VERLOREN

 

(EIN RILEY PAIGE KRIMI – BAND #10)

 

 

 

B L A K E   P I E R C E

 

 

Blake Pierce

 

Blake Pierce ist die Autorin der Bestseller RILEY PAIGE Krimi Serie, die bisher acht Bücher umfasst. Blake Pierce ist außerdem die Autorin der MACKENZIE WHITE Krimi Serie, bestehend aus bisher fünf Büchern; von der AVERY BLACK Krimi Serie, bestehend aus bisher vier Büchern; und der neuen KERI LOCKE Krimi Serie.

Blake Pierce ist eine begeisterte Leserin und schon ihr ganzes Leben lang ein Fan des Krimi und Thriller Genres. Blake liebt es von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.blakepierceauthor.com und bleiben Sie in Kontakt!

 

Copyright © 2017 Blake Pierce Alle Rechte vorbehalten. Außer durch eine Genehmigung nach dem U.S. Copyright Act von 1976, darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt, in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E-Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit der Autorin respektieren. Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Copyright Umschlagsbild GongTo, genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com

 

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

 

RILEY PAIGE KRIMI SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKÖDERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Book #11)

GEBUNDEN (Book #12)

 

MACKENZIE WHITE KRIMI SERIE

BEVOR ER TÖTET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

BEVOR ER FÜHLT (Band #6)

 

AVERY BLACK KRIMI SERIE

GRUND ZU TÖTEN (Band #1)

GRUND ZU FLÜCHTEN (Band #2)

GRUND ZU VERSTECKEN (Band #3)

GRUND ZU FÜRCHTEN (Band #4)

GRUND ZU RETTEN (Band #5)

 

KERI LOCKE KRIMI SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON LASTER (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

 

 

 

Inhalt

 

PROLOG

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREIZIG

KAPITEL EINUNDDREIßIG

KAPITEL ZWEIUNDDREIßIG

KAPITEL DREIUNDDREIßIG

KAPITEL VIERUNDDREIßIG

KAPITEL FÜNFUNDDREIßIG

KAPITEL SECHSUNDDREIßIG

KAPITEL SIEBENUNDDREIßIG

KAPITEL ACHTUNDDREIßIG

KAPITEL NEUNUNDDREIßIG

KAPITEL VIERZIG

KAPITEL EINUNDVIERZIG

KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG

KAPITEL DREIUNDVIERZIG

KAPITEL VIERENDVIERZIG

KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG

KAPITEL SECHSUNDVIERZIG

KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG

 

 

 

PROLOG

 

Katy Philbin kicherte, als sie vorsichtig die Treppe hinunterstieg.

Hör auf! ermahnte sie sich.

Was war denn überhaupt so lustig?

Wieso kicherte sie überhaupt wie ein kleines Mädchen, statt sich wie die Siebzehnjährige zu betragen, die sie eigentlich war?

Mehr als alles auf der Welt wollte sie sich wie eine ernstzunehmende Erwachsene verhalten.

Immerhin behandelte er sie wie eine Erwachsene. Er hatte sich den ganzen Abend lang mit ihr wie mit einer Erwachsenen unterhalten, sodass sie sich besonderes und respektiert fühlte.

Statt Katy hatte er sie sogar Katherine genannt.

Sie mochte es sehr, wenn er sie Katherine nannte.

Ebenso mochte sie die Erwachsenengetränke, die er ihr den Abend über gemixt hatte—„Mai Tais” hatte er sie genannt, und sie waren so süß, dass sie den Alkohol kaum schmeckte.

Jetzt konnte sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie viele sie getrunken hatte.

War sie etwa betrunken?

Oh, das wäre furchtbar! dachte sie.

Was würde er denn von ihr halten, wenn sie nicht einmal ein paar kalte, süße Drinks vertragen konnte?

Und nun war ihr sehr schwindelig.

Was wenn sie diese Treppen runterfiel?

Sie schaute hinunter auf ihre Füße und fragte sich, warum sie sich nicht so bewegten, wie sie es sollten. Und warum war das Licht hier so gedämpft?

Zu ihrer Beschämung, konnte sie nicht einmal mehr genau sagen, warum sie hier auf dieser hölzernen Treppe stand, die mit jedem Moment länger zu werden schien.

„Wo gehen wir hin?”, fragte sie.

Ihre Worte waren undeutlich und lallend, aber zumindest hatte sie es geschafft mit dem Kichern aufzuhören.

„Hab‘ ich dir doch gesagt”, antwortete er. „Ich möchte dir etwas zeigen.”

Sie schaute sich nach ihm um. Er war irgendwo am Fuße der Treppe, aber noch konnte sie ihn sehen. Eine vereinzelte Lampe warf einen spärlichen Lichtschein auf eine weit entfernte Ecke.

Das Licht aber genügte, um sie daran zu erinnern, wo sie sich befand.

„Oh, stimmt ja”, murmelte sie. „In deinem Keller.”

„Geht es dir gut?”

„Ja”, sagte sie und versuchte sich selbst einzureden, dass es stimmte. „Ich bin gleich unten bei dir.”

Sie zwang ihren Fuß dazu noch eine Stufe hinunterzusteigen.

Sie hörte ihn sagen, „Komm schon, Katy. Das, was ich dir zeigen möchte, ist hier drüben.”

Benommen begriff sie …

Er hat mich Katy genannt.

Nachdem sie einen ganzen Abend lang Katherine gewesen war, fühlte sie sich nun irgendwie enttäuscht.

„Ich brauche nur noch einen Moment”, sagte sie.

Ihr Lallen wurde stärker.

Und aus irgendeinem Grund fand sie das furchtbar lustig.

Sie hörte ihn leise lachen.

„Hast du Spaß, Katy?”, fragte er sie mit dieser angenehmen Stimme—der Stimme, die sie mochte und der sie jahrelang vertraut hatte.

„Die Bessschte”, sagte sie und kicherte wieder.

„Das freut mich.”

Doch nun schien die Welt um sie herum zu schwanken. Sie klammerte sich an das Geländer und sank auf die Stufen.

Er sprach erneut, und seine Stimme klang jetzt ungeduldig.

„Beeil dich, Mädchen. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.”

Katy zog sich hoch in den Stand und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Sein Ton gefiel ihr jetzt gar nicht mehr. Doch konnte sie es ihm verübeln, dass er ungeduldig wurde? Was war denn überhaupt mit ihr los? Warum schaffte sie es diese blöden Treppenstufen nicht hinunter?

Es fiel ihr zunehmend schwer sich darauf zu konzentrieren wo sie war und was sie tat.

Ihr Griff um das Geländer löste sich, und sie plumpste auf die Stufe.

Sie fragte sich erneut—wie viele Drinks hatte sie überhaupt getrunken?

Jetzt erinnerte sie sich.

Zwei.

Nur zwei!

Natürlich hatte sie seit jener schrecklichen Nacht keinen Tropfen mehr angerührt …

Bis heute. Aber doch bloß zwei Drinks.

Für einen Moment lang blieb ihr der Atem weg.

Passiert es wieder?

Sie ermahnte sich streng, nicht albern zu sein.

Sie war sicher und geborgen in der Gegenwart eines Mannes, dem sie ihr Leben lang vertraut hatte.

Und sie benahm sich wie ein Idiot und das war das Letzte, was sie wollte, insbesondere vor ihm, nachdem er so nett zu ihr gewesen war und ihr all diese Drinks angeboten hatte …

Doch jetzt war alles nebelig, verschwommen und dunkel.

