Silke Vry

Die Diebe von Troja

Ein Abenteuer um Heinrich Schliemann

Mit Illustrationen von Peter Knorr und Doro Göbel

Deutscher Taschenbuch Verlag

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41478-4 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71505-8

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Die Mutprobe

Der Verdacht

Verschüttet!

Unerwarteter Besuch

Zeitreise wider Willen

Auf heißer Spur

Keine Spur von Elena

Treffen mit einer Leiche

Das Ende eines Hasenfußes

Anhang

Heinrich Schliemann und Troja

Heinrich Schliemann und Homer

Homers Ilias und Odyssee

Troja oder Ilion

Heinrich Schliemanns Kindheitstraum von Troja

Heinrich Schliemann – ernst zu nehmender Archäologe oder verantwortungsloser Schatzsucher?

Tiryns und Mykene

Homers Troja: Erfindung oder Erinnerung?

Hethiter

Troas

Die Grabungsstätte Hissarlik

Die Troja-Debatte

Der Schatz des Priamos

Griechen und Türken

[Informationen zum Buch]

[Informationen zur Autorin]

Gott sei es gedankt, dass mich der feste Glaube an das Vorhandensein jenes Troja in allen Wechselfällen meiner ereignisreichen Laufbahn nie verlassen hat!

(Heinrich Schliemann)

Die Mutprobe

Uhuuu ...«
Jannis zuckte zusammen.

»Uhuuuuuuuu ...«

Er war sich nicht sicher: War das der Ruf einer echten Eule oder war es das vereinbarte Zeichen? Vorsichtig reckte er seinen Kopf und blickte nach oben. Nein, der Himmel war noch genauso tiefschwarz wie vor Stunden. Stunden? Waren es überhaupt schon Stunden, die er hier unten auf dem Boden des Grabens hockte und auf das Ende, den erfolgreichen Ausgang seiner Mutprobe, wartete? Schwer zu sagen, er hatte mittlerweile jedes Zeitgefühl verloren. Er zitterte. Das Einzige, was er spürte, war die nasse modrige Kälte, die aus den metertiefen Erdwänden rings um ihn herauskroch und seine dünne Baumwollkleidung feucht werden ließ. Er hockte fast vierzehn Meter unterhalb der Erdoberfläche. Mit den Armen umklammerte er ängstlich seine Beine, sein Kinn presste er fest auf die Knie, dennoch klapperten seine Zähne und erzeugten ein seltsames Geräusch. Dazu kam die überraschend tiefe Dunkelheit: Es war Neumond, kein noch so kleiner Lichtschein erhellte den Himmel, einer der Gründe, warum sein älterer Bruder Nikos gerade die heutige Nacht für die Mutprobe ausgewählt hatte. Hier unten schien ihn die totale Finsternis nun endgültig verschlingen zu wollen.

Dabei war Jannis Dunkelheit eigentlich gewohnt, schon oft hatte er sich nachts im Freien aufgehalten, aufhalten müssen, allerdings war sonst immer Nikos bei ihm gewesen. Oder die warmen und weichen Schafe des Vaters, die ihm wohltuende Gesellschaft geleistet hatten. Das hier aber war etwas anderes. Hier unten war er in einer anderen Welt, in einer Art Unterwelt, die nicht mehr zur echten Welt zu gehören schien.

Der Schacht, in dem er saß, gehörte zu einer archäologischen Ausgrabung. Ein seltsamer Kauz, ein deutscher Archäologe, durchwühlte hier zusammen mit den Männern der umliegenden Dörfer den Boden und suchte eine versunkene Stadt. Jannis hatte sich darüber schon oft gewundert, wenn er hier tagsüber mitarbeitete: Wie konnte eine ganze Stadt untergehen? Wie konnten ihre Reste in der Erde versinken und verschwinden?

