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Das einzige, was den Toten von anderen Leichen unterschied, war seine Fähigkeit, immer noch andere Menschen zu töten. Im übrigen schien er eine gewöhnliche Wasserleiche zu sein.
Die häufigste Todesursache am Enaresee ist Ertrinken in Verbindung mit Alkohol. Das große Seensystem an der nordfinnischen Grenze zu Rußland ist ein veritables Anglerparadies, und besonders zur Sommerzeit strömen Angelbegeisterte aus ganz Finnland hier oben zusammen, um das gewaltige Stück unberührter Natur zu genießen. In tragisch vielen Fällen geht dies mit einer feuchtfröhlichen Freizeitbeschäftigung einher, die in seeuntüchtigen Booten tunlichst vermieden werden sollte.
Jedoch war kein Mann entsprechenden Alters als vermißt gemeldet worden, so daß die Polizei in der nächstgelegenen Stadt Ivalo kaum mehr zu tun brauchte, als die Leiche in einem Müllsack zu verstauen, der wegen des Geruchs sorgfältig mit Klebeband verschlossen wurde. Anschließend besorgte das örtliche Bestattungsinstitut gegen feste Gebühr den Transport nach Rovaniemi.
Im Krankenhaus von Rovaniemi wurde die Leiche bis zum Besuch des Gerichtsmediziners, der meist an einem Sonnabend in der Stadt war, in ein Kühlfach gelegt.
Die gerichtsmedizinische Station befindet sich weiter südlich in Uleåborg, und Professor Jorma Lehtinen, der auf seiner gewohnten Runde über Kemi am folgenden Sonnabend in Rovaniemi ankam, erwartete keine besonderen Schwierigkeiten. Er würde nur die Todesursache feststellen und Material für die Identifizierung sichern.
Schon eine erste Inaugenscheinnahme ergab einige nicht ganz unerwartete Hinweise. Die Schwellung der Leiche und der Verwesungsgrad deuteten angesichts der Jahreszeit darauf hin, daß die Leiche einige Monate alt sein konnte.
Die Haut war stellenweise noch vorhanden. Die Zerstörung durch Tiere wies keinen ungewöhnlichen Umfang auf, abgesehen vielleicht von der Tatsache, daß größere Hautpartien an Brust und Bauch von jedem Befall frei waren.
Der Tote war ein Mann von dreißig bis vierzig Jahren mit normalem Körperbau und normaler Muskulatur gewesen. Da Lippen und Wangenfleisch von Fischen und Krebstieren abgefressen worden waren, ließ sich schnell erkennen, was der Pathologe schon vermutet hatte, da in Finnland keine männliche Person als vermißt gemeldet war: Die Zahnplomben waren typisch russisch.
Die Lungen waren unelastisch, und die Atemwege enthielten Wasser. Damit stand fest, daß Ertrinken die direkte Todesursache war; die chemischen Analysen von Blut und Urin würden lange Zeit später erweisen, daß der Mann zum Zeitpunkt seines Todes wider Erwarten nüchtern gewesen war.
Die Tatsache, daß bestimmte Hautpartien an Brust und Bauch von Fischen und anderen Besuchern offenbar verschmäht worden waren, weckte schon bald das Interesse des Obduzenten. Dort fanden sich Spuren von möglichen Verätzungen, worauf für eine spätere toxikologische Analyse Präparate entnommen wurden.
Etwa in diesem Stadium der Untersuchung spürten Professor Lehtinen und sein ortsansässiger Mitarbeiter, den er den »Präparator« nannte, gleichzeitig zunehmende Übelkeit. Das kam beiden sehr merkwürdig vor, und sie begannen laut darüber nachzudenken, ob sie tatsächlich gleichzeitig und an verschiedenen Orten verdorbene Lebensmittel zu sich genommen haben konnten. Keiner der beiden wäre je auf den Gedanken gekommen, die Übelkeit mit der einfachsten Tatsache in Verbindung zu bringen, daß sie hier in den verwesten Überresten eines Menschen herumschnitten. Das war kaum ein Grund, Übelkeit zu empfinden, und schon gar nicht gleichzeitig. Da die Übelkeit sich schnell verschlimmerte, mußten sie das recht bald als Warnsignal auffassen. Ihre Körper schlugen Alarm. Aber wovor warnte ihr biologisches Alarmsystem?
Eine plötzliche Eingebung brachte Professor Jorma Lehtinen dazu, die Leiche schnell zu verpacken, ohne die Arbeit zu Ende zu bringen, und sie in eins der Kühlfächer zurückzubefördern. Anschließend sanierte er in aller Hast den rostfreien Arbeitstisch. Danach verließen die beiden Obduzenten den Raum und baten den diensthabenden Hausmeister, den Obduktionssaal abzuschließen und zu versiegeln.
Die Expertise, die möglicherweise ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigen würde, war an diesem Sonnabend nur noch schwer zu erhalten. Die Männer kamen erst am Sonntagnachmittag und brauchten im Obduktionssaal nur ihre Meßinstrumente einzuschalten, um schnell bestätigen zu können, was folglich die eigentliche Todesursache gewesen war: eine massive radioaktive Strahlendosis.
An den nächsten Tagen kam es zu einer umfassenden und ein wenig von Panik geprägten Tätigkeit. Einmal wurde der Obduktionssaal saniert, zum andern wurden sorgfältigere Messungen durchgeführt, um festzustellen, woher die Strahlung stammte.
Die Antwort war ebenso deprimierend wie erschreckend. Strahlungsquelle war das Element Plutonium.
Plutonium ist ein sehr schweres Element und hat überdies eine Reihe spezifischer Eigenschaften. Es ist eine der tödlichsten Substanzen der Erde. Schon äußerst kleine Mengen, theoretisch schon ein tausendstel Gramm, können einen Menschen töten. Die Halbwertzeit beträgt 24 000 Jahre. Hauptsächlicher Verwendungszweck von Plutonium: Kernwaffen.
Es bestand weder Anlaß noch gab es überhaupt eine praktische Möglichkeit, exakte Berechnungen anzustellen, und die umfassende und heimlich durchgeführte Sanierung der Räume mußte allem anderen vorgehen. Doch es war so gut wie sicher, daß der Tote mit der tödlichen Substanz in direkte Berührung gekommen war. Das erklärte die Brand- oder Ätzspuren an den nicht von Tieren befallenen Teilen der Haut des Toten. Insoweit gab es keine Unklarheiten.
Wo jedoch diese Kontamination stattgefunden hatte, ließ sich nicht feststellen, nur vermuten. Da es im Norden Finnlands keine Kernwaffen und folglich auch kein Kernwaffenplutonium gibt, mußte sich der Unfall in dem Teil der Welt ereignet haben, der die größte Kernwaffendichte des Globus aufweist: in der Region Murmansk auf der anderen Seite der Grenze.
Wie der Mann jedoch nach Finnland gekommen war, blieb ein Rätsel.