Sie fühlte, wie sich eine seltsame Übelkeit in ihren Eingeweiden wand.

„Ich fühle misch nicht sho gut,” sagte sie.

Er antworte nicht, und sehen konnte sie ihn auch nicht.

Sie konnte überhaupt nichts sehen.

„Ich glaube am Beschten—gehe ich jetscht nach Hausche,” sagte sie.

Er sagte immer noch nichts.

Blind streckte sie die Hand aus und griff nach der Luft.

„Hilf mir—von der Treppe—aufschustehen. Hilf mir die Treppe hochschulaufen.”

Sie hörte seine Schritte näherkommen.

Er wird mir helfen, dachte sie.

Warum wurde dann diese schwindelerregende Übelkeit in ihr immer stärker?

„F-f-ahr mich nach Hause”, sagte sie. „Könntescht Du das für mich tun? Bitte?”

Seine Schritte verstummten.

Sie konnte spüren, dass er direkt vor ihr stand, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte.

Aber warum sagte er denn nichts?

Warum tat er nichts, um ihr zu helfen?

Plötzlich verstand sie, was dieses beklemmende Gefühl der Übelkeit in ihr wirklich war.

Angst.

Sie nahm ihren ganzen Willen zusammen, streckte die Hand aus, griff nach dem Geländer, und zog sich hoch auf die Füße.

Ich muss hier weg, dachte sie. Doch sie konnte die Worte nicht aussprechen.

Dann fühlte Katy einen dumpfen Schlag auf den Kopf.

Danach fühlte sie gar nichts mehr.

 

 

KAPITEL EINS

 

Riley Paige kämpfte mit den Tränen. Sie saß in ihrem Büro in Quantico und betrachtete das Foto einer jungen Frau mit einem eingegipsten Knöchel.

Warum tue ich mir das an? fragte sie sich.

Dabei hatte sie gerade genug um die Ohren—insbesondere das BAU Meeting, das in wenigen Minuten beginnen sollte. Riley grauste es vor diesem Meeting, das durchaus ihre Karriere gefährden konnte.

Trotz allem konnte Riley ihren Blick nicht von dem Bild auf ihrem Handy abwenden.

Gemacht hatte sie das Foto von Lucy Vargas im vergangenen Herbst, genau hier vor den Büros der Abteilung für Verhaltensanalyse, kurz BAU. Lucys Knöchel befand sich in einem Gips, aber ihr Lächeln war einfach strahlend, ein umwerfender Kontrast zu ihrer glatten braunen Haut. Damals hatte Lucy sich erst kürzlich bei der Arbeit an ihrem ersten gemeinsamen Fall mit Riley und ihrem Partner Bill Jeffreys verletzt. Doch Lucy hatte hervorragende Arbeit geleistet, und das wussten sowohl sie als auch Riley und Bill. Deswegen hatte Lucy so breit gelächelt.

Das Handy zitterte ein wenig in Rileys Hand.

Lucy war tot—niedergeschossen von einem gestörten Heckenschützen.

Lucy war in Rileys Armen gestorben. Doch Riley war sich bewusst, dass Lucys Tod nicht ihr Verschulden war.

Sie wünschte, Bill käme für sich zu der gleichen Einsicht. Ihr Partner war momentan beurlaubt und in schlechter Verfassung.

Riley erschauderte, als sie sich erinnerte, wie die Sache verlaufen war. Die Situation war unübersichtlich gewesen, und statt auf den Heckenschützen zu schießen, hatte Bill auf einen Unbeteiligten geschossen, der versucht hatte, Lucy zu helfen. Glücklicherweise war der Mann nur leicht verletzt, und niemand gab Bill die Schuld an dem Geschehenen, am wenigsten von allen Riley. Riley hatte ihn noch nie so erlebt, traumatisiert und von Schuld gelähmt. Sie fragte sich, wie bald er wohl wieder arbeiten könnte—ob er je wieder arbeiten könnte.

Riley schnürte es die Kehle zu, als sie sich daran erinnerte, wie sie Lucy in ihren Armen gehalten hatte.

Dir steht noch eine große Karriere bevor”, hatte Riley mit flehender Stimme gesagt. „Bleib jetzt bei uns, Lucy. Bleib bei uns.”

Doch es war hoffnungslos. Lucy hatte zu viel Blut verloren. Riley hatte fühlen können, wie das Leben aus Lucys Körper entrann, bis es versiegte. Jetzt liefen die Tränen ihre Wangen hinab.

Ihre Erinnerungen wurden von einer vertrauten Stimme unterbrochen.

„Agentin Paige …”

Riley schaute auf und sah Sam Flores, den Labortechniker mit der schwarzgerahmten Brille. Er stand in der offenen Tür zu ihrem Büro.

Riley unterdrückte ein Japsen. Hastig wischte sie sich die Tränen weg und legte ihr Handy mit dem Bildschirm nach unten auf ihren Schreibtisch.

Doch Sams besorgter Ausdruck verriet ihr, dass er einen Blick auf das Bild hatte erhaschen können. Das war das Letzte, was sie gewollt hatte.

Zwischen Sam und Lucy hatte sich eine Beziehung angebahnt, und ihr Tod hatte ihn hart getroffen. Er sah immer noch sehr mitgenommen aus.

Jetzt schaute Flores Riley traurig an, aber zu ihrer Erleichterung fragte er nicht, was er da gerade unterbrochen hatte.

Stattdessen sagte er, „Ich bin unterwegs ins Meeting. Kommen Sie?”

Riley nickte und Sam erwiderte ihr Nicken.

„Also, viel Glück, Agentin Paige”, sagte er und setzte seinen Weg fort.

Riley sagte murmelnd zu sich selbst …

„Ja, viel Glück.”

Sam schien zu verstehen, dass sie für dieses Meeting Glück gut gebrauchen konnte.

Es war an der Zeit, sich zusammenzureißen und sich dem zu stellen, was auf sie zukam, was auch immer das sein mochte.

 

*

 

Kurze Zeit später saß Riley im großen Konferenzsaal, umgeben von einer unerwartet großen Zahl an BAU Mitarbeitern, unter ihnen Techniker und Ermittler aus den unterschiedlichsten Kompetenzbereichen. Nicht alle Gesichter kannte sie, und nicht alle schienen ihr freundlich gesinnt.

Jetzt könnte ich wirklich einen Verbündeten gebrauchen, dachte sie.

Sie vermisste Bills Anwesenheit sehr. Sam Flores saß in ihrer Nähe, aber er sah zu niedergeschlagen aus, als dass er ihr eine große Hilfe hätte sein können.

Am ungemütlichsten schaute der leitende Spezialagent Carl Walder, der ihr am Tisch direkt gegenübersaß. Der Mann mit dem babyhaften, sommersprossigen Gesicht schaute ständig zwischen Riley und dem Bericht, der vor ihm lag, hin und her. Mürrisch sagte er, „Agentin Paige, ich versuche zu verstehen, was vor sich geht. Wir gaben Ihrem Gesuch nach, Ihr Haus rund um die Uhr von einem Team von Agenten bewachen zu lassen. Das scheint wohl etwas mit Shane Hatchers neusten Aktivitäten zu tun zu haben, aber ich verstehe die Hintergründe noch nicht so ganz. Klären Sie mich doch bitte auf.”

