen sollen Pfeile und Speere bringen. Wir müssen uns bewaffnen – wir alle!“
Sie hörten die gleichmäßigen Bewegungen der Ruder, das Klopfen des Hammers, der den Takt für die Sklaven angab, und Stimmen. Sharanes Mägde standen mit Pfeil und Bogen, mit Speeren und Schwertern am Bug bereit, ihre Schilde vor sich aufgestellt.
Die vier Männer spähten durch das Blätterdickicht. Was war es für ein Schiff? Eines, das Klaneth ausgeschickt hatte? Das nach ihnen suchte?
Durch die schmale Buchteinfahrt zwängte sich eine Galeere. Doppelt so lang wie ihr eigenes Schiff war sie, mit fünfzehn zweifach bemannten Rudern an jeder Seite. Ein Dutzend Männer oder mehr standen am Bug; wie viele weitere sich noch an Bord befanden, war nicht zu erkennen. Die Galeere hielt sich dicht am Ufer. Als sie sich noch etwa fünfzig Meter von den heimlichen Beobachtern entfernt befand, warf ihre Besatzung Enterhaken aus und legte an.
„Gutes Wasser hier, und was wir sonst noch brauchen“, hörten sie einen sagen.
Gigi legte seine Arme um die drei Freunde und zog sie dichter an sich. „Wolf“, flüsterte er. „Jetzt glaube ich an dein Omen. Denn seht, ist das nicht ein neues, besseres sogar? Dort sind die Sklaven, die wir für unsere unbesetzten Ruder brauchen. Und Gold gewiss auch, das wir gut verwenden könnten, wenn wir erst in Emakhtila sind.“
„Sklaven und Gold“, echote Kenton und dann ein wenig sarkastisch, als ein weiteres gutes Dutzend Männer auf das Deck der Galeere trat: „Bleibt nur noch, das Schiff zu erobern.“
„Das wird einfach sein“, flüsterte Zubran überzeugt. „Sie sind völlig arglos. Ein Überraschungsangriff ist der halbe Sieg. Ich habe auch bereits einen Plan. Wir vier schleichen uns am Ufer bis zu ihrem Bug heran. Wenn wir erst so lange fort sind, bis Zala“, er deutete auf eine der Kriegerinnen, „bis zweihundert zählen konnte, sollen die Mädchen ihre Pfeile abschießen und so viele wie nur möglich von jenen am Bug zu treffen versuchen. Dann klettern wir an Bord und fallen über die restlichen her. Aber wenn die Mädchen uns rufen hören, müssen sie sofort den Beschuss einstellen, um nicht uns zu treffen. Wir sorgen schon dafür, dass die am Bug keine Verstärkung erhalten. Ich wette, wir haben das Schiff schneller in unserer Hand, als ich euch meinen Plan erklären konnte.“
„Es gefällt mir nicht, die Männer so kaltblütig zu morden“, warf Kenton ein.
„Bei den Göttern!“, vernahmen sie nun eine Stimme, vermutlich die des Kapitäns der Galeere. „Ich wollte, dieses verfluchte Schiff der Ischtar wäre hier gewesen. Hätten wir dieses Glück gehabt, brauchte wohl keiner von uns mehr Emakhtila zu verlassen. Ihr Götter, wenn wir uns Klaneths Belohnung hätten verdienen können!“
Kentons Gewissensbisse verschwanden. Hier waren die Jäger geradewegs in die Hände der Gejagten gelaufen.
„Dein Plan ist gut, Zubran“, flüsterte er deshalb nun. „Ruf Zala herbei und gib ihr die Anweisungen.“
Als er das getan hatte, kletterten sie über Bord und schlichen im Schutz der bis zum Boden herabhängenden Äste am Ufer entlang. Kenton ließ keinen Blick von der Galeere, die, wenn erst erobert, ihnen helfen mochte, Sharane zurückzugewinnen. Er konnte es kaum erwarten, dass die Mädchen die erste Salve abschossen.
Endlich surrten die Pfeile wie ein Bienenschwarm zum Bug der Galeere. Die Kriegerinnen waren gute Bogenschützen. Von den etwa zwanzig Männern ging die Hälfte getroffen zu Boden, ehe die restlichen wild schreiend Deckung suchten. Kenton brüllte und sprang mit gezogenem Schwert auf das Deck, fast gleichzeitig mit Gigi, der die Keule schwang, und Sigurd und Zubran, deren Klingen sofort Arbeit bekamen. Die überraschten Überlebenden warfen sich auf die Knie und flehten um Gnade. Ein kleiner Trupp, der ihnen vom Heck her zu Hilfe kommen wollte, wurde von einem Pfeilhagel der Kriegerinnen zurückgeworfen. Auch hier winselten die Restlichen um ihr Leben.
Gold fanden sie eine beachtliche Menge, auch sonstige nützliche Dinge, die ihnen im Emakhtila zustatten kommen mochten – Seemannskleidung, wie sie dort üblich war, lange Umhänge, die ihnen helfen würden, sich besser unkenntlich zu machen.
Aber Kenton war dagegen. Es endete damit, dass sie den Kapitän der Galeere verhörten und ihm versprachen, falls er ihre Fragen wahrheitsgetreu beantwortete, sein Leben und das seiner Mannschaft zu schonen, Es gab nicht viel, das er ihnen sagen konnte, doch das wenige genügte bereits, um Kenton aufhorchen zu lassen. Ja, der Priester Nergals, Klaneth hieß er, hatte eine Frau nach Emakhtila gebracht. Er hatte sie in einem Kampf erobert, behauptete er, in einer Seeschlacht, die vielen guten Männern das Leben gekostet hatte. Er hatte nicht erwähnt, wo oder gegen wen diese Schlacht stattgefunden hatte, und seinen Soldaten war es verboten, darüber zu sprechen. Aber trotzdem raunte man bald, dass die Frau die Herrin von Ischtars Schiff gewesen war. Ischtars Priesterinnen verlangten, dass man sie ihnen ausliefere. Doch Klaneth, der über großen Einfluss in Emakhtila verfügte, wehrte sich dagegen. Als Kompromiss ernannte der Rat der Priester sie deshalb zur Priesterin des Gottes Bel, und sie wurde in Bels Haus auf der obersten Stufe des Tempels der Sieben Zonen gebracht.
Diese Frau zeigte sich hin und wieder bei bestimmten Zeremonien zu Ehren des Gottes Bel, doch immer tief verschleiert, erzählte der Kapitän weiter. Aber sie schien wie eine Schlafwandlerin. Die Götter hatten ihr jegliche Erinnerung an ihr früheres Leben genommen, munkelte man. Mehr wusste er nicht, außer, dass Klaneth die Belohnung für die Festnahme von drei von ihnen – er deutete auf Gigi, Zubran und den Wikinger – verdoppelt und auf seine – diesmal zeigte sein Finger auf Kenton – sogar verdreifacht hatte.
Als sie das Verhör beendet hatten, gaben sie ihn und den Rest der Gefangenen frei und jagten sie auf die Insel. Dann winkten sie ihrem Schiff und warteten, bis der Nubier es näher heranbrachte.
„Sie werden hier genügend Wasser und auch zu essen finden“, brummte Gigi. „Jedenfalls waren wir viel gnädiger mit ihnen, als sie mit uns gewesen wären.“
„Jetzt!“, rief Kenton. Er nahm das Ruder und steuerte in die Richtung, auf die der lange blaue Zeiger wies – nach Emakhtila und zu Sharane!