Er fuhr langsam, wie es die Geschwindigkeitsbeschränkungen vorschrieben, oder nur unbedeutend schneller, wie es seinem Temperament entsprach, da er jede Aufmerksamkeit vermeiden wollte. Sie würden acht Stunden für die Fahrt nach Kivik brauchen. Sie hatten also viel Zeit, reichlich Zeit für Gespräche.
Ihm war bewußt, daß sie früher oder später damit anfangen würde, ihm bohrende Fragen nach Details zu stellen, doch das bereitete ihm kaum Kopfzerbrechen. Er fühlte sich innerlich vollkommen kühl, da alles vorbei war und da für ihn sowohl beruflich wie privat eine völlig neue Phase seines Lebens begann.
Der Gedankenlachte ihn leicht aufgekratzt, und er bekam ein Gefühl, als hätte er gerade das Abitur hinter sich gebracht. Die Zukunft wurde heller und gehörte ihnen. Von jetzt an konnten sie mit aller Kraft auf ihr Privatleben setzen, auf das, was er zu ihrem Verdruß das zivile Leben nannte. Denn das, was sie auf ihre typisch amerikanische Weise sein killing business nannte, war vorbei. Von jetzt an war er so etwas wie ein Bürokrat, in der Praxis stellvertretender Chef. Er erzählte bedächtig, ohne sich sonderlich um Argumente zu bemühen.
Damit verfolgte er unter anderem die Absicht, sie von eingehenderen Verhören darüber abzuhalten, was auf Sizilien passiert war. Bis jetzt hatte er alle Gespräche dieser Art aufgeschoben, und zwar mit dem Hinweis, es werde sich eine bessere Gelegenheit dafür finden.
Kaum hatten sie Södertälje hinter sich gelassen, bemerkte sie, daß sich eine bessere Gelegenheit kaum ergeben könne. Dagegen ließ sich nichts einwenden.
Also. Dreißig Tote? Frauen und Kinder?
»Dir ist natürlich klar«, begann er langsam, »daß ich wie immer ein Hintertürchen in Gestalt von Geheimhaltung, Verhältnis zu einer fremden Macht und all dem habe.«
»Wage es nicht, mir damit zu kommen«, brummelte sie.
»Nein«, erwiderte er, »das würde ich kaum wagen. Dann nehmen wir es hübsch der Reihe nach, wenn du nichts dagegen hast. Erstens. Wie du sicher schon weißt, war ich nicht allein dort unten, und …«
»Aber du hast die entscheidende Verantwortung gehabt. Du warst doch wohl der kommandierende Offizier des schwedischen Militärs. Und demnach militärisch, juristisch und moralisch verantwortlich?«
»Ja, das stimmt. Aber sei so nett und unterbrich mich nicht dauernd. Zweitens haben wir mit den italienischen Streitkräften und der Polizei zusammengearbeitet. Wir konnten ohne deren Billigung in dieser oder jener Form nichts unternehmen. Drittens verhält es sich so, daß italienische Militärs für die Geschichte mit den Frauen und Kindern verantwortlich sind. Sie haben uns und unsere Anwesenheit nur als Cover benutzt, um eigene offene Rechnungen zu begleichen.«
»Du hattest also nur bitteren Kaffee getrunken und obskure Spaghettigerichte gegessen, während die Pizzabäcker durch die Gegend rannten, um sich gegenseitig umzubringen. Und das soll ich glauben?«
»Nein, so ist es nicht gewesen. Sowohl ich selbst wie Offiziere unter meinem Befehl haben bei einigen Gelegenheiten italienische Gangster gestellt. Das will ich nicht leugnen.«
»Gestellt?«
»Ja, genau. Wir nennen das so.«
»Ein Euphemismus für ermorden?«
»Wenn du so willst.«
»Und du hast auch einige persönlich gestellt?«
»Ja.«
»Wie viele?«
»Warum willst du das wissen?«
»Ich weiß nicht, ob ich es wissen will, aber ich möchte wissen, ob ich eine Antwort erhalte.«
»Sieben oder acht, etwas in der Richtung.«
Sie warf sich gegen die Rückenlehne, atmete einmal heftig ein und aus, und es hatte den Anschein, als bereute sie die letzte Frage, als wollte sie nichts mehr wissen. Er hielt den Blick starr auf die Fahrbahn gerichtet und wartete.
»Waren Frauen und Kinder unter denen, die du persönlich gestellt hast?« fragte sie nach zehn sehr langen Sekunden. Sie hörte sich wie eine Rechtsanwältin an, was sie ja auch war, und ihr Tonfall klang so, als verfolgte sie ein rein berufliches Interesse.
»Nein«, erwiderte er und bemühte sich, seiner Stimme keinen verbissenen Tonfall zu geben. »Ich habe keine Frauen und Kinder getötet.«
»Hast du einen Befehl dieses Inhalts erteilt?« fuhr sie mit der gleichen unerbittlichen Hartnäckigkeit fort, als befände sie sich in einem Gerichtssaal.
»Ja.«
Die knappe Antwort schien sie für einen Moment aus dem Gleichgewicht zu bringen, doch dann nahm sie das Verhör in dem gleichen Tonfall wie zuvor wieder auf.
»Ich sollte vielleicht darauf hinweisen, daß der Beklagte sich jetzt selbst widerspricht«, sagte sie.
»Ich widerspreche mir durchaus nicht, und außerdem bin ich kein Beklagter«, begann er und nahm dann Anlauf, um in der eigentlichen Sachfrage mit einer längeren Darlegung zu beginnen. Doch wie aus einem unerklärlichen Impuls heraus versuchte er es statt dessen auf einem vollkommen anderen Gleis.
»Ich widerspreche mir also nicht und bin auch kein Beklagter vor Gericht. Ich versuche der Frau gegenüber, von der ich hoffe, daß sie sowohl vor dem Gesetz wie vor dem katholischen Gott bald meine Frau werden will, vollkommen aufrichtig zu sein.«
»Hältst du damit endgültig um meine Hand an?« fragte sie, ohne eine Sekunde zu zögern.
»Ja.«
»Kann es sein, daß du die Umstände nicht etwas unromantisch findest?«
»Doch, durchaus.«
Er blickte einige Sekunden starr und steif auf die Fahrbahn und wandte sich dann plötzlich zu ihr um. Er lächelte und hob ein paarmal die Augenbrauen; das war eine kleine Grimasse, die weit in ihre gemeinsame Geschichte zurückreichte, so wie die Badestrände vor San Diego.
Sie sah ihn erst verblüfft und zweifelnd an und lachte dann laut auf. Sie warf auf eine für sie bezeichnende Weise den Kopf in den Nacken, so daß er schon glaubte, der unangenehme Moment sei überstanden.
»Kann man von deiner Seite vielleicht auch ein kleines Ja zu hören bekommen?« fühlte er vor.