Er zuckte zusammen. Würde der Erdboden am Ende auch ihn verschlucken? Die Wände des Grabens rückten immer dichter an ihn heran, bald würden sie ihn zerdrücken! Oder bildete er sich das nur ein? Er machte sich so klein wie möglich und presste die Augen zusammen. Noch ein anderer furchtbarer Gedanke durchzuckte seinen Kopf: Wahrscheinlich steckten die Geister der vielen Verstorbenen, der Toten der Vergangenheit, noch in der Erde und waren nun wütend auf ihn, weil sie sich in ihrer Ruhe gestört fühlten, nicht nur tagsüber, wenn rund um ihre Knochen gehackt und gegraben wurde, nun auch noch mitten in der Nacht. Insgeheim verfluchte er seinen großen Bruder und dessen Idee mit der Mutprobe. Ob Nikos geahnt hatte, welch furchtbare Gedanken einem hier unten in den Kopf schossen? Doch der Preis war nicht zu hoch: Wenn Jannis die Mutprobe bestand, durfte sein Bruder ihn nie wieder fowitsiaris – Hasenfuß – nennen oder sonst wegen seiner Ängstlichkeit hänseln. Das war die Vereinbarung. Dafür musste Jannis bis zum ersten Morgenrot am Himmel hier unten ausharren. Das musste er schaffen! Den Vater hatten sie anlügen müssen, damit er keinen Verdacht schöpfte. Sie hätten schon vor Sonnenaufgang auf der Ausgrabung bei Kyrie Schliemann, dem Archäologen, zu tun, hatten sie ihm eingeredet. Er brauche also nicht auf sie zu warten, wenn er bei Tagesanbruch aufbrach, man würde sich direkt auf der Grabung, dem Berg von Hissarlik, treffen. Er hatte es geglaubt.

Jannis streckte seine Hand aus, ging einige Schritte und kontrollierte die Entfernung zur gegenüberliegenden Grabenwand. Er atmete auf, sie schien sich nicht von der Stelle bewegt zu haben. Er fühlte noch einmal. Zum Zeichen dafür, dass er wirklich bis zu der vereinbarten, tiefsten Stelle vorgedrungen war und nicht etwa viel weiter vorne Platz genommen hatte, hatte er einen kleinen hölzernen Nagel, versehen mit den eingeritzten Initialen, den Anfangsbuchstaben seines Namens, JS für Jannis Savvidis, tief in die Erdwand gesteckt. Morgen früh würde Nikos die Stelle kontrollieren und den Beweis dafür finden, wie tapfer sein jüngerer Bruder war.

Jannis tastete die Wand ab. Befand sich der Stab noch an der ursprünglichen Stelle? War er nicht herausgerutscht? Als er vorsichtig mit den Fingern über die Oberfläche der Seitenwand fuhr, wo er das Beweisstück vermutete, rieselte ein wenig Sand auf den Boden. Da, seine Finger verharrten an etwas leicht Hervorstehendem. Der Holznagel? Er musste es sein, Jannis war sich fast sicher, doch er stutzte. Dieser Gegenstand fühlte sich auffallend kühl an und er steckte nicht gerade, sondern schräg in der Wand. Jannis fühlte genauer, sehen konnte er nichts. Er umfasste die rund auslaufende Form und lockerte dann den seltsamen Gegenstand, der ungefähr die Länge eines Unterarmes besaß, aus der Erde. Plötzlich zuckte er zurück. Das, was er in seiner Hand vermutete, war ein Knochen, womöglich der eines Menschen.

Mit einem mühsam unterdrückten Schrei schleuderte er ihn von sich und wischte sich die Hand an seiner feuchten Hose ab. Der Knochen machte ihm Angst. Warum? Was konnte ihm der Knochen eines Toten anhaben? Skorpione konnten ihm gefährlich werden, ja, und auch Anthelions, die kleinen Schlangen, die mit nur einem einzigen Biss einen Menschen töten konnten. Der Knochen aber war harmlos, Schliemann hatte schon viele davon sammeln lassen. Dennoch stand Jannis kalter Schweiß auf der Stirn. Verzweifelt stellte er sich noch einmal auf die Zehenspitzen und blickte hoffnungsvoll nach oben. Doch es war aussichtslos, so weit er sich auch reckte, eine Rotfärbung des Himmels als Zeichen der aufgehenden Sonne konnte er nicht entdecken.

»Uhuu, Uhuuuu ...«

Erneut ertönte der Schrei der Eule. Jannis seufzte. Eine überaus blöde Idee war das von seinem Bruder gewesen, ein zweifaches Uhu! zu rufen, wenn er – aus welchem Grund auch immer – den Graben verlassen sollte. Eulen gab es hier in der Gegend, der Troas, einfach zu viele und sie ließen während der ganzen Nacht ihr ununterbrochenes Geschrei ertönen. Wie konnte Jannis wissen, ob es eine echte Eule war, die den Ruf ausstieß, oder sein Bruder, der in der Nähe des Grabungshauses auf ihn wartete?

