
An einem heißen Julitag verirrte sich einst ein junger Müllergeselle, der auf Wanderschaft war, nicht weit von der Stadt Witterstein in den Bergen. Als der Abend nahte, gelangte er ans Ufer eines Sees. Das Licht der Abendsonne brach sich wie tausend goldene Taler auf den Wellen.
Was für ein schöner, friedvoller Ort!, dachte der Geselle. Hier will ich bleiben und mein Lager für die Nacht aufschlagen.
Während er Schilf schnitt, um sich daraus ein Bett zu richten, erspähte er ein Fischerboot, das an einem Steg im Wasser schaukelte.
Der junge Mann schaute sich suchend um, doch er entdeckte niemanden, dem dieses Boot gehörte. Stattdessen fand er darin eine Angelrute und sogar ein Glas, halb voll mit Würmern.
„Ha! Ich will mir einen Fisch zum Braten fangen!“, rief der Geselle und leckte sich die Lippen. „Das soll mir nach dem langen Fußmarsch schmecken.“ Damit setzte er sich in den Kahn und warf die Angel aus.
Man hätte meinen sollen, dass nun die Fische in der Dämmerstunde kräftig beißen würden. Doch nein, die Rute wollte sich nicht regen.
Verwundert schaute der Geselle in das klare Wasser. Sein Blick verlor sich in der Tiefe. Nirgends konnte er einen Fisch entdecken. Ihm war, als blicke er in einen toten Abgrund.
Bald ward es kühl und finster. Einzig der Hunger hielt den Gesellen noch draußen auf dem See.
Er wollte schon enttäuscht und mit knurrendem Magen ans Ufer zurückkehren, als sich die Angelschnur auf einmal spannte. Der Zug war kräftig, wie von einem großen Fisch. Das Herz des jungen Manns schlug schneller. Fast riss es ihm die Rute aus der Hand.
Was mag das für ein Monstrum sein?, dachte er bei sich.
Da merkte er, wie das Boot sich rührte. Es war, als zöge nun der Fisch und nicht mehr der Geselle!
Hierauf erscholl ein Grollen und Tosen. Und siehe da: Das Wasser begann zu brodeln. Es schäumte auf und spritzte dem Angler ins Gesicht! Den jungen Mann packte das Grausen. Rasch ließ er seine Rute fahren.
Da tauchte ein Schatten aus den Fluten auf. Er ragte weit über das Boot empor.
Der Müllergeselle konnte das Wesen in der Dunkelheit nur schemenhaft erkennen. Doch er sah Schuppen, groß wie Schilde, fest und eng ineinander verwoben.
Der Jüngling schrie in Todesfurcht. Dann griff er nach den Rudern und legte sich verzweifelt in die Riemen. Er ruderte um sein Leben. Nur fort von diesem Höllenbiest!
Endlich, das Ufer! Und ohne seinen Blick zu wenden, stürzte der Geselle auf und davon.
Im Klassenzimmer herrschte eine so gespenstische Stille, dass Phil zusammenzuckte, als die Lehrerin ihr Buch zuklappte. Wittersteiner Sagen & Legenden stand in verschnörkelten Buchstaben auf dem Umschlag. Aus diesem Buch hatte sie gerade die Sage Das Ungeheuer im Teufelssee vorgelesen.
Frau Doktor Rabenquarz sah auf und blinzelte in die Klasse, als würde sie ihre Schüler zum ersten Mal bemerken. So viel Aufmerksamkeit war sie offensichtlich nicht gewohnt. Selbst Phils Banknachbar Jago, der sonst immer mit seinem Smartphone unter der Tischplatte hantierte, saß ganz vorn auf der Stuhlkante.
„Wow!“, brach Jago die Stille. „Gibt’s die Story auch als Film?“
Die Lehrerin schüttelte den Kopf und ein Schmunzeln umspielte ihren faltigen Mund. „Meines Wissens nicht. Es sei denn, jemand von euch bringt nächste Woche eine Videokamera mit und schafft es, eine Aufnahme von dem sagenhaften Wesen zu machen. Was dann allerdings die erste wäre.“
Wie alle wussten, stand in der nächsten Woche die lang ersehnte Klassenfahrt auf dem Programm. Diesmal ging es an den Teufelssee. Bei der Ankündigung hatte Jago sich noch lautstark beschwert: „An den Teufelssee? Noch näher dran an Witterstein ging’s wohl nicht?“ Doch jetzt leuchteten auch seine Augen.
Alle begannen angeregt miteinander zu tuscheln.
Frau Doktor Rabenquarz räusperte sich. „So, nun aber zurück zu Handfesterem: Wittersteins Rolle im Dreißigjährigen Krieg.“
Ein gequältes Stöhnen ging durch die Klasse.
Und während die Stunde sich gefühlte dreißig Jahre lang dahinschleppte und die Lehrerin ein kompliziertes Tafelschaubild entwickelte, wanderten Phils Gedanken an den Teufelssee.
Er kaute auf seiner Unterlippe und fragte sich immer wieder: Ob in diesem See tatsächlich ein echtes Ungeheuer hauste?