»Jetzt hör mal zu, sailor«, sagte sie mit etwas mehr Schärfe in der Stimme. »Von allen Ablenkungsmanövern und Versuchen, sich aus der Schlinge zu ziehen, die ich je erlebt habe, gebührt diesem wohl die Krone. Du wolltest wohl vom Haken, indem du um meine Hand anhieltest. Na schön, die Frage ist gestellt und wird bei passender Gelegenheit beantwortet werden. Doch jetzt zurück zum Thema. Du hast dir also widersprochen. Du hast unter Punkt drei in deiner etwas mageren ersten Darstellung gesagt, die Pizzabäcker hätten Frauen und Kinder umgebracht. Aber eben hast du zugegeben, du hättest selbst einen Befehl mit solchen möglichen Konsequenzen erteilt. Wie soll’s denn sein?«
»Meinen Sie es ernst, Frau Anwältin?«
»Ja, könnte man sagen.«
»Und möchten Sie eine vollständige, erschöpfende und ernste Antwort?«
»Ja.«
»Na schön. Ich sehe hier weder die gute Absicht oder auch nur einen Sinn darin, aber von mir aus. Bei einer bestimmten Gelegenheit haben wir eine Heroinraffinerie gesprengt, die der von uns bekämpften Mafia-Familie gehörte. Ich hatte das Ziel im Visier, und einer meiner Mitarbeiter sollte es beschießen, wenn ich den Befehl dazu gab. In dem Gebäude befanden sich zwei Kinder und eine Frau. Ich wartete, bis die Kinder und die Frau das Haus verlassen hatten und sich in sicherem Abstand befanden. Erst dann gab ich Befehl, gezielt zu feuern. Das Labor wurde zerstört, und alle Anwesenden starben.«
»Aber?«
»Was heißt aber? Warum sollte es ein Aber geben?«
»Das merke ich dir an. Falls du dich erinnerst, kennen wir einander schon recht lange.«
»Na schön, es gibt ein Aber. Ich kann nicht ausschließen, daß sich noch eine Frau in diesem Haus befand. Ich weiß aber, daß keine Kinder mehr da waren, als ich den Befehl gab.«
»Woher kannst du das wissen?«
»Weil ich sie sah.«
»Durch die Wände?«
»Ja, stell dir vor.«
»Mit deinem Röntgenblick also?«
»Nein. Aber mit einem Infrarotgerät, das die Körpergröße der Menschen und ihre Wärmeausstrahlung feststellen kann, wenn schon nicht ihr Alter.«
»Teufel auch.«
Sie sagte lange Zeit nichts, und er wurde unterdessen immer unsicherer, was sie mit ihrem »Teufel auch« gemeint hatte. Zunächst hatte er den Eindruck, daß es sich nur auf die Möglichkeit bezog, durch dünne Holzwände hindurch die Körperwärme von Menschen zu messen. Doch je länger ihr Schweigen dauerte, um so unsicherer wurde er.
Schließlich kam er auf den Gedanken, daß sie nur dasaß und darauf wartete, daß er etwas sagte. Er hatte das Gefühl, daß es jetzt wie bei einem chirurgischen Eingriff oder zumindest einem Zahnarztbesuch nur darum ging, die Qual so kurz wie möglich zu machen.
»Mir ist nicht ganz klar, was du wissen willst, oder warum es so wichtig ist, es zu wissen«, begann er mit zusammengebissenen Zähnen. »Rein sachlich gesehen und in aller Kürze ist folgendes in Italien geschehen: Eine italienische Mafiafamilie hatte vier schwedische Staatsbürger entführt. Sie boten uns das Leben ihrer Opfer im Austausch gegen eine Waffenlieferung durch den schwedischen Staat, die sie mit einem ansehnlichen Verdienst in Libyen weiterverkaufen wollten. Unser Auftrag lautete, die Geiseln zu befreien und das Geschäft somit zunichte zu machen. Insoweit alles in Ordnung? Ich meine, deine Landsleute in den entsprechenden Organisationen hätten auch nicht anders reagiert oder gedacht.«
»Nein, insoweit ist alles in Ordnung«, erwiderte sie leise. »Und unsere entsprechenden Behörden zu Hause hätten wie ihr gedacht und gehandelt. Doch jetzt zu den Methoden.«
»Was unsere rein operativen Methoden betrifft«, begann er und holte tief Luft, »war es natürlich ausgeschlossen, auf Sizilien so etwas wie einen Guerillakrieg zu beginnen. Statt dessen stachelten wir zwei der mächtigsten sizilianischen Mafia-Familien dazu an, gegeneinander Krieg zu führen. Das gelang uns über Erwarten gut. Die Entführer waren am Ende gezwungen, uns aus reiner Verzweiflung ihre Geiseln zurückzugeben, nämlich gegen unser Angebot, ihrem Bürgerkrieg ein Ende zu machen. Sie hielten ihren Teil der Abmachung, und wir unseren. Doch danach stiegen die italienischen Streitkräfte ein und richteten ein Massaker an, das vermutlich den Eindruck erwecken sollte, es sei nur eine Fortsetzung dessen, was schon geschehen war. Erst da kam es zu zivilen Verlusten. Können wir das Thema jetzt beenden?«
»Ja«, erwiderte sie, »jetzt haben wir genug darüber gesprochen. Findest du es unangenehm?«
»Na und ob!«
»Und jetzt ist es zu Ende, für immer zu Ende?«
»Falls du glaubst, ich würde Sizilien je freiwillig wieder betreten, dann …«
»Sizilien oder einen anderen Ort!«
Sie hatte die Stimme erhoben, was sie nur selten tat. Sie saß entspannt und zurückgelehnt da, hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet und blickte nach vorn auf die Fahrbahn, doch er spürte deutlich, daß sie innerlich vor Spannung vibrierte. Er ging automatisch davon aus, daß es etwas mit Moral und Katholizismus zu tun hatte, um etwas wie »Du sollst nicht töten«, ein Dilemma, das in diesem Fall ihn weit mehr betraf als sie. Doch er beschloß, so lange zu warten, bis sie etwas sagte.
»Ist es jetzt vorbei?« fragte sie kurz, als das Schweigen schon unerträglich lange gedauert hatte.
»Ob es vorbei ist? Ob das, was du killing business nennst, vorbei ist? Ist es das, was du meinst?« erwiderte er schnell.
»Ja.«
»Ja, das ist vorbei.«
»Und woher soll ich das wissen?«
»Das kannst du nicht wissen. Da es bei meinem Job so gut wie immer um Geheimnisse der Streitkräfte geht, kannst du und wirst du nichts davon erfahren, und außerdem dürfen wir solche Verhöre nicht zur Gewohnheit werden lassen. Rein formal begehen wir dabei ein Verbrechen, und …«
»Du, aber nicht ich! Doch nicht mit mir!« schnitt sie ihm blitzschnell das Wort ab. Doch sie lächelte, als sie es sagte, und das gab ihm das Gefühl, daß die Gefahr bald vorbei sein würde.