Und tatsächlich, schon im nächsten Augenblick hörte er das nächste »Uhu! Uhu!«.

Jannis stutzte. Der Ruf klang anders als zuvor, kurz und atemlos. Er war sich jetzt sicher, so klang keine echte Eule, das konnte nur sein Bruder sein!

Nikos wollte ihn warnen.

Jannis musste hier weg, sofort!

Nur wie? Keiner durfte ihn sehen! Kyrie Schliemann hatte unter Androhung höchster Strafen den Arbeitern verboten, das Grabungsgelände nach Einbruch der Dunkelheit zu betreten. Wer dabei erwischt wurde, hatte nichts zu lachen. Der Verlust der Arbeit, eine Anzeige bei der Polizei und eine saftige Geldstrafe wären die Folge und so sicher wie das Amen in der Kirche.

Aber irgendetwas musste passiert sein, sonst hätte Nikos nicht gerufen.

Vorsichtig tastend setzte sich Jannis in Bewegung. Aber hier, an der tiefsten Stelle des riesigen Grabens, befand er sich in einer Art Sackgasse. Um wieder an die Erdoberfläche zu gelangen, musste er die gesamte, tief in den Hügel gehauene Schlucht in ihrer ganzen Länge zurücklegen, einmal quer die Jahrtausende zurückwandern, um wieder in der Gegenwart zu landen.

Er musste seine Hände zu Hilfe nehmen, um sich an einer der seitlichen Wände vorwärtszutasten. Vorsichtig, fast zaghaft, setzte er einen Schritt vor den anderen. Bei dem Gedanken an weitere Knochen, die womöglich in den Grabenwänden steckten, daraus hervorragten und wie Finger auf ihn zeigten, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken und seine Hände zuckten unwillkürlich zurück.

Plötzlich erstarrte er. Vor ihm flackerte das Licht einer Petroleumlampe, nur wenige Meter entfernt erkannte er im Schein der Flamme zwei menschliche Gestalten, zwei Männer. Sie hatten den Graben betreten und kamen nun langsam und direkt auf ihn zu.

Für ihn gab es kein Entkommen!

Er war gefangen.

Ohne das leiseste Geräusch wich er vorsichtig zurück. Er fühlte sich wie ein Tier in einer Falle, die jeden Augenblick zuzuschnappen drohte. In seiner Angst duckte er sich tief auf den Erdboden, vergaß alle Gefahren, die ihm aus dem Erdreich drohten, und suchte Schutz hinter dem Rest eines kleinen Mauervorsprungs, der aus der Grabenwand herausragte. Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie die beiden dunklen Gestalten immer näher kamen.

»Halt an. Hier irgendwo muss es sein!«, hörte er eine Stimme flüstern. Sie gehörte einem großen, dünnen Mann, der zügig den Graben entlangschritt, in der einen Hand die Lampe haltend und mit der anderen eine große Spitzhacke vor sich herstemmend.

Jannis versuchte, im Schein des Lichtes, das Gesicht des Fremden zu erkennen, doch dessen Kopf war durch ein großes Tuch verhüllt, das nur die Augen und die Nase frei ließ.

»Bist du sicher?«, zischte der andere zurück. Er war klein und dick, hatte eine Schaufel geschultert und auch sein Kopf war mit einem dunklen Stoff umschlungen.

Die beiden blieben stehen und ließen ihr Werkzeug auf den Boden fallen. Der Dünne begann im Schein der Lampe, den Boden und die rechte Seitenwand des Grabens abzutasten.

»Warte! Gleich hab ich’s«, erwiderte er und fing an, Erde aus der Seitenwand zu kratzen. »Seltsam, ich hätte schwören können, dass ich genau hier ... Oder war es doch noch ein Stück weiter?«

Mit ausgestrecktem Arm hob er die Laterne über seinen Kopf und ging einige Schritte weiter in die Richtung, in der Jannis auf dem Boden kauerte und mit angehaltenem Atem flehende Gebete an die Agia Maria – die Muttergottes – und alle möglichen anderen Heiligen ausstieß.