Riley musst heftig schlucken.

Sie hatte gewusst, dass dieses Meeting sich um ihre Beziehung zu Shane Hatcher, einem ebenso genialen, wie gefährlichen flüchtigen Häftling, drehen würde.

Ebenso war sie sich bewusst, dass eine vollständige und ehrliche Erklärung ihre Karriere beenden würde.

Vielleicht müsste sie sogar ins Gefängnis gehen.

Sie sagte, „Agent Walder, wie Sie wissen, wurde Shane Hatcher zuletzt bei meiner Berghütte in den Appalachen gesichtet.”

Walder nickte und wartete darauf, dass Riley fortfuhr.

Riley wusste, sie musste ihre Worte mit Bedacht wählen. Bis vor kurzem hatten sie und Hatcher eine geheime Abmachung gehabt. Im Gegenzug für seine Unterstützung bei einem Fall, der sie persönlich betroffen hatte, erlaubte Riley Hatcher, sich in der Berghütte zu verstecken, die sie von ihrem Vater geerbt hatte.

Es war ein Pakt mit dem Teufel gewesen, und Riley schämte sich dafür.

Sie fuhr fort, „Wie Sie wissen, entkam Hatcher einem FBI SWAT Team, das meine Hütte umstellt hatte. Ich habe allen Grund zu vermuten, dass er bei mir zuhause auftauchen könnte.”

Walder schielte misstrauisch zu ihr herüber.

„Warum vermuten Sie das?”

„Hatcher ist von mir besessen”, sagte Riley. „Jetzt wo man ihn gesichtet hat, bin ich mir ziemlich sicher, dass er versuchen wird, mich zu erreichen. Sollte es so kommen, hätten die Agenten vor meinem Haus eine gute Chance ihn festzunehmen.”

Innerlich zuckte Riley ein wenig zusammen.

Bestenfalls war es die halbe Wahrheit.

Der wahre Grund, dass sie ihr Haus von Agenten bewacht wissen wollte, war, um sich und ihre Familie zu schützen.

Walder saß dort und trommelte für einen Moment mit seinen Fingern auf der Tischplatte.

„Agentin Paige, Sie sagen, Hatcher sei von Ihnen besessen. Sind Sie sicher, dass es sich nicht um gegenseitige Besessenheit handelt?”

In Riley sträubte sich alles gegen diese Unterstellung.

Sie war erleichtert, als ihr direkter Vorgesetzter, Brent Meredith, sich zu Wort meldete. Meredith machte wie immer einen respekteinflößenden Eindruck mit seinen dunklen, kantigen Gesichtszügen und seinem ernsten Gesichtsausdruck. Doch Rileys Beziehung zu Meredith war immer achtungsvoll, sogar freundlich, gewesen. In schwierigen Zeiten hatte er sich häufig als ihr Verbündeter erwiesen.

Sie hoffte, dass er es auch heute wieder sein würde.

Er sagte, „Direktor Walder, ich denke, Agentin Paige hat ihren Wunsch nach Überwachung ihres Hauses gut begründet. Wenn auch nur die kleinste Möglichkeit besteht, Hatcher seiner gerechten Strafe zuzuführen, dann dürfen wir sie nicht verpassen.”

„Stimmt”, sagte Walder. „Und mich stimmt die Tatsache unzufrieden, dass wir genau wussten, wo er sich aufhielt, und er dennoch entkommen konnte.”

Walder richtete sich in seinem Stuhl auf, fixierte Riley mit seinem Blick, und fragte, „Agentin Paige, haben Sie Hatcher gewarnt, dass das SWAT Team ihn einkesselte?”

Riley konnte jemanden im Raum japsen hören.

Nicht viele würden es wagen, ihr eine solche Frage zu stellen. Doch Riley musste ein Lachen unterdrücken. Das war eine Frage, die sie wahrheitsgemäß beantworten konnte. Es war der Grund, warum sie Hatchers Auftauchen nun befürchten musste.

„Nein, das habe ich nicht”, sagte Riley fest und schaute dabei bestimmt in Walders Augen.

Zunächst senkte Walder seinen Blick. Er wandte sich an Jennifer Roston, eine junge afroamerikanische Frau mit kurzem, glattem Haar, die Riley mit ihren dunklen Augen eindringlich ansah.

„Haben Sie Fragen, Agentin Roston?” fragte er.

Roston sagte einen Moment lang nichts. Riley warte nervös auf ihre Antwort. Roston war mit der Aufgabe betraut worden, Shane Hatcher seiner gerechten Strafe zuzuführen. Roston war neu beim BAU und darauf bedacht, sich zu beweisen. Riley glaubte nicht, dass sie auf die neue Agentin als ihre Verbündete zählen konnte.

Roston hatte während des gesamten Meetings ihren Blick nicht einmal von Riley gelöst.

„Agentin Paige, würde es Sie stören, mir die Art Ihrer Beziehung zu Shane Hatcher noch einmal genau zu erklären?”

In Riley sträubte sich erneut alles.

Sie wollte sagen …

Ja, es stört mich. Es stört mich sogar sehr.

Riley begann Rostons Taktik zu begreifen.

Einige Tage zuvor hatte Roston Riley im selben Raum zu dem exakt selben Thema persönlich befragt.

Jetzt hatte Roston offensichtlich vor, ihr die gleichen Fragen erneut zu stellen, in der Hoffnung, sie verstricke sich in Widersprüche. Roston erwartete, dass Riley unter dem Druck eines so großen Meetings zusammenbrechen würde. Und Riley wusste aus Erfahrung nur zu gut, dass man sie nicht unterschätzen durfte. Roston verstand es, ihr Gegenüber zu manipulieren.

Sag so wenig wie möglich, sagte sie sich. Sei auf der Hut.

 

*

 

Als das Meeting sich auflöste, verließen alle außer Riley den Raum.

Nun, da es vorbei war, fühlte sich Riley zu durcheinander, um aufzustehen. Roston hatte ihr die bekannten Fragen gestellt—zum Beispiel wie oft und auf welche Weise sie mit Hatcher kommuniziert hatte. Sie fragte auch nach dem Tod von Shirley Redding, einer Immobilienmaklerin, die gegen Rileys Willen zu der Hütte gefahren und dort gestorben war. Die Polizei vermutete keinen Hinterhalt, doch Riley war sicher, dass Hatcher sie ermordet hatte, da sie in sein Territorium eingedrungen war. Riley spürte, dass Roston die Wahrheit ebenfalls ahnte.

Riley hatte auf alle Fragen Rostons mit den gleichen Lügen geantwortet und sie sah, dass Roston sichtlich unzufrieden geblieben war.

Es ist noch nicht vorbei, dachte sie erschaudernd. Wie lange würde sie die ganze Wahrheit über Hatcher noch verbergen können?

Doch ein anderer Gedanke bereitete ihr viel mehr Sorgen.

Was würde Shane Hatcher als nächstes tun?

Sie wusste, er fühlte sich aufs übelste verraten, weil sie ihn nicht vor dem SWAT Team gewarnt hatte, das hinter ihm her gewesen war. Tatsächlich hatte er sich extra für alle Welt sichtbar vor der Hütte gezeigt und dem FBI erlaubt, ihn zu umstellen, nur um ihre Loyalität zu testen. Aus Hatchers Sicht hatte sie den Test nicht bestanden.

