Hundert Facetten der unerschöpflichen Themenvielfalt der Lebenskunst werden hier präsentiert. Das Leben in seiner alltäglichen Banalität kommt zum Vorschein, aber gerade durch seine unscheinbaren Nebenaspekte schimmern die großen Lebensfragen hindurch. Die Balance ist in diesem heillosen Durcheinander, das der Alltag ist, nicht im jeweiligen Moment zu finden, sehr wohl aber durch die Zeit hindurch, im endlosen Hin und Her der Gefühle, der Erfahrungen und Begegnungen.
Vom kleinen Glück der Erkältung, vom Blick in den Spiegel am Morgen, von einem Örtchen, an dem es sehr still ist, von der kulturellen Bedeutung des Wurstsalats, vom Trambahnfahren, von der Kunst des Pfeifens, vom Sinn des Schlittenfahrens, aber auch vom Novembertag am Grab und vielem mehr handeln diese kleinen Texte, die mit leichter Feder geschrieben sind, ursprünglich für die Neue Zürcher Zeitung am Sonntag. Menschlichkeit, Heiterkeit, Ironie und Selbstironie sind ihre Kennzeichen. Der Leser kann sich mit diesem Buch in die Nische eines Cafés zurückziehen und wird sich bei der Lektüre so köstlich amüsieren wie vermutlich der Autor schon beim Schreiben am selben Ort.
Die Kunst der Balance
100 Facetten der Lebenskunst
Insel Verlag
Einbandillustration: René Magritte. Die klaren Ideen, 1958.
© VG Bild-Kunst, Bonn 2004
eBook Insel Verlag Berlin 2012
Originalausgabe
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2005
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus
eISBN 978-3-458-73215-0
www.insel-verlag.de
Vorwort
Frühlingsgefühle: Anschwellende Adern
Wohnen in Gewohnheit · Frühlingsmelodie · Am Anfang ist die Angst · Gestaltung des Gesichts · Askese üben · Beim Ballspielen fürs Leben lernen · Vom kleinen Glück der Erkältung · Mußestunde · Dem Absurden begegnen · Heiterkeit · Hören und Überhören · Immer die Macht · Reiner Zufall · Modernes Leben · Kampf der Kulturen? · Vom Leben in der Zeit · Inseln des Anderen · Warum Krieg? · Krieg mitten in mir · Der künftige Krieg · In der Katastrophe leben · Schallendes Gelächter · Boden gewinnen · Wasser trinken · Frühlingsgefühle
Sommerlandschaften: Mein Capri
Und jetzt mal tief durchatmen · Wo es still ist · Ein Tag im Irrenhaus · Auf Pilgerfahrt · Im Biergarten · Rettet den Wurstsalat! · Eintauchen in den Wald · Abschied von meinem Freund · Auf dem Berg · Heute nacht ins Weltall · Im Orbit · Das Leben schmücken · Sommerlandschaft · Tristesse der Ankunft · Politik der Lebenskunst · Ökologische Lebenskunst · Das Leben ist eben so · Tanzen lernen · Koffer packen, endlich! · Genießen Sie Ihren Urlaub · Irritationen bewältigen · Lob der Langeweile · Rückkehr in die Heimat · Auf dem Fußballplatz · Mein Capri
Herbstliche Gedanken: Wenn die Traurigkeit kommt
Wer jetzt kein Haus hat · Den Morgen riechen · Baden gehen · Der Blick am Morgen · Erkenne dich selbst! · Heute schon geduscht? · Keine Sorge · Ein Moment in der Minutenwelt · Vom Glück der Freundschaft · Darf man sich selbst lieben? · Selbstgespräche führen · Selbstgerechtigkeit? · Ein Kinderspiel · Staunen lernen · Sind Sie krank? · Verletzung! · Erzählen Sie von sich! · Waren Sie beim Friseur? · Suppe essen · Schuhe kaufen · Sacher-Torte genießen · Sich bedienen lassen · Jo mei. Ein Geheimnis · Wenn die Traurigkeit kommt · Novembertag am Grab
Winterliche Welten: Vom Sinn des Schlittenfahrens
In tropischer Hitze · In Hamburger beißen · Die Frage nach dem Sinn · Elektronisches Nomadenleben · Alles in Ordnung bei Ihnen? · Erschöpft, aber glücklich · Eine kleine Aufmerksamkeit · Unser Lebenstram · Gedanken zur Zeit · Geschlürfte Moleküle · Ins Bett gehen · In Büchern zu Hause sein · Haben wir eine Seele? · Endlich weise werden · Wo ist der Schlüssel? · Ist der Mensch frei? · Zauber dieser Zeit · Ganz selbstvergessen · Worauf pfeifen Sie heute? · Kunst des Schenkens · Wozu Weihnachten? · Sehnsucht nach Berührung · Vom Sinn des Schlittenfahrens · Zwischen den Jahren · Viel Glück!