»Kannst du dich vielleicht ein bisschen beeilen? Wir haben nicht ewig Zeit!« Der Dicke wurde sichtlich nervös: »Es dauert nicht mehr lange, bis die Sonne hinter den Hügeln aufgeht und der Muezzin sein Allahu akbar vom Turm der Moschee brüllt. Bevor es von gläubigen Frühaufstehern wimmelt, will ich wieder zu Hause sein. Ich will hier mit heiler Haut rauskommen, ohne gesehen zu werden, und nicht auch noch einen Mord begehen müssen, hast du mich verstanden?«

»Halt doch mal endlich die Klappe!«, entgegnete der andere, der sich bei seiner Suche nicht aus der Ruhe bringen ließ. »Glaubst du, ich bin scharf darauf, die nächsten Jahre im Gefängnis zu verbringen oder mein Leben am Strick zu beenden?«

»Nein, hoffentlich genauso wenig wie ich. Aber hoffentlich läuten schon bald die Glocken, dann ist alles andere vergessen ...«

Jannis verstand nicht, wovon der Dicke redete, aber dessen raues Lachen ließ ihn Schlimmes vermuten. Wenn die zwei Männer ihn hier entdecken würden, wäre das sein Ende, so viel stand fest.

»Was haben wir denn da?«, zischte der andere plötzlich und zeigte mit ausgestreckter Hand auf den Boden vor seinen Füßen.

Jannis erstarrte.

»Da ist es ja! Da liegt das Holzstück doch tatsächlich noch genau an der Stelle, wo ich es hingelegt habe, um die Stelle zu markieren, die wir suchen.«

Zufrieden stellte der Dünne die Lampe auf den Boden, nahm die Spitzhacke, holte schwungvoll aus und begann, mit Wucht ein Loch in die Seitenwand zu hauen.

»Pass doch auf!«, schnauzte der Dicke. »Ich brauche alles unversehrt und nicht mit Beulen, die du blind hineingehauen hast!«

Er stieß den anderen unsanft zur Seite.

»Lass mich mal.«

Jannis beobachtete, wie die beiden Männer vorsichtig mit bloßen Händen an der Wand herumkratzten und immer tiefer in die Erde vordrangen.

Sie hatten eine Weile schweigend nebeneinander gearbeitet, als der Dünne etwas aus dem Erdreich zog. Bei genauem Hinsehen erkannte Jannis, dass es sich um den Rest eines alten Gefäßes, um die riesige Scherbe eines dickwandigen Tonkruges, handelte, in der Art, wie seine Mutter es als Vorratsgefäß in der Küche verwendete.

Der Dünne nahm die flackernde Lampe in die Hand und sah zu, wie der andere mehrere kleine Gegenstände aus dem dahinter entstandenen Loch holte.

»Na, habe ich zu viel versprochen?«, fragte der Dicke und hielt dem anderen mit erwartungsvollem Blick seine prall gefüllten Hände entgegen. Der stieß einen leisen, anerkennenden Pfiff aus, nahm einen der Gegenstände in die Hand und sagte mit gedämpfter Stimme: »Heilige Jungfrau Maria! Nein, du hast nicht übertrieben, reines Gold. Selten habe ich etwas so Schönes gesehen. Diese feinen Arbeiten, die zarten Ketten, die hauchdünnen Schmuckblätter! Das ist der Schmuck einer Königin, ach was, der Schmuck einer Göttin!« Vor Aufregung begannen seine Finger zu zittern: »Das ist genau das, wonach dieser deutsche Archäologe vergeblich sucht! Dieser Schliemann scheint wirklich zu glauben, er könnte einfach hierherkommen, im Boden wühlen und uns um unsere Schätze betrügen.«

Er hielt mehrere goldene Schmuckstücke vor sich und betrachtete sie. Auch Jannis konnte sie im schwachen Schein der Lampe deutlich erkennen. Für einen Moment verwandelte sich seine Angst in unbändige Wut. Wie kamen diese Männer dazu, diesen kostbaren Goldschatz aus dem Boden zu reißen und ihn Kyrie Schliemann zu stehlen? Das Gold gehörte zur Grabung, es gehörte in die alte Stadt, die Schliemann suchte, und damit gehörte es doch eigentlich Schliemann selbst, oder etwa nicht?

»Los«, befahl der Dicke, »pack alles ein!«

Er reichte dem anderen einen Leinensack. Der griff in den Hohlraum und holte mit vollen Händen zahllose goldene Gegenstände daraus hervor. Danach schaufelte er die Erde zurück in das Loch, klopfte alles wieder fest und strich die Erde glatt. Gemeinsam betrachteten die Männer sein Werk. Der Dicke nickte zufrieden.