Sie erinnerte sich an die SMS, die er ihr anschließend geschickt hatte …

 

Du wirst einen Tag erleben, an dem du das bereust. Deine Familie vielleicht nicht mehr.”

 

Sie kannte Hatcher zu gut, um seine Drohung nicht ernst zu nehmen.

Riley saß an dem großen Tisch und ballte voller Angst die Fäuste.

Wie konnte ich es soweit kommen lassen? fragte sie sich.

Warum hatte sie die Beziehung zu Hatcher fortgesetzt, auch nach seinem Ausbruch aus dem Gefängnis?

Eine Aussage Walders hallte in ihrem Kopf wider …

Agentin Paige, Sie sagen, Hatcher sei von Ihnen besessen. Sind Sie sicher, dass es sich nicht um gegenseitige Besessenheit handelt?”

Sich selbst gegenüber konnte sie das Fünkchen Wahrheit, das in Walders Frage lag, nicht abstreiten.

Hatcher faszinierte Riley, seitdem sie ihn zum allerersten Mal in Sing Sing getroffen hatte. Damals hatte sie ihn, den Autodidakten der Kriminologie, um eine Einschätzung gebeten. Jetzt, da er auf der Flucht war, faszinierte er sie umso mehr—faszinierte sie mit seiner Brillanz, seiner Unverfrorenheit, und seiner ungewöhnlichen Neigung zur Loyalität. Es stimmte, Riley spürte eine unheimliche Verbindung—eine Verbindung, die Hatcher auszubauen und zu nutzen wusste. Es war beinahe so, wie Hatcher manchmal gesagt hatte:

Wir sind am Gehirn zusammengewachsen, Riley Paige.”

Riley erschauderte bei dem Gedanken.

Sie hoffte, dass sie die Verbindung endlich gekappt hatte.

Doch hatte sie die Menschen, die sie am meisten liebte, dem Zorn Shane Hatchers ausgesetzt?

Plötzlich hörte Riley eine Stimme hinter sich.

„Agentin Paige …”

Riley drehte sich um und sah, dass Jennifer Roston zurückgekehrt war.

„Ich glaube, Sie und ich sollten noch einmal sprechen”, sagte Roston und setzte sich Riley gegenüber an den Tisch.

Rileys Verstand vernebelte sich vor Angst

Welches Ass hatte Boston noch im Ärmel?

 

 

KAPITEL ZWEI

 

Riley und Jennifer Roston saßen sich im Konferenzraum gegenüber und schauten sich fast eine volle Minute lang schweigend an. Riley konnte die Spannung kaum ertragen.

Endlich sagte Roston, „Ein beeindruckendes Schauspiel, das Sie uns da geboten haben, Agentin Paige.”

Riley fühlte sich ertappt und verärgert.

„Das habe ich nicht nötig”, knurrte sie.

Sie begann sich zu erheben, um zu gehen.

„Nein, gehen Sie nicht”, sagte Roston. „Nicht, ohne gehört zu haben, was mir vorschwebt.”

Mit einem schrägen Lächeln fügte sie hinzu, „Es könnte Sie überraschen.”

Riley glaubte ganz genau zu wissen, was Roston vorhatte.

Sie war fest entschlossen, Riley zu zerstören.

Nichtsdestotrotz blieb Riley sitzen. Was auch immer sich zwischen Roston und ihr anbahnte, es war höchste Zeit es auszutragen. Außerdem war sie neugierig.

Roston sagte, „Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich denke, dass wir einen schlechten Start hatten. Es gab einige Missverständnisse. Ich wollte nie, dass wir uns verfeinden. Bitte glauben Sie mir das. Ich bewundere Sie. Sehr sogar. Ich hatte mich darauf gefreut, am BAU mit Ihnen zusammenzuarbeiten.”

Riley war ein wenig verblüfft. Rostons Gesichtsausdruck und ihrer Stimme nach, schien sie es ernst zu meinen. In Wahrheit hatte alles, was sie über Roston bislang gehört hatte, sie ziemlich beeindruckt. Es hieß, sie hätte an der Polizeischule außergewöhnlich gute Ergebnisse erzielt, und zudem war sie für ihre Polizeiarbeit in Los Angeles bereits ausgezeichnet worden.

Jetzt, da sie ihr gegenübersaß, war Riley von Rostons Auftreten erneut beeindruckt. Die Frau war klein, jedoch drahtig und athletisch, und sie strahlte Energie und Enthusiasmus aus.

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, die neue Agentin mit Lob zu überschütten. Es hatte einfach zu viele Spannungen und Misstrauen zwischen ihnen gegeben.

Nach einer kurzen Pause sagte Roston, „Ich glaube, wir könnten einander nützlich sein. Gerade jetzt. Um genau zu sein, ich bin mir ziemlich sicher, dass wir genau das Gleiche wollen.”

„Das wäre?” fragte Riley.

Roston lächelte und legte ihren Kopf leicht schief.

„Shane Hatchers kriminelle Machenschaften ein für alle Mal zu beenden.”

Riley antwortete nicht. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass Roston absolut Recht hatte. Sie sah Shane Hatcher nicht länger als ihren Verbündeten. Um genau zu sein, war er ein gefährlicher Gegner. Und er musste gestoppt werden, bevor er einem ihrer Liebsten etwas antat. Dafür müsste er gefasst oder getötet werden.

„Fahr fort”, sagte Riley.

Roston stütze ihr Kinn auf ihre Hand und lehnte sich zu Riley.

„Ich habe Einiges zu sagen”, sagte sie. “Ich möchte, dass Sie einfach zuhörst, ohne zu antworten. Sie sollen es weder bestreiten, noch zustimmen. Hören Sie einfach nur zu.”

Riley nickte voller Unbehagen.

„Ihre Beziehung zu Shane Hatcher lief auch nach seinem Ausbruch aus Sing Sing weiter. Sie wurde sogar noch intensiver. Sie hatten mehr als einmal Kontakt—mehrmals, da bin ich mir sicher, manchmal von Angesicht zu Angesicht. Er hat Ihnen bei der Aufklärung von Fällen, jedoch auch bei persönlichen Anliegen geholfen. Ihre Beziehung entwickelte sich zu einer—wie sagt man? Symbiose.”

Riley musste sich sehr zusammenreißen, um nicht zu reagieren.

Alles Gesagte war natürlich absolut wahr.

Roston sprach weiter, „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie von seinem Aufenthalt in Ihrer Hütte wussten. Wahrscheinlich haben Sie dem sogar zugestimmt. Der Tod von Shirley Redding war allerdings kein Unfall. Damit hatten Sie nur nicht gerechnet. Hatcher ist außer Kontrolle geraten und Sie wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben. Doch Sie haben Angst vor ihm. Sie wissen nicht, wie Sie die Verbindung kappen können.”

Zwischen Riley und Roston herrschte nun eine unangenehme Stille. Riley fragte sich, woher sie das alles wusste. Es erschien ihr regelrecht unheimlich. Doch Riley glaubte nicht an die Kunst des Gedankenlesens.

Nein, sie ist einfach eine verdammt gute Ermittlerin, dachte Riley.

Diese junge Agentin war sehr schlau, und ihre Instinkte und ihre Intuition schienen so ausgeprägt zu sein, wie Rileys eigene.

Doch was hatte Roston jetzt vor? Stellte sie ihr eine Falle, um Riley dazu zu bringen, alles, was zwischen ihr und Hatcher vorgefallen war, zuzugeben?