»Hören Sie mal, Frau Anwältin, wir wollen jetzt keine juristischen Haarspaltereien betreiben«, sagte er lachend, »aber ich wollte auf folgendes hinaus. Möchtest du es Punkt für Punkt in guter militärischer Reihenfolge?«
»Ja.«
»Okay, dann gehen wir so vor. Ich habe, wie ich vorhin schon sagte, die Lage mit meinem Chef durchdiskutiert. Also Punkt eins. Wir sind uns darin einig, daß ich künftig am Boden bleibe. Ich bin praktisch eine Art Chefsekretär, wenn ich mich als Zivilist äußern soll. Punkt zwei. Ich bin draußen auf dem Feld ganz einfach kaum noch zu gebrauchen, da man mich überall erkennt. Was für uns Spione eine schlechte Voraussetzung ist. Punkt drei. Wenn ich mich trotzdem aufs Feld begebe, steigt das Risiko weiterer Verluste in unserer Abteilung. Dann bin ich nämlich in Gefahr. Und das halten wir für ein schlechtes Wirtschaften mit knappen Ressourcen. Da ist es schon besser, daß ich mit anderen Worten Stabsfunktionen übernehme. Punkt vier. Ich habe ein eigenes Leben zu leben. Niemand kann sagen, ich hätte den Hintern nicht schon weit genug aus dem Fenster gereckt, aber jetzt habe ich wie jeder Mensch das Recht, ihn wieder einzuziehen. Zufrieden mit dieser Antwort?«
»Sehr, besonders mit Punkt vier, denn für mich geht es vorwiegend darum.«
»Um unser Privatleben, um dich und mich?«
»Ja. Ich fühle mich als Frau eines Fliegers nicht wohl. Du weißt, wie in diesem Buch von Tom Wolfe.«
»Männer von echtem Schrot und Korn? Kühne Männer in feschen blauen Uniformen, von denen einer pro Woche abstürzt, während die Frauen vor Sorge fast verrückt werden?«
»Ungefähr so.«
»Aber wenn es nur das wäre«, sagte er verwirrt, »wenn es nur das wäre … Nein, ich meine natürlich nicht nur, denn für mich ist dies genauso wichtig wie für dich. Aber trotzdem. Warum dann all diese inquisitorischen Fragen nach operativen Details, was Sizilien betrifft?«
»Operativen Details?«
»Ja. Ich habe mich absichtlich so euphemistisch ausgedrückt.«
»Weil ich wissen wollte, ob du mich anlügen kannst, und vielleicht, weil ich mich ganz einfach gefragt habe, was da in dir steckt, was wir anderen nicht sehen, vielleicht nicht einmal ich. Ist es etwas, wovor ich Angst haben muß?«
»Ich bin Offizier.«
»Mit dem Recht zu … ja, ich weiß, ich weiß. Eine letzte Frage wegen Sizilien, eine persönliche Frage. Okay?«
»Ja, vor allem, wenn du sagst, daß es deine letzte Frage dazu ist.«
»Was war für dich am schwierigsten? Dir ist doch hoffentlich klar, daß ich das nicht technisch meine.«
Er zögerte mit der Antwort. Aber nicht, weil es irgendwie zweifelhaft sein konnte, was am unerträglichsten gewesen war, sondern weil es ihm unmöglich erschien, eine Antwort zu formulieren. Zumindest in der geschäftsmäßig kühlen oder fast juristischen Sprache, in der sie sich bisher unterhalten hatten.
Sie sah sein Zögern, sah, daß sein Gesicht gleichsam zu zerspringen begann, als gäbe es da einen Schmerz, den er jetzt, da er daran erinnert wurde, nicht mehr zurückhalten konnte.
»Nein!« rief sie plötzlich aus. »Ich nehme das zurück. Es war dumm von mir. Ich will es nicht mehr wissen.«
»Das … es geht nicht«, sagte er angestrengt und hätte um ein Haar gestottert. Dann konzentrierte er sich und antwortete mit zusammengebissenen Zähnen. »Einer meiner engsten Freunde ist buchstäblich in meinen Armen gestorben. Wir wurden aus nächster Nähe beschossen. Aber die wollten nur ihn töten. Wir waren bei der Gelegenheit unbewaffnet. Das war meine Schuld. Ich war dumm und nachlässig, und deswegen mußte er sterben. Ich versuchte es mit Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung, aber er hatte rund zehn Durchschüsse bekommen, auch mehrere durch die Lungen. Als ich Luft in ihn hineinblies, sprudelte es an mehreren Stellen. Er war schon tot.«
Er brachte es nicht über sich fortzufahren, da er die Szene zu deutlich vor sich sah. Es kam ihm vor wie eine dieser modernen Videoaufzeichnungen, bei denen man ein Bild nach dem anderen abspulen oder sogar Teilvergrößerungen machen kann.
Er wurde von seinen Gefühlen überwältigt, einer Mischung aus nachtschwarzer Verzweiflung, wütender Trauer und etwas wie Scham. Es war unmöglich, die Tränen zurückzuhalten, und dessen schämte er sich auch. Er wischte sich erst mit der rechten und dann mit der linken Hand energisch die Tränen aus dem Gesicht.
»Ich glaube, ich muß eine Weile aufhören«, sagte er mit rauher Stimme.
»Ich auch, mir ist leicht übel«, erwiderte sie mit abgewandtem Gesicht, als wollte sie ihm den Dienst erweisen, nicht zuzusehen, wenn er weinte.
Sie fuhren auf einen Rastplatz mit zwei überquellenden Mülltonnen, einem Holztisch und festen Bänken. Diese standen natürlich neben den Mülltonnen. Ein Elternpaar schien in einem Kampf um Recht und Ordnung mit fünf lärmenden und zankenden Kindern hoffnungslos zu unterliegen.
Carl parkte in beruhigendem Abstand, ging nach amerikanischer Manier um den Wagen herum, hielt ihr die Tür auf und nahm sie in die Arme, als sie ausstieg. Sie legte ihm die Wange an die Brust, und er hielt sie vorsichtig an dem dicken mexikanischen Zopf.
Sie blieben lange so stehen, ohne etwas zu sagen, als müßten sie sich ausruhen.
»Es ist jetzt vorbei. Hörst du, geliebte Tessie, es ist vorbei jetzt«, flüsterte er, als er schließlich spürte, daß er Stimme und Gefühle wieder unter Kontrolle hatte.
»O nein«, kicherte sie. »Wenn du zum Katholizismus konvertieren willst, fängt es jetzt erst an, für dich richtig hart zu werden.«
Er glaubte sich erst verhört zu haben, nahm ihre Wangen behutsam zwischen die Hände und drehte ihr Gesicht nach oben, um an ihren Augen zu sehen, was sie gemeint hatte. Sie sah fröhlich aus, und er begriff nichts.
»Wollen Sie so nett sein, Frau Anwältin, mir diese letzte Bemerkung zu erklären?« sagte er.