Der Autor
Besteht die Lebenskunst darin, sich das Leben leichter zu machen? Vielleicht, mehr noch aber darin, es sich schwerer zu machen. Wozu? Um es sich leichter zu machen. Kann der missliche Umweg nicht ausgelassen werden? Er kann, aber nur um den Preis, die Fülle des Lebens zu verfehlen. Deren Erfahrung scheint daran gebunden zu sein, Schwierigkeiten zu meistern und Herausforderungen zu bestehen.
Aber es kommt nicht so sehr darauf an, solchen Behauptungen zu folgen, eher darauf, das Leben selbst zu erproben und eigene Erfahrungen zu sammeln. Im Grunde ist Lebenskunst nämlich etwas sehr Einfaches: Das Leben zu leben und Erfahrungen zu machen. Und über die eine oder andere Erfahrung gelegentlich etwas nachzudenken. In dieser Bereitschaft zum Nachdenken liegt der philosophische Aspekt der Lebenskunst – und zugleich ihre mögliche Verfehlung, denn so gabeln sich die Wege: Manche denken wenig nach und blicken stets nur »nach vorn«, Fußballspieler zum Beispiel, mit dem Risiko, dieselben misslichen Erfahrungen immer wieder machen zu müssen. Andere können mit dem Nachdenken kaum noch aufhören, Philosophen zum Beispiel, mit der Gefahr, über all dem Grübeln das Eigentliche zu vergessen: eben zu leben und Erfahrungen zu machen. Irgendwo zwischen Philosoph und Fußballspieler ist der Lebenskünstler angesiedelt, der sich um eine bewusste Lebensführung bemüht, aber der Nachdenklichkeit allein nicht alles zutraut.
Die größte Herausforderung der Lebenskunst besteht darin, in all dem Durcheinander gegensätzlicher und widersprüchlicher Erfahrungen eine Art von Balance zu finden und zu wahren. Lebenskunst ist die Kunst der Balance zwischen Angst und Unerschrockenheit, Beharrlichkeit und Beweglichkeit, Lust und Schmerz, Alleinsein und Zusammensein, Frieden und Krieg, Sinn und Sinnlosigkeit und so vielem mehr. Die Kunst der Balance zielt nicht darauf, die Polarität des Lebens aus der Welt zu schaffen, sondern sie von Grund auf anzuerkennen und mit dem Wechselspiel zwischen den Polen zu leben, und sei es nur in der inneren Haltung, die das »Positive« wie auch das »Negative« zu umgreifen sucht. Nicht dass es eine Norm wäre, die Balance wahren zu müssen. Aber sich auf die Suche nach ihr zu begeben eröffnet einen Weg des Lebens, der als erfüllend erfahren werden kann. Nicht dass in jedem Augenblick die Balance erfahrbar wäre, sehr wohl aber durch die Zeit hindurch, im endlosen Hin und Her der Gefühle, der Erfahrungen und Begegnungen.