Aus irgendeinem Grund sagte Rileys Bauchgefühl ihr etwas anderes.

Aber sollte sie wirklich wagen, Roston zu vertrauen?

Erneut lächelte Roston geheimnisvoll.

„Agentin Paige, glauben Sie, ich wüsste nicht, wie Sie sich fühlen? Glauben Sie, ich hätte keine Geheimnisse? Glauben Sie, ich hätte mich noch nie bei etwas verrannt, und mich wider besseren Wissens mit jemandem verbündet? Glauben Sie mir, ich weiß genau, womit Sie es zu tun haben. Sie haben etwas gewagt, und manchmal kann man es mit den Regeln nicht so genau nehmen. Sie haben sie also gebrochen. Nicht viele Agenten besitzen Ihren Mut. Ich möchte Ihnen wirklich gerne helfen.”

Ohne zu antworten, studierte Riley Rostons Gesichtsausdruck. Die jüngere Agentin verblüffte sie mit ihrer Aufrichtigkeit.

Riley fühlte, wie sich ihre Mundwinkel zu einem grimmigen Lächeln verzogen. Anscheinend besaß Agentin Roston ebenfalls eine dunkle Seite, genau wie sie selbst.

Roston sagte, „Agentin Paige, als ich Hatchers Fall übernahm, gaben Sie mir Zugang zu allen Dateien, die es zu seinem Fall gab. Außer zu einer mit dem Titel ‚GEDANKEN’. Sie wurde in der Übersicht aufgelistet, ich konnte sie jedoch nicht finden. Sie sagten mir, Sie hätten sie gelöscht. Sie sagten, es hätte sich bloß um einige Stichpunkte und Belanglosigkeiten gehandelt.”

Roston lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und entspannte sich ein wenig.

Doch Riley war alles andere als entspannt. Aus einem voreiligen Impuls heraus hatte sie die Datei mit dem Namen GEDANKEN gelöscht, die eigentlich unerlässliche Informationen zu Hatchers finanziellen Verkettungen enthalten hatte—Beziehungen, die ihm erlaubten, auf freiem Fuß zu bleiben und seine beträchtliche Macht auszuüben.

Roston sagte, „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie nach wie vor im Besitz dieser Datei sind.”

Riley unterdrückte ein panisches Schaudern. Die Wahrheit war, sie besaß eine Kopie der Datei auf einem USB Stick. Sie hatte häufig daran gedacht, die Datei einfach zu löschen, aber irgendwie konnte sie sich nicht dazu bringen. Hatchers Einfluss auf sie war stark gewesen. Vielleicht hatte sie irgendwie geahnt, dass sie diese Information eines Tages noch würde gebrauchen können.

Statt die Datei zu löschen, trug sie sie vor lauter Unentschlossenheit mit sich herum. Der USB Stick befand sich genau in diesem Moment in ihrer Geldbörse.

„Ich bin davon überzeugt, dass diese Datei wichtig ist”, sagte Roston. „Um genau zu sein, ich denke, sie enthält Informationen, die ich brauche, um Hatcher ein für alle Mal wegzusperren. Und das wollen wir beide. Da bin ich mir sicher.”

Riley musste schlucken.

Ich darf nichts sagen, dachte sie.

Aber waren Rostons Worte nicht von einer bestechenden Logik?

Dieser USB Stick könnte ihr sehr wohl helfen, sich aus Shane Hatchers Fängen zu befreien.

Rostons Züge wurden sanfter.

„Agentin Paige, eines verspreche ich Ihnen feierlich. Sollten Sie mir die gewünschte Information geben, wird nie jemand davon erfahren, dass Sie sie je unterschlagen haben. Ich werde niemandem etwas sagen. Niemals.”

Riley spürte, wie ihr Widerstand zusammenbrach.

All ihre Instinkte sagten ihr, dass Roston aufrichtig war.

Ohne etwas zu sagen, griff sie in ihre Geldbörse, nahm den USB Stick heraus und gab ihn der jüngeren Agentin. Rostons Augen weiteten sich, doch sie sagte kein Wort. Sie nickte bloß und steckte den Stick in ihre Tasche

Riley hatte das verzweifelte Bedürfnis, die Stille zu durchbrechen.

„Möchten Sie noch etwas besprechen, Agentin Roston?”

Ihr Gegenüber schmunzelte ein wenig.

„Bitte, nennen Sie mich Jenn. Alle meine Freunde nennen mich so.”

Riley blinzelte unsicher, als sich Roston von ihrem Stuhl erhob.

„Selbstverständlich werde ich mir nicht anmaßen Sie irgendwie anders, als Agentin Paige zu nennen. Solange Sie es wünschen. Doch bitte, nennen Sie mich Jenn. Ich bestehe darauf.”

Roston verließ den Raum und ließ eine sprachlose Riley zurück.

 

*

 

Riley ließ sich in ihrem Büro nieder, um die auf ihrem Schreibtisch liegen gebliebene Arbeit zu erledigen. Immer, wenn sie gerade in keinem Fall ermittelte, schien es, als erwarteten sie eine überwältigende Menge an bürokratischer Eintönigkeit, die bis zu einem erneuten Einsatz nicht nachließ.

Diese Arbeit war immer unangenehm. Doch heute fiel es ihr besonders schwer, sich zu konzentrieren. Sie hatte zunehmend die Befürchtung, dass sie soeben einen fürchterlichen Fehler begangen hatte.

Warum in aller Welt hatte sie soeben die Datei Jennifer Roston gegeben — oder „Jenn”, wie sie jetzt von Riley genannt werden wollte?

Es bedeute nicht mehr und nicht weniger, als zuzugeben sich der versuchten Strafvereitlung schuldig gemacht zu haben.

Warum hatte sie die Datei gerade dieser einen Agentin gezeigt, wo sie es doch niemandem sonst gezeigt hatte? Wie könnte eine ehrgeizige junge Agentin etwas anderes tun, als Rileys Verstoß ihren Vorgesetzten zu melden—vielleicht würde sie direkt zu Carl Walder gehen?

Riley könnte jeder Zeit verhaftet werden.

Warum hatte sie die Datei nicht einfach gelöscht?

Sie hätte sie auch verschwinden lassen können, so wie die Goldkette, die Hatcher ihr gegeben hatte. Die Kette war ein Symbol ihrer Verbindung zu Hatcher gewesen. Sie hatte zudem einen Code enthalten, mit dem sie ihn bei Bedarf hatte kontaktieren können.

Riley hatte sie in einem stürmischen Versuch, sich von ihm zu befreien, weggeschmissen. Doch aus irgendeinem Grund war sie nicht in der Lage gewesen dasselbe mit dem USB Stick zu tun.

Warum?

Die Finanzauskünfte, die er enthielt, reichten in jedem Fall aus, um Hatchers Aktivitäten stark einzuschränken. Vielleicht würde es sogar genügen, um ihn zu stoppen.

Es war ihr ein Rätsel, wie so viele Dinge in ihrer Beziehung zu Hatcher.

Während Riley die Papierstapel auf ihrem Schreibtisch sortierte, klingelte ihr Handy. Es war eine SMS von einer unbekannten Nummer. Riley musste schlucken, als sie las, was da stand.

 

Dachtest Du, das würde mich aufhalten? Alles ist schon in Bewegung. Du kannst nicht behaupten, ich hätte dich nicht gewarnt.

 

Riley fiel das Atmen schwer.