»Aber gern. Du sagtest, ich sollte vor dem Gesetz und vor dem katholischen Gott deine Frau werden. Man beachte diesen zweiten Teil, und ich habe vorhin gesagt, du würdest bei einer passenden Gelegenheit Antwort erhalten.«
»Ja. Und? Akzeptiert der katholische Gott denn keine schwedischen Pastoren?«
»Nein. Du müßtest erst konvertieren, dich vermutlich sogar taufen lassen und zur Erstkommunion gehen.«
»Dich soll der Teufel holen.«
»O nein, ganz und gar nicht, und du machst deine Lage auch nicht besser, indem du lästerst.«
»Nein, natürlich nicht, aber wir Schweden haben eine etwas leichtsinnigere Einstellung zu diesen Dingen. Wir haben Pastoren, die nicht an Gott glauben, aber jederzeit bereit sind, Prominente in Jeans zu trauen, falls es gewünscht wird. Du kannst sogar eine Pastorin bekommen, die nicht an Gott glaubt, uns aber trotzdem traut.«
»Nein danke. Ich bin zwar Feministin mit allem Drum und Dran, aber irgendwo muß es trotzdem eine Grenze geben.«
»Das ist eine rigide Einstellung. In Schweden würde man sie sogar reaktionär nennen, denn bei uns kommt die Gleichberechtigung sogar noch vor Gott.«
»Du hast also nicht vor, zu konvertieren?«
»Sag mal, du träumst wohl!«
»Dann können wir nicht vor dem katholischen Gott heiraten, wie du gesagt hast.«
»Ach. Jetzt frage ich dich noch einmal. Ja, ich muß die Frage modifizieren, aber trotzdem. Willst du oder willst du nicht … vor dem schwedischen Gesetz meine Frau werden?«
Sie lachte auf und machte sich frei, ergriff die Revers seiner Wildlederjacke und schüttelte ihn lachend hin und her. Er wehrte sich nicht, so daß er durch ihre Bewegungen hin und her schwankte.
»Du hast einen einzigartigen Sinn für Romantik, Seemann«, lachte sie.
»Schon möglich«, versuchte er mit gespieltem Ernst, »aber die Frage ist gestellt, und ich möchte die Frau Anwältin daran erinnern, daß Sie unter Eid steht. Wir warten gespannt auf die Antwort. Wie lautet sie also?«
»Ja!«
»Gut. Und wann?«
»Jederzeit.«
Sie lachten, umarmten sich von neuem und wirbelten ein paar Mal engumschlungen wie in einem Tanz herum, so daß sie die Aufmerksamkeit der Familie erregten, die sich gerade über ihren Lunch hermachte.
Einer der Teenager entdeckte Carl als erster, zeigte auf ihn und redete aufgeregt, und einige Augenblicke später waren die Kinder bei ihnen und wollten Autogramme, obwohl sie weder Papier noch Bleistift hatten. Carl wurde verlegen, wollte aber nicht unfreundlich sein. Er sagte, wenn sie etwas zum Schreiben besorgen könnten, würde er ihren Wunsch gern erfüllen. Es dauerte eine Weile, bis einer der Teenager einen karierten Block und einen Kunststoffkugelschreiber hervorgekramt hatte. Carl schrieb auf dem Rücken eines der Kinder kleine Freundlichkeiten für alle, hübsch der Reihe nach. Sie nahmen die Zettel mit großen Augen in Empfang, als wären es Wertpapiere, und verstummten dann schüchtern. Ihre Eltern standen etwas abseits und machten den Eindruck, als wollten sie auch hinzukommen, trauten sich aber nicht.
»Wer bist du denn?« fragte die Kleinste, ein Mädchen mit einer Zahnlücke. Sie zeigte auf Tessie.
»Sie kann leider kein Schwedisch«, erklärte Carl.
»Oh, dann ist sie eine Spionin!« stellte das Mädchen fest.
»Nein«, entgegnete Carl, »ganz und gar nicht. Das da ist Frau Hamilton.«
»Was habt ihr gesagt?« fragte Tessie amüsiert und verwirrt zugleich.
»Sie haben gefragt, ob du eine Spionin bist«, erklärte Carl und öffnete die Autotür, damit Tessie einsteigen konnte. Dann ging er um den Wagen herum, winkte den Kindern zu, setzte sich ans Steuer und fuhr los.
»Und was hast du geantwortet?« fragte sie, als der Wagen auf die E 4 rollte und in der Anonymität des Verkehrsgewimmels untertauchte.
»Ich habe gesagt, wie es ist«, stellte Carl sachlich fest. »Selbstverständlich seist du eine Spionin, sogar eine der gefährlichsten.«
Es war keineswegs sonderbar, daß Eero Grönroos einen Hausrussen hatte. Erstens war er Ministerialrat in der Osteuropa-Abteilung des finnischen Außenministeriums, so daß Umgang mit Leuten aus dem Osten schon aus diesem Grund natürlich war. Zweitens hielten sich alle Angehörigen der Oberschicht Helsinkis in Verwaltung und Wirtschaft einen Hausrussen.
Der Begriff ist sehr finnisch und läßt sich kaum in eine andere Sprache übersetzen. Ein Hausrusse bedeutet etwa einen russischen Kontaktmann, um den man sich bemüht und den man kultiviert oder von dem man sich schlimmstenfalls selbst kultivieren läßt, weil man damit seine vorurteilslose Einstellung gegenüber dem mächtigen Nachbarn im Osten zeigen kann, wie man die Sowjetunion in Finnland oft nennt.
Eero Grönroos war sich sehr wohl bewußt, daß sein Hausrusse, Kirill Jewgeniwitsch Tschernenko, sich normalerweise sowohl dümmer als auch unwissender stellte, als er sein konnte, und daß seine offizielle Position als Zweiter Sekretär an der Botschaft der Sowjetunion nur die Fassade einer bedeutend qualifizierteren Funktion war. Doch es hatte nie auch den mindesten Anlaß gegeben, sich zu beunruhigen. Kirill Jewgeniwitsch war bei allen seinen Verbindungen immer außerordentlich korrekt gewesen. Er war nie mit Plastiktüten voll klirrender Wodkaflaschen oder derlei aufgekreuzt und hatte somit nicht einmal andeutungsweise zu erkennen gegeben, daß er Kontakte oder Erkenntnisse außerhalb der gesetzlich akzeptierten Sphäre zu gewinnen wünschte. Er war nicht einmal unnötig persönlich geworden, hatte zum Beispiel nie Geschenke für Frau und Kinder und derlei überreicht.
Jetzt saßen sie auf der Dachterrasse des Hotels Vaakuna und aßen Krebse. Das hatte sich zu einer alljährlichen Tradition entwickelt. Es war ein milder Augustabend und immer noch hell draußen. Es befanden sich nur wenige Gäste auf der Terrasse, und noch war es nicht zu kühl, um draußen zu sitzen, zumindest in der nächsten Stunde noch nicht.
Eero Grönroos hatte den gewohnten Gesprächsverlauf erwartet, eine Besprechung der wirtschaftlichen Lage, verschiedener europäischer Verhandlungsrunden, Bemerkungen über Estland und all das andere, doch sein Hausrusse schien stärker unter Druck zu stehen als seit langer Zeit. Er schwitzte sichtlich und bearbeitete seine Krebse mit einer gewissen Aggressivität. Das Gespräch schleppte sich zähflüssig dahin.