Das Tagebuch eigener Versuche dazu sowie einiger Beobachtungen an anderen: Das ist dieses Buch. Als Anstrengung eines Jahres, in der Abfolge der Jahreszeiten erscheint die Suche nach einer Kunst der Balance in diesem Buch: nicht nur, weil eben einige jahreszeitliche Besonderheiten in die Feder geflossen sind, sondern auch, weil in der linearen Zeit der Moderne die Kunst der Balance eines zyklischen Elements bedarf, das nicht so ohne weiteres ins Wanken gerät, und dazu eignet sich besonders die Wahrnehmung der Jahreszeiten. Daher nun also, mit leisem Anklang an ein bekanntes Werk der Musikgeschichte, die »Vier Jahreszeiten« einer philosophischen Lebenskunst. Gepflegt wird damit zugleich die Aufmerksamkeit auf das »Kleinste und Alltäglichste«, wie Nietzsche sie in der Fröhlichen Wissenschaft denen ans Herz legte, die zu Dichtern ihres Lebens werden wollen; oder, wie er in Menschliches, Allzumenschliches formuliert: »Wir müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken.« Denn nie in einem anonymen Sein, immer nur im individuellen Alltag ist das Leben fassbar und erfahrbar. Und gerade durch die scheinbar unscheinbaren Nebenaspekte des Lebens schimmern die großen Lebensfragen hindurch, auf deren endgültige Beantwortung der momentane Lebensvollzug ja doch nicht ewig warten kann.
Hundert Aspekte, hundert Facetten der unerschöpflichen Themenvielfalt der Lebenskunst werden hier präsentiert. Im imaginären Gespräch mit dem Leser sind diese kleinen Stücke entstanden, ursprünglich für die Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, in der seit der ersten Ausgabe 2002 die Kolumne »Lebenskunst« als Bestandteil der »Gesellschaft« erscheint. Die ersten hundert Kolumnen, zwischen 2002 und 2004 publiziert, werden hier gesammelt präsentiert, in veränderter Reihenfolge und auf der Basis der jeweiligen Manuskriptfassung. Sie sind während der Arbeit an einem umfangreichen Buch entstanden, daher auch manche Überschneidung damit.* Einen Rückzugsort hat der Autor, einige Kolumnen verschweigen es nicht, so manches Mal im Café gefunden – nicht nur, um dem Klischeebild vom Lebenskünstler ordnungsgemäß zu entsprechen, sondern auch, weil dieser Ort kreative Bedingungen bietet, die sich auf ideale Weise mit den Notwendigkeiten der Arbeit verbinden lassen, Ort eines kleinen Glücks. Vielleicht auch für den Leser, der sich mit diesem Buch in seine Nische des Lebens zurückzieht und in der Begegnung mit den Ideen eines anderen seinen eigenen Gedanken Raum gibt.
* Wilhelm Schmid, Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, Bibliothek der Lebenskunst, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
Guten Morgen, gut geschlafen? Sind Sie gut aus dem Bett gekommen? Ah, Sie sind ein wenig liegen geblieben. Ich auch, aber das war . . . schwierig, es war ein Experiment, und das kam so: Gerne wollte ich mal einen Tag ganz ohne Gewohnheiten verbringen. Denn Gewohnheiten sind lästig, sie halten uns vom wahren Leben ab, man muss sie hinterfragen, und was wäre einfacher, als sie kurzerhand abzuschaffen. Gewohnheiten sind von gestern, das ist ihre Natur; sie sind starr, während doch in der Moderne nur Flexibilität und Zukunft zählen. Endlich einmal, dachte ich, absolut modern sein, keine alten Hüte mehr, immer alles neu, jeden Tag.
Also machte ich den Sonntag zum ersten Tag der neuen Zeit. Vom Moment des Aufwachens an wollte ich über alles neu entscheiden. Das Problem war nur: Nun kam ich nicht mehr aus dem Bett. Ich überlegte hin und her: Soll ich aufstehen, warum, wofür, mit welchem Fuß, wann, und was dann? Das raubte mir den halben Morgen, und als ich endlich in der Vertikalen war, ging es weiter: Was sollte ich zubereiten, Tee oder Kaffee oder sonst etwas, denn das Gewohnte war ja ausgeschlossen, und als ich die Qual der Wahl wieder durchgestanden hatte, konnte ich mich nicht für eine bestimmte Tasse entscheiden, denn ich habe zwanzig verschiedene, und die eine, die ich so liebe, dass ich aus Versehen schon mal ein Stück davon abbiss, kam nicht in Frage, alles Gewohnheit, alles fragwürdig.