Shane Hatcher, dachte sie.

 

 

KAPITEL DREI

 

Riley starrte auf den Display und Panik stieg in ihr auf.

Es war nicht schwer zu erraten, was passiert war. Sobald sie auseinander gegangen waren, hatte Jenn Roston die Datei geöffnet. Sie hatte gefunden, was es zu entdecken gab, und auch schon erste Schritte eingeleitet, um Hatchers Machenschaften ein Ende zu setzen. Doch in seiner Nachricht verkündete Hatcher beinahe trotzig, dass Jenn keinen Erfolg gehabt hatte.

 

Alles ist schon in Bewegung.

 

Shane Hatcher war immer noch auf freiem Fuß und er war verärgert. Jetzt, wo er weiterhin Zugang zu seinen finanziellen Mitteln hatte, könnte er gefährlicher denn je sein.

Ich muss ihm antworten, dachte sie. Ich muss vernünftig mit ihm reden.

Aber wie? Was könnte sie denn sagen, was ihn nicht noch mehr verärgern würde?

Dann kam ihr der Gedanke, dass Hatcher vielleicht nicht genau verstand, was passierte.

Woher sollte er wissen, dass Roston sein Netzwerk sabotierte, und nicht Riley? Vielleicht könnte sie ihm zumindest das vermitteln.

Ihre Hände zitterten als sie eine Antwort eintippte.

 

Lass es mich erklären.

 

Doch als sie versuchte, die SMS zu senden, wurde sie als „unzustellbar” markiert.

Riley seufzte verzweifelt.

Genau das gleiche war passiert, als sie zum letzten Mal versucht hatte, mit Hatcher zu kommunizieren. Er hatte ihr eine kryptische Nachricht gesendet, und sie dann gemieden. Früher hatte sie mit Hatcher über Videochat, SMS und sogar per Anruf kommuniziert. Doch das war vorbei.

Momentan hatte sie keine Möglichkeit ihn zu erreichen.

Doch er konnte sie noch erreichen.

Der zweite Satz seiner neusten Nachricht war besonders beunruhigend.

 

Du kannst nicht behaupten, ich hätte dich nicht gewarnt.”

 

Riley dachte daran zurück, was er geschriebenen hatte, als sie das letzte Mal miteinander kommuniziert hatten.

 

Du wirst einen Tag erleben, an dem du das bereust. Deine Familie vielleicht nicht mehr.”

 

Riley japste und sagte laut …

„Meine Familie!”

Mit zitternden Händen wählte sie hastig die Nummer von zuhause. Sie hörte es klingeln und klingeln. Dann meldete sich der Anrufbeantworter und sie hörte sich selbst sprechen.

Riley musste mit sich ringen, um nicht zu schreien.

Warum antwortete niemand? Es waren doch Frühjahrsferien. Ihre Kinder hätten zuhause sein müssen. Und wo war Rileys Hausangestellte, Gabriela?

Kurz bevor die Ansage endete, hörte sie die Stimme von Jilly, der Dreizehnjährigen, die Riley gerade zu adoptieren versuchte. Jilly klang außer Atem.

„Hey, tut mir leid, Mom. Gabriela ist zum Supermarkt gegangen. April, Liam und ich haben im Hinterhof Fußball gespielt. Gabriela sollte jeden Moment zurück sein.”

Riley realisierte, dass sie den Atem anhielt. Sie versuchte bewusst, wieder mit dem Atmen anzufangen.

„Ist alles okay?” fragte sie.

„Klar”, sagte Jilly mit einem Schulterzucken. „Was soll schon sein?”

Riley hatte Schwierigkeiten, sich zu beruhigen.

„Jilly, könntest du bitte für mich einen Blick aus dem Fenster zur Straße werfen?”

„OK”, sagte Jilly.

Riley hörte Schritte.

„Ich schaue jetzt raus,” sagte Jilly.

„Ist der Mannschaftswagen des FBI noch da?”

„Ja. Auch der andere, in der Allee. Ich habe ihn gerade vom Hinterhof aus gesehen. Falls dieser Shane Hatcher hier auftaucht, werden die ihn sicher festnehmen. Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Du machst mir irgendwie Angst.”

Riley zwang sich zu einem Lachen.

„Nein, alles ist gut. Ich verhalte mich bloß—wie eine Mutter.”

„Okay. Bis später.”

Sie hatten aufgelegt, doch in Riley schwellte immer noch ein ungutes Gefühl. Sie ging den Flur hinunter und direkt zu Brent Meredith Büro.

Sie stammelte: „Sir, ich—ich muss mir den Rest des Tages freinehmen.”

Meredith schaute von seiner Arbeit auf.

„Darf ich fragen wieso, Agentin Paige?” fragte er.

Riley öffnete den Mund, doch es kamen kein Wort heraus. Wenn sie ihm erklärte, dass sie soeben eine Drohung von Shane Hatcher erhalten hatte, würde er nicht darauf bestehen, die Nachrichten zu sehen? Wie könnte sie ihm diese zeigen, ohne zuzugeben, dass sie gerade die Datei an Jenn Roston übergeben hatte?

Meredith sah nun besorgt aus. Er schein zu wissen, dass etwas nicht in Ordnung war, und dass Riley darüber nicht reden konnte.

„Gehen Sie”, sagte er. „Ich hoffe, alles ist in Ordnung.”

Riley hatte das Gefühl, ihr Herz zerspringt vor Dankbarkeit für Merediths Verständnis und Diskretion in Tausend Stücke.

„Ich danke Ihnen”, sagte sie.

Dann verließ sie eilig das Gebäude, stieg in ihr Auto und fuhr nach Hause.

 

*

 

Als sie sich ihrem Haus in einer ruhigen Gegend von Fredericksburg näherte, stellte sie erleichtert fest, dass der Mannschaftswagen des FBIs tatsächlich noch da war. Riley wusste, dass ein weiterer Wagen in der Allee hinter dem Haus stationiert war. Obwohl unmarkiert, waren die Fahrzeuge alles andere als unauffällig. Doch daran konnte man nichts ändern.

Riley parkte ihr Auto in der Auffahrt, lief zum Mannschaftswagen hinüber und schaute durch das offene Beifahrerfenster hinein.

Auf den Vordersitzen saßen zwei junge Agenten—Craig Huang und Bud Wigton. Rileys Laune besserte sich ein wenig. Sie hatte von beiden Agenten eine hohe Meinung, und mit Huang hatte sie in letzter Zeit des Öfteren zusammengearbeitet. Als er neu ans BAU kam, war Huang zunächst für Rileys Geschmack ein bisschen zu draufgängerisch gewesen, doch in kürzester Zeit war er zu einem exzellenten Agenten herangewachsen. Wigton kannte sie nicht so gut, doch er hatte einen ausgezeichneten Ruf.

„Irgendetwas los?” fragte Riley die beiden durch das offene Fenster.

„Absolut gar nichts”, sagte Huang.

Huang klang gelangweilt, doch Riley fühlte sich erleichtert. Was sie betraf, waren keine Neuigkeiten definitiv gute Neuigkeiten. Doch war es zu schön, um wahr zu sein?

„Stört es Sie, wenn ich mich mal im Inneren umschaue?” fragte Riley.

„Seien Sie unser Gast”, sagte Huang.