Das war jedoch kein Grund zur Verwunderung. Die meisten Russen, denen man neuerdings begegnete, schienen nervös zu sein und unter Druck zu stehen. Sie litten zudem sichtlich unter Geldmangel, was den Umgang im Westen nicht gerade erleichterte. Eigentlich war der Hausrusse heute an der Reihe, die Rechnung zu bezahlen, doch Eero Grönroos hatte sich schon entschlossen, dieses Detail zu übernehmen.
Sie aßen ihre zwanzig Krebse schnell und unter fast vollständigem Schweigen. Eero Grönroos bemühte sich, das Thema Estland und die künftigen Wirtschaftsverbindungen im Dreieck Sowjetunion-Estland-Finnland zur Sprache zu bringen. Das hätte seinem Hausrussen normalerweise Dampf machen müssen, tat es aber nicht.
Als der letzte Krebs aufgegessen war, fragte er auf eine Weise, die deutlich erkennen ließ, daß er und nicht der Russe die Rechnung begleichen sollte, ob sie nicht noch einen Schwung bestellen sollten.
»Nein danke, denn ich habe eine sehr ernste Sache mit dir zu besprechen, lieber Freund«, entgegnete Kirill Tschernenko, drückte die Zitronenspalte energisch über der kleinen Fingerschüssel aus und trocknete sich sorgfältig mit der Serviette ab.
Eero Grönroos sagte nichts, sondern lehnte sich zurück und zeigte mit einer Handbewegung, daß er bereit sei zuzuhören.
»Wie dir vielleicht klar ist, habe ich seit langem eine höhere Verantwortung, als sie ein Zweiter Botschaftssekretär zu tragen hat«, sagte der Russe und wischte sich erneut den Mund ab. Es machte ihm Mühe fortzufahren. »Ich habe eine ziemlich hohe Position beim KGB. Ja, unser Umgang ist stets völlig korrekt gewesen. Ich habe sorgfältig darauf geachtet, aber so ist es nun mal.«
»Gerade deshalb fällt es mir schwer, dieses plötzliche Geständnis zu verstehen«, sagte Eero Grönroos fast amüsiert. »Heißt es nicht, Glasnost ein wenig übertreiben, wenn du mir so etwas erzählst? Ich meine, selbst wenn nichts anderes passiert, könnte es doch unseren lockeren Umgang beeinflussen.«
»Unser Umgang wird von diesem Augenblick an ohnehin nicht mehr das werden, was er einmal gewesen ist. Von jetzt an ändert sich alles«, sagte Kirill Tschernenko sehr ernst und mit einem Nachdruck, der seinen finnischen Kontaktmann sofort das amüsierte Lächeln gefrieren ließ.
»Nun ja, das hört sich ernst an, lieber Kirill Jewgeniwitsch. Aber wenn du A gesagt hast, mußt du auch B sagen.«
»Wir brauchen trotzdem nicht so förmlich zu sein. Sei so nett und fang nicht damit an, mich mit meinem Vaternamen anzureden. Nun. Ich habe eine Botschaft an den finnischen Staat. Sie kommt nicht von Krutschkow, da unser Präsident ihm nicht vertraut, denn es gehen Gerüchte um über einen Staatsstreich und anderes.«
»Bist du jetzt möglicherweise nicht doch ein bißchen indiskret, Kirill? Ich meine, eure inneren Angelegenheiten sollten vielleicht nicht so x-beliebig vorgetragen werden. Und außerdem, von wem kommt die Botschaft?« sagte Eero Grönroos, der schon eine ganze Reihe mühseliger bürokratischer Komplikationen vor sich sah.
»Von Präsident Gorbatschow persönlich«, erwiderte Kirill Tschernenko und verstummte dann sofort, als brauchte die unglaubliche Nachricht ein wenig mehr Zeit, um zu wirken.
»Aber jetzt hör mal, Kirill«, sagte Eero Grönroos zweifelnd. »Überleg dir, was du sagst, Kirill. Hier sitzen wir beide, zwei relativ subalternde Beamte, zwar mit guten persönlichen Verbindungen, aber trotzdem Untergebene. Ja, ich sage dies mit allem Respekt, denn selbst wenn du Oberst oder Generalmajor beim KGB bist, sind wir beide trotzdem kleine Fische. Und dann sagst du, Präsident Gorbatschow wolle der Republik Finnland über dich und mich eine Botschaft übermitteln. Du mußt schon zugeben, daß das … zumindest etwas unorthodox klingt?«
»Ja, selbstredend. Aber unsere Situation ist sehr kompliziert. Die Frage der politischen Ebene läßt sich nicht mit irgendeinem beliebigen diplomatischen Formular entscheiden. Außerdem haben wir das Problem studiert. Vor dem Winterkrieg 1939 hat der höchste Diplomat der Sowjetunion, in Wahrheit unser Botschafter, Finnlands Außenminister aufgesucht, um einige Botschaften zu überbringen. Man nahm ihn jedoch nicht ernst, weil man der Meinung war, er stünde politisch auf zu niedriger Ebene. Vielleicht hätte der Winterkrieg noch gestoppt werden können, wer weiß?«
»Nun ja. Aber jetzt sind wir fünfzig Jahre weiter. Warum ausgerechnet du und warum gerade ich?«
»Ich, weil ich mich mit dem Präsidenten getroffen habe. Wir sind entfernt miteinander verwandt. Er hat mich zu sich gerufen, da er in der ersten Runde nur ein einziges Bindeglied nach Finnland wünscht. Und du, nun, du, weil du Beamter im Außenministerium bist und auf jeden Fall beurteilen kannst, wie wir anschließend verfahren sollen. Du weißt, wer in Finnland mit wem in Moskau Kontakt aufnehmen kann.«
»Du mußt schon verstehen, lieber Kirill, daß mich das Ganze ein bißchen konsterniert macht.«
»Das dürfte die Untertreibung des Tages sein, wie die Amerikaner sagen.«
»Nun. Und was ist mit der Sache selbst?«
»Die Sache selbst ist folgende«, sagte Kirill Tschernenko und wischte sich mit seiner fleckigen Serviette tatsächlichen oder nur eingebildeten Schweiß von der Stirn. »Der Präsident hat Kenntnis von einem kühnen Vorhaben, das darauf hinausläuft, sowjetische Kernwaffen außer Landes zu schmuggeln und auf dem anzubieten, was wir den Weltmarkt nennen könnten. Der Präsident weiß in etwa, wann und wo, und es geht in allerhöchstem Maß um dein Land. Die Kernwaffen sollen irgendwann später in diesem Jahr über die finnische Grenze geschmuggelt werden. Das müssen wir natürlich erstens verhindern. Zweitens müssen unsere beiden Länder irgendwie zusammenarbeiten. Ferner muß das auf eine Weise geschehen, die sicherstellt, daß nichts herauskommt. Es darf keine Zeugen geben, keine Zeitungsartikel, nichts.«
Eero Grönroos saß eine Zeitlang da und drehte sein leeres Bierglas vor sich auf dem Tisch, ohne auch nur ansatzweise eine Vorstellung davon zu haben, an welchem Ende er beginnen sollte. Er ging davon aus, daß das Gehörte den Tatsachen entsprach, zumindest insoweit, als der sowjetische Präsident tatsächlich seinen, Grönroos’, Hausrussen direkt an die Krebstafel geschickt hatte und daß eben dieser Präsident ernsthaft der Meinung war, daß ein beträchtliches Risiko bestand, sowjetische Kernwaffen könnten in der Welt herumvagabundieren.