Kurzum, ich kam nicht weiter, ich musste kapitulieren. Und genau das erweist sich als Triumph der Philosophie, die immer danach fragt, was etwas eigentlich ist: Die Gewohnheit, so weiß ich nun, ist eigentlich eine Entlastung von der Entscheidung, die ansonsten pausenlos zu treffen wäre. Nur dadurch, dass ein großer Teil des Lebens wie von selbst abläuft, ohne weiteres Nachdenken, werden die Kräfte frei, sich mit dem Ungewohnten intensiver befassen zu können. Das ist der Sinn der Gewohnheit. Aber das ist noch nicht alles.
So richtig zu Hause bin ich nur dort, wo mir das Leben vertraut ist und wo ich mich geborgen fühle. In den eigenen vier Wänden? Nein, über die verfüge ich auch dort, wo ich fremd bin, etwa im Hotel. Das wahre Wohnen ist ein Wohnen in Gewohnheit. Gewohnheiten sind unverzichtbar, um sich das Leben einzurichten. Gewohnheitshalber sind sie zwar zuweilen auch zu überdenken und aufzubrechen, um eine Umstrukturierung vorzunehmen – die aber nur gelingen kann, wenn sie wiederum in Gewohnheiten niedergelegt wird. Rundum sollten wir ihnen dankbar sein, den Gewohnheiten, wir verdanken ihnen das Leben. So, und jetzt dürfen Sie sich gemütlich in Ihrer Sofaecke zurücklehnen, wie jeden Sonntagmorgen, und in der Zeitung weiter schmökern, ganz wie gewohnt. Ohne jedes schlechte Gewissen.
Haben Sie es schon gehört? Das Lied! Die Töne, so sauber und klar gesungen, reihen sich zauberhaft zu der Melodie, die die ahnungsvolle Melodie des Frühlings ist. So schön, so melancholisch! Wo das zu hören ist? Der Konzertsaal ist überall, der Eintritt ist frei. Die Bühne, von der herab gesungen wird, sind Dächer und Baumwipfel. Dort sitzt einsam die Amsel, und wir sind ihr Publikum.
Aus dem Klangteppich der wieder zum Leben erwachten Spatzen, Finken, Meisen heraus erhebt sich majestätisch die Stimme dieser Solistin unter den Vögeln. Vorzugsweise in den Abendstunden, wenn das lärmende Leben allmählich zur Ruhe kommt, oder früh am Morgen, wenn es noch ruhig ist, setzt der schwarze Vogel sich in Szene. Hoch oben thront er über den Niederungen des menschlichen Lebens. Den gelben Schnabel weit geöffnet, das Köpfchen zum Himmel gereckt, dringen die Töne aus voller Kehle weithin hörbar in die beginnende oder weichende Dämmerung.
Regen kann sie gar nicht beeindrucken, ganz im Gegenteil: Jetzt erst recht triumphiert sie singend über das Grau des Tages, charakteristisch einen vollen Ton vor den anderen setzend, einen Triller zwischendurch, ein Zwitschern. Auch baut sie gerne in ihr Lied ein, was sie in der Umgebung hört, und dies alles so variantenreich, dass schon ganze wissenschaftliche Arbeiten darüber geschrieben worden sind.
So viel schöpferische Musik ist bei den Musikern nicht ohne Antwort geblieben: Richard Strauß hat den Gesang der Amsel in den »Rosenkavalier« eingearbeitet. Cesar Bresgen widmete ihr seine Komposition »Nachruf für eine Amsel«. John Lennon und Paul McCartney schrieben für sie den Song »Blackbird«: »Schwarzer Vogel flieg / Hinein ins Licht der dunklen schwarzen Nacht«. Und die Literaturgeschichte kennt die kleine Erzählung »Die Amsel« von Robert Musil: »Ich bin deine Amsel – sagte er –, kennst du mich nicht?«
»Die« Amsel ist in Wahrheit allerdings der Amselmann, ganz in Schwarz, während das Weibchen, in unscheinbares Braun gekleidet, nicht singt. »Sie« ist die Diva, ich bin ihr stiller Bewunderer. Ihr liege ich zu Füßen, jeden Frühling von Neuem, und ich glaube, sie weiß es und wartet schon auf mich, wenn ich des Weges komme. Dann halte ich inne für einen Moment und bin ganz Ohr für die volltönenden Klänge. Nur eine Angst werde ich nicht los: Dass dieses Lied eines Tages verstummen könnte.