Die Schiebetür des fensterlosen Kastenwagens öffnete sich, und Riley trat ein. Im Inneren des Vans traf sie auf Grace Lochner, eine weitere Agentin, die wie Riley wusste, am BAU ebenso einen ausgezeichneten Ruf hatte. Lochner saß vor einer Ansammlung von Bildschirmen. Mit einem Lächeln drehte sie sich zu Riley um.

„Was machen Sie hier so?” fragte Riley.

Lochner zeigte auf einige Bildschirme, die Luftbilder der näheren Umgebung anzeigten und schien begeistert, die ihr zu Verfügung stehende Technik vorzuführen. Sie sagte, „Das sind live Satellitenbilder, die innerhalb einer Meile jeden zeigen, der kommt oder geht. Niemand nähert sich uns, ohne dass wir es bemerken.”

Lochner fügte lachend hinzu, „Ich bin froh, dass Sie in einer ruhigen Gegend wohnen. So gibt es nicht so viel, auf das wir achten müssten.”

Sie zeigte auf einige weitere Bildschirme, die Straßenansichten zeigten.

Sie sagte, „Wir haben in der Nachbarschaft Kameras versteckt, um genauer überwachen zu können, was vor sich geht. So können wir die Kennzeichen aller Fahrzeuge überprüfen, die sich uns nähern.”

Es knackte und aus der Gegensprechanlage ertönte eine Stimme.

„Habt ihr Besuch?”

Lochner antwortete, „Agentin Paige ist vorbeigekommen, um Hallo zu sagen.”

Die Stimme sagte, „Hallo, Agentin Paige. Hier spricht Agent Cole, aus dem Fahrzeug, das hinter Ihrem Haus stationiert ist. Die Agenten Cypher und Hahn sind auch bei mir.”

Riley lächelte. Das waren alles bekannte Namen von angesehenen Agenten.

Riley sagte, „Ich bin froh, Sie an Bord zu haben.”

„Machen wir doch gern,” sagte Agent Cole.

Riley war von der reibungslosen Kommunikation zwischen den beiden Fahrzeugen beeindruckt. Sie konnte den Kastenwagen hinter ihrem Haus auf einigen von Lochners Bildschirmen erkennen. Offensichtlich konnte keinem der beiden Teams etwas passieren, ohne dass die anderen augenblicklich davon erfuhren.

Auch mit dem vorhandenen Waffenarsenal an Bord des Wagens war Riley zufrieden. Das Team verfügte über genügend Waffengewalt, um notfalls eine kleine Armee abzuwehren.

Doch fragte sie sich immer noch—reichte es, um Shane Hatcher aufzuhalten? Sie verließ das Fahrzeug, lief auf ihr Haus zu und sagte sich, dass es keinen Grund gäbe, sich zu sorgen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass selbst ein Shane Hatcher solch ein hohes Sicherheitsniveau umgehen könnte. Dennoch, sie konnte nicht aufhören an die SMS zu denken, die sie vorhin erhalten hatte.

 „Du kannst nicht behaupten, ich hätte dich nicht gewarnt.”

 

 

KAPITEL VIER

 

Als Riley ihr Haus betrat, erschien ihr die Stille, die dort herrschte, unheimlich.

„Ich bin zuhause”, rief sie.

Niemand antwortete.

Wo sind denn alle? Ihre Sorge schlug in Panik um.

War es möglich, dass Shane Hatcher sich an den Sicherheitsvorkehrungen vorbeigeschlichen hatte?

Riley fiel es schwer, nicht daran zu denken, was passiert sein könnte, wenn dem so wäre. Ihr Puls und ihr Atem beschleunigen sich als sie ins Wohnzimmer stürmte.

Alle drei Kinder—April, Liam, und Jilly—waren dort. April und Liam spielten Schach und Jilly ein Videospiel.

„Habt ihr mich gar nicht gehört?” fragte sie.

Alle drei schauten sie mit leerem Blick an. Offensichtlich waren sie alle in ihre Beschäftigungen vertieft.

Sie wollte gerade fragen, wo Gabriela war, als sie die Stimme ihrer Haushaltshilfe hinter sich hörte

„Sind Sie zuhause, Señora Riley? Ich war unten und dachte, ich hörte Sie nach Hause kommen.”

Riley lächelte die kräftige Frau aus Guatemala an.

„Ja, ich bin gerade erst zur Tür reingekommen”, sagte sie, und das Atmen schien ihr schon leichter.

Mit einem begrüßenden Nicken und einem Lächeln drehte sich Gabriela auf dem Absatz um und lief in Richtung Küche.

April blickte von ihrem Spiel mit Liam auf.

„Ist alles okay, Mom? Du siehst irgendwie beunruhigt aus.”

„Mir geht es gut”, sagte Riley.

April widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiel.

Riley staunte für einen Moment, wie erwachsen ihre fünfzehnjährige Tochter wirkte. April war schmal, groß und dunkelhaarig, und sie hatte Rileys nussbraune Augen. In den letzten Monaten hatte April mehr lebensbedrohliche Gefahren überstanden, als andere Menschen in ihrem ganzen Leben. Dennoch schien es ihr momentan sehr gut zu gehen.

Riley schaute zu Jilly hinüber, einem kleineren Mädchen mit olivfarbener Haut und großen dunklen Augen. Riley war dabei, sie zu adoptieren. In diesem Moment saß Jilly vor einem großen Bildschirm und jagte Bösewichte in die Luft. Riley runzelte ein wenig die Stirn. Sie mochte keine gewalttätigen Videospiele. Ihrem Verständnis nach stellen sie Gewalt, insbesondere Schießereien, sowohl zu attraktiv, als auch zu sauber dar. Sie glaubte, dass sie insbesondere auf Jungs einen schlechten Einfluss ausübten.

Dennoch vermutete Riley, dass diese Spiele im Vergleich zu Jillys persönlichen Erfahrungen eher harmlos waren.  Immerhin hatte diese Dreizehnjährige sehr reale Schrecken überlebt. Als Riley Jilly fand, hatte sie aus lauter Verzweiflung versucht, ihren Körper zu verkaufen. Dank Riley hatte Jilly jetzt die Chance auf ein besseres Leben.

Liam schaute vom Schachbrett auf.

„Hey, Riley. Ich habe mich gefragt …”

Er zögerte bevor er die Frage stellte.

Liam war der Neuzugang im Haus. Riley plante nicht, den großen schlaksigen Jungen mit den roten Haaren und blauen Augen zu adoptieren. Sie hatte ihn allerdings vor seinem betrunkenen Vater gerettet, der ihr verprügelt hatte. Er brauchte einen Platz zum Wohnen.

„Was ist los, Liam?” fragte Riley.

„Wäre es in Ordnung, wenn ich morgen zu einem Schachturnier ginge?”

„Darf ich auch gehen?” fragte April.

Riley musste erneut lächeln. Liam und April waren miteinander ausgegangen als Liam hier unten in das Wohnzimmer gezogen war, doch sie hatten ihr versprochen, die Beziehung bis auf weiteres zu beenden. Sie sollten hermanos solamente sein, wie Gabriela es ausdrückte— Geschwister, sonst nichts.

Riley mochte Liam, auch wegen des positiven Einflusses, den dieser kluge Junge auf April hatte. Er hatte Aprils Interesse an Schach, Fremdsprachen und Schularbeiten im Allgemeinen geweckt.

„Natürlich, ihr dürft beide gehen.” sagte sie.