Die weltpolitischen Konsequenzen waren damit bereits von einer fast unfaßbaren Größenordnung.
Jetzt hatte er den Ball. Sein Hausrusse schwieg abwartend, möglicherweise um zu sehen, ob man ihm Glauben schenkte.
»Wie du verstehst, habe ich einige Fragen. Ich weiß nicht, ob du darauf antworten kannst, aber ich muß trotzdem ein paar Fragen stellen …«, begann Eero Grönroos vorsichtig.
»Selbstverständlich. Frag ruhig drauflos, dann werden wir sehen, ob du eine Antwort bekommen kannst«, erwiderte Kirill Tschernenko und breitete die Arme aus. Die vermeintlich freigebige Geste wirkte einigermaßen bemüht.
»Besteht die Absicht, daß Finnland und die Sowjetunion … was dieses Problem angeht … mit einer direkten Zusammenarbeit beginnen sollten?«
»Ja.«
»Warum Finnland? Es muß ja interessierte Großmächte mit bedeutend größeren Möglichkeiten geben?«
»Weil es um Operationen auf unseren gemeinsamen Territorien geht, in unseren Grenzgebieten. Wenn ich die Sache richtig verstanden habe, ist unser Präsident der Meinung, daß sich das mit fremdem Militärpersonal nicht machen läßt. Mit solchen Leuten kann er sich keine Operationen auf unseren gemeinsamen Territorien vorstellen. Das würde, wenn es schon nichts anderes anrichtet, zuviel Aufmerksamkeit erregen.«
»Aha. Ja. Wenn aber der Präsident der Sowjetunion Kenntnis von solchen abenteuerlichen Vorgängen besitzt, sollte sein Interesse doch in erster Linie darauf hinauslaufen, alle solchen Vorhaben zu stoppen … Ja, diese Leute festzunehmen, schon bevor sie mit dem Schmuggeln begonnen haben, ich meine, bevor überhaupt etwas auf finnischem Territorium geschieht?«
»So einfach ist es nicht, lieber Eero. Unser Land ist im Augenblick außerordentlich instabil. Der Präsident vertraut dem KGB nicht, sondern glaubt vielmehr, daß dessen Führung gegen ihn konspiriert. Normalerweise wäre der Auftrag selbstverständlich und ohne jede Diskussion an den KGB gegangen. Wenn man dem KGB aber nicht vertrauen kann, wenn es sogar beteiligt ist? Oder wenn der KGB sich solcher Informationen bediente, um eine Konterrevolution anzuzetteln?«
»Konterrevolution? Verzeihung, daß ich auf diese Wortwahl reagiere. Nun, das gehört strenggenommen nicht hierher.«
»Na ja, dann eben Staatsstreich. Der Präsident geht davon aus, daß die Verwaltung der sowjetischen Kernwaffen eine Sache internationaler Verantwortung ist, daß man deshalb die Möglichkeit hat, im Ausland um Hilfe zu bitten. Und da es um Finnland geht … nun ja.«
»Laß mich auf deine Formulierung von ›unseren gemeinsamen Territorien‹ zurückkommen. Was, um Himmels willen, bedeutet das?«
»Die Grenzregionen natürlich. Ich sehe aber, daß ich deiner Meinung nach in diesem Punkt genauer sein sollte. Scherze in diesem Zusammenhang könnten vielleicht unpassend wirken. Die Sowjetunion hat nämlich wahrlich keine neuen territorialen Forderungen an Finnland. Kurz, es geht um sowjetisches Territorium. Die Schmuggler sollten tunlichst gestoppt werden, bevor irgendwelche Kernwaffen euer Land erreicht haben.«
»Präsident Gorbatschow wünscht also, daß finnische Polizei oder finnisches Militär auf eurem Territorium operiert?«
»Genau.«
»Das ist viel auf einmal.«
»Eben.«
»Hast du etwas dagegen, wenn ich eine Weile nachdenke?«
»Nein, bitte sehr.«
Eero Grönroos hatte zu schwitzen begonnen. Er spürte es deutlich in den Achselhöhlen. Die Situation war alptraumhaft und unwirklich und dennoch vollkommen klar. Auf dem Tisch lagen ein rotkariertes Tischtuch und besondere Krebsservietten in Rot und Weiß. Leergetrunkene Gläser; er bestellte ein neues Bier und zeigte fragend auf Kirill Tschernenko, der den Kopf schüttelte.
Die Terrasse füllte sich allmählich mit Gästen. Einige festlich gekleidete und nach Parfum duftende Frauen gingen vorbei. Sie unterhielten sich fröhlich über Kleider, wie es schien. Alles ganz alltäglich.
Eero Grönroos blickte auf einen Parkplatz hinunter. Leute bestiegen ihre Autos oder stiegen aus. Kein Mensch in der Nähe konnte auch nur ahnen, worum es bei dem Gespräch an ihrem Tisch ging. Kein einziger Mensch in Finnland besaß in diesem Moment das gleiche ungeheuerliche Wissen und damit eine Verantwortung wie er selbst.
Er mußte sich zusammennehmen. Es gab keinen Ausweg. Was gesagt worden war, konnte nicht mehr zurückgenommen werden.