Plötzlich, mitten auf dem Gehsteig, ergreift sie von mir Besitz, irgendwelche Angst, Lebensangst, Weltangst; ich weiß nicht recht, wie mir geschieht. Ein Loch tut sich in mir auf, die Welt um mich herum versinkt zum tristen Nichts. Als ich jemandem davon erzähle, reicht es beim einen zum verständnisvollen Nicken, ein anderer nimmt gleich Reißaus, die Angst ist »negativ«, sie »zieht herunter«. Angst macht einsam.
Und doch lasse ich sie gewähren, wenigstens für einige Zeit, genügen ihr ein paar Tage? Ich will sie nicht überspielen, nicht betäuben, sondern in mich aufnehmen und durchstehen. Denn die Angst, so beängstigend sie ist, erscheint mir wertvoll; ich kann ihr und mir Fragen stellen: Was ist es, das Angst macht; welche Zusammenhänge sind es, in mir selbst und in der Welt, in der ich lebe? Gibt es ein Leben ganz ohne Angst? Was ist Leben? Ich beginne nachzudenken, Informationen zu suchen, Gründe zu finden, Schlüsse zu ziehen, mit anderen darüber zu sprechen; immer weitere Kreise des Lebens kommen dabei ins Blickfeld. Damit aber bin ich mitten drin im Prozess der Bewusstwerdung, auf dem Weg zur bewussten Lebensführung, zur Lebenskunst.
Lebenskunst, das ist ein altes Thema der Philosophie, das neues Interesse auf sich zieht. Die akademische Philosophie der Moderne dachte, darauf verzichten zu können, verstand sich eher als Dienstleisterin der Wissenschaften. Und war es nicht der Traum der Moderne, mit Hilfe von Wissenschaft und darauf beruhender Technik alle Lebensprobleme zu lösen? Noch einmal wird dieser Traum mit Bezug auf die Gentechnologie geträumt, und zugleich ahnen viele schon das Resultat: Einiges wird wahr werden, vieles nicht, und manches wird zum Alptraum werden. Zuletzt werden die Individuen wieder auf sich selbst zurückgeworfen sein. Sie selbst sind es, die mit dem Leben überhaupt und nun auch mit den Folgen von Wissenschaft und Technik fertig werden müssen. Und sich ängstigen. Angst ist, noch vor dem Staunen, der Anfang der Philosophie, des Innehaltens und Nachdenkens. Entscheidend ist, ob die Angst aufgenommen wird, um sich wieder auf das Leben zu besinnen und besser damit zurechtzukommen, seit jeher das Anliegen der philosophischen Lebenskunst, dieser anderen Art von Technik: techne tou bíou im Griechischen, ars vitae, ars vivendi im Lateinischen. An manches aus ihrer Tradition lässt sich anknüpfen, anderes ist neu auszuarbeiten, um Antworten auf die Herausforderungen der Zeit zu finden. Vor allem aber setzt Lebenskunst nicht schon einen fertig ausgebildeten Intellekt voraus. Man braucht dafür kein abgeschlossenes Hochschulstudium.
Die Angst ist, wenn sonst nichts, der Anfang der Lebenskunst, das Ende der Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Leben. Zur Angst sind alle Menschen fähig, und sie kommt zu jedem auch ganz ungefragt. Angst um sich selbst, Angst um das eigene Leben, Angst um das Leben anderer: Die Angst lehrt, was Leben ist, und sie ist erstaunlich gerecht verteilt, erfasst Arme ebenso wie Reiche, diejenigen sogar besonders, die sich gegen alles abgesichert glauben. Und was ist mit denen, die in der Angst unterzugehen drohen? Sie bedürfen des Beistands derer, die die Angst kennen und eine Hilfestellung für andere als Bestandteil ihrer eigenen Lebenskunst verstehen. Ganz so, wie sie selbst die Hilfe anderer zu anderer Zeit gerne in Anspruch nehmen würden.