Doch schon fühlte sie, wie die Sorge sie wieder einholte. Sie kramte ihr Handy hervor, fand einige Fotos von Shane Hatcher und zeigte sie allen drei Kindern.

„Doch ihr müsst mir versprechen, euch vor Shane Hatcher in Acht zunehmen”, sagte sie. “Ihr habt die Fotos auf euren eigenen Telefonen. Erinnert euch immer genau daran, wie er aussieht. Kontaktiert mich sofort, falls ihr jemanden seht, der ihm auch nur im Entferntesten ähnlichsieht.”

Liam und April schauten Riley überrascht an.

„Das hast du uns alles schon einmal gesagt”, sagte Jilly. „Und diese Bilder haben wir uns auch schon tausend Mal angesehen. Ist irgendetwas passiert?”

Riley zögerte einen Moment. Sie wollte den Kindern keine Angst machen. Doch sie dachte, es sei besser, sei zu warnen.

„Vor einer Weile bekam ich eine Nachricht von Hatcher”, sagte sie. „Es war …”

Sie zögerte erneut.

„Es war eine Drohung. Deswegen möchte ich, dass ihr besonders vorsichtig seid.”

Zu Rileys Überraschung grinste Jilly sie an.

„Bedeute das etwas, dass wir nach den Frühjahrsferien nicht in die Schule müssen?” fragte sie

Riley war verblüfft über Jillys Unbekümmertheit. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, ob Jilly vielleicht recht hatte. Sollte sie die Kinder von der Schule fern halten? Und sollten Liam und April morgen vielleicht doch nicht zu dem Schachturnier gehen?

Bevor sie zu einem Entschluss kommen konnte, sagte April: “Sei nicht dumm, Jilly. Natürlich werden wir weiterhin in die Schule gehen. Wir können doch nicht einfach aufhören, unser Leben weiterzuleben.”

Und während sie sich zu Riley umdrehte, fügte April hinzu, „Er ist keine wirkliche Bedrohung. Selbst ich weiß das. Erinnert ihr euch daran, was im Januar passiert ist?”

Riley erinnerte sich nur zu gut. Hatcher hatte April und Rileys Ex-Mann Ryan vor einem Mörder gerettet, der sich an Riley hatte rächen wollen. Sie erinnerte sich auch daran, wie Shane Hatcher ihr den Mörder gefesselt und geknebelt ausgeliefert hatte, so dass sie nach ihrem Belieben mit ihm verfahren konnte. 

April fuhr fort, „Hatcher würde uns nichts tun. Er hat viel auf sich genommen, um mich zu retten.”

Vielleicht liegt April gar nicht so falsch, dachte Riley. Zumindest was sie und die anderen beiden Kinder betraf. Dennoch war sie froh, dass die FBI Agenten vor dem Haus stationiert waren.

April zuckte mit den Schultern und sagte, „Das Leben geht weiter. Wir müssen alle dort weitermachen, wo wir aufgehört haben.”

Jilly sagte, „Das gilt auch für dich, Mom. Es ist gut, dass du früher nach Hause gekommen bist. So hast du reichlich Zeit, dich für heute Abend fertig zu machen.”

Für eine Sekunde konnte sich Riley nicht erinnern, was Jilly meinte.

Dann kehrte die Erinnerung zurück—heute Abend hatte sie eine Verabredung mit ihrem attraktiven ehemaligen Nachbarn, Blaine Hildreth. Blaine gehörte eines der schönsten Restaurants von Fredericksburg. Der Plan war, dass er vorbeikäme, Riley abholte und sie zu einem wunderbaren Abendessen einlud.

April sprang auf die Füße.

„Hey, das stimmt!” sagte sie. „Komm schon, Mom. Lass uns hoch gehen, dann helfe ich dir, etwas zum Anziehen auszusuchen.”

 

*

 

Später am Abend saß Riley auf der kerzenerleuchteten Veranda von Blaines Restaurant, genoss das wundervolle Wetter, das hervorragende Essen und die charmante Begleitung. Blaine machte wie immer eine gute Figur, als er ihr so gegenüber am Tisch saß. Er war nur wenig jünger als Riley, schlank und fit, mit einem leicht rückläufigen Haaransatz, welcher ihn aber nicht weiter zu stören schien.

Riley fand zudem, dass man sich sehr gut mit ihm unterhalten konnte. Während sie eine vorzügliche Hühnchen-Rosmarin Pasta zum Abendessen aßen, unterhielten sie sich über die jüngsten Vorkommnisse, Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, Reisen und die neusten Ereignisse in Fredericksburg.

Riley war erfreut, dass sich das Gespräch nicht einmal um ihre Arbeit am BAU drehte. Sie war nicht in der Stimmung, auch nur daran zu denken. Blaine schien dies zu spüren, und das Thema zu meiden. Was Riley besonders an ihm mochte war, wie sensibel er auf ihre Stimmung einging.

Tatsächlich gab es wenig, was Riley an Blaine nicht gefiel. Es stimmte, vor einiger Zeit hatten sie eine kleine Auseinandersetzung gehabt. Blaine hatte versucht, Riley mit einer Freundin eifersüchtig zu machen, und es war ihm ein bisschen zu gut gelungen. Jetzt konnten sie beide darüber lachen, wie kindisch sie sich verhalten hatten.

Vielleicht lag es auch am Wein, doch Riley fühlte sich warm und entspannt. Blaine war angenehme Begleitung—frisch geschieden, wie Riley, und drauf bedacht, sein Leben weiterzuleben, auch wenn er nicht ganz wusste, wie.

Endlich kam der Nachtisch—Rileys Lieblingssüßspeise, Himbeer-Cheesecake. Sie musste lächeln, als sie sich daran erinnerte, wie April Blaine vor einer früheren Verabredung heimlich angerufen hatte, um ihn auf Dinge hinzuweisen, die sie mochte, wie Himbeer-Cheesecake und ihr Lieblingslied—„One More Night” von Phil Collins.

Während sie den Cheesecake genoss, sprach Riley von ihren Kindern, vor allem darüber, wie Liam sich eingewöhnte.

„Zuerst habe ich mir etwas Sorgen gemacht”, gab sie zu. “Doch er ist ein furchtbar guter Junge, und wir alle freuen uns, dass er bei uns wohnt.”

Riley hielt einen Moment inne. Es war ein angenehmer Luxus, mit jemandem über ihre familiären Zweifel und Sorgen reden zu können. „Blaine, ich weiß nicht, was ich auf Dauer mit Liam anfangen soll. Ich kann ihn einfach nicht zu diesem versoffenen Kerl von einem Vater zurückschicken und nur Gott weiß, was aus seiner Mutter geworden ist. Doch ich wüsste nicht, wie ich ihn offiziell adoptieren könnte. Jilly aufzunehmen war bisher sehr kompliziert, und es ist noch nichts in trockenen Tüchern. Ich weiß nicht, ob ich das noch einmal durchstehe.”

Blaine lächelte sie voller Zuneigung an.

„Lass die Dinge auf dich zukommen, würde ich sagen,” schlug er vor. „Und was auch immer du tust, für ihn wird es das Beste sein.”

Riley schüttelte traurig ihren Kopf.

„Ich wünschte, ich wäre mir da so sicher”, sagte sie.

Blaine griff über den Tisch nach ihrer Hand.

„Also, ich gebe dir mein Wort”, sagte er. „Was du bisher für Liam und Jilly getan hast, war wunderbar und großzügig. Dafür bewundere ich dich sehr.”