»Wir sollten uns jetzt den Formalien zuwenden, was in diplomatischen Zusammenhängen nicht unwichtig ist und in diesem Fall schon ganz und gar nicht«, begann er mit einer Kraftanstrengung. »Die Verbindung zwischen unseren beiden befreundeten Ländern, wie ihr sagt, muß in dieser Sache ja irgendwie geregelt werden. Wir müssen sozusagen von diesem Restauranttisch wegkommen. Hat Präsident Gorbatschow insofern irgendwelche Wünsche?«
»Nein«, erwiderte Kirill Tschernenko und senkte dann die Stimme, da sich am Nebentisch Gäste niederließen. »Der Präsident der Sowjetunion möchte den zuständigen finnischen Behörden die Entscheidung überlassen, auf welcher Ebene weitere Kontakte stattfinden sollen. Die Entscheidung liegt also bei euch. Falls erforderlich, kann Präsident Gorbatschow direkte Gespräche mit dem Staatspräsidenten Finnlands führen. Falls nötig, können alle weiteren Kontakte nur zwischen dir und mir erfolgen. Falls gewünscht, könnt ihr euch auch für eine andere Ebene irgendwo dazwischen entscheiden.«
»Wozu diese freie Spielfläche? Es ist immerhin eine Angelegenheit für die höchste Führung unser beider Länder.«
»Gewiß, das könnte man meinen. In einigen westlichen Ländern hätte man eine solche Sache auf einem niedrigeren operativen Niveau behandelt, um der höchsten Führung deniability zu geben, falls etwas schiefgeht. Dann feuert man einen Obersten oder so. In anderen westlichen Staaten würde die Entscheidung beim Premierminister landen, beispielsweise in England. In den USA ließe sich denken, daß die Angelegenheit beim CIA-Chef hängenbleibt, in eurem Nachbarland Schweden vermutlich bei einem Kapitän zur See, der Entscheidungen trifft und der Regierung erst nachträglich berichtet. Das heißt, falls es gutgegangen ist. Das Feld ist mit anderen Worten ziemlich frei. Wir sind der Meinung, daß Finnland selbst die Ebene wählen sollte, das ist alles.«
»Präsident Gorbatschow hat dem Problem einige gedankliche Mühe gewidmet, wie es scheint.«
»Ja, davon kann man ausgehen.«
»Was verlangst du im Moment von mir?«
»Ich verlange gar nichts. Der Präsident der Sowjetunion hat einen Wunsch geäußert.«
»Nun ja. Und was verlangt er?«
»So schnell wie möglich einen Bescheid, wie die weiteren Kontakte ablaufen sollen. Zuvor ist es nicht sinnvoll, auf praktische Details einzugehen.«
»Damit wir auf der falschen Entscheidungsebene nicht unnötig großes Wissen verbreiten?«
»Richtig.«
»Und was bedeutet Bescheid so schnell wie möglich?«
»Innerhalb von achtundvierzig Stunden möchte ich Nachricht haben, wie die weiteren Kontakte in dieser Angelegenheit stattfinden sollen. Der Einfachheit halber sollten wir beide uns treffen. Sagen wir, wieder hier am selben Tisch, um die gleiche Uhrzeit, und zwar an dem Tag, an dem du mich anrufst und sagst … na ja, du kannst mir am Telefon irgendwas sagen.«
Eero Grönroos nickte, trank gierig sein Bierglas leer und nahm dabei einen so großen Schluck, daß er fast einen Krampf im Hals bekam und mehrere Anläufe machen mußte, bevor es ihm gelang, den Rest herunterzuschlucken. Dann bezahlte er und verließ das Restaurant mit einem kurzen Kopfnicken zu seinem ehemaligen Hausrussen. Dieses Scherzwort würde er bei Kirill Jewgeniwitsch Tschernenko nie mehr verwenden können.
Der ehemalige Hausrusse blieb am Tisch sitzen und sah eher nachdenklich als besorgt aus. Er machte sich wegen des unruhigen und abrupten Aufbruchs seines ehemaligen Freundes nicht die geringsten Sorgen. Dieses Verhalten war leicht zu verstehen.
Eero Grönroos handelte so entschlossen, wie es ihm möglich war. Er spazierte mit schnellen Schritten zu seinem Dienstzimmer im Außenministerium, machte Licht, hängte sein Jackett auf und lockerte den Krawattenknoten. Die ganze Abteilung war leer und still. Es war ein Sommerabend wie jeder andere.
Eero Grönroos rief zu Hause an und sagte, er werde später kommen. Es sei eine Komplikation eingetreten, die Estland betreffe und noch an diesem Abend bereinigt werden müsse.
Dann holte er Papier und Bleistift hervor und zeichnete sorgfältig die Substanz des Gesprächs auf, Punkt für Punkt. Als das erledigt war, ließ seine Tatkraft nach. Denn jetzt mußte er Entscheidungen treffen. In diesem Moment war er der einzige Beamte in ganz Finnland, der ein furchtbares Wissen verwaltete. In diesem Moment lag die gesamte Verantwortung bei ihm. Es galt also, die Angelegenheit weiterzugeben.
Die Frage war, an wen.
Er selbst war Ministerialrat. Über sich in der Hierarchie hatte er einen Abteilungsleiter, und über dem Abteilungsleiter befand sich ein Staatssekretär, und dann war man schon beim Außenminister.
Eine normale Angelegenheit wäre diesen Dienstweg gegangen. Wenn jedoch sensationelle oder pikante Erkenntnisse auf diesem Weg verbreitet wurden, würde das Gerücht den meisten Bewohnern Helsinkis schon nach zwei Tagen bekannt sein.
Er konnte sich direkt an den Außenminister wenden oder zumindest an Juakko Blomberg, seinen nächsthöheren Vorgesetzten.
Der Außenminister würde sich auf der Stelle zum Präsidenten begeben. Das war kristallklar. Für einen Juristen wie Eero Grönroos gab es da keinerlei Zweifel. Dem Grundgesetz zufolge war der Präsident der Republik für die Außen- und Verteidigungspolitik des Landes zuständig. Die Angelegenheit konnte unmöglich am Präsidenten vorbeigeleitet werden.
Am klügsten wäre es also, gleich zum Präsidenten zu gehen. Die Sache würde anschließend freilich in der Hierarchie hinunterwandern, beispielsweise zum Außenminister, der sich vielleicht fragte, weshalb es ein kleiner Ministerialrat für richtig hielt, den Chef des Ministeriums zu übergehen.
Eero Grönroos versuchte das Für und Wider abzuwägen und kam nach einiger Zeit zu dem Ergebnis, daß in der einen Waagschale seine eigene kleine Karriere lag und in der anderen die Frage vagabundierender sowjetischer Kernwaffen, mit allem, was das für die Zukunft bedeuten mochte; soviel er wußte, waren die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Bomben mit heutigen Maßstäben gemessen kleine, ja nachgerade nur taktische Kernwaffen gewesen.
Als er nach dem Hörer griff, rutschte er mit der Hand aus, da die Handfläche verschwitzt war. Er legte wieder auf, wischte sich die Hand am Hosenbein ab und nahm einen neuen Anlauf. Er rief den Kanzleichef des Präsidenten in dessen Wohnung an und erklärte leicht stammelnd, er bitte schon am folgenden Tag um einen Termin beim Präsidenten. Der Anlaß: Es gehe um eine Sache von so außergewöhnlicher Bedeutung, daß sie nicht warten könne.
Der Kanzleichef des Präsidenten war am Telefon sehr kühl und gemessen und wies darauf hin, daß er Essensgäste habe und dienstliche Angelegenheiten am besten während der Bürozeit zu erledigen seien. Er wies auf die Unüblichkeit hin, daß Ministerialräte einen Termin beim Präsidenten der Republik verlangten, der im übrigen den ganzen folgenden Tag keine Zeit habe und auch nicht an den darauffolgenden Tagen. Und dann beginne das Wochenende.
Eero Grönroos sagte jetzt etwas, was er sich noch vor wenigen Stunden nicht hätte vorstellen können. Er erklärte, er halte es zwar durchaus für möglich, daß er verrückt geworden sei, was sich gegebenenfalls sehr schnell herausstellen werde; dann könne man ihn ohne viel Federlesens aus dem Präsidentenpalast entfernen.
Oder aber es gehe tatsächlich um eine die Außen- und Verteidigungspolitik des Landes betreffende Frage von solcher Bedeutung, daß der Präsident an keinem der folgenden Tage auch nur annähernd eine so wichtige Angelegenheit zu behandeln habe.
Eine Zeitlang wurde es still am Telefon, als könnte der Kanzleichef schon jetzt den offenkundigen Irrsinn diagnostizieren.