Lebenskunst? Sich und das eigene Leben selbst gestalten? Wie soll das möglich sein? Wie bei einem Bildhauer, meinte einst der Philosoph Epiktet im 1./2. Jahrhundert n. Chr. – Fragt sich nur, wer hier Bildhauer und wer Skulptur ist. Vielleicht ist »das Leben« selbst der Künstler, und Sie und ich, wir werden planvoll modelliert, mal zärtlich mit Gefühl für die feinen Züge, mal mit harten Schlägen. Ob das Leben wirklich ein Bildhauer ist, wissen wir nicht, aber zuweilen hinterlässt es diesen Eindruck. Nur so ist zu erklären, dass manche Gesichter fein geschnitten oder wie aus Stein gemeißelt erscheinen. Mit dem Handwerkszeug von Erfahrungen, Begegnungen, Sehnsüchten, Enttäuschungen, Schmerzen, Lüsten ist hart an ihnen gearbeitet worden.
Mit seiner plastischen Kraft vermag das Leben die Lippen zu schürzen zu einem vollen Mund oder zu begradigen zu einem feinen Strich. Es biegt die Mundwinkel lächelnd nach oben oder verdrießlich nach unten. Es hebt die Augenbrauen staunend hoch und lässt die Augenlider müde niedersinken. Fältchen und Falten zieht es über die Stirn und gräbt sie im Laufe der Zeit tief ein, je nach Häufigkeit des Gebrauchs der darunter verborgenen Muskeln. Unweigerlich wirken Gewohnheiten über längere Zeit gestaltend auf die äußere Erscheinung, insbesondere auf das Gesicht, die Mimik. Alles Leben zeichnet sich ab im Gesicht, in seiner Zerfurchtheit, auch die Abwesenheit von Leben in seiner Glätte.
Wo bleibt da die Lebenskunst? Sie besteht darin, sich bewusst vom Leben prägen zu lassen, statt dies – ohnehin vergeblich – zu vermeiden. Dieses Geschehenlassen ist jedoch nicht nur eine Passivität: Wir können selbst wählen, mit welchen Menschen wir besonders häufig Umgang pflegen, welche Begegnungen wir vorsätzlich suchen, um uns davon beeinflussen zu lassen. Wir können Situationen gezielt ansteuern, um Erfahrungen zu machen und uns davon gestalten zu lassen. So lassen wir das Leben arbeiten, und auf indirekte Weise werden wir nun doch zu Bildhauern unserer selbst und gestalten unser Gesicht auf verschwiegene Weise, ganz ohne Schminke, Schönheitschirurgie, Gentechnologie oder Klonexperimente. Viele wollen von der Verantwortung für diese Arbeit nichts wissen. Aber wäre es nicht reizvoll, sich für das eigene Gesicht ein wenig verantwortlich zu fühlen? Den »Rest« erledigt das Leben.
Sollen wir, Sie und ich, die anstehende Fastenzeit ausnahmsweise mal ernst nehmen? Also fasten? Aber ist das nicht das Relikt einer vergangenen Zeit, etwas für streng gläubige Menschen? Es könnte auch eine Frage der Gesundheit sein. Irgendwann muss doch all das auch wieder raus, was wir auf die eine oder andere Art in uns »reingefressen« haben. Das Schwerste daran ist der Entschluss dazu. Er fällt leichter in Kombination mit einer, nun ja, Darmvorsorgeuntersuchung, mit dem Fasten gleichsam als Nebenprodukt. Und unter ärztlicher Aufsicht, womit das moderne Sicherheitsbedürfnis befriedigt ist.
Dann der »Entlastungstag«: Nach dem Frühstück nur noch ein leichtes Mittagessen, am Abend eine klare Brühe. Schon am Nachmittag macht sich der Hunger bemerkbar, verbunden mit Tagträumen von großen Kuchenportionen. Die Knie werden weich, Hände und Füße kalt, der Kreislauf schaltet auf »Sparbetrieb« um. Das Hungergefühl ist nur durch riesige Mengen an Flüssigkeit zu stillen. Nie zuvor habe ich so viele Nuancen des Geschmacks von Wasser, Tee und Säften wahrgenommen. Und stündlich weicht der Druck auf den Hosenbund.