»Perfekt! Alles sieht aus wie vorher. Niemand wird irgendetwas vermissen oder vermuten, dass wir jemals hier waren! Jetzt aber nichts wie weg!«

Er wollte sich gerade den Beutel über die Schulter werfen, die Hacke nehmen und nach der am Boden stehenden Öllampe greifen, als er plötzlich stutzte.

»Was ist denn das?«, rief er. Er griff an die gegenüberliegende Erdwand. Jannis erstarrte, als er beobachtete, wie der Dicke mit spitzen Fingern den auffällig platzierten Holznagel daraus hervorzog. Wie hatte er bloß so unvorsichtig sein können?

»Schau dir das an.« Der Dicke hielt das Holz in den Schein der Lampe und gemeinsam betrachteten die beiden Männer das unerwartete Fundstück.

»Hier hatte jemand offenbar die gleiche Idee wie wir. Weißt du, was das bedeutet? Jemand weiß von dem Gold und hat sich die Stelle ganz genau markiert. Wie gut, dass wir schneller waren. Und klüger. Sieh mal, dieser Idiot hat nicht nur vergessen, das Gold zu holen, er hat sogar noch seine Unterschrift hinterlassen.« Bei diesen Worten zeigte der Dünne auf die tief und unübersehbar in den Holzstab eingeritzten Buchstaben: JS.

Der andere knurrte unfreundlich: »Vergessen, das Gold zu holen? Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Ich glaube eher, da ist uns jemand ganz dicht auf den Fersen. Lass uns endlich abhauen, sonst sind wir noch die größten Idioten von allen!«

Und während der Dicke mit den Kuppen seiner klobigen Finger über die Kerben in dem hölzernen Stock fuhr, fügte er mit leiser und drohender Stimme hinzu: »JS, wer immer du bist, dich kriegen wir! Und wenn wir dich haben, wirst du dich so fühlen wie nach dem Biss einer Anthelion!«

Daraufhin löschten sie die Lampe, und als sie sich entfernten, hörte Jannis nur noch das leise, eiskalte Lachen des Dicken.

Er hockte wie erstarrt.

Wie nach dem Biss einer Anthelion, hatte der Fremde gesagt ... Der Satz klang in seinen Ohren. Wie nach dem Biss einer Anthelion ...

Nur langsam wurde ihm der Sinn dieser Worte klar. Das war nichts anderes als eine Morddrohung! Wer nämlich von einer solchen Schlange gebissen wurde, musste sterben, würde am folgenden Tag die Sonne nicht mehr aufgehen sehen, wie es der Name dieses gefährlichen Tieres besagte. Jemand wollte ihn lieber tot sehen als lebendig. Die Vorstellung erfüllte ihn mit panischer Angst.

Seit die Männer den Graben verlassen hatten, waren nach Jannis’ Schätzung mehrere Minuten vergangen und es war nichts mehr von ihnen zu sehen oder zu hören.

Zur Sicherheit zählte er leise und langsam bis hundert, »ena, dia tria ...«, dann erhob er sich, so gut es seine eingeschlafenen Arme und Beine erlaubten, aus seiner mehr als unbequemen Position. Tastend machte er sich auf den Weg in Richtung des rettenden Endes des tiefschwarzen Grabens.

Nach einer Weile spürte er, dass der Weg langsam die Erdoberfläche erreichte. Er atmete erleichtert auf. Zitternd vor Kälte und Angst ließ er seinen Blick über das nächtliche Gelände schweifen. Obwohl sich der Himmel noch an keiner Stelle heller färbte, erschien ihm die Nacht hier oben weit weniger undurchdringlich als so tief da unten. Undeutlich konnte er die tiefschwarzen Umrisse einiger Bäume und auch das Grabungshaus des Kyrie Schliemann erkennen, das ruhig und verschlafen dalag. Tief gebückt schlich er vorwärts, mehr krabbelnd als gehend. Noch hatte er das rettende Ziel, den Weg jenseits der Grabung, wo er Nikos vermutete, nicht erreicht. Rund hundert Meter trennten ihn von dieser Stelle.

»Halt!«

Der Klang dieses Wortes ließ ihn erstarren. Er kniff die Augen zusammen und senkte den Kopf. Schreien schien ihm sinnlos und sogar unmöglich, denn jede Faser seines Körpers war wie gelähmt und gehorchte nicht mehr seinem Willen.