Am Tag darauf fühle ich mich körperlich schwach, seelisch unwohl, geistig benommen. Radiogeplärr kann ich nicht mehr ertragen. Alles geht nun deutlich langsamer. Am dritten Tag kommt mir beim Aufstehen ein alter Popsong in den Sinn: »You make me feel brandnew«. Aber es ist noch zu früh dafür. Der Tag gehört der Darmentleerung, und die hat es in sich: Vielleicht hätte ich mir besser eine Gasmaske kaufen sollen, aber eine solche Empfehlung war in keinem der Bücher übers Fasten zu lesen. So schwarz wie das, was meinen Körper verlässt, sind auch meine Gefühle.
Immerhin ist das der Wendepunkt, von da an wird alles leicht. Beglückend ist die Erfahrung, zum Leben nichts weiter zu brauchen als einiges an Flüssigkeit. Die Askese ist eine Übung in der Überwindung seiner selbst, die unglaublich gut tut, wenn sie durchgestanden ist. »Askese zu üben« heißt letztlich, das Üben zu üben. Einmal erlernt, lässt es sich dann auf vieles anwenden. Und werde ich es wieder tun? Auf jeden Fall, schon nächstes Jahr. Aber, um ehrlich zu sein: Ein bisschen freudlos ist es schon, das Leben so ganz ohne Essen. Ein Fest mache ich daraus, sobald die Fastenwoche zu Ende geht. Vielleicht genügt es ja einstweilen, an die Entbehrung auch nur zu denken, um dankbar für jedes Essen zu sein.
Hin und her fliegt der Ball. Kommen Sie, lassen Sie sich herauslocken aus der Wohnung, lassen Sie sich verführen vom frischen Grün da draußen. Wer jetzt am Schreibtisch sitzen bleibt, hat kein Herz. Nur ein wenig Ball spielen miteinander, Fußball, Handball, Federball, nur eine Stunde. Kaum ist der Körper in Bewegung gesetzt, macht es sogar Spaß, und schon ist kein Ende mehr zu finden. Zu spannend ist es, wenn ein Ball einfach nur hin und her gespielt wird. Haben Sie das jemals schon genau beobachtet?
Sie zu mir, ich zu Ihnen: Eine kleine Übung. Wir üben uns darin, auf unvorhergesehene Situationen zu reagieren. Diese Situationen erzeugt einer für den anderen, manchmal in voller Absicht, manchmal nur per Zufall: Der Ball nimmt eine Richtung, die überraschend ist. Es gibt erreichbare Bälle, die sich ohne Mühe zurückspielen lassen. Oder schwer erreichbare, die nur mit einem beherzten Sprung noch einzuholen sind. Oder aber unerreichbare, für die sich keinerlei Anstrengung mehr lohnt. Im Bruchteil einer Sekunde muss ich wissen, mit welchem Typus ich es zu tun habe. Ist es nicht ähnlich im Leben? Ist nicht unentwegt zu unterscheiden, wofür ein Einsatz sich lohnt oder was ganz im Gegenteil rasch »abgehakt« werden kann?
Standardsituationen lassen sich einüben. Durch die stete Übung einer Reihe von Bewegungen verfeinert sich die Technik, und wir lassen den Ball gekonnter fliegen. Die Gewöhnung verlangt nach kreativen Variationen. Tricks kommen ins Spiel, etwa mit einer Körperbewegung anzudeuten, dass der Ball in diese Richtung fliegen wird, während er in Wahrheit jene nimmt. Wäre es nicht besser, sich zu disziplinieren und den Ball immer genau zuzuspielen? Gesagt, getan. Aber nun wird das Spiel langweilig, alles ist völlig berechenbar, man könnte auch Automaten aufstellen, die Pingpong miteinander spielen. Es hat also doch Sinn, sich gegenseitig das Leben ein wenig schwerer zu machen: Die Spannung wächst.